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Als ich eines Tages in den Räumen der Chicagoer Weltausstellung spazieren ging, wurde ich plötzlich von jemand am Arme gepackt. Ich drehe mich erstaunt um und – siehe da – einer der größten Pariser Ärzte steht vor mir. Überall hätte ich den Mann eher vermutet, als gerade in Chicago: etwa in seiner prächtigen Wohnung auf dem Boulevard Haußmann, in seiner Klinik im Hospital Lariboisière oder in seinem Universitätslaboratorium. Der offizielle Vorwand eines Hygienekongresses hatte ihn bestimmt, über den Atlantischen Ocean herüberzukommen, um einmal diese amerikanische Civilisation, die bei uns zu Hause Gegenstand so vieler humoristischer Kommentare ist, mit eigenen Augen zu sehen. Mit zwei Worten klärt er mich über seine Reise auf und stellt mir einen großen Burschen von etwa 25 Jahren, ebenfalls Franzose, vor, der ihn begleitete und den ich nach seinem hageren, glattrasierten Gesicht, seiner etwas steifen Haltung und seinem sicheren Blick für einen Offizier in Civil hielt. Keine fünfhundert Schritt war ich mit meinen beiden Landsleuten gegangen, so empfand ich auch schon ein lebhaftes Interesse für den jungen Mann. Hatte ich doch eben vom Doktor gehört, daß in unserem Landsmann einer jener kühnen Abenteurer des Westens leibhaftig vor mir stand, wie es schon seit Wochen mein sehnliches Verlangen gewesen, einen kennen zu lernen. – Ich werde den jungen Mann so nennen, daß sein Wunsch, anonym zu bleiben, respektiert wird. Er soll Herr Barrin-Condé heißen; die kleine Ungenauigkeit wird den folgenden Blättern nichts von ihrem dokumentarischen Werte rauben, ebenso wenig wie die paar willkürlichen Änderungen, die ich aus demselben Grunde bei drei oder vier Details von sonst allzu persönlicher Art vornehme.
Also Herr Barrin-Condé hatte Frankreich vor vierzehn Jahren verlassen, um einen ranch in den Rocky Mountains zu gründen. Dort hatte er acht Jahre hintereinander gelebt. Ein Karneval führte ihn während dieses Exils zufällig nach Toronto in Kanada, wo er ein junges Mädchen kennen lernte, in das er sich verliebte. Um sie zu heiraten, gab er sein bisheriges Leben auf, liquidierte seine Ansiedelung in Nord-Dakota und faßte Wurzeln in der Heimatstadt seiner Braut, jetzt seiner Frau. Dort gründete er eine Dampfschiffahrt-Gesellschaft, die er mit eben derselben Einsicht und Energie leitete, wie vorher seinen ranch, und die gar bald den hauptsächlichsten Handel der großen Seen an sich brachte.
Den ganzen Tag wich ich dem Doktor und seinem Gefährten nicht von der Seite. Ich konnte nicht müde werden, letzteren über sein Leben in Fer de Lance, – so nannte sich sein ranch nach dem Zeichen, das man den Pferden einbrannte – über die Leute, mit denen er dort zusammengelebt, über ihre Sitten, über ihre und seine eigenen Ideen auszufragen. Er antwortete mir ruhig, schlicht, mit jener Prägnanz des Ausdruckes, wie sie Männern der That eigen ist. Es lag in seinem Benehmen etwas von jener urwäldlichen Würde, wie sie Cooper seinem Lederstrumpf verliehen hat. Aber ein Lederstrumpf war das, der um unsere Litteratur Bescheid wußte, der trotz seines rauhen Lebens sorgsam darauf gehalten hatte, seine geistigen Kräfte nicht in Verfall geraten zu lassen. Ich entsinne mich, daß wir diesen Tag, der meinerseits nur ein langes Ausfragen, seinerseits nur ein langes Antworten gewesen war, durch den Besuch eines der großen Theater in Chicago beschlossen. Der Zufall mußte es fügen, daß der »Tartüffe«, und zwar von Coquelin und seiner Truppe, gespielt wurde. Ich war auf mein Vaterland stolz gewesen, als ich mit Herrn Barrin-Condé plauderte, ich war neuerdings stolz, als ich dieses wundervolle Stück so spielen sah, wie es gespielt wurde – obwohl vor einem nur halb gefüllten Saal und was für Zuschauern! Fast alle folgten der Komödie mit der Übersetzung in der Hand, und in der nämlichen Sekunde hörte man die Blätter all der Büchlein auf einmal sich umwenden. Aber was machte sich Coquelin daraus? Der große Künstler schien gar nicht zu wissen, daß überhaupt ein Publikum existierte. Offenbar spielte er nur für sich selbst, mit all der peinlichen Sorgfalt seiner Kunst, wie er sie auf der Bühne der Rue de Richelieu und bei seinen Debüts nicht besser entfaltet haben würde.
Obgleich der Doktor und ich das Stück schon an die dreißigmal gesehen hatten und wenigstens zehnmal Coquelin in der Rolle, waren wir von diesem Dialog, von diesem Spiel wie bei der ersten Vorstellung ergriffen. Was den »ehemaligen cowboy von Fer de Lance« – wie er sich selbst nannte – betraf, so verhielt sich der während der ganzen Dauer der Vorstellung, die Zwischenakte inbegriffen, ganz schweigsam. – »Sie wissen gar nicht,« sagte er beim Hinausgehen zu uns, während wir zu Fuß die Michigan-Avenue aufsuchten, »nein, Sie wissen gar nicht, wie schmerzlich man eine solche geistige Anregung durchs Theater vermißt, wenn man wie ich Jahre lang in der Wildnis gehaust hat, und was solch ein Abend wie der heutige für mich wert ist . . . Übrigens«, fügte er hinzu und wandte sich zu mir, »Sie fragten mich heut nach Tisch, ob ich nicht die Eisenbahnzüge im Westen auch ein wenig mit ausgeplündert hätte, und ich bin Ihnen die Antwort schuldig geblieben . . . Nun, ich habe mit meinen Freunden in der That einmal nichts Geringeres versucht, als eines Tages, oder vielmehr eines Nachts, aus einem der großen Kontinental-Expreßzüge raten Sie, wen? zu entführen . . . niemand anderes als die Sarah Bernhardt . . . Sie hat übrigens niemals etwas davon erfahren . . .«
»Und wie viele waren Sie zu dem Handstreich?« fragte ich.
»O, nur sehr wenige; aber stellen Sie sich nicht etwa vor, daß es gar so schwierig sei, einen dieser großen Züge anzuhalten. Kaum war der famose Plan überlegt, so schritten wir zur Probe – wie man im Theater Probe hält. Gestatten Sie mir den Ausdruck, da es sich ja um eine Königin des Theaters handelt. Wir hatten in Erfahrung gebracht, daß Sarah in einer Woche nach Green River im Territorium Wyoming reisen würde. Nun wollten wir wissen, ob es möglich sei, den Zug lange genug zum Stehen zu bringen, um unsere Entführung zu bewerkstelligen. Wir waren elf Reiter round up, wie man dort sagt, alle gut beritten, alle von jener leidenschaftlichen Liebe zur Gefahr beseelt, wie sie so leicht überschäumende Jugendkraft verleiht. Am hellerlichten Tage postierten wir uns an einer Stelle, wo die Bahnlinie solche Kurven beschreibt, daß der Expreßzug nur sehr langsam fahren konnte. Jetzt erscheint er. Einer von uns sprengt sofort, während er seinen Pony mit den Knieen lenkt und den Karabiner auf den Zugführer anlegt, an die Lokomotive heran. Ich mache es auf der anderen Seite ebenso. Der Zugführer hält an. Unsere Kameraden springen von den Pferden und schreiten unter dem Rufe »hands up!«, den Revolver in der Faust, den ganzen Zug ab, von einem Ende zum anderen. Es war ein tollkühner Streich, wobei wir in schmähliche Verlegenheit geraten konnten, hätte sich im Zug ein beherzter Mann gefunden, der seinerseits die Waffe gegen uns zog. Glücklicherweise fand sich keiner. Während nun die erschreckten Reisenden schleunigst ihre Felleisen öffneten, um die Freiheit zu erkaufen, hatten die vermeintlichen Banditen schon wieder die Pferde bestiegen und ihre Flinten oder Pistolen in die Lust abschießend, waren sie sämtlich davon gesprengt . . .«
»Und die Polizei?« fragte ich.
»Die bestand«, so versetzte Herr Barrin-Condé »aus einem Sheriff, der achtzig Meilen von da entfernt wohnte. Ich glaube fast, er amtiert noch immer. Und dann waren wir ja maskiert oder hatten uns doch wenigstens Schnupftücher vors Gesicht gebunden; 's ist ja doch alles wahrhaft abenteuerlich in diesem Westen, und das scheint wiederum so natürlich, wenn man in diesem Leben mitten drin steht.«
»Obwohl nun das Experiment geglückt war, begriffen wir wohl, wie gefährlich es war; ich habe das vorhin angedeutet. Wir wollten uns ja doch nur einen Scherz machen, den zu qualifizieren ich Ihnen überlasse, wir wollten nicht riskieren, zu töten und getötet zu werden. So beschlossen wir denn, Sarah Bernhardt auf dem Bahnhofe selbst zu entführen. Ihr Zug sollte in Green River gegen 11 Uhr 50 Minuten halten. Wir mußten in ihr Koupé einbrechen, sie gewaltsam herausreißen, in einen buggy (Einspänner) setzen und im Galopp mit ihr auf und davon eilen. Einige von den Unsrigen sollten unsere Flucht mit ihren Revolvern decken. Einer von uns, ein gewisser Sarlat, jetzt Kapitän bei den Afrikanischen Jägern, hatte es übernommen, auf der vorhergehenden Station in den Zug zu steigen. Es war vereinbart, daß er an der Thür des Salons, worin die große Schauspielerin sich befand, ein Taschentuch schwenken sollte, denn es mußte schnell und sicher zu Werke gegangen werden. Solches Vorgehen ist in einem Dorfe immer etwas gefährlich. Er trennte sich also von uns, wie abgemacht. Wir anderen, zu Pferde um den buggy geschart, warteten geduldig am Bahnhof. Hätten Sie die Reden gehört, die wir dort führten, Sie würden vielleicht zugeben, daß der unsinnige Handstreich eigentlich mehr als naiv war. Zweifellos würde unsere Besucherin sich verteidigen, sie würde einen Nervenanfall bekommen. Wir würden sie binden müssen, aber einmal im ranch, würden wir durch respektvollste Haltung Pardon für unsere Brutalität zu erlangen wissen. Sie sollte wie eine Kaiserin aufgenommen werden. Wir würden Verzeihung erhalten und würden uns auf einige Tage in die französische Heimat versetzt fühlen, indem sie uns auf unsere Bitten die schönsten Stellen aus ihrem Repertoire vortrüge. Der Zug kam erst um Mitternacht. Wir sehen Sarlat ohne Taschentuch in der Hand aus dem Zuge steigen. Sarah Bernhardt war eine Stunde früher im Expreßzuge von Salt Lake City weggefahren!«
Diese außerordentliche Geschichte war so natürlich erzählt worden, ließ so eigenartige Sitten erkennen, bekundete beim Erzähler ein so seltsames Gemisch feinfühliger Civilisation und wilden Lebens, daß ich nicht eher Ruhe hatte, als bis ich ihm das Versprechen abgenommen, mir seine Notizen über seinen Aufenthalt in Fer de Lance zu senden – sein Tagebuch, falls er eines geführt, zum allermindesten einige Erinnerungen. Er versprach's, aber mehrere Wochen vergingen, ohne daß ich die erbetenen Blätter, noch irgend eine Nachricht von dem jungen Manne erhalten hätte. Er war nach Hause zurückgekehrt und ich selbst setzte meine Reise durch die gewaltige Republik weiter fort. Ich war überzeugt, die auf so unerwartete Weise in Aussicht gestellten Dokumente würden mir überhaupt nicht mehr zugehen. Sie gingen mir aber doch zu, als ich gar nicht mehr darauf rechnete. War es nun das Vergnügen über diese angenehme Enttäuschung? War es wirklich die originale Würze dieser Mitteilungen? Sie schienen mir wert, so wie sie waren und ohne Kommentar veröffentlicht zu werden. Welche Analyse vermöchte auch das Zeugnis des Mannes der That zu ersetzen, der das erlebt hat, wovon er spricht, der es nicht aus Büchern hat, wie ein Gelehrter, selbst nicht von einer Exkursion her, wie sie der Reisende unternimmt und die doch immer Dilettantismus bleibt, sondern der es im Ernste des Lebens an sich erfahren hat? Möglich auch, daß der Ort, wo mir das Paket mit dem Poststempel Toronto zugestellt wurde, mich für das Pittoreske in diesen Blättern empfänglicher stimmte. Im Oktober war's in einem friedsamen Hotel, das verlassen zwischen dem fallenden Laubwerk am Ufer der Niagarafälle liegt, die trotz der Deklamationen der Führer eines der erhabensten, eines der ergreifendsten Schauspiele dieser Welt bleiben. Alles, was die Menschen in der Umgebung der Fälle an Brücken, Treppen, Balustraden zu bauen vermocht haben, all die Fußwege, die sie angelegt, all die Affichen, die sie angeklebt haben – es hat alles das die jungfräuliche und wildromantische Schönheit der beiden riesigen Kaskaden nicht berührt. Wie gern hab' ich ihr langsames, fast unmerkliches Hingleiten gehabt – den monotonen Fall des gewaltigen Stromes über den Felsengrat, der einen scharfen rechten Winkel bildet: Wie hab' ich ihr tiefes Klagen, ihr seufzendes Tosen – so viel Traurigkeit in solcher Machtfülle – geliebt, und den zarten Dunst, jene Wolke feuchten Weihrauchs, die über dem untersten Falle schwebt und sich durchsichtig weiß über der imposanten meergrünen Masse erhebt! Wie hab' ich auch zur Herbstzeit die Wälder von Great Island gern gehabt, die ganz in Gold prangten, in denen kein Vogel sang und wo allein jenes Schluchzen ertönte, um das unwiderrufliche Ende des Sommers zu verkünden – ein Symbol des unerbittlich dahinfließenden Lebens! Und während ich dann die durch Reklame entstellten Boskets durchstreifte, bedauerte ich das Hiersein des weißen Menschen, des Civilisierten, der mehr zerstört als die Wilden. Ich dachte an jene paar grausamen, aber schlichten Indianer, jene gelben, tätowierten Krieger, welche die Natur respektierten, sie nicht verstümmelten. Ich verwünschte die Kulturmenschen, da sie in der wundervollen Landschaft Fabrikschlote errichtet hatten, die ihren schwarzen Rauch gen Himmel bliesen, schmiedeeiserne Türme, zu welchen Fahrstühle emporführten. Ich empfand das Bedürfnis, in dieser Größe atmenden Umgebung die Erinnerung an eine freiere, kühnere und der geheimnisvollen und tragischen Schönheit dieses breiten Stromes, der sich mit einem Male in den Abgrund stürzt, mehr angemessene Existenz wachzurufen. Die Memoiren des abenteuerlichen Ansiedlers von Fer de Lance harmonierten ohne Zweifel mit solchem Bedürfnis. Während ich sie kaltblütig wiederlese, denke ich gleichwohl, sie hätten der begleitenden Nebenumstände entbehren können, und ohne Zögern kopiere ich sie, ohne, wie ich eben schon sagte, fast irgend etwas daran umzumodeln. Vielleicht wird gerade die Zusammenhangslosigkeit der Umstände, unter denen mir diese Blätter zugingen, ein ziemlich getreues Bild von dem liefern, was das amerikanische Leben tatsächlich chaotisches und zusammengewürfeltes an sich hat. Man sieht vor einem Barbaren-Publikum Molièresche Stücke von genialen Schauspielern dargestellt, ein paar Schritte weiter werden in einem anderen Theater von englischen Schauspielern Shakespearesche Stücke gespielt. Man stößt im Mengengewühl auf Farmer aus Kansas und auf Pariser im bunten Durcheinander. Man fährt im Pullman-Wagen nach einsamen Gegenden, die Chateaubriand gefeiert hat und alle diese im tollen Wirrwarr aneinanderdrängenden Eindrücke gruppieren sich schließlich um Memoiren, welche ein ehemals in irgend einer kleinen Stadt der französischen Provinz in Garnison stehender Einjährig-Freiwilliger von seinen Abenteuern giebt, die er in einem entlegenen Thale der Rocky Mountains erlebt hat.
Meine Familie stammt aus Florenz, von wo sie um 1270 mit mehreren anderen ghibellinischen Familien nach der Dauphiné auswanderte. Wir nannten uns damals Barberini – ohne daß wir jemals mit den vornehmen Römern dieses Namens irgend etwas gemein gehabt hätten. Aus Barberini wurde Barberin, dann Barrin. Wie? das weiß ich nicht. Um die Wende des 17. Jahrhunderts vereinigte ein gewisser Raymond Barrin eine Truppe junger Leute, um einige Räuber zu vertreiben, welche die Franche-Comté unsicher machten. »Er hat sich wie ein Condé geschlagen,« sagte man allenthalben. Dieser heroische Spitzname ist ihm und ist uns verblieben. Kommt das nun daher, daß wir zuviel von diesem Vorfahren haben erzählen hören, dessen Vornamen ich trage? Oder ist er das Erbteil eines unruhigen und thatendurstigen Geschlechts? Jedenfalls habe ich schon als Jüngling von Abenteuern geträumt. Als ich das Regiment verlassen hatte und wieder ins Vaterhaus zurückgekehrt war, mit der einzigen Aussicht, dort in müßiger Thatenlosigkeit alt zu werden, da wurde mir die Furcht vor einer solchen Zukunft einfach unerträglich. Ich liebte die Meinen gleichwohl, liebte das elterliche Haus, die Dauphiné, ihre rauhen Berge, ihre frische, klare Luft, ihre Landschaften, ihren Dialekt und besonders, was sie mir von der Vergangenheit bot. Ich bin immer ein Mensch gewesen, der für die Vergangenheit schwärmte, ein frommer Mensch in jeglichem Sinne, den man diesem Wort geben könnte. Man hätte mich am Tage vor meiner Abreise nach den Vereinigten Staaten sehen können, wie ich den Kirchhof meines Dorfes betrat, an unserem Familiengrabe niederkniete und dort Kieselsteine auflas. Ich bewahre sie noch. Nichts jedoch konnte gegen jenen verzehrenden Thatendrang aufkommen, der mich, so jung noch, über das Meer trieb. Hinzufügen muß ich, daß es mir, dem Royalisten aus Tradition und aus Überzeugung, als ein Verrat erschienen wäre, der Republik in irgend einem beliebigen Amte zu dienen, daß ich keinerlei Kenntnisse des Handels besaß, daß es mir an Kapital fehlte, ein Geschäft zu betreiben, und daß es meinem Stolze widerstrebte, mich nach einer Ehe mit einer reichen Erbin umzusehen. Was anderes thun, als es einmal mit der neuen Welt versuchen, zu der mich eine sonderbare Ahnung schon immer hingezogen? Kurz, im November 188. lief mein Militärjahr ab. Im Dezember war mein Entschluß gefaßt: ich wollte in Amerika mein Glück versuchen. Im Februar schiffte ich mich in Liverpool ein mit einem meiner Jugendfreunde, einem Engländer, dem Hononrable Herbert V***, den ich vermocht hatte, mich zu begleiten. Wir führten vier Zuchthengste mit uns: zwei Percherons und zwei Araber, sowie zu unserer Bedienung meinen Burschen vom Regiment. Ein kleines Gestüt in den Black Hills, den Schwarzen Bergen von Dakota, wollten wir züchten. Zu diesem Zwecke hatten wir uns bereits mit einem ranchman jener Gegend, namens Johnson, in Korrespondenz gesetzt. Der Beistand dieses Mannes, den die Eltern Herberts zufällig kannten, unsere vier Pferde und ein Wechsel von 30 000 Franken bildeten unser Einlagekapital. Unsere Jugend und unsere Thatkraft darf ich freilich nicht vergessen. Gar viele haben unter weit ungünstigeren Umständen angefangen.
Der Dampfer, den wir aus Sparsamkeitsrücksichten gewählt hatten, ging bei günstigem Winde als Segelschiff, so daß wir volle siebzehn Tage brauchten, um New-York zu erreichen. Die Überfahrt war ziemlich stürmisch, aber ich leide nicht an der Seekrankheit. Da ich einerseits meinen Kameraden und meinen Burschen, die alle beide schwer krank wurden, anderseits meine Pferde zu pflegen hatte, so behielt ich nicht allzuviel Muße übrig, mich melancholischen Betrachtungen hinzugeben, wie sie einem wohl kommen, der in die Verbannung geht. Zum erstenmale packte mich das herzzerreißende Gefühl der Heimatlosigkeit in dem Getümmel der großen amerikanischen Stadt, inmitten jener Menge, deren Sprache ich nicht verstand, und die ich vom ersten Augenblick an als so schroff, so feindselig und vor allem so verschiedenartig empfand. Wir waren auf den Rat des Schiffskapitäns in Brooklyn ausgestiegen, um gute Pferdeställe in der Nähe der Eisenbahn zu haben. Einige Tage verwandten wir darauf, die Stadt zu besichtigen, die mir mit ihren eilig gebauten, teils so hohen, teils so niedrigen Häusern, mit ihren Hochbahnen und der fieberhaften Aufregung ihrer Bevölkerung den Eindruck des Verstörten und Monströsen machte. Zu allem Unglück stellte sich heraus, daß unsere Herberge ein wahrer Schlupfwinkel für Trunksucht und Prostitution war, wo wir beinahe, gleich in der ersten Woche seit unserer Ankunft, unsere Haut zu Markte getragen hätten. Wir erlebten hier ein unangenehmes Abenteuer, das sich folgendermaßen zutrug.
Unsere ersten vier Abende hatten wir, Herbert und ich, im Theater zugebracht. Am fünften sollte zeitig zu Bett gegangen werden, und wir stiegen, um nach der Abendmahlzeit noch ein wenig zu rauchen, in die bar unseres Quartiers hinunter. Dort hielten sich bereits Mädchen und einige Männer auf. Einer von ihnen, ein höllisch großer Kerl von einem Raufbold, mit roten Haaren, glasigen Augen und einem Bulldoggengesicht, wird da überlaut zu einem der Mädchen sprechen, wobei er nach uns herübersieht. Ein schallendes Gelächter folgte, das allein hingereicht hätte, mich rasend zu machen, selbst wenn Herbert mir nicht auf meine Bitte den albernen Spaß des Kerls verdolmetscht hätte, der ganz einfach zu der Dirne gesagt hatte: »Laßt Euch doch von dem Franzosen da entführen. Das muß ein . . . sein. Sie sind alle . . .«
Das schmutzige Wort übergehe ich, dessen er sich bedient hatte. Ich erhob mich und schüttelte Herbert gewaltsam von mir ab, der mich zurückhalten wollte. Ich ging direkt auf den Kerl zu, der mich kommen sah, aber im Vertrauen auf seine Stärke nur seinen Mund zu einem höhnischen Grinsen verzog; noch heute sehe ich einen Zahn mit Goldplombe glänzen, den er auf der linken Seite hatte. Ich versetzte ihm einen Faustschlag mitten ins Gesicht, so wuchtig, daß der claret hervorquoll, wie man sich in Amerika ausdrückt, will sagen, daß ihm das Blut übers Gesicht strömte. Ich hatte das Boxen im Regiment gehörig geübt und besaß große Gewandtheit. Glücklicherweise wich ich seinem Gegenhiebe aus – er war übrigens ein bischen angetrunken – und traf ihn mit einem zweiten Faustschlage in die Magengegend und mit einem Fußtritt ans Bein, so daß er zu Boden stürzte. Auf eine allgemeine Schlägerei gefaßt, wich ich zurück, um gegen die anderen Front zu machen, als sie zu meiner Verblüffung ein beifälliges Gemurmel von sich gaben. Das sonderbare Publikum von Zuhältern applaudierte meinem Talent als Faustkämpfer. Sie trugen ihren Freund vom Platze, aber der Besitzer des Gasthofes sagte noch an demselben Abende lakonisch zu Herbert:
»Der Gentleman wird gut thun, das Quartier zu wechseln. Jim Russel ist nicht der Mann, das hinzunehmen, ohne sich zu rächen . . .«
Obwohl Herbert und ich gerade keine Hasenfüße waren, erschien uns doch der Gedanke, uns am Beginn unseres Unternehmens durch schmutzige Raufereien aufhalten zu lassen, so einfältig, daß wir eins wurden, nicht das Quartier zu wechseln, wie uns der Gastwirt riet, sondern abzureisen. Gleich am nächsten Morgen in aller Frühe bestiegen wir mit unseren Pferden den Kontinental-Expreßgüterzug. Sieben Tage – eine volle geschlagene Woche – brauchten wir so, um die Stadt Sydney in Nebraska zu erreichen, wo wir unser Stelldichein mit Johnson hatten. Es wäre uns ein leichtes gewesen, unsere Tiere auf diesem Wege zu expedieren und selbst den Personen-Expreßzug zu benutzen. Aber unser erster Eindruck vom amerikanischen Leben war so häßlich gewesen, daß wir uns wie in einem Lande der Wilden vorkamen, auch wollten wir uns weder von einander trennen, noch unsere Hengste auch nur eine Minute aus den Augen verlieren. Wir legten daher die ganze Fahrt in demselben Wagen wie sie zurück. Diese Art zu reisen war so strapaziös, daß wir von der Landschaft der Vereinigten Staaten, die wir durchfuhren, keinerlei Notiz nehmen. Mir ist nichts mehr von der abenteuerlichen Fahrt durch jenen Teil des gewaltigen Amerika, der allein so groß wie halb Europa ist, erinnerlich, außer daß wir in Chicago vier tramps Widerstand leisten mußten, die in unseren Wagen eindringen wollten, um sich hinter unseren Pferden zu verbergen und als blinde Passagiere die Reise mitzumachen (»to steal a ride«). Diese Landstreicher der Vereinigten Staaten haben die Gewohnheit, so, auf dem Boden eines Güterwagens liegend, ganz unglaubliche Entfernungen zurückzulegen. Fährt der Zug in eine Stadt hinein, so steigen sie herunter – kein tramp, der nicht ein bißchen turnerische Gewandtheit besäße – um dann wieder auf irgend einen anderen Zug zu steigen, der hinausfährt. Wenn möglich, nassauern sie auf diese Weise nicht nur die Fahrt, sondern stehlen und rauben noch obendrein. In den meisten Fällen hat man von diesen Leuten keinen Angriff aufs Leben zu besorgen. Da wir nun aber in das Pittoreske des amerikanischen Vagabundentums noch nicht eingeweiht waren, so nahmen wir die zerlumpten Strolche, die einen Zug in voller Fahrt erkletterten, für gefährliche Banditen. Ich muß noch lachen, wenn ich daran denke, wie sie vor unseren sechs Revolvern, die wir ihnen entgegenhielten, vom Zuge auf den Eisenbahndamm herunterpurzelten. Wir würden geglaubt haben, unvorsichtig zu handeln, hätten wir jeder nur eine einzige Waffe gehabt.
Johnson, telegraphisch in Kenntnis gesetzt, erwartete uns richtig auf dem Bahnhofe von Sydney, aber das war nur erst eine Etappe zum eigentlichen Ziel unserer Reise, Custer City, das noch 250 Meilen weiter entfernt lag. Diese ganze Strecke mußte zu Pferde zurückgelegt werden; die sieben Tage im Eisenbahn-Waggon hatten uns aber derart kaput gemacht, daß wir uns nicht getrauten, unseren Ritt sogleich aufzunehmen. Sydney galt damals für eine der gefährlichsten Diebesherbergen der Vereinigten Staaten. Die fünfhundert Einwohner der Stadt verbrachten ihre Zeit damit, einander veritable Schlachten, mit Flinten- und Revolverschüssen zu liefern. Wir wußten das nicht. Aber unsere neuliche Erfahrung in Chicago hatte uns schließlich so mißtrauisch gemacht, daß wir beschlossen, gegenüber der Thür des Stalles, wo unsere Araber untergebracht waren, auf dem Stroh zu nächtigen. Die Leute hatten die Hengste auch gar zu sehr gemustert, als sie nach dem Stalle geführt wurden. Und das war unser Glück, daß wir diese Vorsicht getroffen. Gegen Mitternacht wurde ich, trotz meiner Müdigkeit, durch ein sonderbares Geräusch aus dem Schlafe geweckt. Ich zündete ein Streichholz an und sah deutlich das Ende einer Säge, die im besten Zuge war, das Holz rings um das gewaltige Schloß, das die Scheune abgesperrt hielt, durchzusägen. Ich umwickelte die eine Hand mit einem Taschentuch und packte das Ende der Säge, mit der andern Hand spannte ich meinen Revolver und zugleich stieß ich den einzigen englischen Fluch aus, über den ich verfügte. Die Säge blieb unbeweglich stecken, und von der andern Seite der Thür tönte ein Geräusch, ähnlich dem Knacken, wie ich es eben mit meiner Waffe verursacht hatte. Ich weckte Herbert und meinen Bedienten. Unsere drei Stimmen machten den Dieben wohl begreiflich, daß wir stark genug waren, Widerstand zu leisten. Wir hörten Schritte, die sich entfernten. Unsere Pferde waren gerettet. Aber konnten wir nach diesem neuen Angriffe wieder einschlafen? Unsere Besorgnis war so rege, daß wir den Entschluß faßten, Sydney zu verlassen, und zwar nicht erst am nächsten Morgen, nicht erst in einer Stunde, sondern augenblicklich. Wir sattelten selbst unsere Tiere, zogen Johnsons Wagen aus der Remise, luden unser Gepäck hinauf und schirrten seine Pferde an. In solcher Ausrüstung kamen wir vor sein Quartier und riefen ihn von der Straße her aus seinem ersten Schlummer wach. Er hatte die ganze Nacht Poker gespielt und dabei Whiskey getrunken. Da ihm das Glück hold gewesen und er mehrere hundert Dollars gewonnen, zeigte er sich willfähriger, als wir gehofft hatten. Übrigens hatte er, wie viele Amerikaner, ein Gefühl für nationale Gastfreundschaft und schämte sich für sein Land des heimtückischen Überfalls, von dem wir ihm berichteten. Er willigte ein, uns zu folgen, und bevor der Tag anbrach, waren wir bereits unterwegs.
Der Ritt durch die Prairie dauerte zwei lange Wochen. Ihm verdankte ich die ersten angenehmen Eindrücke seit meiner Abreise aus der Dauphiné. Dieser Teil des weiten Gebietes, das sich zwischen Sydney und den Rocky Mountains ausdehnt, war damals nicht die civilisierte Gegend wie jetzt. Heutzutage durchschneiden sie mehrere Eisenbahnlinien. Farmen und Bauten, aus denen dereinst große und kleine Städte hervorgehen werden, sind hier in Menge vorhanden. Zu jener Zeit bot die ungeheuere Prairie Nebraskas von Sydney ab keine andere Spur menschlichen Lebens, als den Durchzug der cowboys, die irgend eine zerstreute Herde vor sich hertrieben. Ein ranch folgte auf den andern, ohne daß irgend ein ordentlicher Weg sie verband. Diese gewaltige Wüstenei, durch welche unsere Kavalkade ritt, packte uns mit einer Art wildromantischen Zaubers, der mit dem Bewußtsein unserer Jugend und der schrankenlos vor uns liegenden Zukunft sehr gut harmonierte. Die verlassene Einöde begeisterte uns, anstatt, wie der erste Zusammenstoß mit der fremden Volksmenge, uns traurig zu stimmen. Wir fühlten keine Ermüdung mehr und tranken sogar wohlgemut das abscheulich alkalische Wasser, das wir unmittelbar aus den durch die Gießbäche aufgerissenen Erdhöhlungen – creeks, wie man hier sagt – schöpften, um unsere Konserven anzufeuchten. Unser Enthusiasmus wuchs noch mit dem Näherrücken der Berge, denn nun gelangten wir allmählich in die schönen Wälder der Douglas-Fichten. Die ersten Frühlingsblumen lugten aus dem Grase. Allenthalben sprudelte lebendiges, klares Wasser aus Quarzspalten hervor. Der Himmel war blau und wolkenlos über unsern Häuptern, und dann näherten wir uns ja auch Custer City, der Stadt unserer Sehnsucht, deren Herrlichkeiten uns Johnson seit unserem Aufbruche pries. Wir harrten ihrer, wie die Hebräer des gelobten Landes. Viele Jahre sind seitdem vergangen. Jahre heißen Kampfes, die doppelt und dreifach zählen. Aber keiner der Eindrücke, die sie brachten, hat die Empfindung verwischt, die mich an jenem April-Nachmittage ergriff, als der wackere Mann im Galopp einen Hügel hinaufsprengte, um uns stolz das Ziel unserer beschwerlichen Pilgerfahrt zu zeigen. Er hielt sein Pferd an und gab uns ein Zeichen, die unsrigen ebenfalls anzuhalten. Den Arm ausstreckend, sagte er:
»Das ist Custer City! . . . Here is Custer City! . . .«
Das Herz klopfte mir vor Hoffnung; ich schaute hin. Warum sollte ich mich schämen, jenen Augenblick der Mutlosigkeit einzugestehen, der einzigen, die ich in meinem Prairie-Leben gekannt habe? Thränen stürzten mir plötzlich aus den Augen, es war mir unmöglich, mich zu fassen – Thränen nicht mehr der Hoffnung, sondern der Verzweiflung, Thränen, die der plötzliche Sturz von der Höhe meines Traumes und die bittere Enttäuschung hervorzwangen! Ein elendes Minierfeld zeigte sich auf der anderen Seite des Thales, ärmlicher als der ärmlichste Weiler in den Alpen. Deshalb also, um hier zu leben, unter diesen baufälligen Hütten, in diesem weltvergessenen Winkel, um hier zu kämpfen, vielleicht zu sterben, hatte ich dreitausend Meilen hinter mir unser kleines Schloß in der Dauphiné mit seinem rechtwinkligen Turm und seinem quadratischen Erker verlassen, und in diesem Schloß meine Mutter, meine Schwestern, alles was ich liebte, alles was mich liebte! . . .
Ich blickte auf Herbert und schämte mich, als Franzose dem unempfindlichen Engländer dieses Schauspiel meiner Schwäche gegeben zu haben, dem Unerschütterlichen, der sich seine kurze Holzpfeife mit der größten Kaltblütigkeit anzündete, obgleich ich am Zittern seiner Hand wahrnahm, daß der Schlag auch für ihn hart war. Ich sagte schon, ich sei immer ein bißchen fromm gewesen. So rief ich denn die tiefen Kräfte meiner Seele zu Hilfe. Ich sprach innerlich ein Dankgebet zu Gott dafür, daß er mich seit meiner Abreise beschützt; ich bat ihn, mir auch ferner beizustehen. Wie ein kleines Kind befahl ich mich in seine Hände . . . Mein Pferd, El Mahdi, scharrte wiehernd den Boden. Damit gab es auf seine Art seine Empfindungen über jenes: »Here is Custer City!« zu verstehen. Ich zog die Zügel an, preßte die Knie ein und ließ es in tollster Carrière auf die Stadt losjagen, meine kindischen Thränen trocknete der scharfe Luftzug, den dieses tolle Rennen erzeugte.
So starb, bei einem wundervollen Sonnenuntergange, am Fuße des Berges Calamity Jane, der tenderfoot»Zartfuß« – weiterhin: Neuling. So sagt man auch von unerfahrenen Leuten: sie haben »grüne Hände« – green hands. Raymond, der frisch von Europa her eingewandert war. An seiner Statt erstand der Cowboy Sheffield – so benannt nach seinem Messerklingen-Gesicht – der Schreiber dieser Erinnerungen.
Einige Zeit, etwa einen Monat später, saß ich friedlich beim Frühstück in Millers bar, das mitten in der Hauptstraße – Main Street – liegt, als ein wohlbekannter Goldgräber, der dicke Browne, mit einem beim Abbruch eines ranch beschäftigten Cowboy: Eddie Hutts, Händel anfing. Alle beide zogen ihren Revolver und gaben in demselben Moment Feuer. Browne blieb auf der Stelle tot. Die Kugel seines Feindes hatte ihm den Kopf zerschmettert. Seine eigene Kugel fehlte Hutts und traf mich direkt in den Kinnbacken. Sie zersplitterte den Knochen und machte nahe an der Arterie Halt. Miller, der für Browne eine ganz besondere Achtung hegte, hat seither oft versucht, seinen Freund mir gegenüber durch die Versicherung zu rechtfertigen, daß der Unglückliche an jenem Morgen bereits einige corpse-revivers zu viel getrunken habe. Die Amerikaner verfügen über ein paar hübsche Synonyma, um die verschiedentlichen Alkohol-Mischungen zu bezeichnen, durch welche sie sich mit wahrer Wonne vergiften: a widow's smile – ein Witwenlächeln – a sweet recollection – eine süße Erinnerung – an eye opener – ein Augenöffner. Das kräftigste ist das, von dem Miller gesprochen: der »Leichen-Wecker«. Es lag nun freilich etwas Ironie in dem Umstande, daß ja die Unmäßigkeit dieses vertierten Browne beinahe den Tod zweier Menschen, seinen eigenen und den meinigen, veranlaßt hätte.
Ich hatte mich erhoben, als ich mich verwundet fühlte. Aber ich besaß nicht so viel Kraft, einen Schritt zu thun. Es schien sich alles um mich zu drehen, und wie leblos fiel ich zu Boden. Das Bewußtsein kehrte mir jedoch sehr rasch wieder, mit jener Art hellsehender, fruchtloser Klarheit, wie sie den Träumen eignet. Ich lag am Boden, ganz dicht an Brownes Leichnam. Mit dem ausgestreckten Arm hätte ich ihn erreichen können. Etwa zehn, durch das Kauen des Primtabaks gleichsam in automatenhafter Bewegung befindliche Gesichter betrachteten mich neugierig, doch niemandem fiel es ein, mir zu helfen. Mein Blut rann ununterbrochen auf die Fliesen und ich litt entsetzlich. Ich verlangte in französischer Sprache nach einem Priester, doch niemand verstand mich. Zudem war der nächste hundertfünfzig Meilen entfernt, und was brauchte ich auch einen Priester, um wie Browne zu sterben? – Ein Mensch mehr, ein Mensch weniger! Was will das in der Prairie bedeuten? – Als ich sah, daß keiner der um mich versammelten Zuschauer sich im Genusse seines Primtabaks auch nur einen Augenblick stören ließ, so gleichgültig blieben sie bei meinem Rufe, kam mir der Gedanke, die Namen Herbert und Johnson zu rufen, vielmehr zu röcheln. Eine Viertelstunde später kamen meine Freunde alle beide an, begleitet von einer Person mit glattem Gesicht, im Überrock, mit Flaumbart, hohem, rotem, verwaschenem Hut und weißer, durch Schmutzstreifen verunzierter Kravatte. Aber Diamantknöpfe glänzten in den ausgerissenen Knopflöchern seines Hemds. Es war der berühmte Mr. Briggs, der bedeutendste Arzt von Black Hills, ein ziemlich geschickter Operateur, obgleich die Amerikaner selbst meinten, daß er ein wenig zu schnell mit dem Messer bei der Hand – he is rather fond of the knife, you know – und gewöhnlich von morgens 10 Uhr ab betrunken wäre. Glücklicherweise war es diesmal erst 9 Uhr. Ich hatte vollauf Muße, das Pittoreske seines schäbigen Kostüms im einzelnen wahrzunehmen, denn er hatte mich auf das Billard legen lassen und begann jetzt die Wunde zu sondieren, mit sehr leichter Hand, wie ich gestehen muß, und dabei träufelten mir, als müßte das so sein, die Tropfen des Tabaks, den er kaute, ins Gesicht.
»Well!« so schloß er mit nichts weniger als beruhigendem Phlegma, »der Gentleman ist gerade noch mit genauer Not davongekommen. Die Kugel ist an der Arterie vorbeigegangen, die oberhalb schlägt. Die Knochen werden schnell wieder heilen. Was die Kugel betrifft, so kann diese, wenn er sie drin behält, mit der Zeit die Arterie beschädigen, die dann auf einmal platzen wird. Alsdann wird ein innerer Bluterguß erfolgen und der Tod sofort eintreten. Zieht er vor, daß ich sie entferne, so kann ich's ja versuchen, aber ich stehe für nichts. An ihm ist's, zu wählen . . .«
Herbert übersetzte mir diese Diagnose.
Ich that innerlich Buße und sagte, man sollte die Kugel entfernen. Briggs hatte, um die Wunde zu sondieren, alle Anwesenden, ausgenommen Johnson und Herbert, hinausgeschickt. Er rief jetzt sechs von den Leuten beim Namen, die an der Thür warteten; dieselben pflanzten sich gleichgültig und schwerfällig um das Billard auf.
»Warum?« fragte ich Herbert, der fortfuhr, den Dolmetsch zwischen dem Arzt und mir zu machen.
»Well«, antwortete Briggs, »diese Gentlemen sind Honoratioren der Stadt und sollen bezeugen, daß es nicht meine Schuld ist, wenn der Tod im Laufe der Operation eintritt . . .«
Über diesem Worte schlief ich, vom süßlichen Aroma des Chloroforms betäubt, ein. Als ich wieder erwachte, hatte ich eine große Naht an der Kehle und hielt die Kugel in der Hand. Die Honoratioren verschwanden, entzückt über dieses kleine excitement, das ihnen der Morgen gebracht hatte. Der Arzt erhielt dreihundert Dollars. Einen Monat später war mein Kiefer geheilt; aber noch Wochen lang habe ich den großen Blutverlust gespürt. Was Briggs anlangt, so traf mich der drei Jahre später in Rapid City, gelegentlich einer heiß umstrittenen Wahl; sofort schleppte er mich auf seine Plattform und stellte meine Wenigkeit zusamt meiner Narbe 1500 Maulaffen zur Schau; er errang einen glänzenden Sieg über seinen Gegner. Ich war, so scheint es, der einzige der von ihm Operierten, welcher die Operation überlebt hatte!
Dieses kleine Bild von den Sitten, wie sie damals in Custer City herrschten, wird begreiflich erscheinen lassen, daß es uns ob solcher Trägheit, Trunksucht und Meuchelei nicht gar lange an jenem Orte litt. Auch fristeten wir dort kaum unser Leben, obwohl unsere Beschäler uns vierzig Dollars für die Stute einbrachten, die man ihnen zur Deckung, zuführte. Aber die geringsten, allernotwendigsten Gebrauchsgegenstände waren erschrecklich teuer, wie in allen jenen Städten, die in der Nähe von Goldminen liegen. Beispielsweise wußte man in Custer City nicht, was es heißt, eine Nickelmünze zu zahlen oder herauszugeben. Das Fünf-Sous-Stück war die Einheit beim Ausgeben. Man macht sich gar keinen Begriff von den Verheerungen, welche derartige Miseren in kleinen Budgets, wie das unsrige war, anrichteten. Wir beschlossen daher, unseren ersten Plan wieder aufzunehmen und uns einen ranch mit ausgedehnter, von frischem Quellwasser berieselter Weidefläche auszusuchen, wo wir uns dem Zuchtgeschäft widmen konnten. Das Glück begünstigte uns, wir fanden fast sofort einen Flecken, wie wir ihn suchten, und wir nannten unsere kleine Ansiedlung Fer de Lance, weil wir, beim eigenhändigen Graben der Fundamente unseres Hauses, in der That eine Eisenspitze entdeckten, die ohne Zweifel viele Jahre zuvor von dem Wurfspieß irgend eines Indianers verloren gegangen war. Mittelst roh behauener Balken, schlecht gehobelter Planken und Holzzapfen – Nägel gab's in der Gegend nicht – brachten wir's fertig, eine Art Baracke für uns und einen Stall für die Pferde zu errichten. Diese Arbeit nahm uns nicht weniger als sechs Monate in Anspruch, und während der Zeit waren wir zu sehr beschäftigt, um uns mit dem ranch selbst zu befassen. Nun nehme man hinzu: vierzehn Tage Seereise, fünf in New-York, sieben im Eisenbahnzuge, vierzehn in der Prairie, macht mehr als einen Monat. Ein Monat des Wartens, ein Monat Krankheit, ein Monat Genesung machen weitere drei Monate. Hierzu die sechs unserer Baracke gewidmeten Monate. Also nahezu ein Jahr war verstrichen, seit wir, Herbert sein Derbyshire, ich die Dauphiné, verlassen. Während dieses Jahres wäre ich beinahe gestorben, hatten wir das gemeinsame Kapital angegriffen, und unsere einzige Erwerbung bildete dieses log-house, diese baufällige Hütte, die unsere eigenen Hände erbaut! Zudem war uns ihr Besitztum auch nur gesichert, wenn wir es zu verteidigen wußten. Der Bach und das Weideland, wo wir uns niederließen, hatten vordem einem gewissen Bob gehört, einem berüchtigten Pferdediebe, nach der Stadt, aus welcher er stammte, Yorkey Bob benannt. Der Erzschurke hatte alle Rechte an das Besitztum verloren, da er es ja verlassen hatte. Dies war aber kein Grund, daß er nicht versucht hätte, die neuen Occupanten zu brandschatzen, und wirklich ließ er sich, nach Custer City zurückgekehrt, in Millers saloon gewaltig hochfahrend vernehmen:
»Ich werde es ihnen schon besorgen, diesen beiden tenderfeet von Europäern. Ich will's ihnen anstreichen, sich vor meinem Tode meiner Erbschaft zu bemächtigen! . . .«
Diese recht beruhigenden Worte wurden uns brühwarm vom Doktor Briggs hinterbracht, der uns sonst mit seinen Besuchen nicht überlief. Als mein »Retter«, wie er sich gern selbst nannte, uns diese sogenannte Probe seiner Sympathie gegeben hatte, sahen Herbert und ich uns gegenseitig verständnisinnig an. Ein jeder las in des andern Augen eine höllische Lust, schnurstracks aufs Pferd zu steigen und unsrerseits dem Bramarbas des saloon es zuerst zu besorgen. In der Prairie gelangt man schnell zu solcher Auffassung vom Rechte der Notwehr: zuerst angreifen, um nicht der Angegriffene zu sein. Zum großen Glück gaben wir dieser jähen Anwandlung von Empörung keine Folge. Herbert besaß die Geistesgegenwart, sich ein Stückchen einfallen zu lassen, daß uns für immer vor Drohungen dieses Gelichters sicherstellen sollte. War und ist er doch noch immer ein weit über das Mittelmaß hinausragender Pistolenschütze. Er gewahrte ein unschuldiges Täubchen, das fünfzig Fuß entfernt rucksend auf dem Stalldache saß, und holte es mit seiner Revolverkugel herunter.
»Sie können dem Yorkey Bob erzählen, was sie eben gesehen haben«, sagte er zu Briggs, »und setzen Sie gleich hinzu, daß, sollte ich ihn jemals treffen, es mag sein, wo es will, in einem bar, auf der Straße, oder in der Prairie, ich mit ihm genau ebenso verfahren werde . . .«
Sprach's und wandte dem würdigen Doktor den Rücken. Der Arzt blieb eine Minute bestürzt, dann spie er weithin aus. Das ist beim Amerikaner das Zeichen eines tiefen Eindrucks. Ich habe immer gedacht, der Besuch des Doktors hatte nur den Zweck, den neuen Eigentümern des Baches, im Namen des ehemaligen, ein gutes solides Vertragsbündnis vorzuschlagen – vermittelst klingender Münze natürlich. Auf jeden Fall, waren die beiden Gauner wirklich Komplizen, so genügten Herberts Pistolenschuß und seine kleine Ansprache, dieser Verschwörung den Mut zu benehmen. Aber zwei Monate hindurch blieben wir doch auf unserer Hut und schliefen Nacht um Nacht außerhalb unseres Hauses, aus Furcht vor einer Überrumpelung. Was die am Tage getroffenen Vorsichtsmaßregeln anlangt, so hätten wir in dieser Hinsicht nicht wohl noch mehr thun können. Es war eine so unruhige Zeit, daß keine zwei Reiter auf der Prairie sich in fünf Meilen Entfernung gewahr wurden, ohne daß der eine nach links, der andere nach rechts davongaloppiert wäre. Eine seltsame Einöde, die der Mensch noch einsamer zu machen sich befliß, und wo er nichts mehr denn seinesgleichen fürchtete! Es war die Zeit, wo die Briefpost von Deadwood monatlich ausgeplündert wurde, wo der Wagen des Steuereinnehmers von Lead City, trotz seiner sechs berittenen Garden, angehalten und die Summe von 150 000 Dollars, die er mit sich führte – 750 000 Franken in Goldbarren – in alle vier Winkel von Dakota und Wyoming zerstreut ward. Über Deadwood, wo eben eine neue Goldader entdeckt worden, ergoß sich eine Flut von Abenteurern, der Abschaum aller Länder und Rassen. Das menschliche Leben, von dem die Yankees gern sagen, es sei unter ihnen sehr wohlfeil – very cheap –, war wirklich so billig, daß die Black Hills bewohnen so viel bedeutete wie: alle Tage, ja alle Stunden auf Kriegsfuß sein. Man gewöhnt sich schnell an Lebensbedingungen, die anscheinend so außergewöhnlich sind. Erstaunlich ist's, wie einem der Gedanke an gewaltsamen Tod vertraut wird. Gerade an den andern Tod, den durch Krankheit, will sich die Einbildungskraft – die meinige wenigstens – durchaus nicht gewöhnen.
Yorkey Bob hinwiederum dachte in dem Punkte zweifellos anders, denn seit Herbert jenen Beweis seiner Schieß-Geschicklichkeit gegeben, trug er große Sorge, den beiden tenderfeet von Europäern aus dem Wege zu gehen. Es war ausgemacht, daß er getötet werden sollte, doch in anderer Weise. Er stahl neuerdings in der Umgegend von Custer City so viele Tiere, daß die cowboys übereinkamen, die Stadt von einem so gefährlichen Schurken zu befreien. Eines Abends, als er ruhig in Millers bar beim Glase saß, warf ihm ein Verräter von hinten seinen Lasso um den Hals, zog kräftig an und händigte das Ende des Strickes einem Reiter aus, der vor der Thür hielt. Letzterer jagte in gestrecktem Galopp davon. In einigen Sekunden war Bob erstickt. Er hatte noch so viel Instinkt und Kraft besessen, seinen linken Revolver zu packen (auch er trug auf jeder Seite einen), und trotz der entsetzlichen Erschütterungen während des tollen Jagens durch die Prairie hatten seine Finger nicht losgelassen. Man mußte die Hand später gewaltsam öffnen, um ihr die Waffe zu entwinden. Der Zufall wollte, daß wir beim Tode unseres Feindes zugegen waren. Nicht besser kann ich die Wandlung veranschaulichen, die sich in uns während dieses schrecklichen ersten Jahres vollzogen, als indem ich erkläre, daß die summarische Exekution uns gleichgültig ließ. Bob wurde nur von einer einzigen Person betrauert, einer Banditin, die in Custer einen Gasthof unterhielt und deren Liebhaber er war. Dieses Weib besaß eine fabelhafte Geschicklichkeit im Handhaben des Karabiners. Ich habe nicht ein-, sondern zehnmal gesehen, wie sie auf hundert Meter Entfernung durch eine Kürbisflasche schoß, wobei sie ihre Kugel durch das vorher für den Pfropfen präparierte Loch hindurchschickte, ohne auch nur den Rand zu streifen. In jedem Zimmer ihres Gasthofes konnte man folgende, von ihr eigenhändig in riesigen roten Lettern geschriebene Inschrift lesen: »Don't lie on the bed with your boots on. Don't spit on the blankets. Be a man . . . Legt Euch nicht mit den Stiefeln ins Bett. Spuckt nicht auf die Bezüge. Seid ein Mann . . .« Sie hatte mehrere Morde auf ihrem Gewissen und war mit ihren Mannskleidern und ihrem ewigen Fluchen die würdige Genossin Bobs, den sie auch sicherlich gerächt haben würde, hätte sie seine Mörder gekannt. Aber derartige Anschläge gingen so vor sich, daß man das Gesicht hinter einer Maske oder hinter einem Taschentuch verbarg, wie ich schon gelegentlich der Eisenbahn-Überfälle erwähnte. – Man kann das übrigens auch in dem »Vermischten« aller Zeitungen konstatieren. – Diese summarische Gerechtigkeit galt mehr als die gesetzmäßige, mit ihren Behörden und Advokaten, wie wir sie später kennen lernten. Letztere kamen uns viel teurer zu stehen, als die Exekutiv-Komitees wie das, welches uns von Yorkey Bob befreit hatte, und schließlich war auch die offizielle Gerechtigkeit viel weniger gerecht.
Infolge dieser neuen Erfahrung beschlossen wir, mehr und mehr auf unserem ranch zu leben. Da wir in die Städte nur noch ausnahmsweise und nach langen Zwischenräumen gingen, so besaßen wir schließlich keine andere Gesellschaft mehr als die der cowboys, der grangers und der miners. Alle Bewohner der Prairie scheiden sich in diese drei Klassen. Sie ähneln einander alle vermöge der gleichen Abneigung gegen das civilisierte Leben, vermöge der Thatkraft in ihren Unternehmungen und ihrer Vertrautheit mit der Gefahr. Ihr Ehrgeiz verfolgt so verschiedene Ziele, daß er sie vorübergehend sogar zu Feinden macht. Jede einzelne Klasse hat ihren Helden, von dem die Legende unaufhörlich und immer verwickelter zu erzählen weiß. Buffalo Bill ist der der cowboys, Mackay der der Goldsucher, Lincoln, von seiner Jugend her, der der grangers. Sie bilden die Avantgarde Amerikas, zwischen der Flut der Einwanderer einerseits und den letzten Rothäuten andererseits. Vielmehr: sie bildeten sie in der noch gar nicht fernliegenden und doch schon so fern erscheinenden Zeit, von der ich spreche. Denn jedes Jahr weichen die Indianer weiter zurück und verschwinden, die leeren Territorien bevölkern sich. In einem Vierteljahrhundert – wenn ich's erlebe – werde ich sicher gewaltige Städte in dieser Prairie erstehen sehen, die ich noch so wüst und so frei gekannt habe.
Die Grenze der Indianer-Reservatgebiete, das ist heutzutage noch die eigentliche Domäne der großen ranches. Der Home-Ranch erhebt sich mit seinen Holzhäusern und Lehmställen in der Nähe einer Quelle. Hier leben etwa zwanzig ehrliche Banditen unter der Hoheit eines Häuptlings, eines foreman, natürlich des stärksten und geschicktesten unter ihnen. Ich sage nicht: des tapfersten. Tapfer sind sie alle in gleichem Grade, ohne dies wären sie ja nicht wert, cowboys zu heißen. Auf Onkel Sams Weidestrecken irren 50 000 Pferde, Kühe oder Ochsen umher; sie zu zählen, mit dem Brandzeichen zu versehen und auf der Eisenbahn nach Chicago zu expedieren, bildet das Geschäft dieser Burschen das Jahr hindurch. Keine bequeme Arbeit ist's, eine Herde von 3000 oder 4000 Stück Vieh so durch die Prairie zu führen. Reiter gehen dem Zuge vorauf, andere überwachen die Flanken, andere sammeln die Nachzügler. Man muß vermeiden, die Eisenbahnlinien zu kreuzen, denn hierbei riskiert man eine unheilvolle Panik, die gar nicht wieder gut zu machen ist. Als ich aus Colorado zurückkam, von wo ich 350 Pferde geleitete, passierte mir's, daß ich auf eine Eisenbahnlinie geriet, gerade in dem Moment, als ein Zug heranbrauste. Unsere Pferde hatten noch niemals eine Lokomotive gesehen. Ein Schrecken ohnegleichen ergriff die Tiere und trieb sie in einem Umkreise von 100 Meilen nach allen Windrichtungen hin auseinander. 55 Tage brauchte ich, um sie aufs neue zusammenzubringen. Ein andermal ist's ein Sturm, der sich erhebt – einer jener Prairiestürme, die dem Cyklon ähnlich sind. Die ungeheuere lebendige Masse wird dann zu einer einzigen Gruppe vereinigt, um welche die cowboys im Galopp herum sprengen. Es handelt sich darum, die durch Donner und Blitz buchstäblich rein närrisch gewordenen Tiere in eine kreisrunde Gruppe zu bringen. Man erzielt das, indem man unter den emporgerichteten Köpfen wohl zehnfach den Revolver abschießt. Würde die Kreisbewegung durchbrochen, dann würde sich die ungeheure Herde nach einer einzigen Seite ergießen und – so machten es einst die wilden Büffel – Menschen und Pferde wie ebenso viele Strohhalme knicken und zu Boden stampfen.
Solch' Handwerk in solchem Milieu verlangt Menschen von unbezwinglicher Energie, Menschen, die zu allem entschlossen sind. Man könnte ebensogut sagen: Die Zusammensetzung des Personals in einem ranch gleicht der eines Bataillons in der französischen Fremdenlegion. Der Auswurf der civilisierten Welt findet sich hier zusammengeschart. In Fer de Lance hatten wir einen deutschen Koch, einen italienischen cowboy, zwei französische cowboys, und unter den Amerikanern deklassierte Leute, wie Billy, den Sohn eines Pastors in Chicago. Über letzteren mußten wir lachen, daß uns die Augen übergingen, wenn er uns am Abend seine Jugenderinnerungen zum besten gab; er hatte seine ganze Jugend in einer jener gemischten Schulen verbracht, die von eigens hierher entsandten französischen Schriftstellern jetzt eingehend studiert werden. Hätte doch einer jener ernsthaften Artikelschreiber Billy hören können, wie er uns die Zeichenklasse und seine Nachbarinnen schilderte, die damit beschäftigt waren, meisterhafte männliche Modelle zu zeichnen, während er sich selbst vorzugsweise der Wiedergabe der weiblichen Anatomie befleißigte! Auch rätselhafte Personen gab es unter uns, die niemals von ihrer Vergangenheit sprachen, so z. B. einen zweiten Franzosen, dessen wahren Namen ich heutigen Tages noch nicht weiß. Er ließ sich Jean Bernard nennen. Die Prairie hatte keinen geschickteren Lassowerfer aufzuweisen als ihn. Er liebte die Gefahr mit wahrer Leidenschaft, fast bis zum Wahnsinn. Eines Tages band er sich, um ganz sicher zu gehen, daß er ein noch ungezähmtes Pferd nicht etwa loslasse, die Handgelenke mittelst Schlingen an die Zügel fest, und fort ging's im tollsten Rasen. Er brach beide Arme an zwei Stellen, und wäre nicht mit dem Leben davongekommen, hätte Herbert nicht dem Pferde eine Kugel durch die Lunge gejagt. Ebensowenig habe ich den Namen eines Holländers erfahren, der kurzweg Frank genannt wurde. Eines Abends hatte er einen Whiskeyrausch und ließ sich's einfallen – es war in einer kleinen Stadt des Westens – etwa 20 Reisende aus dem Gasthofe zu jagen, indem er sie mit seinem Revolver bedrohte. Er verbarrikadierte sich in dem Hause und hielt dort eine regelrechte Belagerung aus. Das Thermometer zeigte 20° unter Null, so daß er, um sich zu erwärmen, weiter trank; schließlich fiel er hinter der Thüre um, wie ein Stück Vieh. So endete der tolle Streich, ohne einen Tropfen Blut zu kosten. Frank hätte ihn teuer bezahlen müssen, wäre er nicht in nüchternem Zustande der vortrefflichste Kerl von der Welt gewesen und vor allem der intime Freund einer anderen Persönlichkeit, die ein geradezu legendenhaftes Ansehen genoß: des Grafen de La Chaussée Jancourt. Das war ein belgischer Edelmann, den seine Familie längst aus den Augen verloren hatte; wir begegneten uns eines schönen Tages im Inneren des Indianer-Reservatgebietes. Er war zu Pferde und begleitet von seinen beiden Frauen, zwei richtigen squaws, die ebenfalls zu Pferde saßen, und die Flinte über der Schulter hatten, wie er. Mit einer unter solchen Umständen höchst sonderbaren Eitelkeit redete er mich an: »Sie sind der Franzose von Fer de Lance. Ich bin der Graf de La Chaussée Jancourt, Baccalaureus der Künste und Wissenschaften . . .« Er sah aus wie ein Wegelagerer. Ich hütete mich wohl, das geringste Erstaunen zu verraten. Diese Trapper schießen alle mit unfehlbarer Sicherheit. Aber die Erscheinung dieses Baccalaureus zwischen den beiden Indianerweibern, der mit Fellen bekleidet war und ein ebenso sonnenverbranntes, ebenso gelbes Gesicht hatte, wie seine Begleiterinnen, wollte mir lange nicht aus dem Sinn. »Wird's mit mir einmal dahin kommen? . . . « dachte ich, und solch' seltsamer Ausgang meines Abenteuers im Westen schien mir weder unmöglich, noch selbst zu fürchten, so sehr fühlte ich mich mit jedem Tage von dem Zauber dieses urzuständlichen und freien Lebens mehr berückt, umstrickt, vergiftet, und ich antwortete mir fröhlich: »Warum nicht? . . .«
Ja, ein Zauber! . . . Noch heute ist dies das einzige Wort – in seinem ursprünglichen Sinne genommen – das mir einfällt, um die Art von geheimnisvollem Bann zu kennzeichnen, unter dem ich während dieses Lebens stand. Es übt noch immer, durch all die Jahre hindurch, diesen Zauber auf mich aus. Wenn ich versuche, mir über die Gründe dieses so mächtigen Reizes klar zu werden, so finde ich zunächst – höchst absonderliches Gefühl in einem Lande, wo die Revolver ganz von selber losgehen –, daß ich nie Tage erlebte, an denen ich weniger Furcht vor der Zukunft gehabt hätte. Ich habe dort eine Art Heiterkeit, fast möchte ich sagen: unverzeihliche Sorglosigkeit kennen gelernt. Ich empfand das volle Bewußtsein meines Mutes und meiner Kraft. Meine cowboys wußte ich so treu wie Mameluken. Diese Verzweifelten offenbaren meist, wenn sie erst einmal ihrer Vergangenheit und der Civilisation entronnen sind, eine hohe Auffassung von persönlicher Ehre. Hatte mir ein ranch durch die Post, wie das üblich ist, mitgeteilt, daß die oder die Stute 200 Meilen von Fer de Lance bemerkt worden sei, so brauchte ich z. B. nur Frank kommen zu lassen und ihn zu bitten – im Westen befiehlt man niemals – mir das verlaufene Stück wieder herbei zu suchen. Er versprach mir, es wieder zu bringen, und ich kümmerte mich nun um weiter nichts mehr. Mit drei Sattelpferden, seiner undurchdringlichen Decke und seinem sechsschüssigen Revolver machte er sich auf den Weg. Ich war sicher, ihn einen oder zwei Monate später mit der Stute wieder zu sehen. Er hatte mir ja sein Wort gegeben. Wo hatte er während dieser Zeit geschlafen? Wie hatte er gelebt? Ich dachte gar nicht einmal daran, mir diese Fragen zu stellen. Leuten dieses Schlages gegenüber hatte ich das Gefühl verloren, daß etwas unmöglich sei. Mir selbst gegenüber hatte ich es verloren, so übermächtig loderte in mir das Feuer der Jugend, durch die frische Luft und durch völlige Keuschheit genährt. Die Sitten waren hier gewaltthätig bis zum Tragischen und streng bis zur Rauheit. Sie waren unverdorben und die Enthaltsamkeit bildete die Regel. Es kam wohl vor, daß die cowboys, wenn sie ihre Löhnung erhalten hatten, sich truppweise nach irgend einem Grenzdörfchen begaben, um dort eine elende Verkäuferin von Branntwein und Liebe aufzusuchen. Aber solche Orgien waren selten und nicht dazu angethan, uns in Versuchung zu führen. Man begegnete in der Prairie einem weiblichen Wesen so außerordentlich selten, daß die Pferde beim Anblick eines Weiberrockes meterweite Sprünge machten, und übrigens gestattete der excessive Verbrauch physischer Kräfte der Phantasie kaum, sich zu exaltieren. Die Ermüdung der Muskeln schaffte das ganze Nervensystem aus der Welt. Was mich betrifft, so war meine Lossagung vom Leben der Leidenschaft so total, daß ich selbst die Romane von Maupassant und die Verse Mussets nicht mehr vornehmen konnte, die ich ehedem vergöttert hatte. Sie schienen mir eine Art zu leben und zu leiden, die unwahrscheinlich, unbegreiflich war, zu schildern. Dagegen fühlte ich in mir selbst während meiner einsamen Streifzüge zu Pferde eine Art innerer Poesie heranwachsen, die aus einer tiefen Gemeinschaft mit der Natur entstand und durch Worte nicht wiederzugeben ist. Ich wurde mit den Tieren zum Tier, oder sie wurden mit mir zum Menschen, wie man will. Jetzt verstand ich die Sprache der Pferde, die mit den Ohren und Nüstern sprechen, der Kühe, die mit den Augen, der Stirn, dem Schweif vor allem sprechen, der Hunde, die mit dem ganzen Leibe sprechen, und deren Gedanke so schnell wechselt, daß man Mühe hat, ihnen zu folgen. Ich knüpfte mit diesen Wesen, die vormals stumm für mich waren, förmliche Geberden-Dialoge an. Das waren Zwiegespräche erhabener und intimer, als ich selbst mit dem unermeßlichen Wesen, dem Schöpfer aller Dinge und aller Kreaturen, unterhielt. Wenn ich bei Sonnenaufgang im Sattel sitzend und zum Fortreiten fertig, die wellige, unabsehbare Prairie betrachtete – gleichsam ein unbewegtes Meer an einem Tage, wo nur schwache Brise weht – so empfand ich einen heiligen Rausch, ein ekstatisches Entzücken zu leben, mich stark zu fühlen, diesen Horizont von Licht und Einsamkeit zu eigen zu besitzen. Fast unwillkürlich floß es mir über die Lippen: »Vater unser, der Du bist im Himmel.« Ich dankte Gott für die Gnadengabe des Lebens, für die Schönheit seiner Schöpfung, für die Gunst meines Schicksals, mit einem Erschauern meiner ganzen Seele, wie ich es nie zuvor gekannt hatte und wie ich es nie seitdem kennen gelernt habe. Nach dem eben Erzählten würde es mir übel anstehen, zu behaupten, daß gleiche Ergüsse bei den rohen Gesellen, unter welche ich mich geworfen fand, allgemein gewesen wären. Gleichwohl fühlen sie auf ihre Art die Gegenwart Gottes, der, wie es scheint, uns in der jungfräulichen Natur näher ist. Woher kamen die Art von Herzenshoheit, die sich unaufhörlich bei den besten unter ihnen zeigte, ihre Treue im Versprechen, ihre Solidität in der Freundschaft, ihre Tugenden der Ausdauer und Biederkeit? wenn nicht von einem Einflusse analog demjenigen, unter dessen Banne ich, nur bewußter, stand. Jedenfalls fühlte ich so, und ich würde keine getreue Darstellung meines damaligen Lebens gegeben haben, hätte ich nicht auch diese Regungen der Seele neben den anderen erwähnt.
Wenn man Monat um Monat über die Prairie, seine unbestrittene Domäne, galoppiert ist, so wird man eines Tages an einer bekannten Quelle vorbeikommend, auf dem Boden eine Anschwellung wahrnehmen, die am Tage vorher nicht dort war. Dicht daneben werden die Umrisse eines Wagens sichtbar. Ein Pflug, einige Werkzeuge zur Bearbeitung des Bodens und zwei oder drei schwindsüchtige Mähren, an einem Pflock festgebunden, zeigen an, daß ein Einwanderer mit seiner armseligen Habe da ist. Man lenkt sein Pferd nach jener Seite hin und auf ein kräftiges Hallo-Rufen sieht man, daß eine Decke zurückgeschlagen wird, die ein in den Boden gegrabenes Loch verbarg. Der Kopf eines Mannes taucht auf, dahinter Kinderköpfe: ganz im Hintergrunde zeigt sich das furchtsame und abstrapazierte Gesicht der Mutter. Man hat einen granger vor sich. Er wird vergangenen Herbst da vorübergeritten sein. Der Ort wird ihm gefallen haben. Er ist darauf nach dem Osten zurückgekehrt, seine Familie, sein Hab und Gut zu holen, und da ist er nun. Dieses Erdloch wird ihnen allen Obdach gewähren, bis zu dem Tage, wo er sein log-house errichtet haben wird.
»Hallo! Fremder,« sagt er, »wo kommt Ihr her?«
»Und Ihr, Freund? Der Fremde seid vielmehr Ihr.«
»Ich komme aus Nebraska, wo für meinen Geschmack zu viel Leute waren. Hier wird mir's besser behagen . . .«
Der cowboy sieht sauer drein. Ein granger hat ja nichts zu bedeuten. Aber morgen werden es ihrer zehn, übermorgen hundert, in Jahresfrist Tausende sein. Dennoch steigt er vom Pferde und die beiden Männer fangen eine Unterhaltung an, kühl zuerst, dann freundschaftlich. Der cowboy zeigt dem anderen die besten Jagdgründe. Alle beide haben sich niedergekauert und entwickeln eine wahre Wut im Zerschnitzeln von Holzstückchen. Die Frau bleibt im Innern des Loches verborgen.
Wie viele solcher menschlicher Maulwurfshügel habe ich auf der Prairie entstehen sehen! Diese kühnen Pioniere der Avantgarde kommen niemals aus Europa. Im Gegenteil, es sind Amerikaner aus den Vereinigten Staaten oder aus Kanada, welche die europäische Einwanderung nach dem freien Westen getrieben hat. Halb Landbauer und halb Jäger, mager und schweigsam, bronzefarben wie die Rothäute und kaum weniger wild, fliehen sie das civilisierte Leben, die Stadt und die Industrie. Sie gehen dem Heere der Ansiedler voraus und genieren kaum die Zucht-ranches. Nur kommt einmal der Tag, wo andere ihnen nachahmen. Die besten Weideplätze werden dann in Beschlag genommen. Überall erheben sich Einfriedigungen, woran die Pferde der ranches sich verletzen. Diese Leute bemächtigen sich aller Quellen. Nicht selten sieht man im Frühling ihre Kühe von fünf oder sechs Kälbern umringt – ein nicht eben überraschender Reichtum, wenn man dicht an einem ranch von 5000 Stück Vieh wohnt. Endlich entblöden sie sich kaum mehr, sich in jeder Weise auf Kosten des mächtigen Nachbarn zu ernähren. Das geht so lange, bis der foreman eines schönen Tages ihre Vertreibung beschließt. Bisweilen nehmen seine cowboys ihre Zuflucht zu Drohungen, bisweilen zum Feuer. Meist begnügen sie sich damit, während der Nacht die Herde des granger 100 Meilen weit fortzuführen. Der Unglückliche erwacht am Morgen als ruinierter Mann. Er begreift – und entschließt sich, von der Bildfläche zu verschwinden, oder aber er macht sich auf, sein Vieh zu suchen, ein Suchen, was niemals endet. Solches Verfahren mag ein wenig summarisch erscheinen, doch darf man nicht vergessen, daß dem Westen das Alte Testament zur Richtschnur dient, und die neuen Ankömmlinge müssen sich dem unterwerfen. Ferner, handelt es sich für einen ranch um Leben und Tod, so liegt der Fall der Notwehr vor, und sind derartige Mittel erlaubt. Wenigstens schienen sie es mir, als ich dort war. Von dem Tage an, wo sich die Zahl der Ankömmlinge allzusehr vermehrt, bleibt dem ranch in der That nichts anderes übrig als zu weichen und sich den Rocky Mountains zu nähern. Er hat seine Rolle als Avantgarde ausgespielt und er beginnt sie, so weit als möglich von jedem granger entfernt und so nahe als möglich den Indianern, wieder von neuem.
Der Indianer selbst ist der Feind des cowboy nur zu den Zeiten, wo die Streitaxt ausgegraben ist. Einige Monate nach unserer Ankunft wäre sie beinahe ausgegraben worden. Der foreman eines der ranches hatte Stücke Fleisch mit Strychnin vergiftet und auf die Prairie gestreut, um die Prairiewölfe zu töten. Zwei Sioux-Indianer aßen davon und starben unter gräßlichen Zuckungen. Zum Glück war der foreman mit Sitting Bull, dem Helden der Niedermetzelung des Generals Custer und eines Kavallerie-Regiments, befreundet. Derselbe hielt seinen Stamm davon ab, sich zu erheben. In Fer de Lance befanden wir uns an der Grenze der Reservation jener Sioux von Dakota. Das war uns eine sehr nützliche Nachbarschaft zur Zeit, wo die Steuern des Kreises eingeschätzt wurden. Wir ließen drei Viertel unserer Herden auf dieses Reservatgebiet übertreten und konnten so in allen Ehren eine nur sehr beschränkte Zahl von Tieren deklarieren. Ich werde später auseinandersetzen, wieso diese anscheinende Unzartheit nichts weiter als ein nur zu berechtigtes Mittel war, der gesetzlichen Brandschatzung zu entgehen. Die Indianer geben sich gefällig zu dieser List her, da auch sie viel vom Diebstahl der Regierungs-Agenten zu leiden hatten. Und dann fürchten sie auch nicht den freien Reiter, der, wie sie, auf der Prairie lebt. Den Kolonisten und den Ingenieur fürchten sie. Ich habe selbst jenen Sitting Bull sehr gut gekannt, der, beiläufig bemerkt, nachdem er sich ergeben, von der Regierung ein Haus erhalten hatte. Er schlief aber stets draußen vor der Thür. Er hatte noch nie unter einem Dache geschlafen. An dem Tage, wo der Pfiff der ersten Lokomotive in den Black Hills wiederhallte, befand ich mich mit ihm auf einer Anhöhe. Er betrachtete die seltsame Maschine lange, dann hockte er auf den Boden nieder und stützte den Kopf in die Hände. Zwei Stunden später, als ich wieder zu ihm kam, erblickte ich ihn noch in derselben Stellung.
»Sitting Bull ist alt,« war seine einzige Antwort auf meine Fragen. »Er möchte bei seinen Vätern sein, drüben auf der anderen Seite des Todes . . .« Es war mir unmöglich, an dem Abend ein anderes Wort aus ihm herauszubringen. Hatte er erraten, daß jene beiden Schienen, die unabsehbar weit über die Prairie liefen, seinem Stamm in diesem letzten, äußersten Zufluchtsort seiner Unabhängigkeit die Civilisation und folglich den sichern Untergang bringen sollten? Ich glaube es. Er war ein großer Häuptling, und gar bald verwirklichte sich sein Wunsch. Bei der Erhebung von 1891 wurde er getötet, und ich wünsche ihm alle Ruhe »drüben auf der anderen Seite des Todes«. Denke ich an die Indianer, die ich dort kennen gelernt habe, so kommt mir sein rauhes Gesicht mit dem langen Kinnbacken zu allererst in Erinnerung, sowie das eines jungen Weibes, einer Utah, der ich mit ihrem Manne in der Umgebung der Salt Lake City begegnete. Sie baten mich um Tabak und rauchten meine Cigaretten mit samt der Hülle auf. Der Krieger war unzufrieden mit ihr und wollte sie an irgend einem entlegenen Orte umbringen. Thatsächlich kam sie nie wieder zum Vorschein. Obwohl ich damals die Absicht des Utah nicht argwöhnte, hab' ich mir stets Vorwürfe gemacht, daß ich meine Auskundschaftungen nicht in ihrer Gesellschaft, gutwillig oder gezwungen, fortgesetzt habe. Der Gedanke war mir wie eine Ahnung durch den Kopf geschossen. Ohne Zweifel hätte ich dem jungen Weibe das Leben gerettet. Ihr liebes Gesicht mit den großen, süßen, so gefaßt dreinblickenden Augen hat mich Jahre lang verfolgt.
Solche Begegnungen sind selten, wie schon gesagt, und zum großen Glück, denn wenn Rivalitäten um den Besitz des Weibes die Wildheit der Händel beim Spiel oder beim Trunk noch verbitterten, die schon jetzt die saloons mit Leichen anfüllen, so würde die ganze Prairie gar bald entvölkert sein. Aber eine andere Versuchung ist dafür nicht selten: die der Gold- und Silberminen, die ganz plötzlich in der Nachbarschaft entdeckt werden. Man hört die Neuigkeit von einem Vorübergehenden. Man glaubt nicht daran. Doch sie bestätigt sich. Man erinnert sich, mit dem Manne gesprochen zu haben, dem dieser goldene Regen plötzlich in den Schoß gefallen ist. Er suchte seine Mine seit Jahren. Man hat sich wohl selbst über ihn lustig gemacht, wie die anderen auch, und nun ist er auf einmal Millionär. Ähnliche Beispiele kommen einem in den Sinn und man sagt sich: »Warum sollte ich's denn nicht auch einmal versuchen? . . . Wer weiß? . . . Vielleicht würde ich dasselbe Glück haben? . . .« Das ist der erste Anfang des Goldfiebers. Indessen, die Arbeit des ranch ruft einen wieder in die Wirklichkeit zurück. Man hat Pferde und Ochsen, die verkauft werden sollen. Man muß Meile um Meile galoppieren. Der Anfall geht vorüber. Ein paar Wochen später sitzen die cowboys plaudernd ums Feuer. Man hört ihnen zu. Sie unterhalten sich von einem anderen Goldgräber, der eine andere Ader entdeckt hat. Wieder wird man von demselben wahnsinnigen Verlangen ergriffen, sich aufzumachen und selbst jenes Gold zu suchen, das rings um einen liegt, das sich hie und da, ganz in der Nähe, vielleicht gar unter unseren Füßen versteckt. Nach einigen Anfällen hat das Fieber seinen Höhepunkt erreicht. Eines Morgens nimmt man seinen Revolver, Speck und Mehl, und macht sich auf den Weg durch die Felsen, die Augen am Boden, den Geist, das Herz, den Willen am Boden, ganz beherrscht, hingerissen, hypnotisiert durch das magische Wort, das man sich auf den schlechten Wegen, unter der brennenden Sonne oder unter dem Schnee, fortwährend wiederholt: »Gold, Gold, Gold! . . .« Es ist ein ansteckendes Wahnsinnsfieber, dem nur sehr wenige entgehen. Ich ward von ihm vergiftet, wie die anderen. Auch ich habe mich wie ein Goldsucher ausgerüstet und bin davongegangen. Einer meiner cowboys hatte eben eine Silbermine entdeckt und sie für 10 000 Dollars verkauft. Am nächsten Morgen nach dem Verkauf unterlag ich. Ich sehe mich noch, wie ich die Engpässe des Gebirges betrat, wie ich die Steine durchwühlte mit dem Blick, mit den Händen, mit der Spitze einer Hacke. Eine Meile um die andere und einen Felsen um den anderen. Vor dem Phantasiegebilde »Gold« war alles verschwunden: Ermüdung und Appetit, das Gefühl meiner Pflichten gegen meinen ranch, den ich hinter mir zurückgelassen, und meine Menschenwürde. Morgen werde ich welches finden! Morgen und nochmals morgen! . . . Sechs Tage ging es in dieser Weise fort. Ich war geliefert. Als ich am Morgen des siebenten Tages mein Gebet verrichtete, das ich während dieser infernalischen Woche der Besessenheit vernachlässigt, hatte Gott die Gnade, mir über meine Verirrung die Augen zu öffnen. Wenn ich mich so feierlich ausdrücke, geschieht das absichtlich. Ich habe Leute von sehr hervorragender Intelligenz, von sehr großer Thatkraft gekannt und kenne sie noch heute, die sich im Innern der Wüsten auf der Suche nach Gold jämmerlich aufbrauchen, ohne daß irgend welche Enttäuschung, irgend welche vernünftige Erwägung, irgend ein Beweis sie von ihrem Hypnotismus heilte.
Hopkins, einer dieses Schlages, erzählte mir, wie er wochenlang, von kaltem Speck lebend, in Felsspalten zugebracht habe. Der geringste Rauch hätte die Indianer aufmerksam gemacht, welche die Prairie nach allen Richtungen auf der Suche nach seinem Skalp durchstreiften. Nichtsdestoweniger hatte er während dieser Verfolgung seine chimärische Jagd nach dem Glück fortgesetzt. Als ich ihn kennen lernte, öffnete er eben eine neue Mine. Sein Schacht stieg schon 30 Fuß tief herab: »Welch' reiche Mine! Da unten sind Millionen über Millionen, wie sie Mackay in La Bonanza fand . . . Fehlen mir nur Kapitalien, um die Ader bloszulegen. Ich habe nach Chicago geschrieben, man wird kommen . . .« Armer alter Hopkins! Er sah sie bereits, seine Millionen, er strich sie ein, er zählte sie. Er würde reich, sehr reich sein. Riesige Maschinen würden Tag und Nacht das Edelmetall für ihn brechen. Welches Entzücken sprach aus diesem hageren, abgezehrten Gesicht, dem das viele Träumen vom Gold förmlich die Farbe des Goldes verliehen zu haben schien, das infolge von Entbehrungen und Leiden ganz ausgemergelt und durchfurcht war, und in diesem Gesicht brannten zwei Flammenaugen, Augen eines Gläubigen und eines Phantasten. Der Westwind heulte durch die elende Hütte, deren klaffendes Dach seine Träumereien beschirmte. Und ich, der ich dieses selbe Fieber eine kurze Zeit kennen gelernt hatte, fühlte Mitleid mit seinem Wahne und bin sacht hinweggeschlichen, um ihn nicht an die Wirklichkeit zu erinnern.
Entdecken die Goldgräber auch nicht oft Minen wie die von la Bonanza, so sammeln sie doch wenigstens in ihren placers ein bischen Goldstaub, und wenn sie ihren Gewinn, nach Art der französischen Bauern, auf die Seite legten, so würden sie in behaglicher Wohlhabenheit alt werden. Aber der Westen ist nicht das Land der Sparkassen und der kleinen Rentner. Er ist das Land der Abenteurer, der Spieler, des »Alles oder Nichts«. Die Goldsucher sind kaum im Besitze einiger hundert Dollars, die cowboys haben kaum ihren Lohn erhalten, so beeilen sie sich auch schon, die einen wie die anderen, dieses Geld in der benachbarten Stadt, 50, 200 Meilen weit, auszugeben. Was uns anlangt, so begaben wir uns einmal im Jahre nach Deadwood und leisteten uns den Luxus der einzigen Loge des Gaiety Theatre. Es war dort etwas ungemütlich, in Anbetracht dessen, daß die Zuschauer im Orchester die schönen Stellen dadurch applaudierten, daß sie ihre Revolver nach den sonderbaren Plafondbildern abschossen. Nun hatte ich aber am eigenen Leibe erfahren müssen, wie leicht eine Kugel von ihrem Ziele abirrt. Die Loge übte einen wunderbaren Reiz auf die schauderhaften, aus Chicago importierten Tänzerinnen aus, die uns mit ihren schmachtenden Blicken rein erdolchten, während sie ihre runden Beine produzierten. Hatten wir ihnen eine erkleckliche Anzahl Dollars auf die Bühne geworfen, so stiegen sie zu uns herein, um uns der Sitte gemäß zu umarmen, und vornehmlich, um uns eine Flasche »Champagner« abzuschmeicheln, die 30 Franken kostete. – Sie mochte wohl 30 Sous wert sein! – Oft warf ein gespaßiger cowboy den Lasso nach ihnen, während sie von der Bühne nach unserer Loge gingen, und dann brach im Publikum ein neuer Beifallssturm los, begleitet von einem neuen Abfeuern der Revolver, und dabei war die Atmosphäre so von Alkohol geschwängert, daß es schien, als müßten die Streichhölzchen, womit sich die Besucher ihre Cigarren oder Pfeifen ansteckten, mit einem Schlage den ganzen Saal in Flammen auflodern lassen.
Zwischen Vergnügungen dieser Art und ihrer Galeerensklaven-Arbeit bewegt sich das ganze Leben der Goldsucher hin und her, wenigstens derjenigen, welche ehrlich sind. Andere, intelligentere und gewitztere, gelangen durch Gaunereien, deren Raffiniertheit zu schildern ganze Bände erfordern würde, zu riesigem Vermögen. Ich will mich begnügen, das Abenteuer eines gewissen Parker zu erzählen, der im Jahre 1885 eine Mine für 200 000 Dollars baar an Frissel & Co., große Bankiers in einer der großen Städte des Westens, verkaufte. Parker hatte seinen placer-claim in einer Länge von zwei Meilen mit Goldstaub präpariert. Er hatte hier in den Sand mehr als 10 000 Dollars vergraben. Nie trug ein Kapital so hohe Zinsen. Auf den Bericht zweier Gelehrter, ernsthafter Männer, die ganz expreß aus Boston gekommen waren, wurde die so auf künstlichem Wege hergestellte Mine als eine unberechenbar reiche erkannt. Frissel & Co. schätzten sich glücklich, diesen Schatz gegen einen Check von einer Million Franken, so viel forderte Parker, zu erwerben. Die Gelehrten kehrten fürstlich belohnt nach Boston zurück. Parker belohnte die Honoratioren, deren Zeugnis die Existenz des Goldfeldes bestätigt hatte, nicht weniger generös. Die ehrlicheren Leute hatten sich begnügt, zu schweigen. – »Mag er sich doch verteidigen! . . .« so lautet das Wort, das jeder in der Prairie im Munde führt, dieweil in seiner nächsten Nähe ein Unglücklicher ausgeplündert wird. Da Frissel & Co. sich niemals beklagt haben, so warten sie wahrscheinlich nur auf eine günstige Gelegenheit, den mit Gold durchsetzten Bach um das doppelte oder dreifache dessen, was sie bezahlt haben, an eine Gesellschaft zu verkaufen, die ihrerseits die Aktien mit großem Aufwand an Reklame unter den Leichtgläubigen Europas unterbringen wird. Das Ganze wird mit einem Krach endigen, bei dem die kleinen Leute das Nachsehen haben werden. Das ist das Gesetz des Lebens, so wie es die Amerikaner verstehen. Und Parker? Ihm hat der bewunderungswerte bluff noch mehr Prestige als Vermögen eingebracht. Er ist jetzt einer der einflußreichsten Bürger von Omaha – »So smart a man! . . .« und auf dem besten Wege Senator zu werden. Er besitzt in einer neuen Stadt vier ganze Häuserviertel, und er hat ohne Zweifel seinen Betrug vergessen, wie auch den verdammten Franzosen, der ihm eines Tages eine Kugel seines Colt 44 in den Schenkel jagte, als er sich öffentlich gegen die französischen Frauen in Schmähungen erging, die er alle in Paris gelernt zu haben vorgab. Ich hatte absichtlich tief gezielt, da ich meinen Mann nicht töten wollte, der mir darauf ebenfalls einen Streifschuß am rechten Ohre beibrachte.
Drei Monate später wäre mir dieser Revolverschuß beinahe teuer zu stehen gekommen. Parker, der mich seit unserem Kugelwechsel aus den Augen verloren, traf mich eines Tages in den Straßen von Custer City. Er ließ mich sofort unter der Beschuldigung der Körperverletzung arretieren. Die Sache kam zunächst vor den Friedensrichter, einen gewissen Richardson, der zufällig mein Krämer war. Ich schuldete ihm noch mehr als 200 Dollars. Außerdem hatte ich seine Wahl unterstützt. Ich wurde ehrenvoll durch ein also gefaßtes Urteil freigesprochen: »In Anbetracht, daß die Gefühle des Beklagten eine schmerzlichere Wunde erhalten haben, als das Bein des Klägers . . .« Unter anderen Umständen hätte ich in die Hände desselben Richters eine hohe Summe niederlegen müssen, die er mit Parker geteilt hätte. Bei dieser Gelegenheit kann ich es nicht unterlassen, von dem zu sprechen, was alle Geschäfte beherrscht und alle Erfolge in diesem von Natur so freien und so reichen Westen hemmt: es ist der unversöhnliche, erbitterte Kampf gegen das Geld des Fremden, namentlich unter zwei Formen, welche unsere französischen Vorurteile uns als Errungenschaften ansehen lassen, unter denen der Steuern und der Justiz.
Die Züchtung der Rinder und Pferde brachte zu meiner Zeit 30% Reingewinn auf der Prairie. Gute und möglichst einsame Weideplätze, auf denen wir als moderne Patriarchen und als entschlossene cowboys – die niemals Bedenken trugen, einen Viehdieb ohne viel Federlesens an einen Baum aufzuknüpfen, oder die grangers und Indianer weiter zurückzudrängen – unzählige Herden hätten heranwachsen und sich vervielfältigen lassen können, würden uns 60% von unserem Kapital gesichert haben, hätte man nicht mit obigen beiden Blutegeln rechnen müssen. Die Kapitalsteuer bildet die Haupteinnahme der Staaten. Die Deklarationen streben natürlich dahin, ein möglichst geringes Kapital anzugeben, und es möchte schwer sein, die Zahl der Meineide zu zählen, die alljährlich zur Frühlingszeit in den Territorien des Westens geleistet werden. Demgemäß ist eine Specialkommission eingesetzt, welche ¾ dieser Deklarationen nach Gutdünken rektifiziert. Ihre Beschlüsse gründen sich auf die anonymen Denunziationen, von denen es hier, wie anderwärts, wimmelt, und hauptsächlich auf die politische Farbe des Steuerpflichtigen. Ist er ein Freund, so werden seine Deklarationen sofort als richtig anerkannt. Ist er ein Feind, so wird seine Einschätzung verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht. Dann handelt sich's drum, zu allem Überfluß noch 5–6% dieses Betrages zu zahlen, je nach dem auszugleichenden Defizit, will sagen, nach der Zahl der Schatzmeister, die einander an der Kreiskasse abgelöst haben. Was soll nun aus einem Fremden werden, der zu keiner Partei geschworen hat und dem von allen das Fell abgezogen wird? Nur eine Hoffnung bleibt ihm: den Kontrolleuren das Abzählen der Herden zu erschweren. Wir hatten in Fer de Lance einen arabischen Zuchthengst, der inmitten seines wilden Gestüts ein veritables wildes Tier geworden war. Er hatte einen harmlosen Passanten der Prairie, welcher nicht weit von seinem Lieblingsweideplatze vorbeiging, halb getötet. Diese Zuchthengste greifen mit den Zähnen und den Vorderhufen alle Personen an, die sie nicht kennen. Der durch das Tier verbreitete Schrecken bewahrte uns vor der Auszählung. Die Besitzer mußten sich auf mein Wort verlassen. Um nicht meineidig zu werden, ließ ich, wie gesagt, als der Zeitpunkt der Eidesleistung da war, meine Herden auf das Indianer-Reservatgebiet übertreten, und es blieb mir nur eine sehr beschränkte Anzahl von Tieren zu deklarieren. Trotz dieser Vorsichtsmaßregel erreichten unsere Abgaben eine so bedenkliche Höhe, daß sie die Hälfte unseres Gewinnes verzehrten. Denn dreimal während meines Lebens als cowboy verschwand der Schatzmeister des Kreises mit der Kasse, so daß wir zu guterletzt 12 bis 15% Zuschuß zahlen mußten, um nur das Budget ins Gleichgewicht zu bringen. Hatte ich da nicht recht zu behaupten, daß Steuerdefraudation schließlich ein legitimer Akt von Notwehr wird?
Die ranchmen machten denn auch, wie man sich denken kann, davon recht ausgiebigen Gebrauch. Ich erinnere mich noch daran, was Fyffe, der damals Schatzmeister war und jetzt Strafanstaltsgefangener ist, für ein Gesicht machte, als der foreman der Anglo-Amerikanischen Kompagnie feierlichst erklären kam, daß ihm infolge der Unbilden der Jahreszeit nur eine einzige Milchkuh übrig geblieben sei. Dabei besaß die Kompagnie mehr als 30 000 Stück Vieh! Hinzuzufügen ist, daß besagter foreman ebenfalls an jenem Morgen einige corpse-revivers zu viel getrunken hatte. Fyffe war wie versteinert vor Bewunderung über solch eine Kühnheit: »What a pluck! . . .« rief er und ließ die erstaunliche Deklaration anfänglich wirklich gelten. Hinterher brachte ihn ein hohes, von einer konkurrierenden Kompagnie dargebotenes Trinkgeld von seinem ersten Gutachten wieder ab, und mit einem Federzuge vermehrte er die Einschätzung um das 20 000fache. Das trug ihm von seiten der cowboys eine Schein-Lynchung ein, wobei der gemeine Erpresser um ein Haar sein Leben lassen mußte.
Wie soll man sich nun gegen Leute von solcher Integrität des Gewissens verteidigen? An wen appellieren? Etwa an die Justiz? Jedes kleine Dorf des Westens zählt tatsächlich neben seinen zwei oder drei Generalen und seinen 30 oder 40 Obersten eine gleiche Zahl Advokaten. Ach, über diese Advokaten! Sie sind die Geißel der Länder mit wählbarem Richterstand! Immer auf dem Sprunge, die Cigarre zwischen den Lippen von früh 7 Uhr bis 9 Uhr abends, erwägen sie alle Möglichkeiten, die einen Prozeß für sie abwerfen könnten. Kein Streit, keine Zwistigkeit, kein irgendwie lebhaft gesprochenes Wort, das ihnen nicht zu Ohren käme, und sogleich stürzen sie sich förmlich auf einen und bieten ihre Gratisdienste mit der lockenden Perspektive gewaltiger Schadloshaltung an. Man acceptiert. Das Verfahren nimmt seinen Anfang. Gar bald aber ist die Verwirrung derartig, daß sich niemand mehr zurecht findet. Alsdann benachrichtigt uns der Advokat mit betrübter Miene und thränenden Augen, daß der Prozeß verloren sei. Er giebt die Gründe an, die genau das Gegenteil von denen sind, die er zuerst geltend machte, um einen zu dem unglückseligen Schritte zu verleiten. Damit man noch besser überzeugt werde, führt er uns insgeheim zum Richter, der die Reden des ehrenwerten Advokaten bestätigt. Gleichwohl sei eine Versöhnung möglich. Man unterschreibt, um nur aus dieser verteufelten Lage herauszukommen. Und die Kosten? 200, 300, 1000 Dollars, je nach den Vermögensumständen. In den Betrag teilen sich höchst billigerweise die beiden Advokaten und der Richter. Ich habe einen Landsmann von mir gekannt, der die Schuld auf sich geladen hatte, einen Banditen, welcher zuerst auf ihn geschossen, ins Jenseits befördert zu haben; er konnte seine so überaus gerechte Freisprechung nur durch Erlegung von 20 000 Dollars erzielen . . .
Man ist empört, nicht wahr? Auch ich war einst empört über diesen erschrecklichen Mangel an Berufsehre. Es giebt allerdings Ausnahmen, aber sehr seltene, und mit der Zeit gewöhnt man sich an die Mißstände, wie an den Regen im Herbst und den Schnee im Winter. Mit den Justizbeamten in den kleinen Städten des Westens verhält sich's ebenso wie mit den Ärzten und den Dentisten. Noch einige Geschichtchen, bevor ich schließe. Herbert kam uns eines Tages aus Omaha, wohin er gegangen, um seine Zähne ärztlich behandeln zu lassen, zurück, den ganzen Mund voll kleiner Löcher, die ihm der Operateur, nachdem er ihn chloroformiert, gebohrt hatte. Er konnte es vor Schmerzen nicht aushalten und mußte nochmals hin; da hat er sich denn diese Höhlungen mit Gold ausfüllen lassen, jede einzelne für 10 Dollars . . . Einer meiner cowboys siechte infolge der Behandlung durch einen Arzt hin, der eine Magenkrankheit bei ihm diagnostiziert hatte. Er mußte täglich ein Pulver nehmen, das uns verdächtig vorkam. Wir ließen es analysieren und erfuhren so, daß dieses vermeintliche Heilmittel nur darauf berechnet war, die Indisposition des Kranken in die Länge zu ziehen. Er hatte bereits mehr als 100 Dollars – seinen Verdienst von zwei Monaten – in die Hände des Vergifters entrichtet. Diese moralischen Abscheulichkeiten und hundert andere, die ich mir zu erwähnen versage, sind die zwingende Folge des furchtbaren Konflikts von Thatkraft und Ehrgeiz, der auf der Prairie entfesselt wird. Ich gab mir von dieser Notwendigkeit selbst dann Rechenschaft, wenn ich am meisten darunter litt. Stießen wir, Herbert und ich, uns einmal an irgend einer gar zu krassen Barbarei, so riefen wir einander eine pittoreske Annonce ins Gedächtnis, worin wir diese beginnende Civilisation sich symbolisch spiegeln sehen. Wir hatten zur Zeit eines Ausstandes der Eisenbahn-Beamten auf einem Bahnhofe gelesen: ›Passenger, this line is boycotted. You'd better buy an insurance ticket, as this train will run by a green engineer . . . Reisender, diese Linie ist boykottiert. Sie würden gut thun, sich einen Versicherungsschein zu kaufen, denn dieser Zug wird von einem Ingenieur, der noch Neuling ist, geführt . . .‹ Wir begegneten ihr überall wieder, dieser Hand des green engineer, und ich mußte dann an Frankreich denken, das so schön, so traut, so vollkommen, ein wahrhaft liebes Land ist, selbst in seinen Mängeln, und das man nur verlassen zu haben braucht, um das Glück, darin zu leben, voll zu würdigen. Ein Amerikaner drückte das einst so schön aus, als ich ihn fragte, was ihm in Paris am meisten aufgefallen sei? – ›Well,‹ erwiderte er, ›the finish of it . . . das Vollendete in dieser Stadt . . .‹ Und ich bin in mein teueres Frankreich nicht wieder zurückgekehrt, ich weiß nicht, ob ich jemals dahin zurückkehren werde. Wo man seine Familie hat, dort hat man sein Vaterland und meines ist jetzt in der kanadischen Stadt am Ufer des gewaltigen, wie ein Meer stürmischen Sees, wohin ich gekommen bin, um die Verluste wieder wett zu machen, welche der letzte Indianeraufstand dem armen, jetzt ruinierten ranch »Fer de Lance« zugefügt hat. Und jetzt, wo ich diese Memoiren beendige, die recht wohl posthum heißen könnten, da ja der cowboy Sheffield gestorben ist und wiederum dem Franzosen Raymond Platz gemacht hat, jetzt führt mich ein Heimweh wieder nach der Prairie. Ich fühle, wie tief ich diese traurige Wüste geliebt habe, die doch so anziehend ist, wenn man jahrelang in voller, strotzender Jugendkraft, den Revolver in der Faust, den Karabiner am Sattelknopf, darin gelebt hat. Da hab' ich ihn vor mir, meinen cowboy-Sattel, und schaue ihn sinnend an. Mir ist's, als hörte ich den Wind, der mich umwehte in den Nächten, die ich draußen zubrachte und der mir dieselben geheimnisvollen Worte zuflüsterte, die er spricht seit Erschaffung der Welt. Wieder erblicke ich die Unendlichkeit der Steppe, hie und da von Canons durchschnitten, wo sich zur Mittagszeit die Hirschkühe mit den Kälbchen verbergen, von stillen Quellen durchrieselt, wo die Pumas den zarten, schwachen Gazellen auflauern. Ich fühle, wie die Hufe meines Pferdes die hohen, ausgedörrten Gräser Dakotas niedertreten. Der Wind trägt das frische Aroma des Salbeigesträuchs von Wyoming zu mir herüber. Das ganze große Land dehnt sich vor mir aus – ein wildes und gefahrvolles, aber freies Land, wo alles in allem, wie ich erprobt habe, das Leben weniger schmerzensreich als anderswo ist – ein Land erhabener Regungen, wo ich der Natur, wo ich Gott so nahe gewesen . . . Mit zitternder Hand streichle ich das lohfarbene Leder dieses Sattels, und fast mühsam muß ich das unsinnige Verlangen niederkämpfen, das mich anwandelt: wieder wie einst in diesem Sattel zu sitzen, wie einst mein kühnes Roß zu spornen und weiter, immer weiter gen Westen zu reiten – ich, der ich doch drei Kinder zu Hause habe . . .