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Es war damals noch die Zeit des »Prabuddha Bhârata«, des erwachten Indiens. Die Ausläufer des großen Geistesstromes hatten weit über das Land hin die Gemüter zu neuem Glauben an eine Einigung der Völker unter dem Licht der urväterlichen Religion befruchtet. Die Wirkung Brahma-Samajs, der die Veden, besonders aber die Upanishads im Sinn eines geklärten Theismus auslegte, hatte über die Finsternis des Götzendienstes und Aberglaubens hin, den Versuch einer sozialen Reform hervorzurufen, die mit Raghunatha Rao einsetzte und sich in eigensinnigen Kämpfen zuerst gegen den Kastengeist wandte. Der Name Swâmi Vivekânandas klang wie ein heller Weckruf durch das schlafende, unterdrückte Land, aber die schwelende Flamme dieser neuen Wahrheit schlug niemals zum vollen Glauben an die Freiheit empor.
Es folgten diesen Propheten der Erhebung andere. Die verschiedenen Richtungen der Auffassung zerteilten ihre Anhänger zu Parteien, und was im Sinn einer Einigung zu einer neubelebten Landesreligion begonnen hatte, artete in Parteigezänk aus, und als gar europäische Agitatoren sich der großen Sache annahmen, wuchs das Mißtrauen der Menge. Der Gedankenstrom geriet hier in buddhistische Geistesbahnen, dort in den Einfluß christlicher Ideen, und die englische Politik, sich dessen wohl bewußt, daß die Macht ihrer Einigkeit von der Zersplitterung der feindlichen Parteien abhing, verwertete die verschiedenen Regungen geschickt zu ihrem Vorteil und spielte sie gegeneinander aus.
Dadurch ergab sich naturgemäß, daß die zu Beginn dem Aufbau einer erneuten Landeskirche zugedachten Reformen mehr und mehr ein politisches Gepräge bekamen, die fanatischsten Anhänger der erneuten Religion sahen in ihr bald ein Mittel zur Befreiung des Landes von der englischen Herrschaft, und mit diesem Umschwung war das Herz der Sache tödlich verwundet, und ihre Kraft versickerte im Vielerlei einer von Tendenz und Leidenschaft erfüllten nationalen Bestrebung.
Ich erfuhr von diesen Dingen zum ersten Mal durch den Brahminen Mangesche Rao, dessen aufrichtiger Glaube an die, Möglichkeit eines geeinten Indiens mich hinriß, wie auch sein Haß gegen England, welche beide im Verlauf unserer Beziehung immer unverhohlener zutage traten. Ich gewann Mangesche Raos Vertrauen in dem Maße, als er an meine Anteilnahme glauben lernte, und wenn er auch, mehr einem Prinzip als eben einer Befürchtung folgend, alle praktischen Einzelheiten vor mir geheimhielt, so gewann ich doch bald einen allgemeinen Einblick in das Interessengebiet des politisch kämpfenden Indiens.
Er setzte voraus, daß seine Ideen mir wertvoller waren, als seine Mittel, sie zu realisieren, und überließ mir den Schluß vom Gedanken auf die Möglichkeiten zur Tat. Die Liebe zu seinem Lande begeisterte mich, seine Hoffnung war heiß und jugendlicher Art und stand in einem seltsamen Gegensatz zur Gelassenheit und Beherrschung des Wesens, die er zur Schau trug. Ich lernte ihn um der glühenden Hingabe willen lieben, in welcher er sich einer Sache opferte, deren Bedeutung und Aussichten ich damals nicht zu übersehen in der Lage war. Sicher ist, daß ich leicht bei meiner raschen Anteilnahme in Dinge hätte verwickelt werden können, die mir verhängnisvoll geworden wären.
Aber was der Brahmine aus seiner reichen Welt großer Ideen in einen politischen Kampf hinübernahm, hing so eng mit seiner Jugend zusammen, wie sein Eifer mit seiner Hoffnung. Im Grunde war er so wenig Politiker, wie die Fragen nach Mein und Dein ihn lange in ihrem zänkischen Bereich hätten fesseln können. Die priesterliche Tradition seines Stammes, die tief in seinem Blute lebte, zog ihn immer wieder in ihre beschauliche Stille zurück, und im Grunde lockte die Erkenntnis ihn mächtiger, als der Kampf um den äußeren Glanz der Welt.
Die Bekanntschaft und mein immer mehr zunehmender Umgang mit ihm veränderten meine Lebensweise und meine Betrachtungsart der Welt, die mich umgab. Ich strich nun oft allein und nachdenklich durch den belebten Basar und am Dunkel der Tempeleingänge vorüber, deren gelbe Messingplatten am alten, von unzähligen Händen und Füßen dunkelpolierten Holz, geheimnisvoll aufblinkten, wie die Riegel zu Höhlen voll ungeahnter Wunder. Ich achtete mit neuem Verständnis auf die vielerlei Abzeichen auf den Stirnen der Indier, die bald mit Ruß oder Asche, bald mit Henna gemalt waren, und lernte die Kasten voneinander unterscheiden.
Wenn die Trommeln und Pfeifen und der wahrsagerische Gong im Dämmern der Tempelhöfe erklangen, kamen mir die Worte Mangesche Raos über den Sinn der einzelnen Zeremonien neu belebt ins Gedächtnis, und gemeinsam mit seiner Hoffnung erwachte der Wunsch in mir, der alte Geist möchte sich einst von den Schlacken dieser heidnischen Entstellungen zu seiner ehemaligen Freiheit erlösen.
Einmal waren wir weit über die Stadt hinaus am Meer dahingeschritten, unter der geraden Palmenallee, und ich sah die nackten Hindus, braun im Sonnenlicht glänzend, im flachen Wasser fischen, unser Gespräch war bald, wie schon so oft, von weltlichen Dingen der Politik auf religiöse Fragen gekommen, und vielleicht in der Hoffnung, einmal klar und bestimmt den Sinn des Hinduismus zu erfassen, fragte ich Mangesche Rao:
»Was ist das Brahman? Ich höre Gedanken von tiefem Sinn, Weisheit voller Schönheiten, Erlösungsgedanken voll hellen Befreiungsglaubens, aber über dem Begriff des Brahman selbst schwebt ein mystisches Dunkel.«
Da antwortete mir der Brahmine:
»Das Wesen des Göttlichen kann ein Herz nur empfinden, aber ich will Ihnen so antworten, wie die ältesten Priester der Veden es gedeutet haben. Nach ihnen ist das Brahman das Licht des Geistes und die Seligkeit ohne Leid. Das Brahman ist die Freude, das uranfängliche Wissen, eine unterschiedslose Masse von Erkenntnis, aus Seligkeit bestehend, zugängig durch das Bewußtsein, mit höchster Einsicht ausgestattet.«
Wie nah lag nach dieser herrlichen Darlegung die Frage nach der Möglichkeit, auf die ein Herz dieses Heils teilhaftig werden könnte. Mangesche Rao dachte eine Weile nach, dann sagte er:
»Ich will Ihnen eins der Distichen aus dem Atmabodha nennen, das vielleicht Ihre Frage nicht so beantwortet, wie sie gestellt ist, das aber die rechte Entgegnung auf eine recht gefaßte Frage wäre:
Der Fromme, der des rechten Wissens kundig,
erschaut es mit dem Auge der Erkenntnis,
daß in ihm selbst beruht das ganze Weltall,
und daß er selbst das Eine ist und alles.
Wie eine Eisenkugel, die durchglüht ist
vom Feuer, so durchdringt das Brahman
das ganze All im Innern und von außen
mit seinem Licht, indem es selbst erstrahlt.
Er sprach leise und feierlich. Mir war, als erinnere sich ein tausendjähriges Geisterreich seines versinkenden Lichts, und zum ersten Mal überkam mich mit dunkler Gewalt die Trauer um das verlorene Indien. Ich begriff in heimlicher Beängstigung die Vergeblichkeit des Kampfes, in welchen dieser Mann neben mir, wie in sein Schicksal, verstrickt war, und mein Verlangen schwankte unruhig zwischen dem Wert der alten und der neuen Welt. Mangesche Rao schien meine Gedanken zu ahnen, denn nach einer Weile des Schweigens meinte er in leichterem, fast geschäftigem Tone:
»Es ist niederdrückend, erkennen zu müssen, daß alles, was wir unter großen Opfern zur Wohlfahrt des geknechteten Volks errungen haben, immer wieder zum Anlaß seines Mißtrauens wird. Als ich mich entschloß, die Hochschule in Madras zu besuchen, wurde ich aus der Gemeinschaft meiner Kaste ausgestoßen, und als ich mit Erfolg um eine einflußreiche Stellung unter den Feinden rang, verlor ich das letzte Zutrauen im engsten Kreis meiner Freunde. Und doch haben wir Inder keinen anderen Weg, den Kampf mit England aufzunehmen. Heute unterdrückt in Indien noch die politische Macht die Freiheit des Geistes, aber es wird bald so weit kommen, daß auch hier, wie überall in der Welt, der Geist die Herrschaft antritt. Damit wird Englands Niedergang in Indien beginnen. Die Einsichtigen wissen es, und es beginnt bereits eine starke Strömung, die uns die eingeräumten Rechte wieder zu schmälern sucht, denn England fühlt, wo es uns gewachsen ist und wo nicht. Aber wie bitter ist es, in solchem Kampf erfahren zu müssen, daß unsere eigenen Landsleute, deren Wohl unsere Mühe gilt, sich gegen uns wenden.«
Ich habe später oft an diese Worte denken müssen, als das Geschick meines Freundes sich erfüllt hatte, ich erinnerte mich ihrer, wie einer ausgesprochenen Ahnung seines Verhängnisses.
Zwischen den Palmen glitzerte das farbige Meer. Wir kamen an den Verbrennungsstätten für die Toten vorüber. Ein Holzstoß war für den hereinbrechenden Abend geschichtet, und der Tote lag, mit kunstvoll gebrochenen Gliedern, fast rechteckig gefügt, nackt auf dem kleinen Scheiterhaufen. Zahllose Aschenstätten umher verrieten die Feiern der vergangenen Tage, und plötzlich erinnerte ich mich jenes merkwürdig quälenden Brandgeruchs an manchen Abenden. Im Qualm des verbrannten Fleisches stiegen die Seelen ins Nirwana empor. Ich sah Mangesche Rao an. Hinter dieser ruhigen Stirn brannte die furchtbare Hoffnung, daß bald der Aufstand durch die Gassen heulen würde.
Ein aussätziger Bettler kroch auf allen Vieren über den roten Weg auf uns zu, er hatte sich im Dickicht verborgen gehalten, um den Steinen seiner Verfolger zu entgehen, nun bellte er heiser und drehte den Kopf mit den zerstörten Wangen, wie vom Irrsinn seiner Qual genarrt. Am Strand hatten die Raben sich gesammelt, ihr Geschrei beunruhigte die sonnentrunkene Stille. Ich sah fort, als ich den von allem Fleisch entblößten Brustkorb eines Menschen erkannte.
»Die Pest und die Blattern haben ihren Einzug gehalten«, sagte Mangesche Rao. Er sprach auf dem Rückweg kein Wort mehr. Vielleicht war ihm, wie auch mir, bedrohlich durch den Sinn gezogen, wie vielerlei Feinde sein Land belagerten und zersetzten, Feinde, gegen die kein Kampf von Nutzen war. Es waren jene Opfer des Lebendigen, die sich mit dem Alter und der Müdigkeit eines Volkes einstellen, der Verfall der Sitte, das Laster, das Elend und die schleichenden Seuchen. –
Panja hielt es immer noch für nötig, mich zu warnen, und vom Standpunkt seiner Betrachtungsweise hatte er recht. Ich beruhigte ihn nach Kräften, obgleich seine Besorgnisse in diesem Fall eher seiner Eifersucht, als seiner Fürsorge entstammen mochten.
»Die Engländer fürchten meinen Freund, Panja. Das Schlimmste, was ihm geschehen kann, wird seine Verbannung sein, und wenn auch mich dies Unheil träfe, so käme es nur mit meinen Absichten zusammen, und wir führen vielleicht auf Staatskosten nach Bombay statt auf eigene.«
Panja wandte sich ohne Erregung, fast traurig ab.
»Du kennst das Land nicht, Herr. Wer spricht von einer Gefahr, die dir oder dem Brahminen von England drohen könnte? Weißt du nicht, daß Mangesche Rao unter den Priestern seiner Kaste so verhaßt ist, wie die Hyäne unter den Schakalen? Ihre Waffen ersticken den Schrei im Halse, unter dem Palmendickicht ist Finsternis, in die kein Richter schaut. Man sagt von der Kobra, daß man sie erst erblickt, nachdem der Tod einem die Augen geöffnet hat, und die Kaste dieser Priesterlichen nennt diese Schlange heilig.«
»Was meinst du denn, Panja?«
Ich fragte angeregt, denn wenn dieser merkwürdige und kindliche Freund meiner indischen Tage nicht in Eifer geriet, so war ihm sicherlich zu glauben. Ich wußte längst, daß sein anfänglicher Haß gegen Mangesche Rao sich in heimliche Neigung verkehrt hatte, eine Wandlung, die seine Eifersucht nicht ausschloß, die mich aber aufmerksamer auf seine Besorgnisse machte.
»Ich weiß es nicht,« antwortete er, »warum aber begibst du dich in Gefahr? Wer würde dich schützen? Einem Engländer darfst du nur so lange trauen, wie du ihm Vorteile bietest, und wenn du mit seinen Feinden umgehst, kann er dich nicht für seinen Freund halten. Mangesche Rao steht in der Mitte, die keinen Halt gewährt, sowohl die Priester als auch die Regierung halten ihn für einen Verräter, denn im Kampf um das Land schaut niemand eines Menschen Herz an, wie du es tust.«
»Panja, die Freuden des Daseins, welche sich allen ohne Gefahr bieten, sind mir gleichgültig. Was ich empfange, ist meinen geringen Einsatz wert.«
»Ich spreche nicht so, weil ich dich verlassen will«, antwortete Panja einfach. Ich hatte ihn lange nicht mehr so ernst gesehen, und nachdenklich erwog ich meine Lage.
Mangesche Rao kam in den letzten Wochen seltener. Es lag eine aufreibende Spannung in der Luft, die um so drückender wirkte, als sich ihre Ursache beharrlich verbarg, aber die Stimmung meines neuen Freundes schlug in Stunden unseres Beisammenseins oft in heitere Unbefangenheit um. Er vergaß über unseren vielerlei Gesprächen die verantwortungsvollen Lasten, die seine freiwillige Pflicht ihm auflud. Eines Abends brachte sein Diener, der ihn begleitete, das Fell eines siamesischen Panthers mit, das mir Mangesche Rao zum Geschenk machte. Er wollte, daß ich ein Andenken von ihm annehmen sollte, und mir war für einen Augenblick, als handelte es sich um einen Abschied. Meine Augen ruhten den Abend hindurch oft auf dem tiefen Schwarz des herrlichen Fells, mit tausend Erinnerungen an die Wildnis stieg der Gedanke an die Nacht in meiner Seele empor, an die Nacht Indiens und an die Herrschaft des Tiers.
An jenem Abend, wir hatten uns zur Nachtstunde auf die Veranda begeben, kam unser Gespräch auf die Weltliteratur und ihre größten Vertreter. Eine bewegte Wolke geflügelten Nachtvolks sammelte sich im Schein der Lampe, und bald sah die Tischplatte wie ein Schlachtfeld nach einem wilden Treffen aus. Die geheimnisvolle Nacht erklang im tropischen Liebesfieber ihrer unzähligen Geschöpfe, und der Mond glitzerte weiß in den blanken Blättern.
Es berührte mich seltsam genug, daß Goethes Name, durch Meere und Welten von seiner deutschen Heimat getrennt, so selbstverständlich erklang, als sei er längst geistiges Eigentum der ganzen bewohnten Erde. Die Meinung des Brahminen über das große Werk seines Lebens, die er meiner jugendlichen Begeisterung entgegenhielt, war eigenartig genug, um mir für immer in Erinnerung zu bleiben.
»Goethe,« sagte Mangesche Rao, »ist so sehr der Erzieher des deutschen Volks in Gesinnung und Anspruch geworden, daß es Ihren Landsleuten sehr schwer fallen muß, seine Bedeutung über die pädagogische Einwirkung hinaus gerecht einzuschätzen, da die meisten wie mit seinen Augen auf ihn blicken, und die überragende Autorität seiner Erscheinung knüpft an keine Tradition an, die einen Maßstab bieten könnte. Zuletzt wird er, wie alle Großen, nach dem Umfang seiner Gestaltungskraft eingereiht werden, und in dieser Hinsicht erscheint uns Friedrich Schiller als der größere Meister.«
Wir kamen auf Dante zu sprechen, dessen hohen, sittlichen Anspruch er pries und den er über alles liebte, auf Shakespeare und endlich auf Kalidasa, dessen Sakuntala er weit über alles stellte, was der große Engländer jemals empfunden, gedacht und gestaltet hat.
Die Art seiner Betrachtungsweise und die Ansprüche in seinen Begründungen gaben mir ein merkwürdig neues und allgemeines Bild. Ich mußte mit heimlichem Lächeln an alle die »Großen« denken, welche die Generation unserer Väter, und mit ihr wir selbst in unserer Jugend, so bereitwillig neben bedeutsame Geister gestellt haben.
Panja war am anderen Tage sehr glücklich, als ich ihm mitteilte, daß ich mit Mangesche Rao eine Reise ins Land verabredet hatte, an der auch er teilnehmen sollte, und die einige Tage währen und uns in die Nähe von Barkur und zu den Wasserfällen des Shita führen würde.
Ich saß mit Mangesche Rao am Feuer, am Rand des Urwalds in der unendlichen Nacht. Die Steppe klagte, und ihre Stimmen bewegten mein Gemüt zu Begierde und Trauer. Ich habe die Sterne selten wieder so hell gesehen, wie in dieser denkwürdigen Nacht, die mir um vieler Gedanken willen, die der schweigsame Mann aussprach, unvergeßlich geblieben ist. Panja schlief damals schon im Zelt, was er eigentlich stets tat, wenn er sich für abkömmlich hielt, und aus dem Schattendunkel des Dschungelwalds erklang in der Nähe unseres Feuers das Grasraufen der weidenden Ochsen und das Schnauben ihrer Nüstern am Boden. Der Mond war noch nicht aufgegangen; aber es war hell in der Weite, unter den Sternen.
Mangesche Rao hatte nach der Abendmahlzeit schweigend die selbstgerollte Zigarette durch die hohle Hand geraucht, und wir hätten uns gewiß in dieser Nacht, wie in so mancher anderen, ohne viel Worte zur Ruhe gelegt, wenn uns nicht ein eigenartiger Vorfall aufgeschreckt hätte. Einer der grasenden Ochsen, der sein Geschirr noch zum Teil trug, begann plötzlich sich auf eigentümliche Art zu schütteln. Mir erschien dies Geräusch erst dadurch ungewöhnlich, daß Mangesche Rao plötzlich rasch hintereinander zwei Hände voll Reisig auf das Feuer warf, so daß eine hohe Flammensäule in die Nacht emporstieg, unter deren Schein die blaue Weltweite für kurze Zeit in Finsternis zu versinken schien und die nähere Umgebung aufleuchtete wie ein rotes Gemach. Er stand auf und schritt vorsichtig auf das Tier zu, die hängende Büchse, am Lauf gefaßt, wie er es stets tat, lauernd hinter sich herziehend, und ich folgte ihm mit der meinen. Es gibt wenig Gefahren in Indien, die man deutlich nahen sieht und denen man ruhig entgegentreten kann, dieses Abwartende und gebärdelos Hereinbrechende eines Verhängnisses macht einen Teil des großen Grauens aus, das niemanden in der indischen Wildnis verläßt, dessen Sinne diesen Ahnungen erschlossen sind. Wie wenig das einzelne Ereignis, das mein Leben oder das meiner Freunde gefährdet hat, es im Grunde war, das mich erschütterte, sondern wie vielmehr es die Ungewißheit seiner unfaßbaren Annäherung war, geht mir daraus hervor, daß heute noch eine Palmengruppe oder der schwüle Luftzug eines Treibhauses mich aufs tiefste entsetzen können. Mit der gefiederten Gestalt des harten Grüns eines Palmblattes ist mir dauernd eine Ahnung des Todes verknüpft, während ich den Bewegungen einer Schlange ohne andere Ergriffenheit zuzuschauen vermag, als in der, welche ihre Schönheit und Eigenart auslösen. Nach einer Begegnung mit einem mohammedanischen Hindu in einer engen Gasse von Bombay, der einen Schuß auf mich abfeuerte, ist mir weder vor den Männern seines Volkes noch vor einer Schußwaffe auch nur ein Schatten von Besorgnis verblieben, aber noch jahrelang hat mich der kaum hörbare Klang nackter Füße auf einem Steinboden entsetzt. Ich erinnere mich von diesem Geschehnis kaum an etwas empfindsamer, als an dieses dumpfe, leise »Tapp-Tapp«, mit dem es hinter mir begann.
Und so hätte auch in dieser Nacht am Steppenrand die Gewißheit, daß etwa ein Panther unser Lager umschliche, mich nicht so erregen können, wie die zweiflerische Vorstellung bald von etwas Nichtigem, bald von Ungeheuerlichem. Mag es ein jeder nennen, wie er will, wir fanden unseren Ochsen in einem seltsamen Erstarrungskrampf, er zitterte so heftig, daß sein Geschirr unaufhörlich klirrte, und war nicht zu bewegen, in die Nähe des Feuers zu gehen, in dessen Schein wir nach der Ursache seiner Plage hätten forschen können. Plötzlich sagte Mangesche Rao zu mir, daß ich stillstehen und keinen Fuß rühren solle, aber ich kam nicht zur Befolgung seines Ratschlags, weil das gewaltige Tier lautlos umsank und am Boden in furchtbaren Verrenkungen und unter keuchendem Schnauben verendete. Das Feuer war wieder auf ein bescheidenes Flämmchen zurückgebrannt, und ich sah den weißen Koloß des toten Tiers im Sternenlicht im Gras liegen und hinter ihm die unendliche Weite des blauen Steppenlandes.
Der Brahmine schien die Ursache dieses plötzlichen Todes zu wissen, denn er suchte mit Aufmerksamkeit und bewußt wie nach der Bestätigung einer feststehenden Annahme. Endlich brannte er einen größeren Span am Lagerfeuer an und zeigte mir im Licht der rauchenden Flamme ein winziges, dunkel umrandetes Löchlein am Maul des verendeten Tiers.
»Hier ist die Ursache,« sagte er langsam in einer Wichtigkeit, die nichts als Ergriffenheit war, »es ist der Stich der Kobra. Ich glaube, daß das grasende Tier die Schlange im Gras aufgestört hat.«
Es faßte mich ein Schauer, dessen nachhaltige Einwirkung ich damals kaum recht zu begreifen vermochte, aber ob hier ein Mensch oder ein Tier dem Gift erlegen war, schien mir angesichts des verdorbenen Lebens zu meinen Füßen ohne entscheidende Bedeutung. Mich erfaßte die Ehrfurcht vor der Kobra aufs neue, und das Angesicht Mangesche Raos spiegelte in seinem Ernst diese Ehrfurcht wieder, wie eine uralte Erinnerung seines Geschlechts an eine erhabene Gottheit, die keine Aufklärung hatte beeinträchtigen können.
Durch dieses Erlebnis mag es gekommen sein, daß unser Gespräch vorübergehend den Gedanken und Begriff des Todes streifte, und was mir daraus unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist, will ich erzählen. Nach einer Weile saßen wir wieder am Feuer, das in dieser Nacht nicht, mehr erlosch. Eine seltsame Ruhlosigkeit war über den gelassenen Mann gekommen, es stimmte mich wehmütig, ihn im inneren Kampf zwischen seinen klugen Gedanken und der seinem Blute innewohnenden Tradition der Weltbetrachtung seiner Priesterkaste zu wissen. Noch heute sehe ich seine aufrechtsitzende Gestalt so deutlich vor mir, wie keine Worte sie dem Bewußtsein eines anderen zuzutragen vermögen, den rot beschienenen Seidenturban über der Stirn und den bedächtigen Augen, seine schmalen, fast zierlichen Schultern und den gesenkten Kopf, der beim Sprechen eine Haltung einnahm, als suchten die Augen die Gedanken von den Händen zu lesen, die auf den Knien ruhten. Zuweilen hob er eine der mageren hellbraunen Hände, wenn es ihm galt, einem Wort besonderes Gewicht zu verschaffen. Ich habe niemals im Leben wieder mit einem Menschen im Eifer und mit Leidenschaft über wichtige Fragen unserer Seele gesprochen, der mit so viel Gelassenheit und so feinem Anstand sein Gegenüber ausreden ließ. Einmal sagte er mir: »Sie müssen einem Gegner Ihrer Betrachtungsart sein Amt nicht dadurch erleichtern, daß Sie ihn unterbrechen, dadurch nehmen Sie ihm oft die Gelegenheit, zu erweisen, wie wenig er zu sagen hat.« Überhaupt war sein Spott von merkwürdiger Umständlichkeit der Darbietung, und seine schärfsten Bosheiten sagte er freundlich. Er genoß niemals den Triumph seiner Überlegenheit sichtbar und sprach am eifrigsten, wenn sein Gegner eine Niederlage zu verwinden hatte. Wahrhaft empfindlich aber konnte seine Art zu schweigen auf Gemüter wirken, die empfanden, daß er damit darauf verzichtete, zu überzeugen, und weshalb.
In Mangalore besuchte ich ihn eines Tages, als er vor seinem Hause auf dem Lehmboden im Palmschatten mit einem Pater der Jesuitenniederlassung Schach spielte. Gewiß unterhielt er sich dadurch, daß er spielte, aber er gewann nach der Meinung seines Partners zugleich dadurch, daß er sich unterhielt. Als der Pater ihm vorwarf, daß er ein Gespräch führte, um ihn abzulenken, wurde eine neue Partie ausgemacht, unter der Bedingung, daß während des Spiels kein Wort fallen sollte. Der Ordensbruder konnte sich, in etlichem Verdruß nach seiner Niederlage, nicht enthalten, hinzuzufügen: »Wenn es Ihnen möglich ist, so lange zu schweigen.«
Mangesche Rao antwortete nicht, sondern ordnete die Figuren. Nach wenigen Zügen verlor sein Gegner die Dame und gab das Spiel auf, worauf Mangesche Rao bescheiden sagte: »Ich habe sie nur genommen, weil es unhöflich gewesen wäre, in Gegenwart einer Dame so lange zu schweigen.« –
In jener Nacht nun sprach ich vom Tode, anfänglich im leichtfertigen Übereifer meiner Ergriffenheit und bewegt von der romantischen Betrachtungsart meiner Jugend. Mangesche Rao hörte mir zu und sagte endlich:
»Hören Sie die hungernden Hyänen in der Steppe heulen?«
Ich gab es ihm, ein wenig ernüchtert, zu, und er meinte, ohne Nachdenklichkeit, die nur diejenigen zur Schau tragen, die ihren Gedanken nicht trauen: »Welch einen Festtag hat der Tod den Hyänen beschert. Sie finden das tote Tier, wenn wir unsern Lagerplatz verlassen haben, um weiterzuziehen.« Und er fuhr fort: »Ich habe den Tod verstehen gelernt, als ich als Jüngling an einem Tag im Sommer vor das Stadttor ging, von unliebsamen Gedanken gepeinigt und die Bedrängnisse einer tödlichen Krankheit im Blut. Ich durchschritt mühsam, mich im Fieber dahinschleppend, ein Trümmerfeld im Steppengras, das von der Sonne so trocken war, daß es knisterte. Da überraschte mich ein sonderbares Blinken zwischen den Steinquadern im Sonnenlicht, und ich traute meinen Augen kaum, als ich eine funkelnde Schlange im Sande liegen sah. Die Hitze flimmerte über den herrlichen Farben ihrer Haut, die vom zornigen Blitzen des Diamanten bis zum stillen Glühen der Rubinen alle Farben des gebrochenen Sonnenstrahls zu enthalten schien. Die Pracht und Lebensfülle dieses blendenden Anblicks entzückte mich in so hohem Maße, daß ich begierig einen Schritt nähertrat. Aber da geschah ein erregtes Brausen, die leuchtende Schönheit des sanft geringelten Körpers zu meinen Füßen erhob sich als eine bunte Schar beflügelter Insekten in das warme Licht der Luft empor, und vor mir lagen die verwesenden Überreste einer kleinen Steppenschlange, in denen ich die zarten Rippen zwischen der zerfressenen grauen Haut deutlich unterschied, und der süßliche und widerwärtige Hauch der Zersetzung strömte mir entgegen.«
Das Lagerfeuer zwischen uns züngelte in matten Flämmchen in den irdischen Saal der Sterne ins Blau empor, und ich fühlte mein Herz unter dem Wunder erzittern, in welchem es zu begreifen scheint, ohne daß die Gedanken seiner herrlichen Freiheit folgen können.
»Ich fühle die Wahrheit, die in diesem Gleichnis liegt, wie Sie sie damals empfunden haben mögen,« sagte ich, »aber ich vermag so wenig wie zuvor meine Gedanken über den Tod zu einer Gewißheit der Erkenntnis zu ordnen.«
»Es war jener letzte Schritt auf die Schlange zu, den Sie mit Ihrer Gewißheit meinen«, sagte der Brahmine. »Wenn Sie mir sagen können, wo das Leben aufhört, und wo der Tod beginnt, so will ich Ihnen den Tod erklären. Wollen Sie bei, den Pflanzen nach dieser Grenze suchen, bei den Menschen, bei den Steinen oder bei den Tieren? Ich sehe die Erneuerung aller hinfälligen Gestalt in der Natur, wohin ich blicke. Bis zur Bildung der Kristalle im Gestein erblicke ich Leben und in der mathematischen Ordnung solcher Erstarrung, die sowohl gedankenvoll zu sein scheint, als sie schön ist, glaube ich die Gesetze zu erkennen, nach denen ich atme, mich bewege oder Lust und Sorge erleide. Tod ist eine vage Annahme, die unsere Sinne um der Beschränkung ihrer Zeitbegriffe willen aufzustellen genötigt sind. Und was unsere Bewußtheit betrifft, so liegt ihr der Glaube an den Tod um so ferner, je eingeschlossener in die Allgemeinheit alles Lebendigen wir uns sehen oder fühlen. Und doch ist es mit dem Tode wie mit der Wahrheit, sie lassen sich sicherer empfinden als jedes andere Element der lebendigen Seele, aber sie lassen sich nicht erklären. Es wird immer zwei Arten von Menschen geben, die einen nehmen den Tod als Pflicht des eigenen Wesens, die anderen als die Willkür einer fremden Macht. Eure Kirche lehrt den Tod als Sold der Schuld, aber euer Gott starb ihn als freie Pflicht.«
»So rechnen Sie Christus den Ihren zu?« fragte ich. »Sie glauben seine Lebensweise und sein Gedankenreich der Ideenwelt Ihrer Gottheit einreihen zu können?«
Mangesche Rao antwortete mir:
»Ich vermag es so weit, als der Sinn aller irdischen Religionen, oder besser, die Religiosität aller Irdischen, aus einer gleichen Quelle des Anspruchs und der Hoffnung fließt, nicht aber so weit, als es die Lehre unserer Kirchen betrifft. Die Gedanken Christi sind größer als unsere Gedanken und führen weiter. Es ist viel über die Unterschiede und über die Ähnlichkeiten der christlichen Religion und der Religion unseres Volkes nachgedacht worden, aber die meisten Vergleiche sind deshalb bedeutungslos, weil es schwerhält, zwei Erscheinungen erfolgreich miteinander zu vergleichen, die im Wesen voneinander verschieden sind, denn das Brahman ist Philosophie, aber die Weisheit Christi ist praktische Lehre. Menschen, welche das Wesentliche der Erscheinungen schwer festzustellen und nachzuempfinden vermögen, lieben es besonders von unwesentlichen Begleiterscheinungen aus zu vergleichen und gegen einander abzuschätzen. In den meisten Fällen liegt solchen Bemühungen keine andere Absicht zugrunde, als die, den einen Wert auf Kosten des anderen herabzusetzen. So hart solche Behauptung klingen mag, so wenig werde ich sie einschränken, denn es ist den meisten Menschen, die Begreifen über Empfinden setzen, oder Verstehen über Glauben, eigentümlich, daß sie auch Verkleinern über Vergrößern setzen. So erscheint es mir auch gleichgültig, ob etwa Christus die Weisheit der Alten gekannt hat oder nicht. Große Gedanken sind niemals jung, so wenig, wie sie alt werden, und sie gleichen einander im Wesen, wie die höchsten Spitzen der Berge im Schnee einander ähnlich sind. Je niedriger das Auge sucht, um so mehr Unterschiede wird es finden; der Pöbel ist am buntesten und nur im Elend einig. Aber das Ziel ist, in der Freude einig zu sein.
Ich war über diese Worte sehr überrascht und beglückt. Weniger in der Absicht, zu widersprechen, als vielmehr in dem lebhaften Wunsche, die Betrachtungsweise Mangesche Raos um so besser zu erfahren, sagte ich:
»Aber wie furchtbar ist die Wirkung der Lehre Christi auf das Menschengeschlecht gewesen. Sollte man nicht mehr als an jedem anderen Bekenntnis am Christentum verzweifeln, wenn man seine blutige Einwirkung auf die Geschicke der Völker übersieht?«
»Wer übersieht diese Wirkung denn?« fragte Mangesche Rao. »Was Sie als Resultat dieser Lehre hinstellen, erscheint uns wie ihr erster Beginn. Ich möchte das furchtbare und blutige Ringen der Menschen um den Sinn des Christentums eher die Geburtswehen dieser Lehre als ihr Resultat nennen. Diese Lehre ist sehr jung und noch kaum recht verbreitet. Ist man nicht ohne Mühe befähigt, sogar noch ihren äußeren Weg auf der Landkarte nachzuzeichnen. wie sie von Asien über Griechenland und Rom in das Herz Europas einzog, als wäre sie diesen Weg erst gestern gegangen? Und der Teil der Erde, welcher ihre Bekenner trägt, ist nicht größer, als daß wir ihn mit der Masse des Himalaja mit seinen Menschen, Städten und Kirchen verschütten könnten. Wenn die Zeit von Christi Hinscheiden bis heute noch dreimal vergangen ist, wird sein großer Geist sich aus dem engen Mantel der Kirche geschält haben und weit mehr zum Element der Geister geworden sein.«
Die Sonne ging über der Steppe auf, es schien, als würde sie aus Gründen ewiger Gluten emporgeschleudert, und begann ihren Weg über das Erdreich zum ungezählten Male, in unfaßbarem Triumph einer jauchzenden Herrschsucht. Das Geschrei der Tiere im Urwald erklang ohrenbetäubend und das lärmende Erwachen der Natur vertrieb den letzten Gedanken an Schlaf aus meinem Blut. Ich trennte mich von meinem Gefährten, nahm die Büchse und ging in die Steppe hinaus, den dampfenden, tobenden Dschungel hinter mir lassend. Und in den Flammen, die läuternd emporsteigen, wenn die Jugend und der Morgen einander begegnen, kamen mir die Worte Christi in den Sinn: »Solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden.«