Paul Bourget
Der ehemalige Herr / Memoiren eines Cowboy
Paul Bourget

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Der ehemalige Herr

Wenn ich auf meiner Reise nach dem Süden von Nordamerika zum ersten Haltepunkt eine kleine Stadt in Georgia machte, deren Namen ich hier nicht nennen kann – warum, werde ich gleich sagen – so verband ich damit die Absicht, daselbst einen ehemaligen Offizier der Nordarmee aufzusuchen, einen Busenfreund des großen Präsidenten. Den Namen desselben verschweige ich ebenfalls; ich nenne ihn einfach Colonel Scott, ein Pseudonym, welches ihn seinen Intimen nicht unkenntlich machen wird. Er will es einmal so. Ein gemeinsamer Bekannter, der mir in Washington einen Brief für ihn übergab, hatte mir gesagt: »Machen Sie sich auf den kompliziertesten Menschen gefaßt, auf einen Mann, welcher wahrhaft many sided ist, wie wir zu sagen pflegen. Sie werden sich selbst ein Urteil über ihn bilden. Er ist aus Massachusetts gebürtig, und es steckt eine Art Puritaner in ihm. Er hat den Krieg mitgemacht und er hat auch etwas Soldatisches an sich. Später hat er Medizin studiert und dabei einen gewissen Zug von Gelehrtheit angenommen. Darauf wurde er Geschäftsmann und leitete eine große Gesellschaft für Uniformen- und Livreeknöpfe, und seit jener Zeit ist er auch ein Industrieller. Auch vom Großgrundbesitzer hat er manches an sich, nachdem er eine große Pflanzung im Süden angekauft; der Gesundheitszustand seiner Tochter bestimmte ihn dazu, ein gentleman farmer zu werden. Vor allen Dingen aber ist er ein sehr mildthätiger und rechtschaffener Mensch, voll von Erinnerungen an Lincoln, Grant, Hooker, Sherman . . . Kurz, Sie werden ja mit ihm plaudern . . .« Ich habe in der That viel mit dem Colonel geplaudert und bei diesen Unterhaltungen Stoff gesammelt, den ein Chronist des Sezessionistenkrieges benützen könnte. Er hat mir nach einigem Zaudern gestattet, von seinen Mitteilungen Gebrauch zu machen, und mich nur gebeten, einige Einzelheiten sowie seinen Namen und den seiner Stadt zu ändern. Am interessantesten ist mir der Mann durch einige persönliche Erlebnisse mit ihm geworden, die ich hier treu und wahrheitsgemäß berichte.

* * *

Also ich kam nach Philippeville – so wollen wir jene kleine Stadt Georgiens nennen. Es war um die Mitte des Monats März. Das erste, was ich that, war, daß ich mich nach der Adresse von Mr. Scott erkundigte. Man sagte mir, er wohne etwa zwei Meilen von der Stadt entfernt, aber ich müßte ihm vorher schreiben, um ihn nicht zu verfehlen. »Er ist ein passionierter Jäger,« meinte Mr. Williams, der Hotelwirt, welcher mir diese Auskunft gab, »und er kehrt manchmal drei oder vier Tage lang nicht zurück. Sie müssen nämlich wissen, mein Herr, daß wir die schönsten Jagden von Amerika haben: Damhirsche, Enten, Auerhähne, Rebhühner, Wachteln und kein einziges wildes Tier, keinen Bären, kein Puma. Ach! Philippeville ›schlägt‹ alle Städte des Südens, Philippeville beats every town in the South!«

»Keine wilden Tiere?« rief ich; »und die Alligators und die Klapperschlangen?«

»Die sind ganz da unten in Florida,« antwortete er mir, »ja mein Herr, seit zwanzig Jahren bringe ich hier jeden Winter und jedes Frühjahr zu, und nie habe ich andere Schlangen gesehen als Nattern.«

Der werte Herr Williams vergaß hinzuzufügen, daß er während seines zwanzigjährigen Aufenthaltes keine hundertmal das Hotel verlassen hatte.

Er hatte übrigens da ein Ideal von komfortabler Herberge für alle Reisenden eingerichtet, die er wie Freunde behandelte, indem er für ihre Behaglichkeit und Zerstreuung sorgte, wie der Kastellan eines Landschlosses, der eine Anzahl Gäste zu bewirten hat.

Man findet nirgendwo anders als in den Vereinigten Staaten jenen Typus von Hoteleigentümer, welcher im gemeinschaftlichen Eßsaal jeden Tag im Frack speist, vis-à-vis seiner Frau, die in großer Toilette dasitzt. Alle beide verbringen nachher den Abend in dem »hall« mit ihren Gästen bei den Klängen eines für die Saison gemieteten Orchesters. Ich habe übrigens guten Grund zu glauben, daß bei dem Besitzer von Williamshouse in Philippeville die Rücksicht auf mich, den an wilde Tiere wenig gewöhnten, friedlichen Spaziergänger, über die Wahrheitsliebe siegte. Denn ich hatte mich kaum achtundvierzig Stunden am Orte aufgehalten, als ich bereits die Bekanntschaft eines dieser von Williams so liebenswürdigerweise nach Florida verbannten Ungeheuer machte. Ich will hinzufügen, daß die Grenze, welche Georgia von Florida trennt, durch eine dreistündige Wagenfahrt von Philippeville aus zu erreichen ist. Ein Alligator oder eine Klapperschlange kann diese Entfernung ohne zu ermüden an einem Nach- oder Vormittag bequem zurücklegen, wenn die Sonne ihr kaltes Blut allzusehr erwärmt oder wenn Hunger oder Liebe sie peinigen. Geben wir also zu, daß das Tier, von dem ich sprechen will, aus dem schrecklichen Florida gekommen war und daß somit Mr. Williams nicht gelogen hatte.

Heute, wo ich fern von jenem heißen Klima diese Erinnerungen niederschreibe, kann ich es selbst kaum glauben, daß ich nicht lüge und daß ich wirklich am Tage meiner Ankunft in Philippeville jenen leichten, kleinen Wagen nahm, daß jener Wagen wirklich die lange, von hölzernen Negerhäusern eingesäumte Straße zurückgelegt hat, und daß ich mit meinem Kutscher wirklich durch den Terpentinwald hindurch gefahren bin, bis wir an einen Pfahl der Lichtung gelangten, auf dem einfach die Worte geschrieben standen: »Scott's Place«. Ich sehe mich noch wie im Traume aus der Kalesche steigen, und eine gewundene Allee entlang gehen, und erblicke ganz am äußersten Ende ein breites, niedriges Haus, in dem ich das des Herrn vermute. Es war ganz aus Holz, wie die der Neger in Philippeville, aber gefirnißt, gelb lackiert, mit einem dunkelrot gefärbten Dache. Um das Haus herum führte ein hölzerner, blau angestrichener Zaun. Ich brauchte nicht lange zu klingeln und nach dem Besitzer des so friedlichen und mit seinem einzigen Stockwerk so nett aus dem Gerank von wilden Rosen hervorschauenden Landhauses zu fragen. Eine Schar von fünfzehn bis zwanzig Negern, Männern, Weibern und Kindern, drängte sich am Eingange. Jener Kreis von Krausköpfen umgab einen Mann von etwa sechzig Jahren. Von großer, stämmiger Gestalt, war er doch behende, wie er so dastand in seinem Jagdkostüm mit den hohen Ledergamaschen und der braunen Sammetjacke. Der Oberst, denn dieser war es, bemerkte mein Nahen ebensowenig als die Schwarzen, welche ihm, der einer äußerst seltsamen Beschäftigung oblag, mit gespannter Aufmerksamkeit zuschauten. Er war über eine große Kiste aus weißem Holz gebeugt, die mit Latten, welche auseinander standen, verschlossen war. Die Kiste mußte, nach dem Geräusch, das von ihr ausging, ein sonderbares und gereiztes Tier enthalten. Es klang wie ein Reibeisen, welches heftig über einen sehr harten Gegenstand hin und her geführt wird. Mr. Scott hielt in seiner rechten Hand einen Stock, an dessen äußerstem Ende er einen großen Watteknäuel befestigt hatte, und mit diesem Watteknäuel, den er von Zeit zu Zeit mit einer wasserfarbenen Flüssigkeit aus einer großen Flasche begoß, fuhr er durch die Spaliere des Deckels hindurch in die Kiste hinein. Ich empfand bald den faden und süßlichen Geruch des Chloroforms. Was war das für ein Tier, das der Oberst auf solche Weise einzuschläfern versuchte? Das reibeisenartige Geräusch wurde immer schwächer und schwächer. Ein Neger sagte endlich: »Jetzt schläft sie.« Der Oberst goß nun den Rest aus der großen Flasche in den Kasten. Er stöberte mit dem Stock darin herum, um sich des Schlafes zu vergewissern. Darauf ergriff er eine Zange, riß eine von den Latten des Deckels herunter und stürzte den Kasten um. Ich sah, wie zuerst ein Kopf herauskam, ein unbeweglicher, mächtiger Schlangenkopf, so breit wie meine Hand, dreieckig und platt mit aufgequollenen Drüsen. Träge hing er am Halse herab, unter dem weich und weiß die Haut erzitterte. Der Körper des Tieres wickelte sich seiner ganzen Lage nach aus. Er maß vielleicht acht Fuß und war armdick. Ein kleiner Schwanz bildete das Ende, das aus etwa zwölf Ringen bestand. Diese sahen aus wie in die graue Hornhaut hineingedrechselt. Das Aussehen der Klapperschlange war so scheußlich und rechtfertigte den schrecklichen Beinamen, welchen der Naturforscher dieser Art gegeben hat – crotalus atrox – in solchem Maße, daß die Neger entsetzt vor dem Tiere zurückwichen, obwohl es doch im Augenblicke ganz unschädlich war. Der Oberst öffnete mit der Behendigkeit eines Operateurs, der weiß, daß seine Zeit kurz bemessen ist, mittelst des Stockes das furchtbare Maul des Ungeheuers. So hielt er ihm die Kinnbacken auseinander, zwischen denen die gedoppelte und am Gaumen gleichsam festgeleimte Zunge rot hervorleuchtete. Nun sah ich, wie er mit der andern Hand ein metallenes Instrument ergriff, einen Pelikan, wie deren sich die Dentisten bedienen. Er setzte die Zange ans Maul an, das sich blutig färbte. Einen Ruck, und er wirft einen der Zähne der Schlange zu Boden. Ein zweiter, ein dritter, ein vierter Ruck: vier lange, gekrümmte Elfenbeinnadeln zieht er ihr aus, zarte, aber schreckliche Beißwerkzeuge, die gegenwärtig noch genügend Gift enthalten, um dem, der sich nur ein wenig daran den Finger ritzte, den sichern Tod zu bringen. Das Tier aber schläft weiter mit einem blutigen Geifer am Rande des Maules, das wieder geschlossen ist. Der Oberst ergreift es mit seiner behaarten Hand mitten am Leibe. Er wirft die schlaffe Masse in die Kiste hinein, verschließt den Deckel wieder mit drei Hammerschlägen, liest die gefährlichen Hohlzähne einzeln vom Boden auf, legt dieselben sorgfältig auf den Vorsprung des hölzernen für die Ankunft von Reitern bestimmten Perrons und ruft einen Neger:

»Der dicke Bengel (this big fellow) wird ein bischen verwundert sein, wenn er erwacht. Tragt ihn fort und laßt euch nicht einfallen, mir jede Woche einen neuen zu bringen.«

In dem Augenblicke, wo er diese Worte sprach, erblickten mich seine Augen; Augen, die ganz grau waren und die von einem sonderbaren Glanze in seinem roten Gesichte erstrahlten. Er war ebensowenig im unklaren über meine Person, als ich es über die seinige gewesen war. Das Empfehlungsschreiben, das er heute morgen zugleich mit der Anmeldung meines Besuches von mir erhalten hatte, ließ keinen Zweifel zu. Er begrüßte mich, nannte mich bei meinem Namen, drückte mir die Hand und sagte ohne alle Förmlichkeit mit echt amerikanischer Familiarität auf französisch zu mir:

»Das ist die sechste, die ich seit zwei Jahren auf diese Weise operiere, und zwar die dritte in diesem Jahr. Jener Jim Kenedy da, der die Kiste fortträgt, ist der Besitzer einer Sammlung von Ungeheuern, welche er sich, ich weiß nicht wie, verschafft. Er zeigt sie von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf und verdient in einigen Wochen damit so viel, daß er ganze Monate lang nicht zu arbeiten braucht. Das liegt nun einmal im Charakter dieser Schwarzen,« fuhr er achselzuckend fort, »sobald sie satt zu essen haben, bringt man sie nicht dazu, einen Finger zu rühren . . .«

»Aber sie sind doch glücklich dabei, Oberst?« antwortete ich.

»Glücklich?« wiederholte er brüsk; »glücklich? Freilich; sie sind es nur allzusehr. Das ist aber ein tierisches Glücksgefühl, das sie noch mehr als die Sklaverei erniedrigt. Ja, mein Herr,« versicherte er mit einer Eindringlichkeit, indem ich jenen puritanischen Zug fand, wovon man mir gesprochen hatte, »sie würden besser sein, wenn sie noch Sklaven wären, das können Sie glauben. Ich war einer von denen, die Lincoln mit dem größten Enthusiasmus folgten. Und ich will auch gar nicht darüber streiten, nein . . . ich bestreite es wirklich nicht . . . Man ist ja kein Mensch, wenn man zuläßt, daß es achtzehnhundert Jahre nach Christus noch einen Sklaven auf der Welt gebe; aber wir haben geglaubt, daß wir alles gethan hätten damit, daß wir sie befreiten. Das wäre doch zu einfach gewesen. Von der Zeit an begann erst unsere eigentliche Aufgabe. Wir haben nicht bedacht, daß Wesen einer untergeordneten Rasse wie jene, nicht mit einem Male ohne Gefahr in eine bessere Lage versetzt werden. Sie werden traurige Dinge auf Ihrer Reise durch den Süden zu sehen bekommen . . . Doch, da lasse ich Sie in der Nachmittagssonne stehen, die mir zwar nichts schadet, die Sie aber förmlich verbrennen muß. Kommen Sie mit ins Haus; ich will Sie Miß Scott vorstellen. Es ist ein sehr bescheidenes Haus und giebt Ihnen eine Idee davon, wie eine Sklavenhalterei in Georgia vor vierzig Jahren beschaffen war. Rings herum, sehen Sie, waren Negerhütten. Ich habe drei oder vier davon erhalten. Die Küche besorgte man außerhalb, in jenen kleinen Gebäuden da. Das hier sind die Pferdeställe. Ich habe bloß wieder instand setzen lassen, was die Chastins hinterlassen haben. Sie erkennen einen französischen Namen? Es war der der Familie, welche hier lebte. Der letzte von ihnen ist vor fünf Jahren gestorben. Sie kamen von New Orleans. Wollen Sie glauben, daß die Chastins, nach Beendigung des Krieges durch die Befreiung der Sklaven ruiniert, nichts anderes mehr besaßen als dieses Stück Land, und daß sie zehn Jahre lang auf demselben lebten, ohne es zu verlassen, ohne es zu bebauen, indem sie nur von Zeit zu Zeit ein Schwein schlachteten, auf die Jagd gingen, von den Tomaten aßen im Gemüsegarten, den ein armer Neger ihnen bebaute, welcher sie niemals verlassen wollte? Es waren Leute von Herz und Gemüt und brave Herren. Das hindert nicht, daß sie nacheinander die sieben Kinder jenes Biedermannes verkauft hatten. Er hat Ihnen ja das Gitter öffnen müssen . . .«

»Jener kleine, fast komisch aussehende Mensch mit grauem Bart und Haar?«

»Er selbst,« sagte der Oberst. »Nun, da sehen Sie, bis zu welchem Grade die Sklaverei den Menschen entartet. Der da hat seinem Herrn den Verkauf der Kinder nie verargt. Er fand und findet es noch ganz natürlich, daß sie über seine Söhne wie über junge Schweine oder junge Kälber verfügten. Und er liebte seine Herrschaft und seine Herrschaft liebte ihn . . . Das ist schier unbegreiflich . . . Aber setzen Sie sich nur. Ich will meine Tochter holen. Man hat, als ich gerade vom Lunch aufstand, mich zu jener Arbeit da draußen gerufen. Hoffentlich werden Sie diese meine Rolle als Dentist für Klapperschlangen nicht als ein Charakteristikum der Obersten meines Landes betrachten? Diese Schwarzen sind ja unvorsichtig. Das erspart ihnen immerhin einige böse Bisse.«

Auf diese Weise plaudernd, waren wir in eines der Vorzimmer eingetreten, welches mit zwei gewaltigen Karibuköpfen geschmückt war, glorreichen Trophäen, welche bewiesen, daß der Oberst ein ebenso passionierter Jäger in dem schneeigen Kanada gewesen, wie er es in dem sonnigen Georgia war. Der Salon, an den dieses Zimmer stieß und in dem mein Wirt mich allein ließ, war ein langes, mit Schaukelstühlen möbliertes Gemach, die der angenehmen Beschäftigung des rocking dienten. An den Wänden erinnerten eingerahmte Photographien an weite Reisen. Zufällig erkannte ich auf den ersten Blick die Omar-Moschee zu Jerusalem, das Parthenon, die heilige Agnes von Andrea, die sich auf einer der Säulen des Doms zu Pisa befindet, den Löwenbrunnen in der Alhambra. Ein riesiger Buddha aus lackiertem Holz ließ über diese Zeugen eines thatenreichen Wanderlebens das milde Lächeln des Propheten der Unbeweglichkeit und des Nirwana schweben. Ich erfuhr später, daß der Oberst und seine Tochter zweimal die Reise um die Erde gemacht hatten. Ein Ölporträt von ziemlich schülerhaftem, aber frischem Können zeigte in Drittel Lebensgröße Mr. Scott im Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren in seinem Reiterdolman als Offizier der Nordarmee. Er war noch erkennbar, jetzt nach einem Vierteljahrhundert, mit seinem rauhen Soldatengesicht, das in seiner unbesiegbaren Energie dem der Generäle der französischen Revolution ähnelte. Ich hatte nicht die Muße, mich einer sorgfältigeren Prüfung dieses Salons hinzugeben und die Titel der Bücher zu lesen, welche in einem niedrigen Bücherschrank mit ungleichen Regalen standen. Die Seitenthür wurde soeben geöffnet, und ich sah den Oberst eintreten, der mit der Sorglichkeit eines Krankenwärters einen Rollstuhl vor sich her schob, in dem ein Mädchen von ungefähr fünfundzwanzig Jahren saß.

Der Anblick jeder unheilbaren Krankheit, wenn sich die Krankheit mit der Jugend vereint, läßt schmerzlich in der Tiefe unserer Seele eine Saite erklingen. Und wenn nun gar das Geschöpf schön und gut ist, dem solches Siechtum in der Blütezeit der Jugend bestimmt ist, so ist unser Mitleid noch viel größer. Miß Ruth Scott hatte, wenn man nur ihr Gesicht ansah, gewisse zarte und doch zugleich ausdrucksvolle Züge von jener Seelengröße, welcher das Alter keinen Eintrag zu thun pflegt; sie besaß einen Teint, durch den die Kraft eines herrlichen Blutes hindurchschimmerte, einen fein gesäumten Mund, bei dessen Lächeln tadellose Zähne zum Vorschein kamen, Zähne, wie die ihres Vaters. Ihre hellblauen Augen erzählten von dem redlichsten und stolzesten Frauenherzen, und um ihre edelgeformte Stirn rahmte sich reiches, üppiges goldblondes Haar. Eine böse, unerbittliche Krankheit, eine Krankheit, deren Namen bei dieser Jugend und Schönheit fast unglaublich klingt, nämlich ein chronischer Gelenkrheumatismus, lähmte ihre Füße, die von Decken eingehüllt waren und die sie völlig am Gehen verhinderten. Dagegen ließ sie ohne Koketterie ihre durch Schwellungen an den Gelenken grausam entstellten Hände sehen, arme, kranke Hände, welche keine Feder mehr führen und keine Nadel mehr halten konnten. Und dennoch las man auf diesem Gesicht eine lächelnde Resignation, ja noch mehr, eine strenge, ernste Freudigkeit, welche der Ausdruck aller Traurigkeit eines Märtyrerschicksals zu sein schien. Ich begriff alsbald, woher jene Heiterkeit des Geistes bei einem so großen und unabänderlichen Unglück kam. Miß Ruth hatte noch keine zehn Sätze gesprochen, als das Geheimnis ihrer innerlichen Stärke mir bereits offenbar war. Sie war wie ihr Vater von der Verantwortlichkeit der Leute ihrer Rasse gegenüber den Schwarzen durchdrungen, und bei ihr konnte ich wie bei dem Vater jenen Proselyteneifer wahrnehmen, den ohne Mißtrauen zu betrachten einem Romanen sehr schwer fällt. Die Geschichte der Angelsachsen wäre indessen unverständlich, wenn man bei ihnen nicht einen angeborenen Instinkt zur aktiven und persönlichen Mission voraussetzte. Miß Scott war nur eine von Tausenden in dieser Hinsicht, allerdings viel rührender als viele andere, weil sie selber unglücklich war. Noch jetzt klingt mir ihre ein wenig barsche Stimme im Ohr, jene Stimme, worin die Härte eines stets aufs Apostolat gerichteten Bewußtseins erklang, und ich höre sie noch, wie sie mir in Bezug auf einen von diesen Negern sagte, dessen beschauliche Sorglosigkeit ich gerühmt hatte:

»Nein, das ist nicht immer zutreffend. Es giebt selbst heute noch Rassentragödien, die man nicht ahnen möchte . . . Es sind jetzt zehn Jahre her, ich war auf einer Schule in Boston. Da stellt sich eines Tages ein farbiges Mädchen in unserem College ein. Die Leiterin desselben besaß Gerechtigkeitsgefühl. Sie ließ uns alle kommen und bat uns, ihr zu versprechen, daß wir den neuen Ankömmling als eine der unsrigen betrachten möchten, sonst würde sie ihn nicht aufnehmen. Sie gab uns eine Stunde Bedenkzeit. Wir überlegten miteinander, und da die Meinungen geteilt waren, so beschlossen wir, daß Stimmenmehrheit entscheiden sollte. Diese war der Fremden günstig. Welche Grausamkeit, nicht wahr, wäre es auch gewesen, ihr wegen ihrer Abstammung das bischen Bildung vorzuenthalten, zumal da ihr Vater ein angesehener Arzt war? . . . Sie blieb vier Jahre bei uns. Sie war sehr intelligent, was diese Schwarzen ja oft sind, und sehr rechtschaffen, was sie nicht immer sind. Wir hatten sie sehr gern. Selbst die, welche nicht zu ihren Gunsten gestimmt hatten, hielten Wort und ließen sie nie fühlen, daß sie sie als etwas anderes als eine Weiße betrachteten. Sie selbst war darüber sehr glücklich . . . Da starb ihr der Vater, ohne Vermögen zu hinterlassen. Sie mußte nach Savannah zur Familie ihres Großvaters zurückkehren. Doch jetzt fand das Mädchen, welches in der besten Gesellschaft des Nordens zu verkehren gewohnt war, keinen anständigen Menschen, der sie aufnehmen oder überhaupt nur kennen wollte. Sie war ausschließlich auf den Umgang mit den untergeordneten, groben, brutalen Leuten ihrer Rasse angewiesen . . . Sie hat so viel gelitten, daß sie endlich ein Verbrechen beging. Sie endete durch Selbstmord; sie stürzte sich ins Wasser. Habe ich nicht recht, ist das nicht ein furchtbares Schicksal?«

»Doch warum ist sie nicht im Norden geblieben?« fragte ich. »Hätte sie sich nicht in dem Milieu, in welchem sie auferzogen worden war, verheiraten können?«

»Nein,« sagte jetzt der Oberst, »und das kann ich auch sehr wohl verstehen. Die Ehen zwischen Schwarzen und Weißen sind bei uns nicht statthaft, und das ist auch ganz gerecht. Gott hat nicht gewollt, daß dieses Blut sich mische, und der Beweis dafür ist, daß die Mulatten fast immer schlecht sind. Nein, nicht darum handelt es sich, die weiße Rasse durch die schwarze zu verderben. Es handelt sich vielmehr darum, aus dieser so lange geknechteten Rasse ein Menschengeschlecht zu machen, das wirkliche Menschen darstellt, Bürger, welche wirkliche Bürger sind, kurzum, etwas anderes als Kinder oder Tiere.«

»Aber sie sind doch bereits Christen?« unterbrach ich.

»Und zwar gute Christen,« versetzte Miß Ruth. »Man muß bloß hören, wie sie ihre Lieder singen, worin sie von dem alten Paulus oder dem alten Moses sprechen, wie von Leuten, die sie gekannt haben, und mitunter steckt Poesie in diesen Liedern! Erinnerst Du Dich, Vater, an das Lied von den Gebeinen und dem jüngsten Gericht? Möchtest Du es uns einmal vorsingen?«

»Ich will's versuchen,« sagte der Oberst. Und ohne weiteres setzte er sich ans Pianino. In welchem Alter er nur die Muße gehabt haben mochte, angenehm musizieren und singen zu lernen? Er präludierte, besann sich auf die Melodie, und dieselben gewandten Finger, welche den Offiziersdegen gehalten hatten, die Lanzette des Arztes, die Feder des Administrators und die vor kaum einer halben Stunde die Zange in den Rachen der Klapperschlange geführt, sie griffen jetzt die Tasten. Es war eine sanfte, dumpfe Weise, eine von jenen gedämpften Melodien, welche klingen wie das Echo eines in monotonem Takte zur Nachtzeit geschlagenen Trommelwirbels. Der Text lautete ungefähr also: »Ich weiß, daß diese Gebeine mir gehören – daß sie mir gehören – und daß sie wieder auferstehen werden – an jenem Morgen, da . . .« Welch ein Satz von herzzerreißendem und seltenem Inhalt, wenn man bedenkt, daß er von armen Sklaven erfunden und gesungen wurde, die in der That nichts anderes besaßen, als diese Gebeine, dieses Knochengerüst, das man ihnen unmöglich aus dem Leibe herausreißen konnte, um es zu verkaufen! Welch ein Elend und welch eine Hoffnungsfreudigkeit dabei!

»Und sie ließen die Knochen ihrer Fersen und ihrer Kniee aneinander klappern des Nachts, wenn wir sie diese Worte längs unseres Hauses singen hörten,« meinte Miß Scott. »Wenn Sie diese Lieder gern haben, so werden wir Ihnen noch andere heraussuchen.«

»Es giebt einen Gesang,« antwortete ich, »den ich nie gehört habe, den Sie aber kennen müssen, Oberst. Ich denke, die Neger müssen ihn ebenfalls singen, da er der Schlachtgesang ihrer Befreiung gewesen ist. Ich meine den Marsch John Browns.«

Nicht ohne Absicht hatte ich meinen Wirt, den ich so gefällig sah, um das Kriegslied gebeten, das mir in seiner männlichen Schlichtheit immer einen solchen Eindruck machte:

»Der Körper John Browns – wird im Grabe faulen. – Heil, Heil, Hallelujah! – Aber seine Seele wird gen Himmel schweben.«

Ich rechnete darauf, daß diese Marseillaise der Nordarmee ihm Gelegenheit zu der Mitteilung einiger Kriegsabenteuer geben würde, wie die Soldaten sie zu erzählen lieben. Doch ich beurteilte die erstaunliche Einfachheit dieses Mannes schlecht. Er schien ein wenig verwundert über meinen Einfall, gleich als ob dieses Lied John Browns etwas Altmodisches, Uninteressantes wäre: »chestnut, eine alte Kastanie,« so heißt bei ihnen der Ausdruck dafür. Dennoch beugte er sich von neuem über das Pianino und stimmte den Kriegsgesang an. Es ist eine sehr einfache, lebendige und beinahe heitere Melodie. Sie ist der Ausdruck des Selbstvertrauens, eines fast freudigen Selbstvertrauens und des Mutes im Dienste einer gerechten Sache. Ich betrachtete den Sänger, während er den für ihn mit blutigen Erinnerungen verknüpften Text aussprach. Er sang die Melodie lustig, wie vorgeschrieben, mit einer Miene, als ob er sich darüber freute. Das befremdete mich indessen noch lange nicht so als gleich darauf sein Anerbieten, mir den Südmarsch vorzusingen, »Das Dixey-Land«, eine echt leichtfertige, behende und frivole Tanzmusik. Der Oberst hatte bei der Erinnerung an beide das gleiche Vergnügen, so sehr war für ihn jener Bürgerkrieg ein Ereignis aus vergangener Zeit, beinahe ein retrospektives Schauspiel von lediglich malerischem Reize, und als er das Pianino verließ, um seinen großen, biegsamen Körper in einem Schaukelstuhle zu wiegen, meinte er:

»Sie hätten beide Lieder von Tausenden von Soldaten auf den Märschen singen hören sollen . . . Das waren tapfere Leute, die einen wie die anderen, und Soldaten bis zum letzten Augenblick. Ich hab' gesehen, wie diese Armeen gemacht, gebildet wurden, täglich, stündlich, gleich einer neuen Stadt . . . Ich erinnere mich. In der allerletzten Zeit fragte mich ein französischer Offizier, der einer unserer Paraden beiwohnte: ›Jetzt, wo Sie diese schöne Armee beisammen haben, wo wollen Sie nun beginnen? Mit Kanada oder Mexiko?‹ – ›Wir wollen damit anfangen, daß wir sie alle heimschicken zur Arbeit‹ antwortete ich. Und so war's auch. Am Ende des Krieges hatten wir zwölfhunderttausend Mann und sechs Monate darauf fünfzigtausend . . .« Und dabei zeigte er ein schönes Lächeln nationalen Stolzes. Er that sich auf diese Beurlaubung mehr zugute als auf zwanzig Siege. – Doch ernst auf sein eigentliches Thema zurückkommend, wie ein echter Amerikaner, schloß er: »Trotzdem haben wir nicht genug für die Schwarzen gethan. Man durfte ihnen weder die Rechte verleihen, die man ihnen gab, noch sie so gänzlich vernachlässigen.«

»Kann man denn eine Rasse bessern?« fragte ich. »In Kanada, wovon Sie eben sprachen, und zwar in der Nähe von Montreal, habe ich ein Dorf bekehrter Irokesen besucht. Ihr Geistlicher sagte mir, es sei unmöglich, sie über einen gewissen Punkt hinaus zu bilden. Es existiert gleichsam im Blute eines jeden von uns eine vorgeschriebene Kulturschranke.«

»Dann müßte man eben diese wenigstens zu erreichen suchen,« meinte lebhaft Miß Ruth. – Ich bemerkte in ihrer Stimme jenen Klang von Unwillen, ja fast von Zorn, den solche Apostelseelen gegenüber naturwissenschaftlicher Notwendigkeit nicht zu unterdrücken vermögen. – »Sie werden vielleicht eine andere Meinung bekommen,« fuhr sie fort, »wenn Sie die Schule gesehen haben werden, die wir in Philippeville gegründet haben.«

Als ich den Oberst verließ, hatten wir auch bereits schon ein Rendezvous zu diesem Besuch verabredet. Ich sollte meinen Lunch bei ihm einnehmen, und dann sollten wir nach der Schule fahren in Gesellschaft seiner Tochter, die mittelst eines sinnreichen und von ihm vervollständigten Apparates vom Rollstuhl in den Wagen gehoben werden konnte. Er erzählte mir, was wir an jenem Nachmittag alles anfangen würden, indem er mich durch den Park hindurch zu meinem Wagen zurückbegleitete. Wir hatten einen anderen Weg eingeschlagen als den, auf welchem ich angekommen war, und als wir zu einem kleinen mit Bäumen bewachsenen und von niedrigen Mauern eingeschlossenen Orte gelangten, sagte mein Führer:

»Sehen Sie, das ist der Kirchhof, wo die Chastins alle seit hundertfünfzig Jahren begraben worden sind. Wollen Sie die Gräber sehen? Derartige Winkel bilden ein Stück Altamerika, das die Reisenden oft und allzusehr über dem neuen Amerika vergessen. Und dennoch ist dieses ohne jenes unverständlich.«

Wir betraten also den Kirchhof. Die üppig sprießende südliche Vegetation hatte gegenwärtig diese ungefähr dreißig Quadratmeter in einen ungeheuren Blumenkorb verwandelt. Wilder Jasmin, Weißdorn, Geißblatt, Narzissen wuchsen da bunt durcheinander. Schlingpflanzen wanden sich an den Bäumen empor und gelbe Rosen von der Art jener Miniaturrosen, die man banksias nennt, kletterten in dichten Büscheln zu den dunklen Cypressen hinauf. Steine, von der Zeit verwittert, wurden in diesem jugendschönen und frühlingsduftigen Garten sichtbar. Ich bog die saftigen Zweige und die schönen Blumen auseinander, um einige Grabschriften zu entziffern. Der neueste dieser Steine war zweifellos von Mr. Scott gesetzt und mit einem eingemeißelten Säbel geschmückt. Ich las die Inschrift und sah, daß dies das Grab des letzten der Chastins war und daß dieser letzte Träger des Namens ebenfalls Oberst, doch in der konföderierten Armee gewesen war. Dicht daneben, auf einem andern Grab, das ganz unter der Vegetation versteckt lag, unterschied ich das Datum 1738 und die Worte: »New Orleans«. Ich begriff, daß der Nachfolger der entschwundenen Herren die fromme Absicht gehabt hatte, den Stifter der Besitzung und alle seine Nachfolger der Reihe nach nebeneinander ruhen zu lassen. Die Humanität, welche er hier auf diesem Friedhof übte, rührte mich sehr. Ein ganzes französisches Geschlecht schlief hier. Es war einst mächtig gewesen, und niemand war übrig geblieben, um sein Andenken zu ehren, außer einem hochherzigen Feinde, der sein Erbe angetreten hatte. Und der Frühling verschwendete seine Pracht an diesem Asyl der Trauer mit jener rühmlichen Gleichgiltigkeit der Natur, die man haßt, wenn man jung ist, und die man liebt, wenn man zu altern beginnt. Wenn wir darüber nachsinnen, wie gering wir doch sind, so nehmen wir die unvermeidliche Vernichtung leichter mit friedlichem Gemüte hin. Obwohl als Mann der That und als Kriegsheld der Oberst nicht ganz dieselbe Empfindung haben mochte, so ließ ihn doch jene kleine Totenoase, welche zu so sonnenheller Stunde allein das Gesumm der Fliegen belebte, durchaus nicht gleichgiltig. Er schwieg wie ich, und erst als wir wieder draußen waren, sagte er mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit:

»Sie haben gesehen, daß der Kirchhof in gutem Stande sich befindet. Eine von ihren alten Sklavinnen läßt sich das angelegen sein. Man nennt sie Tante Sarah. Sie werden sie in der Schule kennen lernen; sie besorgt daselbst den Haushalt der Kinder. Diese ihre Anhänglichkeit gereicht den Chastins zur Ehre und sie macht mir jenen Ort völlig teuer. Ja, es ist ein Vergnügen, wenn man bedenkt, daß man ein Haus besitzt, welches durch vier oder fünf Generationen hindurch von guten Leuten bewohnt war. Das ist gleichsam, als ob es keine Unglücklichen um einen gebe. Sie werden sehen, wie zufrieden die Leute blicken. Ein bischen gesalzenes Schweinefleisch und einige Früchte: damit sind sie so vergnügt, als besäßen sie die Millionen aller Villenbewohner von Newport . . . Doch da steht schon Ihr Wagen . . .«

Meine kleine Kalesche erwartete mich ganz in der Nähe und zwar fast unmittelbar an dem Thore des Kirchhofs. In dieser zartsinnigen Gastlichkeit erkannte ich das liebenswürdige Wesen der Kranken. Der Oberst gab dem Kutscher einige Instruktionen, und als er zu mir sagte: »Also Dienstag um ein Uhr!« und mir die Hand dabei drückte, so fühlte ich mich fast versucht, zu antworten: »Dienstag? . . . Das ist mir ja viel zu lange bis dahin! . . .« Die Originalität seines Charakters, das edle Antlitz seiner Tochter, das Malerische ihres Heims hatten mir in kurzer Zeit ein Interesse eingeflößt, wie es die Romanschriftsteller von Beruf vielleicht allein verständlich finden werden. Unsere Phantasie ist wie verzaubert, und wir haben den leidenschaftlichen Wunsch, alles über jemand zu erfahren, seine Luft zu atmen, sein Leben zu leben, seine Gedanken zu denken. Als ich auf sandiger Landstraße nach Philippeville zurückfuhr, bemerkte ich kaum die Schönheit der mich umgebenden Landschaft, so sehr war ich in Sinnen versunken über diese beiden mir vor wenigen Stunden noch völlig unbekannten Menschen. Ich wundere mich, wie der puritanische Eifer, in dem sich ihre Vorfahren verzehrt hatten, noch mit ungelöschter Glut in ihnen fortbrannte. Ich fand in ihrem Bekehrungsfieber den Atavismus der Passagiere des Mayflower wieder. Ich staunte ob der Beharrlichkeit des Rassengefühls, welcher sie trotz dieses Apostolates die Heirat einer der ihrigen mit der besten ihrer schwarzen Schützlinge als eine Schmach betrachten ließ. Ich dachte an den geistigen und körperlichen Reichtum dieser Mannesnatur, die fünf oder sechs verschiedene Berufsarten und eine sechzigjährige Arbeit nicht zu erschöpfen vermocht hatten, an das traurige Geschick seines Kindes, an den Zauber dieses märchenhaften Landes, an die sonderbare Erscheinung Mr. Scotts, wie er einer chloroformierten Klapperschlange die Giftzähne auszog. Kurzum, hunderterlei Gedanken gingen mir durch den Kopf, die in mir den Wunsch lebendig machten, sobald als möglich den Mann wieder zu sehen, den ich heute erst kennen gelernt hatte. Ich ahnte nicht, daß ich ihm am Dienstag unter ganz anderen Umständen wieder begegnen würde, ferner von dem traulichen Lunch, bei dem Miß Ruth die Honneurs zu machen pflegte, und ich ließ mir nicht im Traume einfallen, daß ich in seiner Gesellschaft an einer Treibjagd teilnehmen würde, die für einen Pariser Schriftsteller noch weit sonderbarer war als eine Jagd auf Klapperschlangen.

Ich hatte dem Obersten meinen Besuch am Freitag gemacht. Während der folgenden drei Tage fiel ein in jenen warmen Klimaten häufiger Regen nieder, der die Atmosphäre, anstatt sie abzukühlen, mit heißen Dämpfen zu erfüllen schien. Ans Hotel gefesselt, hatte ich keine andere Zerstreuung, als zuzuschauen, wie das Wasser unaufhörlich niederflutete, und mit dem Wirt zu plaudern. Ich war so boshaft gewesen, ihm meine Begegnung mit einem jener furchtbaren Reptile zu schildern, deren Vorhandensein er, glaube ich, auch dann noch hartnäckig geleugnet haben würde, wenn er eines davon mitten auf seinem Tennisplatz sich hätte sonnen sehen.

»Die Neger werden die Schlange aus Florida geholt haben,« sagte er mir. »Sie haben die Manie, dieselben lebendig einzufangen, um sie an irgend einen zoologischen Garten zu verkaufen« – (Er sagte einfach: »an einen Zoo«, der Kürze halber.) »Mr. Scott, der sonst ein so guter Mensch ist, sollte ihnen nicht derartige Dienste leisten, welche sie in ihrem Thun noch ermutigen, ganz abgesehen davon, daß die Schlange leicht während der Operation hätte erwachen können . . . Aber der Oberst ist immer viel zu gut mit den farbigen Leuten gewesen. Manchmal wird ihm das schön vergolten. Hat er ihnen nicht erzählt, daß gegenwärtig ein ehemaliger Diener von ihm, ein gewisser Henry Seymour, im Philippeviller Gefängnis sitzt, den er wegen Diebstahls entlassen hat und der seitdem im Lande herumplünderte? . . . Der Mann hatte sich nach einem Morde in den Wald geflüchtet und daselbst mit seinem Winchester ein Jahr lang gelebt. Er schoß so gut, daß er der Schrecken aller anderen Neger war. Die Feiglinge lieferten ihm Essen, Whiskey und Patronen. Endlich hat man ihn bekommen. Ein falscher Freund that ihm Opium in den Whiskey und lieferte ihn dann aus. Man hat dem Seymour den Prozeß gemacht und ihn zum Tode verurteilt . . . Wollen Sie glauben, daß Mr. Scott empört darüber war, daß man den Mann auf solche Weise dingfest gemacht hat? Er hat es durchgesetzt, daß man die Hinrichtung aufschob. Er ist nach Atlanta gereist, um ein Gnadengesuch durchzusetzen. Das ist ihm übrigens nicht geglückt, und nun wird die Kanaille gehenkt werden . . .«

»Aber der Oberst muß doch wohl noch andere Gründe als diesen Verrat angegeben haben, um für Nachsicht mit ihm zu plädieren?«

»Gewiß. Er hat behauptet, Seymour wäre zu jung bekehrt worden. Sie haben doch Menschen in braun und weiß gestreiften Anzügen mit Ketten an den Füßen auf den Landstraßen arbeiten sehen? Das sind unsere Zwangsarbeiter. Der Bursche hat ebenfalls diese Beschäftigung verrichten müssen. Ich erinnere mich seiner. Er war freilich erst siebzehn Jahre alt. Doch warum hatte er schon zwei Diebstähle begangen, ganz abgesehen von dem bei Mr. Scott, für den er nicht einmal bestraft wurde?«

»Siebzehn Jahre!« antwortete ich, »das ist trotzdem noch sehr jung. In diesem Alter ist man noch sehr leicht zu beeinflussen, und eine solche Gesellschaft von Zwangsarbeitern wird kaum einen Charakter bessern, der zum Bösen neigt . . .«

»Well,« meinte Williams, »viele von ihnen bleiben ein, zwei Jahre an der Kette und dann beginnen sie ein neues Leben. Wenn bei uns ein Mensch seine Schuld bezahlt hat, so glauben wir Amerikaner, daß dieselbe auch wirklich bezahlt ist. Seymour hätte die seinige durch Arbeit abbüßen können. Er hat es indessen vorgezogen, sich so zu führen, daß eine andere Buße notwendig geworden ist. Das ist seine Sache . . . Würde es Sie übrigens nicht interessieren, der Hinrichtung beizuwohnen? In Georgien haben wir die Elektrizität nicht eingeführt. Wir halten es noch mit dem Galgen. So können Sie ja Vergleiche mit Frankreich anstellen. Sie haben die Guillotine, nicht wahr? . . .«

»Ich habe sie niemals funktionieren sehen,« sagte ich zu ihm, »und ich zweifle, daß meine Nerven kräftig genug sein werden, um zuzuschauen, wie ein Mensch gehenkt wird.«

»Ich werde immerhin für Sie beim Sheriff ein Billet bestellen,« meinte der Hotelier, »ob Sie nun Gebrauch machen oder nicht.«

Er hielt Wort, und zwei Tage darauf, am Montag, hatte ich die versprochene Einlaßkarte. Doch am Abend desselben Tages kam er im Hotel an mich heran, um mir mit der besorgten Miene eines guten Bürgers, den eine Nachricht betrübt, und eines Wirtes, der in seinen Interessen durch einen ärgerlichen Zufall geschädigt wird, folgendes zu sagen:

»Nun! Wissen Sie schon die Geschichte? Sie werden von Ihrem Erlaubnisscheine keinen Gebrauch machen können. Der verdammte Kerl, der Seymour, wird nicht hingerichtet werden.«

»Hat Mr. Scott sein Gnadengesuch durchgesetzt?« fragte ich.

»Nein, aber der Lump ist entwischt. Man gab ihm zu viel Freiheit in seiner Zelle. Er bekam viel Besuch. Jemand hat ihm ein Messer zugesteckt, und wie ihm heute Nachmittag der Wärter das Essen brachte, hat Seymour den Augenblick benützt, wo der Mann die Schüssel auf den Boden setzte, und hat ihm das Messer da zwischen die Schultern gestoßen. Der Wärter fiel sofort tot nieder. Seymour nahm ihm den Revolver, die Schlüssel und befreite so noch sieben andere Schwarze und Mulatten, die wie er gefangen waren. Und die acht Verbrecher entwischten durch eine Hinterthür des Gefängnisses, welche nach dem Dorfe hinausgeht. Sie haben das Glück gehabt, daß niemand sie bemerkte, so daß ihr Ausbruch erst zwei Stunden später bekannt wurde. Und nun sind sie im Walde bei diesem Regen und den aufgeweichten Wegen, wo man ihre Spur nicht finden wird. Weiß Gott, wann man sie wieder erwischen wird! Hatte ich nicht recht, als ich Ihnen sagte, der Oberst sei zu nachsichtig mit diesen Leuten? Hätte er keinen Aufschub erbeten, so wäre Seymour bereits in der vorigen Woche gehenkt worden, der Wärter wäre noch am Leben und unsereins würde nicht seine Kundschaft einbüßen. Ich sollte nächste Woche eine Millionärsfamilie aus Philadelphia beherbergen. Nun brauchen sie bloß von dieser Flucht in den Zeitungen zu lesen und werden Furcht bekommen und werden, in der Meinung, Georgien sei nicht sicher, nach St. Augustine gehen . . .«

Ich selbst war zu sehr an die Lektüre der von Williams gefürchteten Zeitungen gewöhnt und an ihr seltsames »Vermischtes«, als daß ich mich weiter gewundert hätte über seine Erzählung. Verläßt man einmal die großen Zentren, so ist und bleibt Amerika immer noch das Land der Handstreiche, die hier mit einer Kühnheit ausgeführt werden, welche keine Gefahr beeinträchtigt. Trotzdem hatte ich, ein friedliebender gallo-romanischer Litterat, mir keineswegs träumen lassen, daß ich in die tragische Geschichte eines aus dem Gefängnisse ausgebrochenen Banditen mit verwickelt werden könnte. Ich brachte den Abend nach der Erzählung Williams damit zu, nachzusinnen, wie ich beim Dejeuner am folgenden Tage den Obersten am ehesten dazu bringen könnte, mir von seinem früheren Diener zu sprechen. Ich hatte nämlich aus den wenigen Andeutungen des Hoteliers entnehmen können, daß dies eine empfindliche Stelle im Herzen des Philantropen von Scotts Place sein mußte. Der sonderbare Mann sollte mir diese Ungewißheit ersparen. Denn am Dienstag Morgen um neun Uhr überbrachte man mir seine Karte mit einigen schriftlichen Worten. Er wartete unten auf mich. Ich fand ihn im Jagdkostüm, wie das erstemal, seine Beine steckten in hohen Ledergamaschen, seine Stiefel waren mit gewaltigen Sohlen versehen. In der Hand hielt er einen Karabiner.

»Ich bin gekommen,« sagte er, »um Sie um Entschuldigung zu bitten, wir müssen das Frühstück auf ein anderes Mal verschieben . . . Sie wissen wohl, daß mehrere Sträflinge aus dem öffentlichen Gefängnis entwichen sind, unter anderen ein zum Tode Verurteilter, ein ehemaliger Diener von mir . . .«

»Man hat es mir gesagt,« antwortete ich, »und auch, daß Sie sehr gut zu dem Unglücklichen gewesen sind . . .«

»Man hat Ihnen nicht die Wahrheit erzählt,« versetzte er, »doch daran liegt übrigens wenig. Das, worauf es jetzt ankommt, ist, ihn wieder zu fassen, damit er nicht von neuem die Umgegend unsicher mache. Wir haben sofort telegraphiert und blood hounds von Atlanta kommen lassen, Hunde, die auf den Mann dressiert sind. Ich habe zehn Bürger zu diesem Zwecke rekrutiert. Für alle Fälle habe ich Ihnen auch ein Pferd mitgebracht, wenn Sie mit uns kommen wollen . . .«

»Warum nicht?« erwiderte ich ihm nach einigen Zögern, »vorausgesetzt indessen . . .«

»Sie fürchten irgend eine Lynchjustiz? . . .« unterbrach mich der Oberst, der mir meine Gedanken von den Augen abgelesen hatte. »Seien Sie unbesorgt. Wenn ich dabei bin, dürfte man derartiges nicht wagen . . . Haben Sie eine Flinte? . . .« Und auf meine verneinende Antwort meinte er; »Sie brauchen übrigens keine. Sie sind nicht aus dieser Gegend und brauchen infolgedessen nur Zuschauer zu sein, das ist ganz natürlich. Außerdem ist nur dieser Seymour bewaffnet und zwar bloß mit einem Colt Nr. 48, dem des Wärters. Wenn er seinen Winchester hätte, würde ich Sie nicht mitnehmen, denn dann würde er sich nicht fangen lassen, ohne fünf oder sechs von uns niederzuschießen . . .«

Zwanzig Minuten später und ich folgte ohne weitere Vorbereitungen dem Oberst auf einem der Wege, die den gewaltigen Terpentinforst um Philippeville durchqueren. Mein Pferd war ein Tier aus Kentucky, sehr sanft und auf jenen Galopp dressiert, den die Amerikaner den single foot nennen – eine schnelle und wiegende Gangart, die ich sonst nirgends gefunden habe. Unser kleines Gefolge setzte sich, wie ich später erfuhr, aus einfachen Kaufleuten zusammen. Abgesehen von den Gamaschen, waren sie alle wie in ihren Comptoirs gekleidet, nur zeigten sie im Gesichtsausdruck eine seltene Energie und eine nicht geringere und nicht minder erstaunliche Geschicklichkeit im Reiten. Offenbar hatten sie alle einen anderen Beruf ausgeübt, bevor sie in diesem gottvergessenen Winkel von Georgien der eine als Krämer, der andere als Sattler, dieser als Passementeriewarenhändler, jener als Inhaber eines Beerdigungsmagazins sich etabliert hatten. Mit Ausnahme des Obersten und meiner selbst priemte die ganze Karawane. Ich sah wie ihre Kinnbacken sich hin und her bewegten und wie die Karabinerläufe düster neben den in automatischer Beschäftigung begriffenen Gesichtern blinkten. Die Hunde, acht kleine Tiere, die für einen Laien wie ich wie die gewöhnlichsten Jagdhunde aussahen, liefen vor uns, neben uns, zur Rechten, zur Linken, schnüffelnd, stutzend, umkehrend, eine Spur wieder aufnehmend und bald wieder verlassend. Das Unwetter vom vorigen Tage hatte aufgehört, und der Morgen nach dieser mehrtägigen Sintflut war feucht und sonnenglänzend. Obgleich die Waldwege bereits fast den ganzen Regen aufgesogen hatten, war dennoch alles überschwemmt, die kleinsten Flüsse selbst, welche sich in ein nahes Wasser ergossen, waren übergetreten, und wir hatten in einem fort Bächlein zu überschreiten, die sich in förmliche Seen verwandelt hatten, in denen unsere Pferde bis an den Bug versanken. In den großen Wäldern von Georgien und Florida haben die Neger die Gewohnheit, das Harz aus den Terpentinbäumen zu entnehmen, indem sie dieselben anschneiden. Dieser Einschnitt ist so tief, daß infolgedessen ein stärkerer Wind genügt, um den Baum zu brechen. Nun hatte vorher ein wahrer Sturm sich während zweimal vierundzwanzig Stunden über die ganze Gegend entfesselt. So kam es, daß wir immerwährend über Baumstämme hinweg zu setzen hatten, welche den Weg versperrten.

»Die Schwarzen nennen die umgestürzten Stämme Orkane,« sagte der Oberst erklärend zu mir. Das Bellen der Hunde, welche jetzt eine Spur verfolgten, belebte die Frühlingslandschaft mit einem gar seltsamen Lärm. Da ich keine Alltagssorgen hatte, wie jene Reiter aus ihren Gesichtern solche erkennen ließen, indem sie hintereinander im Schritt herritten, den Zügel um die Faust gewickelt, die Augen zu Boden gesenkt, die Büchse in der Hand, so hatte ich Muße daran zu denken, mit welchem Schrecken dieses laute Hundegebell von sieben oder acht Unglücklichen gehört werden könnte, die entweder im Versteck unbeweglich dastehen oder im wilden Lauf dahinstürmen mochten, indem sie mit zitternden Armen die Zweige zerteilten, vor Angst keuchten, vor Erschöpfung wankten. Plötzlich stürzte die Meute, die soeben schnüffelnd inne gehalten hatte, auf einen Seitenweg mit solcher Wut los, daß wir sie bald aus dem Gesicht verloren hatten. Der Oberst befahl uns allen, stehen zu bleiben. Er horchte einige Augenblicke mit der gespannten Aufmerksamkeit eines alten Praktikus, der gewohnt war, die Geräusche in Entfernungen umzusetzen.

»Die Hunde sind stehen geblieben,« sagte er endlich, »sie haben einen. Wir müssen einen Kreis bilden, um sie und den Mann einzuschließen.« Auf sein Geheiß verteilte sich in wenigen Minuten der kleine Trupp zwischen den Bäumen. Ich sah jetzt, wie die Reiter nacheinander sich im Dickicht verloren, indem sie den Zügel losließen und die Büchsen schußbereit hielten. Die klugen Pferde schienen instinktiv zu fühlen, wohin sie gehen mußten. Der Reiter gab bloß einen Druck mit dem breiten, hölzernen und mit Leder überzogenen Steigbügel, worin der Fuß auf mexikanische Art ruhte, und das Tier wandte sich oder es trat vorsichtig in die Wasserlachen, oder es nahm die Hindernisse in Gestalt der großen allenthalben herumliegenden Baumstämme, ohne dieselben mit dem Hufe zu berühren. Der Oberst und ich blieben allein und wandten uns nach der Richtung, aus der das Gebell kam. Wir waren noch keine zweihundert Meter weit geritten, als wir langsamer vorwärts dringen mußten. Der Fluß – einer von jenen kleinen, meist unbekannten Flüssen, wie sie da drüben breit wie die Etsch oder der Po zu Hunderten fließen – war übergetreten. Er überschwemmte mit seinem schlammigen Gewässer den Teil des Waldes, wo wir zu reiten hatten. Der Oberst ritt voraus.

»Ich kenne den Weg ein wenig,« sagte er zu mir, »und so riskiere ich weniger, daß mein Pferd in irgend einem Loche stecken bleibt und ein Bein bricht.« Ich sah ihn eine Pferdelänge vor mir. Sein trotz des Alters sonst noch behender Körper erschien mir heute etwas schwerfällig. Zeitweise bewegte er sich und neigte sich ein wenig, wie um auf das Geräusch zu hören, auf das wir zuritten. Ich erblickte sein ernstes, entschlossenes Profil von einer Traurigkeit erfüllt, die ich mir zur Genüge aus den Indiskretionen des Hoteliers sowie aus dem eigentümlichen Charakter des Obersten erklären konnte. Selbst jetzt, wo er seine Pflicht als guter Bürger erfüllte und auf einen Briganten Jagd machte, sah er ohne Zweifel diesen Briganten im Geiste noch als seinen Diener: als einen kleinen, jungen Menschen, der fast noch Kind war. Der Kontrast zwischen dem Tage, wo er Seymour nach einem geringfügigen Vergehen fortgejagt hatte, und dem heutigen, wo er durch den überschwemmten Wald einen Trupp führte, um den ehemaligen Diener, welcher ein Verbrecher geworden war, einzufangen, war zu stark. Bei seiner puritanischen Auffassung von der Verantwortlichkeit der Menschen mußte der Oberst sich diese beiden Episoden vergegenwärtigen und sich sagen: »Ich hätte das verhindern können, wenn ich weniger streng gewesen wäre.« Die Sorge eines gequälten Gewissens auf diesem männlichen Gesichte mischte sich mit dem Ausdruck kriegerischen Trotzes. Auf einmal sah ich sein Antlitz ängstlich erzittern. Der Oberst hatte von neuem sein Pferd angehalten, seine Hände erfaßten krampfhaft den Karabiner und langsam machte er die Waffe schußbereit. Ich beugte mich über den Hals meines Pferdes, erblickte das Ufer des Flusses und sah, wie die Hunde dichtgedrängt hinter dem Kopfe eines Menschen herschwammen. Mit einem Arm schwamm der Unglückliche, während er mit dem anderen einen Revolver über das Wasser hielt. Langsam, fast unmerklich kam er vorwärts, indem er, gegen die Strömung ankämpfend, eine überschwemmte Brücke zu erreichen suchte, deren eiserner Anker noch fünf Meter über das Wasser hinausragte. Dieser bildete seine einzige Hoffnung, über den Fluß hinwegzukommen, dessen reißende Strömung man an der Schnelligkeit erkennen konnte, womit die Bäume auf demselben dahintrieben. Wie durch ein Wunder wurde der Schwimmer von keinem derselben erfaßt. Er kämpfte schon geraume Zeit gegen die Strömung, ohne den Mut zu verlieren. Und als ihm nun die Meute ganz nahe kam, drängend und heulend, doch ohne ihn zu beißen, so schlug er mit dem Kolben seiner Waffe nach ihren Schnauzen. Dadurch trieb er sie ein wenig auseinander und es gelang ihm, noch ein Stück vorwärts zu kommen. Offenbar sparte er den Revolver zu einem wirksameren Gebrauch auf, für den Fall, daß er auf die einzige Hoffnung, zu fliehen, verzichten mußte. In diesem erbitterten Kampfe gegen so viele Gewalten, gegen Elemente, Tiere und Menschen, lag ein verzweifelter Mut, welcher einem das Herz zusammenschnürte. Wir waren jetzt dem Manne so nahe, daß ich genau die Linien seines Gesichtes erkennen konnte. Es war ein jugendliches Mulattengesicht, eher gelb als braun, mehr an die Abstammung von Weißen als von Schwarzen gemahnend. Sein Haar war nicht kraus, nur ein klein wenig gelockt, die Nase war adlerartig anstatt platt. Welches Spiel der Vererbung mochte jenem Räuber und Mörder ein so aristokratisches Aussehen verliehen haben? Von wem stammte Henry Seymour ab? Denn er war es. Wenn ich nach der Beschreibung, die mir der Hotelier von ihm gegeben hatte, überhaupt noch zweifeln konnte, so mußte mir die Unruhe des Obersten den letzten Rest von Zweifel benehmen. Dieser hielt seinen Karabiner immer noch zum Schuß bereit, doch sein Finger drückte den Hahn nicht ab. Aber, hätte er es auch gethan, die Kugel würde ihr Ziel verfehlt haben, derartig zitterte der Arm des ehemaligen Herrn, der auf den ehemaligen Diener zielte. Dann hob Mr. Scott den Lauf in die Höh', ohne abzuschießen, und sagte laut, als wäre er ganz allein: »Nein, ich kann auf ihn nicht schießen.«

Darauf gab er seinem Tiere, das noch ein wenig vordrang, die Sporen. Das Wasser war jetzt so tief, daß es dem Reiter bis an die Kniee reichte. Er hätte nur durch Schwimmen mit seinem Pferde näher kommen können. Er war an der Leiste des Waldes, kein Baum befand sich mehr vor ihm. Ich sah, wie der Flüchtling, der seinen Revolver noch immer über Wasser hielt, auf einen Ruf des Obersten die Waffe auf diesen richtete und gleich darauf wieder sinken ließ. Seymour hatte ebenfalls Mr. Scott erkannt und schoß nicht. Die Unentschlossenheit erschien mir bei einem gewohnheitsmäßigen Mörder unter derartigen Umständen so auffällig, daß ich trotz der aufregenden Situation mich nicht enthalten konnte, mich darüber zu wundern. Der Mann, der schon so viel Blut vergossen hatte in seinem Leben, mußte für seinen Herrn eine seltsame Verehrung haben, wenn er in dieser Lage vor einem Revolverschuß mehr zurückschreckte. Oder hatte er vielleicht die Handbewegung des Obersten gesehen und war er sicher, daß dieser nicht Feuer geben würde? Meinte er vielleicht, es sei thöricht, eine von seinen fünf Kugeln zu verschwenden? Möglich auch, daß der ausgezeichnete Schütze sich außerstande glaubte, beim Schwimmen sein Ziel zu treffen. Ich werde nie hinter das Geheimnis der Motive kommen, die ihn während dieser mit rapider Taktik sich abspielenden Scene leiteten. Der Oberst schien nichts von alledem zu bemerken. Aufrecht in seinen Steigbügeln stehend, und so mit seiner staatlichen Figur noch ein viel besseres Ziel bildend, schrie er mit einer Stimme, die das wütende Gekläff der Hunde, das Tosen des Wassers und das Rauschen des Waldes übertönte:

»Vorwärts, Henry, mein Junge! Du siehst, daß Du verloren bist; ergieb Dich. Neun andere Gewehre suchen Dich, und werden in fünf Minuten zur Stelle sein!«

Der Mensch schüttelte den Kopf, ohne zu antworten. Und wie wenn die Gegenwart seiner Feinde ihm neue Kraft verliehen hätte, feuerte er auf die Hunde, so daß einer vor Schmerz laut aufheulte und die anderen zurückwichen. Nun meinte er wohl, sein Waffe könnte ihm nichts mehr nützen. Er ließ sie ins Wasser fallen und schwamm mit beiden Armen davon.

»Er entwischt!« rief der Oberst und seine hellen Augen blickten finster. Er hob den Karabiner, und nun wußte ich, daß er nicht mehr schwanken würde. Doch diese heroische Selbstüberwindung sollte ihm erspart bleiben. Seymour war jetzt ganz nahe bei der Brücke, so nahe, daß er den Anker fassen konnte. Im selben Augenblicke tauchte er unter, um gleich darauf auf der anderen Seite des Ankers zum Vorschein zu kommen. Vielleicht wäre er, wenn er, auf der Brücke untertauchend, vorwärts gegangen wäre, entkommen. Das Bedürfnis, nach einer derartigen Anstrengung seine Glieder zu dehnen ließ ihn einen Augenblick sich aufrichten, sobald er festen Boden unter den Füßen fühlte. Sein Rumpf erschien außerhalb des Wassers, und in demselben Moment knallten rechts von uns zwei Flintenschüsse. Eine der Kugeln traf den Mulatten am Arm, der gleich darauf schlaff herabhing. Die andere traf den eisernen Anker, prallte dort ab und verwundete den Banditen am Kopf. Dieser führte die heile Hand an die Stirn und geriet ins Wanken. Instinktiv machte er einige Bewegungen, um sich an dem Eisen festzuklammern. Er wurde ohnmächtig und fiel ins Wasser. Doch bereits war der Oberst auf seinem Pferd auf ihn zugeschwommen. Derselbe hob ihn mit kräftigem Arme auf und zog ihn ans Land, wo er ihn zwischen den Bäumen hinlegte. Eine Viertelstunde darauf hatte der ganze Trupp, durch die Schüsse herbeigelockt, sich um den Ohnmächtigen versammelt. Die Hunde krochen zwischen den Beinen der Pferde hindurch und beschnüffelten und beleckten die blutigen Linnen, mit denen Mr. Scott die übrigens nur leichten Verletzungen des Unglücklichen reinigte. Wir erfuhren nun, daß dieser in der Hoffnung, seine Hinrichtung zu verhindern, eine Krankheit vorgeschützt und seit mehreren Tagen Speis' und Trank zurückgewiesen hatte. Das wurde die eigentliche Ursache seines Verderbens. Wäre er kräftiger gewesen, so würde er sich nicht verspätet haben, und er hätte wie die anderen eine Stunde vor unserer Ankunft die Brücke überschritten. Einmal auf der andern Seite des Waldes angelangt, würde er wie sie eine Eisenbahnlinie erreicht und nach Art der professionellen tramps einen Zug im Fahren bestiegen haben. Ich muß übrigens bemerken, daß, nachdem man einmal den Mörder dingfest gemacht hatte, sich niemand mehr um seine Spießgesellen bekümmerte. Man war indessen sicher, daß sie nicht mehr in der Gegend herumschweifen würden und wahrscheinlich Georgien überhaupt verlassen dürften. Der Staat war sie los. »Good bye, old chums.« – Ich glaube, die braven Bürger von Philippeville hätten den Flüchtlingen gern diesen herzlichen Gruß nachgerufen, wenn sie im Augenblick nicht mit der Pflege ihres Gefangenen beschäftigt gewesen wären, an dem sie für alle farbigen Burschen der Umgegend ein warnendes Beispiel statuieren wollten.

Inzwischen kam Henry Seymour wieder zu sich. Bei der ersten Bewegung, die er machte, um sich aufrichten, zog einer der Leute den Hahn seines Karabiners auf, während zwei andere die Beine des Verwundeten packten und sie ihm fest aneinanderknebelten.

Seymour machte übrigens keinen weiteren Versuch zu einem nunmehr gänzlich aussichtslosen Widerstande. Die zweite Kugel, die am Eisen abgeprallt war, hatte ihm die Augenbraue getroffen. Die ganze linke Seite der Stirn und des Augenlides war furchtbar entstellt. Sie war bereits dick angeschwollen, so daß sich nur noch das rechte Auge zu öffnen vermochte. Der Blick dieses einzigen Auges war bei der Musterung unseres Kreises so wild und frech, daß einer der Jäger auf diese schweigende Herausforderung, ganz unwillkürlich laut antwortete:

»It is too late, man. – Es ist zu spät, Mann!«

Seymour schien diese Worte, welche schlechthin sein Schicksal verkündeten, nicht gehört zu haben. Jetzt betrachtete ihn der Oberst und zwar mit einem ganz andern Blicke. Ich machte mich auf irgend eine seltsame oder rührende Ansprache gefaßt. Doch er sagte nichts, und auch der Verwundete schwieg eine Zeitlang, bis er sich endlich direkt an Mr. Scott, als wären die anderen für ihn nicht da, mit der Bitte wandte:

»Trinken, Oberst, ich hab' Durst . . . Wollen Sie mir zu trinken geben?«

Es klang etwas Einschmeichelndes, fast Kindliches in seiner Stimme, als er den ehemaligen Herrn anredete – gleichsam ein Appell an die Nachsicht, durch die er einst verwöhnt worden war. Mr. Scott zog eine platte Flasche aus seiner Tasche, entkorkte sie und hielt die Öffnung dem Gefangenen an die Lippen, indem er dabei dessen Kopf hielt, Seymour trank gierig einige volle Züge, sein Auge erglänzte liebevoll, er lächelte vergnügt und, wie wenn er seine soeben noch an den Tag gelegte Wut vergessen hätte, sein gestriges Verbrechen, seine wahnwitzige Flucht von heute Morgen, seine Verwundung, die Gewißheit des traurigen Loses, das ihm bevorstand, sagte er, mit der Zunge schnalzend:

»Ja, das ist ja immer noch derselbe Whiskey, den wir zu trinken pflegten, wenn wir zusammen auf die Jagd gingen. Der übertrifft doch jeden andern. Danke, Oberst.«

»Und nun,« antwortete dieser, »sei vernünftig und laß Dich verbinden.«

»Bekomme ich dann noch Whiskey?« fragte Seymour.

»Du sollst noch welchen haben.«

»Und eine von Ihren Cigarren, Oberst?«

»Und eine von meinen Cigarren!«

»Dann meinetwegen,« meinte der Mulatte, der willig seinen Kopf und darauf seinen Arm hinhielt. Mr. Scott hatte Verbandzeug mitgebracht. Er nahm es hervor und säuberte und verband die beiden Wunden mit der Geschicklichkeit eines alten Chirurgen, während der Militär in ihm einen ihm unverständlich gebliebenen Punkt sich zu erklären suchte:

»Wieso hast Du nicht schon gestern Abend den Fluß überschritten, Henry?« fragte er.

»Weil wir bis zur Georgetownbrücke gegangen sind, Oberst, und weil das Wasser sie fortgeschwemmt hatte. Wir konnten nur zweierlei thun: entweder wir gingen bis zu der zwanzig Meilen entfernten Brücke von Berkeley Farms oder wir kehrten zu dieser zurück. Da wir die Wege besser kannten, so haben wir die zweite Straße gewählt, und wir hatten unrecht. Aber wie konnten Sie wissen, Oberst, daß wir auf dieser Seite waren?«

»Ich wußte, daß die Brücke von Georgetown vor zwei Tagen zerstört wurde,« meinte Mr. Scott, »und ich dachte mir bald, daß Ihr so handeln würdet, wie Ihr es gethan habt. Ihr habt Euch gesagt: ›Man hält uns nicht für so tollkühn, daß wir wieder in die Nähe der Stadt kommen werden.‹ – Aber Dir, Henry, fehlte es weder an Klugheit noch an Mut . . . Und kann ich noch etwas thun für Dich? Der Verband ist fertig.«

»Schicken Sie mir eine Flasche von Ihrem Whiskey ins Gefängnis,« meinte Seymour, »und bitten Sie den Sheriff, er soll sie mich austrinken lassen, bevor es mit mir zu Ende geht.«

»Sie haben es gehört,« sagte der Oberst zu mir, als wir beide nach der Stadt zurückkehrten. Unsere Gegenwart war nun überflüssig, und wir hatten die Jäger verlassen, die ihre Vorkehrungen trafen, um den Gefangenen nach Philippeville zurückzuführen. »Ja,« wiederholte er, »Sie haben es gehört. Er hat einen Löwenmut, dieser Junge, und er besitzt auch noch einige andere gute Eigenschaften. Sie haben doch gesehen, daß er nicht auf mich schoß, als er mich erkannte? . . . Übermorgen wird er gehenkt werden, und sein einziger Gedanke bei dem ihm so nahen Tode ist, sich noch ein letztesmal zu betrinken . . . sonst nichts . . .«

»War er denn immer so?« fragte ich.

»Immer,« meinte Scott; und mit ernstem Tone, in dem ein leiser Schmerz klang, fuhr er fort: »Sie haben bemerkt, daß ich ebenfalls nicht auf ihn geschossen habe, als ich ihn vor meinem Karabiner hatte, und Sie mußten es unerklärlich finden, daß ich so einem Mörder Gelegenheit gab zu entfliehen. Das ist indessen sehr natürlich. Man hat Ihnen gesagt, ich sei sehr gut zu ihm gewesen, und ich habe Ihnen gesagt, daß dies nicht wahr wäre, wenigstens nicht in der letzten Zeit, denn anfangs hatte ich ihn allerdings sehr gern. Später war er mir widerwärtig aus einem eigentümlichen Grunde. Das ist nun bald neun Jahre her. Es war in der ersten Zeit meines hiesigen Aufenthaltes, und ich hatte noch nicht das Gut von den Chastins gekauft. Ich jagte viel, und Seymour begleitete mich stets. Ich hatte ihn zufällig in der Umgegend aufgegriffen. Ich war sehr zufrieden mit seiner Intelligenz, mit seiner Thätigkeit und auch mit seinem Charakter. Außerdem war er noch ein ausgezeichneter Kutscher. Als wir nun eines Tages in den Wald fuhren, wurden die Pferde, zwei eben erst aus Texas angekommene Tiere, scheu und gingen durch. Es war ein Weg wie dieser hier. Sie waren noch keine zweihundert Meter weit gerast, als der Wagen über einen Baumstamm stürzte, zerbrach und wir herausgeschleudert wurden. Wir standen bald wieder auf, ohne allzu großen Schaden genommen zu haben, und da die Pferde von selbst stehen geblieben waren, so machten wir uns ans Werk und brachten unser Gefährt wieder in Ordnung. Dann suchten wir meine Jagdutensilien zusammen, die im Grase ringsum zerstreut lagen. Es fehlte nur ein großes Messer, dessen ich mich zum Tranchieren bediente und das gewöhnlich in dem Riemen des Proviantkorbes steckte. Ich fange an zu suchen. Ich sage zu Seymour, daß er ebenfalls suchen solle . . . Wir wühlen im Grase herum. Auf einmal, wie ich mich umdrehe, sehe ich, daß das äußerste Ende von dem Stiele des Messers inwendig aus der Weste des Burschen herausguckt. Nichtsdestoweniger kniete er ruhig auf dem Boden und stellte sich, als ob er suche. Ich rufe ihn heran und nehme ihm das Messer weg. Er beginnt zu zittern, zu weinen und sagt mir schließlich: ›Ich hab' geglaubt, Sie wären wütend auf mich, weil ich die Pferde habe durchbrennen lassen, und ich dachte, Sie würden mich töten. Da hab' ich das Messer gestohlen . . .‹ Er, den ich wie meinen Sohn behandelte!«

»Ich begreife, daß Sie ihn darnach nicht mehr leiden mochten,« sagte ich. »Für ein Kind von sechzehn Jahren, das Sie so gut behandelten, war dieses Mißtrauen abscheulich.«

»Nicht wahr?« meinte Mr. Scott. »Ich hätte nur bedenken müssen, daß dieser widerwärtige Verdacht ein Erbteil der Sklaverei war. Die Weißen hatten sie so furchtbar mißhandelt! – Doch diese Handlungsweise machte auf mich den Eindruck einer zu niedrigen Undankbarkeit. Ich fuhr nicht mehr mit ihm aus und sprach nur selten noch ein Wort mit ihm. Er behielt mich trotzdem auf seine Art noch gern, und ich habe dafür manche Beweise, von dem heutigen ganz abgesehen . . . Hat das Gefühl seiner Mißliebigkeit bei mir in ihm die bösen Instinkte entfesselt? Möglich ist das immerhin. Kurz, bald fehlte Miß Scott ein Kleinod, eine Diamantbrosche. Seymour hatte den Gegenstand entwendet, um seiner Geliebten damit ein Geschenk zu machen. – Das Laster erwacht bei ihnen eben so zeitig als die Eitelkeit. – Nun stahl er anderswo. Er wurde festgenommen, verurteilt und in Ketten gelegt. Dadurch wurde er nur noch schlechter, stahl von neuem, wurde wieder eingesperrt, entwischte, mordete. Das übrige wissen Sie . . . Nun wohl, ich habe immer die Überzeugung gehabt, daß, wenn ich ihn nach der Geschichte mit dem Messer bei mir behalten und seine arme Seele gerettet hätte, ich einen anständigen Menschen aus ihm gemacht haben würde. Es war ein guter Bedienter. Er hatte etwas Anmutiges und Einschmeichelndes in seinem Wesen . . . Aber gerade der Kontrast zwischen dieser Zutraulichkeit und seinem unerhörten Argwohn hat ihn mir verhaßt gemacht. So viel Heuchelei mit so großer Jugend vereint empörte mich . . . Hatte ich recht? Kurz, an alles das habe ich mich erinnert, als ich ihn da vor meinem Gewehr hatte, dem Gewehr, welches er mir so oft getragen hatte. Ich bin glücklich darüber, daß ich nicht auf ihn geschossen habe. So wird er wenigstens vor seinem Tode Zeit zur Reue finden.«

Ereignisse wie die, welchen ich soeben beigewohnt hatte, sind nichts Außergewöhnliches in Philippeville, in einer Stadt, wo man sich kaum erinnert, einmal ein Jahr zugebracht zu haben, ohne einer Lynchjustiz beizuwohnen. Daher nahmen die Dinge alsbald wieder ihren gewöhnlichen Verlauf, und als ich am Abend dieses dramatisch bewegten Tages mir neuen Richmonder Cigarettentabak besorgte, erkannte ich in dem Händler, welcher ihn mir verkaufte, einen von jenen Reitern, mit denen ich auf der Suche nach Henry Seymour den Wald durchstreift hatte. Er priemte mit demselben unerschütterlichen Phlegma wie zuvor, und wir spielten auf unser gemeinschaftliches Abenteuer ebensowenig an, wie zwei Pariser, die sich im Klub begegnen, von dem Gruße sprechen, welchen sie im Bois de Boulogne gewechselt haben. Selbst die Zeitung brachte nicht die übertriebene Darstellung von der Verfolgung, auf die ich mich gefaßt gemacht hatte. Das liegt so im Charakter der Amerikaner: ihre gewohnte Sucht zur Übertreibung hört in dem Augenblicke auf, wo die Verhältnisse wirklich ernst und tragisch werden. Was den Obersten anbelangt, den ich gleich am nächsten Tage besuchte, so erfuhr ich, daß er in aller Frühe auf die Jagd gegangen war, während Miß Ruth sich in ihre Schule begeben hatte. Nur Mr. Williams schien einen tiefen Eindruck von dem Ereignis empfangen zu haben, denn er konnte sich nicht enthalten, mir seine unpassende Freude zu bekunden. Doch er rechtfertigte dieselbe mit dem naiven Geständnis:

»Die Leute aus Philadelphia, von denen ich Ihnen gesprochen habe, werden übermorgen hier sein,« sagte er; »ich habe ihnen soeben die Gefangennahme Seymours telegraphiert. Sie müssen die Nachricht von seiner Festnehmung zur selben Zeit bekommen haben, wie die von seiner Flucht, und sie haben mir mit dieser Depesche hier geantwortet, welche mir ihre Ankunft anzeigt . . . Ah! ich war sehr besorgt . . . Ich habe ganz vergessen, Ihnen Ihr Eintrittsbillett zur Hinrichtung zu übergeben. Seymour ist nicht so verwundet, scheint es, daß man ihm nicht morgen, Donnerstag, wie es bestimmt war, den Garaus machen sollte. Ich werde Sie die genauere Zeit noch wissen lassen. – Doch halt,« fügte er hinzu, indem er aus seiner Brieftasche ein vom Sheriff auf meinen Namen ausgestelltes Stück Papier hervorzog, das er mir zeigte: »Man hat den Titel ›ausländischer Doktor‹ darauf gesetzt, weil ich gesagt habe, Sie wären ein Arzt, der aus wissenschaftlichen Gründen (for a scientific purpose) zusehen möchte, wie jemand gehenkt wird.«

»Wie ein Mensch gehenkt wird,« murmelte ich unwillkürlich leise, als der Hotelwirt mich verlassen hatte, und ich mich allein inmitten der Halle befand, mit dem Vorzugsbillett in der Hand. Ich erinnere mich: ich zerknitterte den Papierwisch und warf ihn in eine Ecke dieses öffentlichen Lokals, um eine Schranke zu setzen zwischen die Versuchung, dem Strafakte beizuwohnen, und die innere Stimme, die mir zurief: »Du wirst nicht hingehen!« Eine Viertelstunde später kehrte ich aus meinem Zimmer zurück, um den Erlaubnisschein wieder aufzuheben. Zum Glück oder auch zum Unglück fand ich ihn noch und gab ihm wieder eine anständige Form. Von dem Augenblick an wußte ich, daß die Versuchung zu stark war und daß ich diesen Tod mit ansehen würde. Vermutlich haben alle gebildeten Menschen, die den furchtbaren Entschluß faßten, einer Todesstrafe beizuwohnen, dieselbe nervöse Erregung durchgemacht, welche mich während der folgenden Stunden befiel. Sehr mannigfaltige Stimmungen machen sich dabei bemerkbar. Zunächst Mitleid mit dem Unglücklichen, dessen Todeskampf unsere Schaulust befriedigen soll, dann Gewissensbisse, daß wir wirklich dahin gehen wie zu einem Schauspiel, ferner eine quälende Angst bei dem Gedanken an das Schreckliche des Anblicks und schließlich eine Art menschlicher Neugierde, von der ich beinahe behaupten möchte, daß sie ein edles Gefühl in sich schließt. Das Mysterium des Todes, die Verantwortlichkeit des socialen Rechts sind hinter einer derartigen Hinrichtung verborgen. Man will ihm ins Angesicht schauen, diesem Mysterium, man will es verkörpert sehen, nicht mehr bloß in dem kalten Buchstaben des gedruckten Wortes, sondern in Fleisch und Blut. Wir schauern in innerster Seele zusammen wie beim Herannahen aller tragischen und unabwendbaren Ereignisse des Lebens. Ich wenigstens hatte diese Empfindung, als ich am Donnerstag, mittags um halb eins, nach dem Gefängnis ging. Die Hinrichtung war auf zwei Uhr festgesetzt. Der Tag strahlte in so hellem, frühlingsprächtigem Glanze wie der vorige. Die Sonne brannte bereits fast unerträglich. Die Menge umstand den Verschluß von Brettern und Bäumen, der das Gefängnis umgab, und drängte sich jetzt dicht an den Zaun, um ein wenig Schatten zu haben. Dieses Menschengewühl bildete einen unheimlichen Kontrast zu einem inmitten des Weges einsam stehenden Gefährt, worauf ein ganz neuer Sarg sich befand. Das oberste Brett desselben lag auf sehr langen Nägeln, die nur halb eingeschlagen waren und deren Köpfe herausragten. Doch wer in der heiteren, geschwätzigen Menge mochte den Wagen und die Bahre betrachten? Die etwa aus zweihundert Personen und zwar zumeist aus Negern bestehende Versammlung schaute dem Tode zweifellos mit jener der Rasse eigentümlichen philosophischen Gelassenheit ins Antlitz. Die Männer und Weiber da kannten Seymour; sie kamen hin und hofften gar nicht eingelassen zu werden; sie wollten nur erfahren, wann und wie die Sache enden würde. Als ich meine Karte mit dem Erlaubnisschein des Sheriffs überreichte, hörte ich in meiner Umgebung einen ziemlich harmlosen Scherz. Der Wächter nannte beim Einführen meinen Namen, dem er den von Williams mir verliehenen Titel »Doktor« voransetzte:

»Der arme Henry!« sagte ein junger Mensch, »er braucht einen Arzt sehr . . .«

Zwischen der Einzäunung und dem Gefängnis – welches letztere ein banaler Bau aus roten Ziegeln war – dehnte sich eine weite, gegenwärtig leere Fläche aus. Drei Kühe weideten auf ihr und zwei kleine Knaben spielten Schlagball. Das Alltägliche im Dasein, das man unter gewöhnlichen Verhältnissen kaum bemerkt, wirkt immer unheimlich, wenn ein Drama sich daneben ereignet. Doch war dies wirklich ein Drama? Der Anblick des Raumes, den ich im Erdgeschoß des Gefängnisses zunächst betrat, konnte mich daran zweifeln lassen. Fünf oder sechs Männer, Weiße, hielten sich dort auf. Sie rauchten und plauderten so friedlich, wie wenn der Galgen, welcher in einem kleinen und durchs Fenster sichtbaren Hofe errichtet war, gar nicht vorhanden gewesen wäre. Der große, dunkelgelbe, mit Talg eingeriebene Strick hing von einem unbeweglich drohenden Balken herab. Die Leute beachteten ihn kaum. Der, an den ich mich wandte, um die genaue Stunde der Hinrichtung zu erfahren, antwortete im Tone vollständiger Gleichgültigkeit, wie wenn er mir die Abgangszeit eines Zuges mitgeteilt hätte: »Dreiviertel auf Zwei!«

»Und warum gerade diese Zeit?« fragte ich.

»Der Verurteilte hat's so gewollt,« erwiderte der Mann. »Man hat ihm die Wahl gelassen von neun Uhr früh bis um vier Uhr nachmittags. Er hat dreiviertel auf zwei gewählt, um noch seinen Lunch zu bekommen.«

»Seinen Lunch zu bekommen?« rief ich; »aber er wird ja nicht den Mut haben, auch nur einen Bissen davon herunterzuschlucken.«

»O, der hat schon Mut,« sagte ein anderer von den Rauchern. »Sie brauchen bloß heraufzusteigen, und Sie werden sehen, ob er nicht mit ebensoviel Appetit ißt wie Sie und ich. Der Sheriff hat ihm vor kaum fünf Minuten die Schüsseln gebracht.«

Man hatte mich nicht getäuscht. Als ich die dreißig Stufen emporgestiegen war, welche zum ersten Stock führten, und mich vor der Zelle Seymours befand, sah ich durch die Eisenstäbe hindurch ihn mit dem Verbande des Obersten in einer Ecke liegen. Er nahm aus den Händen eines alten Mannes eine Schüssel mit Bratfischen, eine zweite mit Kuchen und ferner eine Flasche Wein. Der alte Mann, der ihm das Essen reichte, war derselbe, welcher ihn alsbald henken sollte, der erste Beamte der Stadt und kraft dieses Titels mit den Funktionen des Henkers betraut. Sein längliches und rauhes Gesicht war mit einer Haut bedeckt, die sich am Halse zu Falten runzelte, welche so hart wie Schuppen schienen. Seine rote Gesichtsfarbe, seine blauen Augen, sein gelblich weißes Haar, bildeten einen ergreifenden Kontrast zu dem sonnengebräunten Antlitz, dem langen dunklen Lockenhaar, den pechschwarzen Augen des Mulatten, ebenso wie seine steife Würde zu den behenden, schlangenartigen Bewegungen, die Seymour noch bis zum letzten Momente bewahrte. Ich hatte nur noch Augen für diesen Banditen, dessen letzte Stunde geschlagen hatte, den ich mit übermenschlicher Tapferkeit sein Leben verteidigen gesehen hatte und der jetzt den Bratfisch der Henkersmahlzeit mit so erstaunlicher Genußfähigkeit verzehrte. Mit dem einen Arm, der wie seine Stirn verwundet und verbunden war, hielt er auf den Knieen die Schüssel; mit dem andern riß er die Stücke von dem Essen los. Ich sah seine behenden Negerfinger geschickt die Fischreste ablösen. Die Gräten knackten zwischen seinen weißen Zähnen. Die große Schüssel, die man ihm gereicht hatte, wurde immer leerer. Als er die letzte Krume heruntergeschluckt hatte, wandte er sich zu mir, und da er offenbar meine Aufmerksamkeit gewahrte, sagte er lächelnd:

»Ich will meinen Bauch voll mit Fisch da 'rauftragen. – I will carry with me a belly full of fish, where I go!«

Er erblickte darauf eine Flasche, welche schwarzen Kaffee enthielt. Er trank bedächtig mehrere Schluck davon, nahm darauf einen Teller mit Süßigkeiten und leerte ihn mit demselben langsamen Wohlbehagen. Der Sheriff pfiff jetzt eine Melodie, in der ich den Westpointer Kadettenmarsch erkannte. Ich sah, wie er über ein Paket gebeugt, ein neues Hemd und einige Knäuel Bindfaden herausnahm. Menschen kamen und gingen im Korridor. Sie wechselten mit Seymour einige Worte und riefen »Henry« in einem Tone, der weder mitleidig noch verächtlich klang. Nun erschien auch Oberst Scott und zwar in demselben Augenblick, als der Sheriff dem Verurteilten das neue Hemd, in dem er hingerichtet werden sollte, überwarf. Der braune Leib des Unglücklichen ähnelte in seiner muskulösen Magerkeit dem einer Bronzestatue. Obwohl der verwundete Arm ihn in seinen Bewegungen behinderte, so ließ sich doch in jeder Muskelbewegung die behende Geschmeidigkeit einer wilden Katze erkennen, und der unversehrte Arm, die Schultern, die Brust waren wunderbar modelliert. Das kräftige, so gesunde und so junge Fleisch, dessen Stunden gezählt waren, erbebte in leichtem Schauer bei der Berührung mit der frischen Leinwand. Mr. Scott folgte, ohne ein Wort zu reden, mit den Blicken jenen Vorbereitungen. Bei seinem Kommen hatte er mir die Hand gedrückt und hatte sich ebensowenig darüber gewundert, mich hier zu treffen, als ich ihn. Als Seymour sich Gesicht und Hände gewaschen, sein Haar gekämmt und von selbst die Arme auf den Rücken gelegt hatte, damit der Sheriff sie bände, fragte der Oberst den letzteren:

»Wollen Sie mich mit Henry einige Minuten allein lassen?«

»Ja, Oberst,« sagte der alte Mann und sah auf seine Uhr. »Wir haben die Geschichte auf dreiviertel vor zwei festgesetzt, und jetzt ist es noch nicht halb zwei . . .«

»Ich danke,« versetzte Mr. Scott, »wir werden es kurz machen.«

Als der ehemalige Herr in die Zelle des ehemaligen Dieners eintrat, kam mir ein romantischer Gedanke. Ich erinnerte mich unseres vorgestrigen Gesprächs und bildete mir plötzlich ein, daß er dem Verurteilten Gelegenheit geben wollte, dem Galgen und den Todesschmerzen zu entgehen, indem er ihm eine geladene Waffe oder ein schnell wirkendes Gift reichen würde. Ich hatte den Getreuen des Präsidenten Lincoln, den letzten mystischen Sproß eines Geschlechtes begeisterter Christen, in falschem Verdacht. Kaum hatte sich das Gitter wieder hinter ihm geschlossen, so war der Oberst ohne Scheu vor den Leuten, die ihn sehen konnten, auf den Steinfliesen ins Knie gesunken. Er half Seymour, ein Gleiches zu thun, und nun begann er: – »Vaterunser . . .« – »Vaterunser . . .« wiederholte der Mulatte – ». . . der du bist im Himmel, dein Wille . . .« – ». . . der du bist im Himmel, dein Wille . . .« Und so ging es weiter. Der Oberst sprach die Sätze des Gebetes mit kräftiger Stimme. Der andere wiederholte sie im leisen, lispelnden Tone eines Kindes. Selbst in der Haltung offenbarte sich die Verschiedenheit der beiden Wesen. Mr. Scott hielt sich gerade und aufrecht in den Knieen, Seymour geduckt und zusammengekauert. Letzterer versprach sich bisweilen. Dann begann der Oberst von neuem langsamer und deutlicher mit der Geduld eines Lehrers, der nachsichtig einen Schüler lehrt. Und manche seiner Formeln klangen gar seltsam unter diesen Umständen und zu dieser Stunde . . . »Und führe uns nicht in Versuchung . . .« Ich weiß nicht, wie es kam, aber als ich hörte, wie der arme Teufel, dessen ganze Aussicht der schmale Hof mit seinen hohen Mauern und seinem Galgen bildete, diesen Satz nachsprach, da erinnerte ich mich an den seichten Scherz eines sterbenden Vaudevilledichters. Man fragte ihn: »Was hat Ihnen der Priester gesagt?« – »Ach!« meinte er, mit dem Tode ringend, »er hat mir gute Ratschläge gegeben. Hätte er mir übrigens schlechte gegeben, ich wäre außerstande gewesen, sie zu befolgen . . .« Nicht als ob Mr. Scott unrecht damit gehabt hätte, den Banditen das heiligste aller Gebete stammeln zu lassen. Für mich, der ich diese Worte in dieser Weise hörte, hatten sie einen ganz bestimmten Sinn. Für Seymour hatten sie einen solchen zwar nicht, aber indem dieser sie dem Obersten aus Gehorsam nachsprach, bewies er zum letztenmale seine Anhänglichkeit. Der durchaus physische und fast tierische Mut, welchen er vorhin beim Essen gezeigt hatte, wurde nun durch einen gewissen Zug von Idealismus geadelt. Er wollte nicht mit vollem Wanste bloß dahingehen, wie er vorhin gesagt hatte. Er legte auch Wert darauf, versöhnt mit dem einzigen Wesen, das ihm von Kind an gutes gethan und ein wenig Achtung eingeflößt hatte, aus der Welt zu scheiden.

Ich zog mich in den Hintergrund des Korridors zurück, denn ich setzte voraus, daß die beiden Männer intime Angelegenheiten miteinander zu besprechen hatten. Seymour war verheiratet. Seine Frau und seine beiden Kinder lebten. Ich hatte es von dem Hotelier erfahren. Obwohl sie sich gehütet hatte zu erscheinen, konnte er ihr doch einen Scheidegruß senden wollen. Ich dachte daran, mit welch erstaunlicher Gleichgiltigkeit dieser Mulatte aus dem Leben ging, einem Leben, an dem er dennoch hing, da er sinnlich, lasterhaft und energisch war. Ich sagte mir: Welch eine Ironie liegt doch darin, daß ein Mensch von dem Schlage, ein Orangutan, der die Fähigkeit besitzt, eine Flinte zu handhaben und zu sprechen, im Handumdrehen sich die Philosophie erwirbt, die wir als die reifste Frucht des Denkens betrachten: die Fügung ins Unvermeidliche. Ich erinnerte mich an einen meiner Lehrer, den größten Denker der Zeit, mit dem ich zwei Jahre vor seinem Tode, im Herbst, durch einen Wald ging. »Ich versuche, sterben zu lernen, indem ich diese Bäume betrachte, welche es sich ruhig gefallen lassen, daß sie ihr Laub verlieren,« sagte er zu mir. »Und doch, wie ist das bitter! . . .« Ich fragte mich, ob der Mut dieses unerschrockenen Seymour nicht doch etwa Prahlerei wäre und ob er bis ans Ende standhaft bleiben würde. Mich verlangte auch zu wissen, was der Oberst fühlte und empfand, ob er bereits früh schon dagewesen wäre oder ob er sich damit begnügt hatte, erst im letzten Augenblicke zu erscheinen und zu befehlen, daß der Verurteilte noch einmal bete. Wollte der Puritaner seine Gewissensbisse beschwichtigen, von denen er mir gesprochen hatte? Das eine steht jedenfalls fest: Als er aus der Zelle heraustrat und auf mich zukam, glänzte eine ernste Freudigkeit auf seinem martialischen Antlitz.

»Er wird gut sterben,« sagte er schlicht, »und Sie werden sehen, wie alle diese Leute das empfinden werden.«

Er hatte bei diesen Worten nach einem geöffneten Fenster hingewiesen, welches auf den Hof hinausging und durch das ein immer lauter werdendes Getöse heraufdrang. Die vierzig Personen, denen der Sheriff, wie uns, die Erlaubnis gegeben hatte, der Hinrichtung beizuwohnen, hatten sich während der letzten Viertelstunde dicht um das Schafott gedrängt; diese Leute lachten, plauderten, pfiffen. Wir traten ans Fenster und wir konnten sehen, daß die schlimmsten Habitués der »saloons« von Philippeville, vermutlich auch die Rädelsführer bei den Wahlen, sich daselbst ein Rendezvous gegeben hatten. Die Neger waren vorherrschend. Sie zeigten ihre vom Trunk entstellten Galgenphysiognomien. Sie blickten zu dem offenen Fenster empor und begrüßten uns mit ungeduldigem Geschrei. Eine Gruppe weißer Riesen mit hellem Haar und hämischen Gesichtern, welche priemten oder Pfeife rauchten, begannen uns auszuzischen. Als sie Mr. Scott erkannten, schwiegen sie. Es war dies ein Spitzbubengesindel, auf welches indessen die Seelenstärke des Delinquenten bereits den von dem ehemaligen Herrn vorausgesagten Eindruck zu machen anfing. Obschon wir am Fenster standen, so hörten wir deutlich, wie der Sheriff die Worte sprach, die uns veranlaßten, uns umzudrehen.

»Bist Du bereit, Henry?«

»Ja, Kapitän,« antwortete der junge Mensch. »Geben Sie mir nur diese Cigarre und zünden Sie sie an.« Der alte Mann steckte ihm eine halbe Cigarre zwischen die Lippen, die auf einem hölzernen Vorsprung in der Zelle sorgfältig aufgehoben worden war. Die erste Hälfte von dieser Havanna, die ein mitleidiger Besucher geschenkt hatte, hatte Seymour vorzüglich geschmeckt, und er hatte die zweite Hälfte aufbewahrt, um sich kurz vor dem Tode noch einmal den angenehmen Genuß zu verschaffen. Diese letzten Rauchwolken, die er beim Hinabsteigen der Treppe aus seinem Munde blies, waren sein Abschied vom Leben – von seinem Leben. Als die Thür des Hofes sich öffnete und er das Schafott erblickte, fiel ihm die Cigarre aus dem Munde. Diese Erregung war das einzige Zeichen von der Ergriffenheit des Mannes. Er gewann im übrigen sofort seine Selbstbeherrschung wieder und stieg die hölzernen Stufen rasch empor, ohne daß seine nackten Füße zitterten. Seine Haltung war so fest, so schlicht und eine trotz der Schande der Strafart so völlig würdige, daß tiefes Schweigen unter den rohen Zuschauern entstand. Unterhalb des unheilverkündenden Strickes, der unbeweglich herabhing, war ein frei schwebendes und an der einen Seite mit Lederriemen am Schafott angebrachtes Brett befestigt. Auf der anderen Seite hing es an einem Scharnier an den beiden Balken des Galgens. Seymour trat auf das Brett. Der Sheriff band ihm Beine und Füße fest, legte ihm die Schlinge um den Hals und zog sich, nachdem er ihm das Gesicht mit einem schwarzen Schleier verhüllt hatte, auf die Plattform des Schafotts zurück, um ihn zu fragen: »Was hast Du noch zu sagen, Henry?«

»Nichts, Kapitän,« antwortete der Verurteilte, ohne daß der schwarze Schleier sich bewegte; so sehr war der Mensch gewillt, sich ruhig zu zeigen.

»Sag: ›Herr, gedenke meiner in Deinem Reiche,‹« rief mit kräftiger Stimme neben mir der Oberst.

»Herr, gedenke meiner in deinem Reiche,« wiederholte lispelnd der Mulatte. Und sodann fuhr er nach kurzem Schweigen fort: »I am all right now;« und mit Festigkeit sagte er, sich zum Sheriff wendend: »Good bye, captain, good bye, everybody.« Noch einmal, diesmal sanfter, ertönte seine Stimme: »Good bye, colonel!«

Wir alle antworteten instinktiv: »Good bye, Henry!« Lauter als die anderen rief der Oberst: »Good bye, my boy . . . good bye, my boy!« – In diesem Augenblicke zerhieb mit einem Beile der Sheriff die Ledergurten, welche das Brett festhielten. Es fiel unter den Füßen des Delinquenten hinweg, der um Leibeslänge hinabstürzte. Ich gestehe, daß ich mich umdrehte, um das Schreckliche nicht zu sehen. Als ich wieder hinblickte, hing der Leichnam am Ende des straffen Strickes schlaff herab! Auf den Gesichtern der Zuschauer lag ein eigentümlicher, unbeschreiblicher Ausdruck. Alle schwiegen, während draußen jetzt dasselbe Geschrei, dasselbe Pfeifen und Lachen hörbar ward, das Mr. Scott und mich bereits im Innern des Gefängnisses angewidert hatte. Es war die Menge von der Straße, der man die Thüren der Umfriedigung öffnete, damit sie den Leichnam sehen und den Tod feststellen konnte.

»Verhalten Sie sich ruhig, meine Herrschaften,« schrie der Sheriff mit einer Stimme, welche den Lärm übertönte. »Der Arzt will hören, ob das Herz noch schlägt.«

Ein Mensch mit jovialem Gesichtsausdruck stand auch wirklich auf dem Schafott. Er hatte den Gehenkten zu sich herübergezogen und sein Ohr an dessen Brust gelegt. Einige Minuten nach dieser letzten Auskultation rief er: »Es ist aus!« und ließ den Delinquenten wieder los. Der Sheriff hielt den hin und her schwebenden Körper im Vorbeigehen an und mit dem Phlegma eines Packträgers, der von seinem Koffer spricht, sagte er: »Jetzt muß ich den Leichnam abnehmen.« Der alte Mann ergriff darauf sein Beil. Mit einem Hieb durchschlug er den Strick gerade über dem immer noch verschleierten Kopfe. Vier Männer, die ihm freiwillig Hilfe leisteten, nahmen die Last auf die Arme und trugen sie nach dem Sarge, während die anderen Zeugen des letzten Aktes von diesem Drama, die nach der Beseitigung der sterblichen Hülle Seymours ihre wahre Natur wiederfanden, sich um die Stücke des Strickes und um die Lederriemen balgten. Der Oberst und ich eilten schnell von diesem schrecklichen Treiben fort; er sagte zu mir:

»Ich kann Ihnen leider nicht anbieten, Sie in meinem Wagen nach dem Hotel zurückzufahren. Ich habe meiner Tochter versprechen müssen, so schnell als möglich heimzukommen, damit sie wisse, ob der arme Junge vor dem Tode noch einmal gebetet hat. Seit achtundvierzig Stunden befindet sie sich in großer Aufregung. Es ist doch ein Trost für uns, daß er bereut hat und gerettet ist . . .«

 


 


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