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IV.

Die Tage folgen einander, gleichen sich aber nicht. Auf eine Periode der sich überstürzenden Ereignisse und der damit verbundenen Aufregungen folgt eine Periode vollkommener Ruhe; in den erregten Seelen macht sich eine tiefe Abspannung geltend und der Zufall wird es müde, seine Oberherrschaft zu behaupten.

Es war Sonntag, und seit jenem Abend in dem Atelier Vitrac und dem darauf folgenden Tage hatte kein weiterer Zwischenfall die Ruhe der Personen gestört, die an dem Drama, dessen Ausgangspunkt das vorerwähnte Maleratelier gewesen, betheiligt waren.

Nach einer Reihe schmerzensreicher Tage konnte Julien de Jonville auf einen Stock gestützt in seinem Zimmer endlich auf und ab gehen.

Cavaroc hatte seine frühere Lebensweise wieder aufgenommen und hielt sich theils in der Kriegsschule, theils bei seinem Freunde auf. Er hatte Wanda nicht wiedergesehen und Graf Borodino kein Lebenszeichen von sich gegeben, zum größten Leidwesen Jonville's, der nichts sehnlicher wünschte, als so weit hergestellt zu sein, daß er den russischen Edelmann in seiner Wohnung aufsuchen könnte, nur um dessen entzückende Nichte wiederzusehen.

Jonville war nämlich zu der Ueberzeugung gelangt, daß der Graf niemals der Gatte der Ermordeten gewesen, daß das ganze Mißverständniß nur durch eine auffallende Aehnlichkeit hervorgerufen worden sei und sich alles sehr bald in Wohlgefallen auflösen werde. Eine Unterredung mit Vitrac wird das Geheimniß aufklären, und zwar wird diese Unterredung schon in kürzester Zeit stattfinden können, denn der Arzt hatte erklärt, daß die Verletzung keinerlei nachtheilige Folgen haben und Jonville noch vor Ablauf der Woche wiederhergestellt sein werde.

Was Dangelas betraf, so war bei ihm alles beim Alten geblieben. Er hatte am Freitag den Abend in der »schwarzen Katze« in Gesellschaft seiner Kameraden verbracht, die sich einstimmig geweigert hatten, die Geschichte von dem abgeschnittenen Kopfe zu glauben, und war dann am Samstag dreimal in die Rue de la Paix gegangen, hatte aber seine kleine Freundin kein einzigesmal zu Gesichte bekommen. Offenbar besorgte sie wieder die Aufträge ihrer Principalin; doch wagte er sich bei dieser hohen Persönlichkeit nicht nach ihrer Arbeiterin zu erkundigen. Die Dame hätte ihm sicherlich einen üblen Empfang bereitet und er obendrein den guten Ruf des jungen Mädchens gefährdet, dessen anmuthiges Bild ihm unablässig vorschwebte. Zudem hatte er allmählich die Ueberzeugung gewonnen, daß sie zu ihrem Großvater heimgekehrt sei, und er gedachte von der ihm ertheilten Erlaubniß Gebrauch zu machen und sich am Sonntag bei dem alten Herrn einzufinden. In der Zwischenzeit hatte er auch Vitrac einen Besuch abstatten wollen; doch war er nicht vorgelassen worden.

Vitrac hatte sich in seine vier Wände eingeschlossen und Befehl ertheilt, niemanden vorzulassen, nicht einmal seinen Lieblingsschüler. Dieses Verbot war seit seiner Rückkehr aus dem Gerichtsgebäude nur für Wanda, die sich für seine Verlobte betrachtete, aufgehoben worden, und am Sonntag Nachmittag sehen wir die Beiden in dem Atelier des Mannes, der sich erst heute wieder zur Arbeit aufgerafft hatte, in eifriger Unterhaltung begriffen.

Der Zeitpunkt, zu welchem die auszustellenden Gemälde der Jury vorliegen mußten, lief bereits in einigen Tagen ab, und wenn Vitrac vom diesjährigen Salon nicht fehlen wollte, so mußte er ein seit langer Zeit begonnenes Bild vollenden, welches in Folge der mannigfaltigsten Unterbrechungen, die mit der Kunst gar nichts zu schaffen hatten, nur sehr wenig vorgerückt war.

In dem Atelier, wo sich Vitrac vor seine Staffelei niedergelassen hatte, fühlte sich Wanda vollkommen heimisch, und wer sie da gesehen hätte, wäre nicht im Entferntesten auf die Vermuthung gekommen, daß sie sich, und zwar von einem ganz verschiedenen Gesichtspunkte aus, mit den Ereignissen beschäftige, deren Schauplatz eben dieses Atelier gewesen.

Sie hatte das Ganze anfänglich für einen dummen Scherz angesehen und es ganz aufrichtig gemeint, als sie sich Cavaroc und Jonville gegenüber spottend über die Empfindsamkeit Vitrac's äußerte; doch schon am nächsten Tage hatte ihr die Haltung ihres Verlobten zu denken gegeben. Sie kannte ihn genau und wußte, daß dieser große Künstler kein Kind sei, welches einer Nichtigkeit wegen in Aufregung geräth.

Daß der Vorfall einen peinlichen Eindruck in ihm zurückgelassen, nahm sie nicht wunder; aber Vitrac war düster und wortkarg geblieben wie jemand, den ein schwerer Schicksalsschlag getroffen.

Wanda erinnerte sich jetzt auch, daß sich Vitrac während der letzten sechs Monate bedeutend kälter gegen sie benommen habe wie früher, und obschon sie diesem Umstande anfänglich keine sonderliche Bedeutung beilegte, so wollte sie der Sache dennoch beizeiten ein Ende machen, denn sie war seine Verlobte, wollte seine Gattin werden und verstand in diesem Punkte keinen Scherz.

Nun aber begann in ihr eine Ahnung dessen aufzudämmern, daß ihre Pläne durchkreuzt werden sollten; schon war er nicht mehr der Alte, denn er, der früher so heiter, gesprächig und lebenslustig gewesen, suchte jetzt die Einsamkeit, und wenn Wanda zu ihm sprach, so gab er ihr kaum eine Antwort.

Sie hatte ihn gefragt, welches Resultat sein Besuch bei dem Untersuchungsrichter ergeben und nur belanglose Antworten von ihm erhalten; offenbar war ihm dieses Gespräch unangenehm und er trachtete dasselbe abzubrechen.

Daß Vitrac an dem Verbrechen betheiligt sein könnte, fiel ihr nicht im Traume ein, vorausgesetzt nämlich, daß jene Frau wirklich ermordet worden; aber gekannt muß er sie jedenfalls haben, sonst hätte man ihm nicht den schauerlichen Streich gespielt, diesen blutigen Kopf in die Mitte des Ateliers, statt ohneweiters ins Wasser zu werfen. Dies sah einer persönlichen Rache auf ein Haar ähnlich.

Wanda wurde daher – und nicht mit Unrecht – von einer gewissen Unruhe gequält, die sie sich aber nicht anmerken ließ. Sie schritt ohne Unterlaß in dem Atelier auf und nieder, ohne ihr Geplauder einen Moment zu unterbrechen, denn sie hoffte dadurch ihren Verlobten endlich zu einer Erwiderung zu veranlassen, die sie auf die Spur bringen würde. Ihre Bemühungen waren aber vergebliche; er öffnete nicht den Mund, seine Augen blieben unverrückt auf der Leinwand haften und sein Pinsel hörte nicht auf zu arbeiten. Endlich riß ihr die Geduld.

»Lieber Freund,« sprach sie und blieb dicht vor ihm stehen, »Sie sind schauderhaft langweilig, wie ich Ihnen offen gestehen muß. Lieber will ich Ihnen drei Stunden lang Modell stehen, mit den Armen in der Luft, als da so fortplaudern. Ich gebe mir alle Mühe, Sie zu erheitern und Sie beachten mich nicht einmal. Was ist Ihnen denn?«

»Nichts,« erwiderte der Künstler trocken und richtete sich empor, um die Wirkung einer soeben aufgetragenen Farbenschattirung besser zu beurtheilen. »Sie sehen ja, daß ich arbeite.«

»Das ist noch kein Grund, um eine derartige Miene zu machen; man sollte meinen, Sie seien geradezu zum Tode verurtheilt worden.«

Vitrac gab keine Antwort, doch fuhr er zusammen und seine Miene wurde noch düsterer. Es war Wanda endlich gelungen, ihn aus seiner Melancholie zu reißen, und dieser erste Erfolg gab ihr den Muth, in demselben Tone fortzufahren.

»Nun denn, lieber Freund, ich erkläre Ihnen, daß ich Ihre verzweifelte Miene satt habe. Es ist Ihre Sache allein, wenn Ihnen diese Person, der man den Hals abgeschnitten hat, Kummer bereitet; aber ich hatte mit ihr nichts zu schaffen und darum –«

Wanda vollendete ihren Satz nicht, denn Vitrac ließ ihr keine Zeit dazu.

»Schweigen Sie!« rief er emporfahrend aus. »Ich verbiete Ihnen, von ihr zu sprechen.«

Dies wurde so rauhen Tones und mit so drohender Stimme gesagt, daß Wanda fürchtete, es werde zu Gewaltthätigkeiten kommen. Er war mit einemmale leichenblaß geworden, seine Augen funkelten und seine verzerrten Züge verriethen zur Genüge, daß er sich nicht mehr zu beherrschen vermochte.

Wanda hatte den wunden Punkt seines Herzens berührt, und wenn sie ihn nur einer Probe hatte unterwerfen wollen, so war das Ergebniß derselben geradezu überwältigend. Sie konnte nicht mehr daran zweifeln, daß er die Todte geliebt, da ihn eine im Wesentlichen ganz harmlose Bemerkung über dieselbe seiner Fassung beraubt hatte, und Wanda wußte nunmehr, woran sie sei. Ihr weiblicher Instinct warnte sie aber gleichzeitig davor, sich des Weiteren über die Sache auszulassen, und da sie niemals den Kopf verlor, begann sie sofort in einem anderen Tone zu sprechen, behielt sich aber vor, später auf den Gegenstand zurückzukommen, sobald sich der Zorn ihres Verlobten gelegt haben würde. Sie hatte es seiner verstörten Miene angemerkt, daß er der Mann dazu sei, um jedweden ferneren Verkehr mit ihr abzubrechen, und war gewandt genug, um der Sache eine scherzhafte Wendung zu geben.

»Endlich ist es mir also gelungen, Ihnen die Zunge zu lösen!« rief sie heiter aus. »Ich wußte ja, daß es mir durch einige kleine Neckereien gelingen werde, Sie aus dieser Art Lethargie zu reißen, die sich Ihrer seit zwei Tagen bemächtigt hatte. Doch seien Sie überzeugt, daß es durchaus nicht in meiner Absicht lag, Sie zu verletzen oder Ihnen Schmerz zu bereiten, da mir unmöglich daran gelegen sein konnte, einem armen Mädchen, welches ich bei seinen Lebzeiten nicht einmal gekannt, etwas Böses nachzusagen. Ich weiß nicht, ob sie ermordet wurde oder ob sie im Krankenhause starb; doch beklage ich sie von ganzem Herzen.«

Ohne auf diese etwas verspätete Versicherung eine Antwort zu geben, ließ sich Vitrac wieder vor seiner Staffelei nieder; Wanda sah aber, daß der Sturm noch immer grolle und sie trachtete denselben zu beschwören.

»Ich habe über die Sache nur zu sprechen begonnen,« nahm sie von neuem auf, »weil in den Zeitungen seit gestern von nichts anderem die Rede ist; ich wette, Sie haben gar nichts gelesen.«

»Allerdings; was schreiben denn die Blätter?« fragte Vitrac.

»Lauter – Dummheiten. Manche sagen, Sie hätten das Ganze nur erfunden, um für sich Reclame zu machen. Als hätten Sie, ein anerkannter Künstler dies nöthig.«

»Ja, ja,« sagte der anerkannte Künstler kalt. Gewöhnlich war er den Angriffen der Presse gegenüber nicht so unempfindlich, und Wanda, die ihn schon viel geringfügigerer Dinge wegen in Aufregung gerathen sah, glaubte zu errathen, daß er erfreut darüber sei, daß die Journale sich auf falscher Fährte befanden.

»Sie berichten auch,« fuhr sie fort, »daß die Morgue von den Neugierigen förmlich gestürmt werde, und machen sich über die Polizei lustig, die an ein Verbrechen glaubt.« – Und da Vitrac noch immer keine Antwort gab, fügte sie seufzend hinzu: »Immerhin ist all der Lärm und das Aufsehen sehr unangenehm für uns. – Ich sage uns, denn wir, nämlich Sie und ich, sind ja eins.«

Eine Wolke glitt über die Stirn des Malers und er wollte etwas erwidern; doch unterdrückte er die Worte, die über seine Lippen treten wollten, während Wanda sanften Tones von neuem anhub:

»Ich versetze mich an Ihre Stelle, mein lieber Paul, und ich begreife sehr gut, daß Sie übler Laune sind; doch theile ich Ihre Meinung, daß man die Thoren nach Herzenslust schwatzen lassen muß. In acht Tagen wird alles vergessen sein und Sie werden wieder einen kolossalen Sieg im diesjährigen Salon davontragen.«

»Das weiß ich nicht,« bemerkte Paul leise; »dagegen weiß ich, daß ich mein Bild im Salon nicht sehen werde.«

»Weshalb denn nicht? Sie haben doch hoffentlich nicht die Absicht, sich am Eröffnungstage eine Kugel durch den Kopf zu schießen?«

»Das nicht; doch werde ich auch nicht mehr in Paris sein.«

»Wo werden Sie denn sein?«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach in Venedig.«

»Lächerlich! Was hätten Sie in Venedig zu thun?«

»Ich möchte die alte Lagunenstadt noch einmal sehen.«

»Daran zweifle ich einigermaßen, denn Sie waren schon drei- oder viermal in Venedig und haben das Nest bereits satt gekriegt. Sagen Sie lieber, daß Sie Paris den Rücken wenden und sich von den vielen Plackereien erholen wollen. Sie haben vollkommen recht und auch ich hätte gegen eine kleine Luftveränderung nichts einzuwenden. Sie nehmen mich doch mit, wie?«

»Nein,« erwiderte Vitrac kurz.

»Wie! Nein? – Und weshalb nicht?«

»Weil ich allein reisen will.«

»Sie sind meiner also überdrüssig, wie?«

Paul gab keine Antwort und dies war beredt genug – so beredt, daß Wanda für einen Moment alle ihre weisen Entschlüsse vergaß und gleich einer Bombe explodirte.

»So!« sprach sie wüthend; »Sie lassen mich also im Stiche; Sie wollen nichts mehr von mir wissen? Und Sie denken, daß das so leicht sei, daß ich da nichts dareinzureden habe? Ich hätte Ihnen schon zehnmal den Rücken wenden können und that es nicht, weil ich nur Sie liebe! Hüten Sie sich, daß ich den Spieß nicht umkehre, denn um Ersatz wäre ich nicht verlegen und verlieren würde ich bei dem Tausche auch nicht.«

Vitrac setzte diesem Schwall drohender und rachsüchtiger Worte eine Ruhe entgegen, die das Strohfeuer des Zornes der jungen Dame ein wenig dämpfte.

»Hören Sie,« nahm sie nach einer Weile bedeutend gemäßigteren Tones wieder auf; »ich bin da vielleicht ohne Ursache in Zorn gerathen – was aber gewiß nicht der Fall wäre, wenn Sie mir gleichgiltig wären, denn sonst hätte ich ja nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie ohne mich reisen wollten. – Ich habe Sie aber schlecht verstanden, nicht wahr. – Sie sind, und mit Recht, ob dieser blöden Geschichte ärgerlich, doch trage ich keine Schuld daran und Sie haben nicht die Absicht, unsere Verlobung zu lösen. – Erholen Sie sich immerhin in Venedig, wenn Ihr Herz Sie dahin zieht – und reisen Sie allein, wenn dies Ihr Wunsch ist. – Bei Ihrer Rückkehr werden Sie mich in treuer Liebe Ihrer harrend antreffen.«

Während Wanda mit schmeichelnder Miene diese Erklärung abgab, hatte sie den Arm um den Nacken Paul's gelegt und ihn züchtig auf die Stirn geküßt. Er ließ es ruhig geschehen, erwiderte den Kuß aber nicht, und Wanda begann wieder zu glauben, daß er die Absicht habe, mit ihr zu brechen. Indessen brach sie nicht neuerdings in Vorwürfe aus, denn sie bedauerte bereits, so weit gegangen zu sein, und war entschlossen, ein gänzlich verändertes Vorgehen zu beobachten.

»Wir hatten Beide unrecht,« begann sie lächelnd; »Sie hatten unrecht, mich zu reizen und ich that unrecht daran, daß ich in Zorn gerieth. Sprechen wir also nicht weiter darüber. Nur werden Sie mir die Frage gestatten, ob Sie eine nochmalige Vorladung vor den Untersuchungsrichter erwarten?«

»Diesbezüglich weiß ich gar nichts,« erwiderte Vitrac erstaunt. »Doch weshalb diese Frage?«

»Weil ich ohne Zweifel auch ein Verhör zu bestehen haben werde, und nichts sagen möchte, wodurch ich Sie bloßstellen oder gefährden könnte.«

»Wie könnte das der Fall sein?«

»Indem ich etwa das Geständniß ablegen würde, daß ich in der letzten Zeit den Verdacht hegte, daß Sie nicht mehr mich, sondern eine Andere lieben.«

»Und was wäre weiter dabei?«

»Nun – die Behörden sind so mißtrauisch und neugierig, und brauchten nur auf die Vermuthung zu kommen, daß es diese Andere sei, die man um einen Kopf kürzer gemacht hat.«

Es bedurfte keines besonderen Scharfsinnes, damit Vitrac errathe, was diese Worte bezweckten. Wanda wollte ihm bloß zu verstehen geben, daß es nur von ihr abhänge, ihm große Unannehmlichkeiten und vielleicht noch Aergeres zu verursachen. Ein so thörichtes Beginnen war keiner Antwort würdig und der Maler besaß so viel Selbstbeherrschung, um nicht zu zeigen, was er davon dachte.

»Ich bin überzeugt, daß Sie das nicht thun werden,« erwiderte er einfach.

»Nun sehe ich endlich, daß Sie an meiner Anhänglichkeit nicht zweifeln!« rief Wanda aus. »Weiter wollte ich ja nichts erreichen. Und nun will ich Sie nicht weiter in Ihrer Arbeit aufhalten. Ich gedenke einen kleinen Spaziergang zu unternehmen; sehen wir einmal, ob es nicht regnen wird.«

Sie schritt bei diesen Worten zum Fenster und öffnete es, um nach dem Wetter zu schauen. Vitrac ließ sie gewähren, da er ihrer bereits entledigt sein wollte; doch kaum hatte sie sich zum Fenster hinausgeneigt, als sie einen Ruf des Staunens vernehmen ließ, der aber nicht den Wolkengebilden des Himmels galt. Ihr Blick haftete im Gegentheile auf der Place Pigalle, wo sich das Haus des Malers befand, und der sich ihr daselbst darbietende Anblick war zweifellos sehr interessant, denn sie neigte sich fast mit dem halben Körper zum Fenster hinaus, das sich gerade oberhalb des Hausthores befand.

Vor diesem Thore war soeben ein von zwei prächtigen Pferden gezogener, offener Landauer, den ein Kutscher in großer Livrée lenkte, stehen geblieben, und ein Lakai, der neben dem Kutscher gesessen, läutete gerade am Thor.

Daß reiche Leute, die in Equipagen fahren, einen beliebten Maler besuchen, war nicht weiter zu verwundern, und hatte der Ausruf Wanda's auch nicht diesem Umstande gegolten; sie hatte schon viele glänzende Equipagen vor dem Hause ihres Verlobten gesehen, dem gar manche vornehme Dame für ihr Porträt gesessen. Vitrac erfreute sich eben allgemeiner Beliebtheit und seine Kunden gehörten ausnahmslos den besten Kreisen an.

Heute aber hatte Wanda in dem Wagen an der Seite eines vornehm aussehenden Herrn eine junge Frau erblickt, deren Gesicht eine merkwürdige Erinnerung in ihr wachrief, so daß sie nicht müde wurde, sie zu betrachten. Vitrac aber, der ruhig vor seiner Staffelei saß, hatte ihren unterdrückten Ausruf nicht vernommen; er hütete sich auch, das Wort an sie zu richten, da er es kaum erwarten konnte, daß sie ihn allein lasse und das Gespräch, welches ihm so peinlich gewesen, nicht fortsetzen wollte.

Wanda beeilte sich durchaus nicht, ihren Beobachtungsposten zu verlassen, und gerade, als sie vom Fenster zurücktrat, kam Vitrac's Kammerdiener herein, um seinem Gebieter auf silberner Tasse eine Karte zu überreichen. Vitrac warf einen Blick auf dieselbe und wollte bereits Befehl geben, der Diener möge erwidern, er sei nicht zu Hause, als Wanda unbefangenen Tones sprach:

»Das Wetter ist sehr zweifelhaft und ich verzichte lieber auf den geplanten Spaziergang; ich werde bei Ihnen bleiben, wenn Ihnen meine Gegenwart nicht lästig ist. – Ich habe einen Herrn und eine Dame kommen gesehen, die meiner Ansicht nach eines Bildes wegen kommen.«

Vitrac fing den Vorwand, den sie ihm – vielleicht mit Absicht – lieferte, im Fluge auf und erwiderte:

»Ja, ich kann nicht ausweichen; ich muß die Leute empfangen.«

»Thun Sie das ohneweiters, mein Freund, da ich ohnehin nach Hause gehen muß, um Einiges zu besorgen – in einer Stunde bin ich wieder da. Wir sind doch nicht böse, wie?«

Vitrac schüttelte verneinend den Kopf und sagte seinem Diener, er möge die Herrschaften heraufkommen lassen; Wanda aber verschwand, ohne weiter ein Wort hinzuzufügen, wozu sie ihre guten Gründe hatte.

Vitrac suchte sie auch nicht zurückzuhalten. Er wäre seinem Diener gern nachgeeilt, um ihm Gegenbefehl zu ertheilen; doch hätte er unfehlbar noch Wanda auf der Treppe angetroffen, und diese wollte er durchaus nicht mehr in seiner Nähe wissen. Er befreundete sich also ohne besondere Schwierigkeit mit dem Gedanken, einen Herrn bei sich zu empfangen, dessen Name ihm ganz unbekannt war und dessen Verlangen er höflich, aber bestimmt abzulehnen gedachte, denn er war durchaus nicht gesonnen, ein Porträt anzufertigen, selbst wenn es das der schönsten Frau von Paris gewesen wäre. Er hatte nicht gelogen, als er Wanda sagte, daß er noch vor der Eröffnung des Salons nach Venedig zu reisen entschlossen sei.

Er setzte sich wieder an seine Staffelei, um seinem Besucher zu zeigen, daß er über keinen freien Augenblick verfüge.

Fünf Minuten, nachdem sich Wanda entfernt hatte, meldete der wohlunterrichtete Kammerdiener den Grafen Borodino, und Vitrac erhob sich ohne jedes Staunen, um diese vornehme Persönlichkeit zu begrüßen.

Wäre Julien von Jonville zugegen gewesen, so hätte er seine ursprüngliche Meinung, die sich schon seit dem Unfalle im Bois de Boulogne bedeutend geändert hatte, gänzlich aufgegeben. Es konnte nicht länger angenommen werden, daß dieser Mann der Gatte einer Frau gewesen sei, zu welcher Vitrac in vertrauten Beziehungen gestanden. Der Letztere hätte den Grafen zumindest vom Sehen aus kennen müssen; der Maler aber empfing seinen Besucher in einer Weise, die deutlich erkennen ließ, daß er denselben noch nie gesehen. Offenbar hatte er auch niemals von ihm sprechen gehört, denn der Name des Gastes überraschte ihn nicht im Geringsten.

Nachdem sich der Graf mit all der Höflichkeit und Liebenswürdigkeit, die bei solcher Gelegenheit beobachtet wird, vorgestellt und seinen Namen genannt hatte, sagte er:

»Ich habe nicht die Ehre, von Ihnen gekannt zu sein, Herr Vitrac, doch habe ich Ihre Arbeiten schon oft bewundert, und Sie werden mich vielleicht entschuldigen, daß ich mich bei Ihnen eingefunden habe, ohne Ihre Erlaubniß zu besitzen.«

»Es bedarf hierzu keinerlei Entschuldigung, Herr Graf,« erwiderte Vitrac höflich; »dagegen muß ich Ihnen für Ihre freundlichen Worte danken. Und nun, wenn Sie mir vielleicht den Zweck Ihres Besuches bekanntgeben wollten –«

»Ich bin gekommen, Herr Vitrac, um Sie zu fragen, ob Sie geneigt wären, ein Porträt meiner Nichte anzufertigen. – Daß ich mit Ihrer Honorarforderung im vorhinein einverstanden wäre, brauche ich eigentlich nicht zu erwähnen; ich gestatte mir aber zu bemerken, daß das Modell Ihres Pinsels würdig ist. Meine Nichte ist noch nicht zwanzig Jahre alt und gilt allgemein für sehr schön. – Sie ist von einer ganz eigenartigen Schönheit, welche vielleicht nur Ihr bewunderungswürdiges Talent widerzugeben vermöchte; auch würden Sie mit diesem Bilde, wie man zu sagen pflegt, Ehre einlegen.«

»Daran zweifle ich gar nicht, Herr Graf, und eben darum bin ich trostlos, Ihnen sagen zu müssen, daß ich Ihrem Ansuchen nicht entsprechen kann. Ich reise nächste Woche nach Italien, und ist, wie Sie sehen, meine Zeit bis dahin vollständig in Anspruch genommen, durch dieses Bild, welches für den Salon bestimmt ist, der nächster Tage schon eröffnet wird.«

»Ich begreife und würdige Ihre Argumente, werther Herr,« sagte der Graf, »ich kann mich aber nicht so leichten Kaufes ergeben. Meine Nichte wird ganz verzweifelt sein, wenn sie von Ihrer Weigerung Kenntniß erhält, denn sie ist förmlich begeistert von dem Gedanken, daß der Maler, den sie über alles verehrt, ihr Porträt anfertigen soll, zumal sie in dieser Hoffnung bestärkt wurde – allerdings nicht durch mich, der ich wohl weiß, daß Sie Ihren laufenden Bestellungen kaum genügen können, und der ich darum von vornherein eine abschlägige Antwort befürchtete. Aber ein Freund von Ihnen, dem ich dank eines glücklichen Zufalles einen kleinen Dienst erweisen konnte, versicherte mir, daß Sie vielleicht einwilligen würden, den Wunsch eines jungen Mädchens zu erfüllen.«

»Ein Freund von mir, sagen Sie?«

»Ja; Herr von Jonville war es.«

»Herr von Jonville ist in der That einer meiner besten und liebsten Freunde.«

»Ich bin überzeugt, daß er so liebenswürdig gewesen wäre, mich hierher zu begleiten und meine Bitte zu unterstützen, wenn er durch einen bedauerlichen Unfall nicht ans Zimmer gefesselt wäre.«

»Durch einen Unfall? Was ist ihm denn widerfahren?«

»O, nichts Bedenkliches gerade. Er fiel vorgestern vom Pferde und verrenkte sich dabei den Fuß. Durch einen glücklichen Zufall befand ich mich eben in der Nähe und brachte ihn in meinem Wagen nach seiner Wohnung auf der Place du Palais Bourbon.«

»Ich danke Ihnen recht sehr dafür, daß Sie mich hiervon in Kenntniß setzen; ich werde ihn noch heute besuchen.«

»Soll ich Sie zu ihm bringen? Ich hatte auch die Absicht, mich heute nach seinem Befinden zu erkundigen.«

»Besten Dank, Herr Graf, ich will aber Ihre Güte nicht mißbrauchen und –«

»Sie würden dabei meine Nichte kennen lernen,« unterbrach ihn Borodino lächelnd; »und wenn Sie sie gesehen haben, werden Sie ihr vielleicht ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen.«

»Wie? Ist denn Ihre Nichte –«

»Helene ist mit mir gekommen, doch getraute ich mir nicht, sie ohne Ihre Erlaubniß hier einzuführen. Ich wußte nicht, ob Sie allein sind und Helene ist sehr schüchtern. Ich ließ sie daher in meinem Wagen unten.«

»Wenn dem so ist, Herr Graf, so wäre es unrecht von mir, wenn ich Sie noch länger zurückhalten wollte.«

»Sie berauben mich also des Vergnügens, Ihnen meine theuere Nichte zu zeigen, und der einzigen Hoffnung, Sie zur Annahme meines Vorschlages zu bewegen?«

»Ich bin, wie gesagt, trostlos, Herr Graf, allein –«

»Hoffentlich werden Sie sich aber nicht weigern, sie von fern zu betrachten,« beharrte Graf Borodino mit der liebenswürdigsten Miene der Welt. »Sie brauchen ja nur ans Fenster zu treten, welches, wie ich sehe, ohnehin offen steht.«

Dies wurde in so freundlichem, zuvorkommendem Tone gesprochen, daß sich Vitrac verbeugte, und ohne sich weiter bitten zu lassen, nach dem Fenster schritt, zu welchem bereits Wanda hinausgesehen. Er neigte sich auch hinaus und blickte auf den freien Platz hinab, gerade als Helene, die es bereits langweilen mochte, auf ihren Onkel zu warten, den Kopf emporhob.

Es war kein Ausruf des Staunens, welcher Vitrac entfuhr, sondern ein lauter Schrei.

»Nicht wahr, sie ist sehr schön?« fragte Graf Borodino, als hätte er diesen Schrei für einen Ausfluß der Bewunderung gehalten.

Immerhin war es ziemlich schwierig, sich diesbezüglich einem Irrthume hinzugeben, denn Vitrac gab unverkennbare Anzeichen einer hochgradigen Erregung. Er hatte das Aussehen eines Menschen, der mit einemmale ein Gespenst vor sich auftauchen sieht, und selbst bei einem Künstler giebt sich die Bewunderung nicht durch die Verzerrung der Gesichtszüge kund. Gleichsam versteinert, starrte Vitrac mit weit geöffneten Augen auf das junge Mädchen hinab, welches lächelnd zu seinem Onkel emporblickte, den es soeben am Fenster oben wahrgenommen, und vermochte kein Wort hervorzubringen.

»Ich will Ihnen kein Hehl daraus machen, theuerer Meister,« hub der Graf heiteren Tones an, »daß mir Ihr Staunen ein günstiges Zeichen für die Verwirklichung meines Wunsches zu sein scheint. Sie werden schwerlich ein vollkommeneres Modell für ein Porträt finden, und nun, da Sie sie gesehen, werden Sie ihr vielleicht nicht das Herzleid zufügen wollen, ihren sehnlichen Wunsch zu verweigern. Helene ist ehrgeizig und will dank Ihres herrlichen Talentes einen gewissen Ruhm für sich einheimsen; sie wäre untröstlich, wenn sie darauf verzichten müßte. Ersparen Sie mir also den Kummer, ihr mitzutheilen, daß meine Bitten Sie nicht zu erweichen vermochten.«

Vitrac verharrte noch immer schweigend und beinahe regungslos.

Die junge Dame, die er da vor sich sah, war das leibhaftige Ebenbild der ermordeten Frau, und gleich Jonville und Cavaroc war auch er an eine Wiederbelebung der Todten zu glauben geneigt. Die Zeiten sind indessen vorüber, da sich Wunder ereignen, und diese Erscheinung konnte recht gut durch eine auffallende Aehnlichkeit erklärt werden; in dem Uebermaße seines Staunens aber hatte Vitrac im ersten Momente jegliche Fähigkeit zu denken verloren und außerdem seine persönlichen Gründe dazu, um sich nicht so leicht mit dieser Erklärung zu begnügen, wie es Jonville gethan, der sich mit derselben sehr gut abgefunden hatte.

Jonville kannte die Todte nur vom Sehen, war in die Nichte des Grafen beinahe verliebt und hatte sich die Dinge darum in der für ihn bequemsten Weise zurechtgelegt.

Vitrac, der einer Ohnmacht nahe war, wußte dagegen nicht, was er sich denken sollte, und dabei mußte er auf die liebenswürdig drängenden Worte des vornehmen Ausländers antworten, der ihm da hereingeschneit kam und nichts als seinen Namen und Titel genannt hatte. Vitrac konnte ihm die Ursache seiner Aufregung nicht verrathen; er wußte aber, daß er bei seiner entschiedenen Weigerung, die Nichte des Grafen zu malen, nicht beharren dürfe, wenn er in der Sache einige Klarheit erhalten wollte.

»Nun denn, verehrter Meister,« fragte der Graf sanft; »ist Ihr Entschluß unerschütterlich? Ich appellire an Ihr gutes Herz und Ihre Ritterlichkeit; könnten Sie nicht vor Ihrer Abreise nach Italien mit dem Bilde meiner armen Helene beginnen? – Wenn Sie zurückkehren, würden Sie es vollenden – sobald Sie Lust dazu haben – aber wenigstens hätte meine Nichte die Gewißheit, daß sie das Bild erhält. Sollte Ihnen die Herstellung des Porträts aber in Ihrem Atelier ungelegen sein, so erlaube ich mir Ihnen den Vorschlag zu machen, meine Nichte bei mir zu Hause zu malen.«

Nichts konnte Vitrac willkommener sein, als dieser unerwartete Vorschlag seines Gastes. Die Sitzungen im Atelier hätten die Eifersucht Wanda's erwecken können und Vitrac war genöthigt, auf diese Rücksicht zu nehmen, denn sie war ganz die Person dazu, um ihrem Verlobten ernstliche Schwierigkeiten zu bereiten, wenn sie Grund dazu zu haben meinte. Dagegen könnten die Sitzungen beim Onkel niemandem auffallen und Vitrac dazu verhelfen, ein Geheimniß zu klären, welches ihm augenblicklich mehr als alles in der Welt zu denken gab.

»Herr Graf,« sprach er mit einer ungeheueren Anstrengung, sich zu beherrschen; »ich würde es für ein Unrecht ansehen, wenn ich eine Dame betrüben wollte, die meine Kunst weit über deren thatsächlichen Werth schätzt. Ich will mich nicht verpflichten, das Porträt Ihrer Fräulein Nichte noch in diesem Jahre zu vollenden, aber beginnen kann ich immerhin mit demselben, und zwar schon morgen – in Ihrem Hause, da ich mein Atelier für andere Arbeiten freihalten muß.«

»Ich danke Ihnen, theuerer Meister!« rief Borodino aus und drückte die Hände des Künstlers herzlich zwischen den seinigen. »Sie werden meine Nichte überglücklich machen, und ich frage mich, ob ich Ihnen meine Dankbarkeit jemals deutlich genug werde zum Ausdrucke bringen können. Dagegen schmeichle ich mir, daß Sie bei mir sehr bequem werden arbeiten können. Ich wohne so viel wie auf dem Lande – Rue Berton in Passy, wo ich einen großen Garten habe, in welchem sich ein geräumiger Pavillon befindet, der Ihnen als Atelier dienen wird und dessen Fenster auf der Nordseite gelegen sind. Die Rue Berton ist etwas weit von hier; doch stelle ich Ihnen meinen Wagen zur Verfügung, so oft Sie kommen wollen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Graf; doch habe ich meinen eigenen Wagen,« erwiderte Vitrac, der sich vergangenes Jahr einen Dogcart geleistet hatte, mit dem er gern Staat machte, wenn er Zeit dazu hatte. »Bestimmen Sie mir bloß die Stunde, zu welcher mir mein Modell die erste Sitzung zu gewähren geneigt wäre.«

»Bestimmen Sie selbst die Stunde, die Ihnen am gelegensten wäre.«

»Wäre Ihnen die Mittagsstunde recht?«

»Gewiß. Helene wird also um zwölf Uhr bereit sein und ich werde Sie erwarten. Nun will ich sie aber von dieser freudigen Kunde in Kenntniß setzen und Abschied von Ihnen nehmen, verehrter Meister. Auf der Ihnen von Ihrem Diener übergebenen Karte befindet sich meine genaue Adresse.«

»Sehr wohl, Herr Graf, und Sie dürfen auf mich rechnen.«

Während des Sprechens beobachtete Vitrac, der seine Kaltblütigkeit wiedergewonnen hatte, seinen Besucher, und er mußte sich sagen, daß derselbe das Aussehen, Benehmen und die Redeweise eines Gentleman habe, mit einem kleinen Stiche ins Exotische, der ihm aber recht gut ließ. Diese Wahrnehmungen zerstreuten indessen die Zweifel nicht, die sich Vitrac's bemächtigt hatten.

Graf Borodino beeilte sich, die Unterredung mit einem herzlichen Händedrucke zu beschließen; er hatte erreicht, was er zu erreichen gewünscht und befürchtete vielleicht, der große Künstler könnte sein Versprechen, sich morgen in der Rue Berton einzufinden, widerrufen. Vitrac geleitete ihn bis zur Treppe und es fehlte wenig, so wäre er mit ihm dieselbe hinabgeschritten, nur um die junge Dame zu sehen, die der Todten so auffallend ähnlich sah; doch war eine Vorstellung auf offener Straße, zehn Schritte weit von den Kaffeehäusern entfernt, die von den Jüngern der edlen Malkunst besucht wurden, durchaus nicht nach seinem Geschmack, und so kehrte er in sein Atelier zurück.

Vom Fenster aus blickte er dem eleganten Landauer nach, der rasch über den Boulevard de Clichy rollte, und ein leises Bedauern erfaßte ihn darob, daß er dem Grafen nicht einige Fragen vorgelegt habe. Er hätte sich auf gewandte Weise über die Verhältnisse dieses Edelmannes erkundigen müssen, und hatte ihn statt dessen gehen lassen, ohne ihn gar zu fragen, welcher Nationalität er angehöre.

Auch von der geheimnißvollen Nichte wußte er so viel wie nichts, es sei denn, daß sie Helene heiße und dieser bei allen Völkern Europas so ziemlich verbreitete Name besagte ihm gar nichts. Graf Borodino selbst führte den Namen der in der Nähe von Moskau gelegenen Ortschaft, wo Napoleon I. die große Schlacht gewonnen hatte; Vitrac zog daraus den Schluß, daß der Mann ein Russe sei. Doch war dies bloß eine Vermuthung, und es war ihm sehr daran gelegen, in Bezug auf diesen Punkt Klarheit zu erlangen, als er mit einemmale auf den Gedanken kam, bei Jonville Erkundigungen einzuholen.

Ein solcher Besuch war nach jeder Richtung hin am Platze. Jonville hatte einen Unfall erlitten, der ihn am Ausgehen hinderte; Vitrac aber hatte ihn seit dem Costümballe nicht gesehen, und es war somit nur natürlich, daß sich Vitrac nach dem Befinden eines kranken Freundes erkundigte, abgesehen davon, daß der Künstler mit dem jungen Diplomaten noch über andere Dinge Rücksprache zu nehmen hatte.

Er zweifelte nicht daran, daß Jonville den blutigen Kopf der Frau erkannt habe, die er eines Abends im Bois de Boulogne an seinem Arme gesehen, und die vertraulichen Mittheilungen, die er, Vitrac, nach dieser unglückseligen Begegnung seinem Freunde zu machen gezwungen gewesen, mußten Jonville nach dem Balle viel zu denken gegeben haben. Der Augenblick war gekommen, um diese Mittheilungen zu vervollständigen.

Am Tage nach dem Balle war Jonville mit dem Onkel und der Nichte zusammengetroffen und die unerhörte Aehnlichkeit, die Vitrac sprachlos gemacht, mußte auch ihm aufgefallen sein; er hatte mit den Leuten sogar eine längere Unterhaltung führen müssen, da ihn der Graf in seine Wohnung zurückbrachte, und mußte demzufolge genauer unterrichtet sein als sein Freund Vitrac, der sich ungeheuer darüber ärgerte, daß er nicht danach getrachtet, vom Grafen selbst Näheres zu erfahren.

Ohne länger nachzudenken, klingelte Vitrac seinem Kammerdiener, kleidete sich rasch an und sprang in einen Fiaker, der gerade vorüberrollte, als er aus dem Hausthore trat. Er war dabei so sehr in seinen Gedanken versunken, daß er nicht einmal Wanda bemerkte, die an einem Tischchen des zunächst gelegenen Kaffeehauses saß.

Wanda hatte sich hier nicht niedergelassen, um sich von den Strahlen der Frühlingssonne, die die Place Pigalle beschienen, wärmen zu lassen. Vom Fenster des Ateliers hatte sie den Grafen mit seiner Nichte anlangen gesehen, die der armen Todten so ähnlich sah, und rasch war sie hinuntergegangen, um die Beiden in der Nähe zu sehen. Sie wußte nicht, was sie sich von dieser absonderlichen Aehnlichkeit denken sollte und hatte sich an einem der kleinen Tische niedergelassen, um das Ende des Abenteuers abzuwarten. Sie sah die beiden Personen wieder fortfahren und wollte sich gerade erheben, um zu Vitrac zurückzukehren und bei ihm Erkundigungen einzuziehen, als Vitrac aus dem Hausthore trat und in einen gerade vorüberrollenden Fiaker stieg, um zu Jonville in der Place du Palais Bourbon zu fahren.

Er langte hier in einer unbeschreiblichen Aufregung an und ohne recht zu wissen, was er Jonville sagen solle. Wohl verfolgte er doppelten Zweck, ihm mitzutheilen, auf welche Weise er mit der Todten bekannt geworden und Erkundigungen über Borodino einzuziehen; doch hatte er keinen festen Plan entworfen, um diese beiden Themen zu berühren und gedachte er sich ganz dem Zufalle zu überlassen, je nach der Wendung, welche die Unterhaltung nehmen würde.

Er traf seinen Freund in der niedlichen Wohnung an, die er im Erdgeschoße eines hübschen Hauses inne hatte, welches mit einem großen Garten verbunden war. Jonville empfing seinen Freund mit einer Freude, die zu lebhaft war, als daß sie selbstlos hätte sein können, und in der That wünschte er nichts eifriger, als sich mit Vitrac auszusprechen.

Nachdem er Vitrac über die Folgen des Unfalles beruhigt hatte, der ihn betroffen, brachte er das Gespräch selbst auf den bewußten Gegenstand, indem er eine ebenso kurze, als bedeutungsvolle Frage an seinen Freund richtete.

»Sie ist es, nicht wahr?« fragte er ohne jede Einleitung.

»Sie haben sie also erkannt?« rief Vitrac aus.

»Ja, lieber Freund, und ich habe auch den Namen vernommen, der Ihnen entschlüpfte, als Sie den blutigen Kopf zu Ihren Füßen sahen. War das nicht der Kopf derselben Dame, die ich eines Abends an Ihrem Arme im Bois de Boulogne gesehen?«

»Ich glaube es selbst – und dennoch –«

»Was denn?«

»Glaubte ich sie vor einer halben Stunde zu sehen – lebend und wohlbehalten –«

»Auch ich glaubte sie vorgestern im Bois de Boulogne gesehen zu haben.«

»Das weiß ich.«

»Woher wissen Sie es?«

»Graf Borodino, der die junge Dame begleitete, kam heute zu mir und berichtete mir über sein Zusammentreffen mit Ihnen.«

»Er hatte mir in der That mitgetheilt, daß er Sie bitten werde, das Porträt seiner Nichte anzufertigen, die –«

»Sie befand sich in seiner Begleitung.«

»Und Sie waren gleich mir von Staunen überwältigt.«

»In solchem Maße sogar, daß ich zu Ihnen eilte, um mit Ihnen den Fall zu besprechen.«

»Wären Sie nicht zu mir gekommen, so hätte ich mich zu Ihnen begeben, sobald es mein Fuß gestattet hätte. Aber – er – kannten Sie ihn denn nicht?«

»Ich kannte ihn weder, noch hatte ich jemals seinen Namen nennen gehört.«

»Aber ich kannte ihn vom Sehen aus, denn ich sah ihn oft in den Champs Elysées mit einer jungen Frau, die ich für – die Andere hielt – die bereits todt ist.«

»Ich bin ihnen niemals begegnet.«

»Sie mußten aber wenigstens überzeugt sein, daß dieser Graf Borodino nicht der Gatte –«

»Ueberzeugt? Nein, das bin ich nicht!«

»Wie das? Sie wußten doch, daß sie verheiratet sei?«

»Sie werden vielleicht erstaunt sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich das niemals gewußt habe.«

»Unmöglich,« rief Jonville im höchsten Grade verwundert aus.

»Dies mag unwahrscheinlich klingen, aber wahr ist es und Sie werden nicht länger daran zweifeln, wenn ich Ihnen die Geschichte meiner Bekanntschaft mit Irene erzählen werde. – Sie hieß Irene – und das ist so ziemlich alles, was ich von ihr weiß. Sie sagte mir auch, daß sie eine Ausländerin sei und sich vorübergehend in Paris aufhalte, sie ließ hierbei durchschimmern, daß sie von einem Manne abhängig sei, der sie nach Paris gebracht und daß sie von diesem Manne alles zu befürchten habe, wenn er erfahren sollte, daß sie ihm untreu sei.«

»Und weiter hatten Sie von ihr nichts zu erfahren gesucht?«

»Nein. Ich sah, daß ihr Leben ein Geheimniß enthalte und suchte dasselbe umsoweniger zu durchdringen, als sie mir versprochen hatte, mir alles zu offenbaren, sobald sie dies ohne Gefahr für sich und mich thun könne. – Ohne mich hier in eine lange Schilderung einzulassen, will ich nur erwähnen, daß unsere Bekanntschaft bereits seit sechs Monaten währte und ich die junge Frau von ganzem Herzen, mit jeder Fiber meines Seins liebte, daß ich sie anbetete. Ich liebte sie so heiß, daß ich sie anflehte, mit mir zu fliehen, weit fort von Paris – ins Ausland, um ganz meiner Liebe leben zu können.«

»Und sie willigte ein?«

»Ja. Wir sollten nur noch den Zeitpunkt unserer Abreise festsetzen – und vorgestern wieder eine Zusammenkunft haben. Ich habe sie thatsächlich wiedergesehen – Sie wissen wo,« fügte Vitrac bitter hinzu.

»Sie wurde am Vorabend der mit Ihnen verabredeten Zusammenkunft ermordet – und wer sie ermordete, war offenbar der Mann, dessen Gattin, Freundin oder Sklavin sie war. Er hat sie gewiß beobachtet – und auf frischer That ertappt –«

»Und ich werde sie niemals rächen können!«

»Das wird Sache der Behörden sein.«

»Doch wird alles Forschen derselben vergeblich sein. Ich bin schon vom Untersuchungsrichter verhört worden und weiß dadurch auch, daß er nicht einmal ernstlich an ein Verbrechen glaubt.«

»Sie hätten ihn diesbezüglich eines Besseren belehren können; doch begreife ich, daß Sie das nicht gethan haben, nachdem Sie nicht in der Lage sind, ihm irgend welche Anhaltspunkte über den Mörder zu liefern. Sie wissen also nicht einmal, wo die Dame wohnte?«

»Sie sagte es mir nicht und ich fragte sie niemals danach. Wie hätte ich es also wissen sollen? Ich erwartete sie immer an einem dritten Orte, den wir vereinbarten, sie langte zu Fuß an, und wenn wir voneinander schieden, entfernte sie sich stets ohne meine Begleitung.«

»Ich hatte gehofft, man werde sie in der Morgue erkennen, denn ebenso gut wie mir, mußte sie in den Champs Elysées auch anderen Leuten aufgefallen sein. Seitdem ich aber die Nichte des Grafen Borodino gesehen, weiß ich, daß nicht sie es war, die ich stets in eleganter Equipage sah; der Graf ist ein Russe, die Todte aber war offenbar keine Russin.«

»Dies kann ich sogar mit einiger Sicherheit behaupten, denn ich erinnere mich, daß sie mir einst sagte, sie sei niemals in Rußland gewesen, obschon sie viele Reisen gemacht habe.«

»Erwähnte sie nicht einmal, daß sie eine Schwester habe?« fragte Jonville plötzlich.

»Nein; wenigstens weiß ich mich nicht zu erinnern.«

Jonville machte eine Geberde der Entmuthigung, und erst nach einer ziemlichen Weile nahm er von neuem auf:

»Nehmen Sie es mir nicht übel, lieber Freund, wenn ich noch einige Fragen an Sie richte; doch möchte ich so gern einiges Licht in diese traurige Angelegenheit bringen, daß ich mir die Freiheit nehme, Sie einem förmlichen Verhöre zu unterziehen, als wäre ich mit der Untersuchung betraut. – Wußte Ihre unglückliche Freundin, wer Sie seien?«

»Sie wußte, daß ich Paul Vitrac heiße, Maler bin und auf der Place Pigalle wohne – doch besuchte sie mich niemals in meinem Atelier.«

»Ich glaube, daß ihr Fräulein Wanda daselbst einen unangenehmen Empfang bereitet hätte. Wußte oder vermuthete Fräulein Wanda, daß sich Ihr Herz einer Anderen zugewendet hatte?«

»Das mochte allerdings der Fall sein; doch was verschlug das?«

»Wenn das Fräulein einen Verdacht hegte, so konnte sie Sie überwacht und Ihr Geheimniß entdeckt haben; um sich dann einer Rivalin zu entledigen, konnte sie dieselbe vielleicht –«

»Ermordet haben oder dies von Anderen besorgen haben lassen?« rief Vitrac emporfahrend aus. »Wenn ich dies wüßte und Beweise dafür hätte, so würde ich die Person so gewiß tödten, so gewiß ich Vitrac heiße!«

»Ich glaube nicht, daß Fräulein Wanda eines Verbrechens fähig wäre,« bemerkte Jonville ohne sonderliche Ueberzeugung.

»Weshalb fragten Sie alsdann, ob sie es sei, die –«

»Weil ich in meiner Ungewißheit auf jede mögliche und unmögliche Vermuthung gerathe. Nun erinnere ich mich aber, daß Fräulein Wanda in dem Momente, da sie den abgeschnittenen Kopf auf dem Boden Ihres Ateliers erblickte, nur Ekel und Abscheu bekundete. Offenbar kannte sie die arme Frau gar nicht.«

»Sie hatte dieselbe niemals gesehen. Der Beweis dafür ist, daß sie gleich den Uebrigen im ersten Augenblicke an einen muthwilligen Scherz glaubte, den sich die jungen Leute eines anderen Ateliers erlaubten und sie mir immer wieder sagte, man habe den Kopf aus der anatomischen Lehranstalt entwendet.«

Jonville hätte erwidern können, daß ihm diese Ansicht Wanda's bekannt sei, da sie dieselbe auch in seiner Gegenwart geäußert habe; doch widerstrebte es ihm, Vitrac gegenüber den Besuch zu erwähnen, welchen sie dem Rittmeister abgestattet hatte. Vitrac aber fügte hinzu, als Jonville schweigend verharrte:

»Jedenfalls wären Sie nicht auf diese Vermuthung gerathen, wenn Ihnen nicht ein Umstand oder eine Auskunft bekannt wäre, von welcher ich keine Kenntniß besitze. Sagen Sie mir doch unverhohlen, was ich hiervon zu halten habe.«

»Die Sache ist von keiner solchen Bedeutung, wie Sie anzunehmen scheinen. – Ich habe mich nur nach der Festlichkeit daran erinnert, daß uns, nämlich meinem Freunde Cavaroc und mir, Fräulein Wanda noch vor dem – Vorfalle mittheilte, daß das Ende des Balles eine Ueberraschung bringen werde.«

»Und Sie dachten, diese Ueberraschung sollte in der traurigen Schaustellung bestehen? Das ist ja ganz widersinnig. Wäre Wanda die Schuldige, so hätte sie geradezu wahnsinnig sein müssen, um derartiges im vorhinein zu verrathen. Des Weiteren war mir diese Ueberraschung bekannt – sie bestand in dem von Dangelas veranstalteten Maskenzuge, welchen Sie mitangesehen haben.«

»Sie ließen mich nicht ausreden, werther Freund. Ich wollte noch hinzufügen, daß mir dieser Gedanke nur flüchtig durch den Kopf schoß, und ich ihn schon nach kurzer Ueberlegung als thöricht verwarf. Ich denke nicht einmal mehr daran, und was ich vorhin sagte, waren nichts als leere Worte, wie sie in einer lebhaft geführten Unterhaltung jedermann entschlüpfen können. Wir wollen daher auf andere Dinge zu sprechen kommen. Sie wurden, sagten Sie, bereits vom Untersuchungsrichter vernommen. Was fragte er Sie und was erwiderten Sie ihm?«

»Ich habe ihm so viel wie nichts geantwortet, und zwar aus dem sehr einfachen Grunde, weil mir nichts bekannt war, was er nicht schon gewußt hätte. Als ich mich von ihm entfernte, war ich überzeugt, daß die behördlichen Nachforschungen keinerlei Resultat ergeben würden.«

»Sie waren nicht in der Morgue?«

»Nein. Es gebrach mir an Muth, denselben traurigen Anblick wieder vor mir zu haben, zu welchem ich in jener schauerlichen Nacht verurtheilt war. Dangelas wollte mich zu einem Besuche in der Morgue bewegen; doch ließ ich ihn allein gehen.«

»Und was berichtete er Ihnen?«

»Ich habe seitdem noch nicht mit ihm gesprochen. Er fand sich bereits wiederholt bei mir ein, doch ließ ich ihn nicht vor; außer Wanda hatte niemand Zutritt bei mir.«

»Sie vergessen den Grafen Borodino.«

»Den Grafen habe ich nur empfangen, weil ich mich ihrer entledigen wollte, da sie bei mir war, als Borodino kam.«

»Befand er sich in Gesellschaft seiner Nichte?«

»Diese war im Wagen unten geblieben; doch konnte ich sie von meinem Fenster aus sehen, da es ein offener Landauer war.«

»Derselbe offenbar, in welchem sie vorgestern im Bois de Boulogne erschienen. Und dann bat Sie der Graf, seine Nichte zu malen?«

»Ja, und ich sagte zu. Morgen soll ich schon damit beginnen, und zwar in seiner Wohnung in der Rue Berton.«

»Wirklich?« fragte Jonville ein wenig erstaunt.

»Ich habe seinem Wunsche entsprochen, da ich wissen will, wer diese Leute sind.«

»Und dann ist die junge Dame so schön. – Auch ich gedenke bald einen Besuch bei ihr abzustatten. – Wird aber Ihre Hand nicht ein wenig unsicher sein, wenn Sie die Züge der Frau, die Sie geliebt haben, auf die Leinwand zu bannen suchen werden?«

»Ich glaube nicht; doch will ich Ihnen nicht länger verheimlichen, daß ich hauptsächlich gekommen bin, um Sie zu bitten, mir nähere Mittheilungen über diesen russischen Grafen zu machen.«

»Und bis jetzt habe ich Sie mit Fragen überhäuft, mein armer Freund; jetzt ist es also an mir, zu antworten. Leider kann ich Ihnen aber nur sehr spärliche Auskünfte ertheilen. Meine Bekanntschaft mit dem Onkel und der Nichte beschränkt sich auf eine Begegnung im Bois de Boulogne, welcher eine gemeinschaftliche Fahrt von der Allee de Madrid bis zu meiner Wohnung folgte. Der Graf sagte mir bloß solche Dinge, die er zu sagen für gut befand. Ich gedenke ihn zu besuchen; doch werden Sie ihn früher sehen als ich und auch öfter als ich, denn das geplante Porträt wird voraussichtlich zahlreiche Sitzungen erfordern. Während nun die reizende Nichte Ihnen sitzen wird, werden Sie den Onkel befragen und dieser wird Ihnen Rede und Antwort stehen.«

»Ich möchte lieber die Nichte befragen, denn sehen Sie, mein lieber Jonville, ich bin überzeugt, daß die Andere todt ist – es war thatsächlich der Kopf meiner Irene, den man mir ins Atelier schleuderte. – Ich schäme mich beinahe Ihnen zu gestehen, daß noch ein leiser Zweifel in mir besteht – doch kann diese junge Dame, die meiner armen Irene so wunderbar ähnlich sieht, unmöglich auch deren Stimme haben. Sobald ich sie sprechen hören werde, wird kein Zweifel mehr in mir obwalten können.«

»Sie werden die junge Dame indessen nicht sprechen hören.«

»Weshalb nicht?«

»Weil sie stumm ist.«

»Nicht möglich!«

»Sie ist nicht von Geburt aus stumm, sondern verlor aus Schrecken über eine Brandkatastrophe die Sprache, wie mir ihr Onkel sagte. Er brachte sie nach Paris, um mit den ärztlichen Autoritäten Rücksprache zu nehmen, und diese hoffen sie heilen zu können. Uebrigens ist sie nur stumm, nicht aber taub; doch versteht sie nicht französisch. Sie werden sie also nicht sprechen hören. Und nun wissen Sie alles, was mir selbst bekannt ist.«

»Allerdings, und ich danke Ihnen herzlichst dafür. Irene war des Französischen wie eine geborene Französin mächtig – und ich weiß gar nicht, wie ich an ihrem Tode auch nur einen Augenblick zweifeln konnte, nachdem ich diesen Kopf gesehen habe, welchen ich noch immer vor mir zu sehen glaube. Meine einzige Entschuldigung bildet diese geradezu unglaubliche Aehnlichkeit.«

»In dieser düsteren Angelegenheit erscheint alles unglaublich. – Hätten Sie jemals geglaubt, daß man mit einemmale den Gebrauch der Sprache einbüßen kann? – Doch wird vielleicht eines Tages noch alles klar und offenkundig werden. – Ich wünschte es von ganzem Herzen – denn auch ich habe Ihnen ein Geständniß abzulegen – welches Ihnen nach keiner Richtung hin schmerzlich sein kann. – Dieses junge Mädchen hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht –«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie es lieben?« fragte Vitrac lebhaft.

»Das ist noch nicht der Fall; die Liebe stellt sich nicht so rasch ein, es sei denn in den Romanen. Doch fühle ich, daß ich die junge Dame lieben werde, und ich bitte Sie um einen Rath. Der Onkel hat mich aufgefordert, ihn zu besuchen; soll ich nun dieser Einladung Folge leisten oder nicht?«

»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen antworten soll,« erwiderte Vitrac sichtlich erregt.

Ueberrascht fragte sich Jonville, womit er ihn verletzt haben mochte, und er schickte sich bereits an, eine diesbezügliche Frage an ihn zu richten, als in der plötzlich geöffneten Thür die Gestalt des Rittmeisters Cavaroc erschien. Er zeigte wie immer die strahlende Miene eines Mannes, der das Leben von der heiteren Seite nimmt und dem die Dinge nicht so leicht zu Herzen gehen.

»Guten Tag, werther Herr,« rief er aus und reichte Vitrac die Hand. »Ich wollte Jonville einen Besuch machen und freue mich, Sie bei ihm anzutreffen. Wie geht es Ihnen seit jener dummen Geschichte? – Ich glaube ganz entschieden, daß es ein dummer Scherz gewesen. Anfänglich wollte mir die Sache nicht aus dem Sinne; doch nun denke ich nicht einmal mehr an dieselbe und ich glaube, daß Sie ein Gleiches thun. Gewiß hat Ihnen Jonville über die merkwürdige Begegnung berichtet, welche wir im Bois de Boulogne hatten, und auch über meine störrige Stute, die ihn abgeworfen hat. – Beiläufig, lieber Freund,« fügte er zu Jonville gewendet hinzu; »heute Morgens erhielt ich meine Stute zurück – allerdings in sehr herabgekommenem Zustande, denn sie hat während dieser drei Tage hungern müssen.«

Während der Rittmeister sprach, hatte Vitrac seinen Hut genommen.

»Entschuldigen Sie mich, meine Herren, daß ich Sie so schnell verlasse,« sprach er; »doch erwartet man mich an einem gewissen Orte.«

»Was ist dem Herrn Farbenkleckser eingefallen?« fragte Cavaroc, nachdem sich die Thür hinter dem Künstler geschlossen. »Sollte er eine Ahnung haben, daß seine Wanda Gefallen an mir findet?«

Jonville schüttelte verneinend den Kopf; doch hätte er die hastige Entfernung seines Freundes nicht zu erklären vermocht, da ihm dieselbe ganz unverständlich war, ebenso wie er keine Ahnung davon hatte, welche Vorgänge sich zur selben Zeit beim Grafen Borodino in der Rue Berton abspielten.


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