Helene Böhlau
Ein Sommerbuch
Helene Böhlau

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Muttersehnsucht

»Gott nein,« sagte sie, »nie« – und lachte.

Er hatte sie gefragt, ob sie hier das ganze Jahr über nicht Langeweile spürte.

Er ist der Hausgast und Jugendfreund ihres Vaters.

Sommerfrieden liegt über dem weiten Gutsgarten ausgebreitet. Hochwipflige Bäume und fruchttragende, schwerbeladene, die dem Erdreich mit ihren Kronen näher bleiben als die vornehmen Laubbäume; weiche Rasenflächen, auf denen durchsichtige, kühle Schatten lagern; Beerensträucher mit leuchtenden, rotbehangenen Zweigen.

Der lange, gerade Weg, der zum Hause von der Landstraße führt, ist dicht mit Sommerblumen eingefaßt, nach Altväter Weise, mit bunten, duftenden Blumen aller Art, die ihre Häupter im lustigen Durcheinander neigen oder sie in die blaue Sommerluft hineinheben und den geraden Weg in eine Atmosphäre von sonnedurchwärmten Düften hüllen. Bienen und tausendfältiges Geschwirr und Gesumm. Hoch oben im Himmelsraum die pfeilschnellen Sommerverkünder, die ihre spitzen Töne wie goldne Saiten über den Himmel sponnen.

Sie stehen beide abseits vom Weg, mitten im Obstgarten.

Sie beugt sich über den kleinen Quell, der kristallklar durch den Rasen fließt und nimmt eine purpurrote Apfelschale, die auf dem Grunde des Wässerleins lag, heraus.

Tropfend und rotleuchtend glänzt sie in des Mädchens fester Hand.

»Das tat die Marianne,« sagte sie beiläufig.

»Die muß besser eingespannt werden – die. Die zieht nicht an.«

»Wenn ich einmal heirate, hat sie alles zu übernehmen, was ich jetzt tue.«

»Maria, seit wann ist denn von einer Heirat die Rede? Das ist das erste Wort, das ich davon höre,« fragte der ernste, distinguiert aussehende Mann, der Typus des feinen Gelehrten aus gutem Hause; ein zartgliederiger, tadellos gekleideter Mensch, an dem vielleicht nur die Art zu blicken verrät, daß er zu der Menschenklasse gehört, die ein zu einseitiges, geistiges Leben führt.

Er hat etwas in der Art zu schauen, als hätte er die Kunst des Umherblickens nicht gelernt, etwas Weltfremdes, trotz seines weltmännischen Aeußern.

Und dies Weltfremde ließ ihn jünger erscheinen, als er wirklich war.

»Nein,« sagte das große, blonde Mädchen ruhig. »Es ist auch jetzt niemand da, den ich heiraten möchte; aber was nicht ist, kann werden. Ich bin vierundzwanzig.«

Sie warf die Apfelschale wie eine rotleuchtende Schlange weit von sich auf einen Komposthaufen, der neben einer Reihe von Gemüsebeeten aufgeschichtet war, und schaute ihr nach.

»Du bist Erde und sollst zu Erde werden,« sagte sie behaglich vor sich hin.

Der Gelehrte blickte sinnend vor sich hin.

»Ich muß jetzt sehen, daß ordentlich gedeckt wird. In einer halben Stunde ist Essenszeit.«

»Sie verwöhnen Marianne.«

»Vor der Hand muß sie erzogen werden. Nein, nein, verwöhnen tue ich nicht. Bei uns muß jedes an seine Pflicht glauben, sonst ging's vollends drunter und drüber.« Er begleitete sie.

»Sagen Sie, Maria, – es steht nicht gut mit Ihrem Vater?«

»Nein.«

»Ei – ei – ei –, daß . . .«

»Da ist gar nichts zu wollen, das ist eine alte Geschichte, die Immenbachs kommen auf keinen grünen Zweig, und der arme Vater ist nicht der Mann, der Glück hat. Hier hätte eine harte Hand was ausgerichtet. – Und dann haben die letzten Krankheitsjahre der Mutter ihn stark mitgenommen.«

Das Mädchen sprach ruhig und einfach, wie Städtekinder nicht zu sprechen pflegen.

Kurz und gut, die Immenbachs kommen auf keinen grünen Zweig. Das war eine ganz einfache Tatsache, mit der sie sich abgefunden hatte. Es klang nicht traurig, nicht bedrückt, nicht klagend.

Sie sagte das so kernig kräftig wie jenes: Du bist Erde und sollst zu Erde werden.

Sie hat eine sonnedurchschienene Stimme, so warm, man denkt an Erd- und Laubgeruch, an Bäume mit Obst beladen, an wogende, gelbe Kornfelder, wenn sie spricht.

Oder erschien das dem Professor nur so, weil er seit Tagen diese Stimme unter beladenen Bäumen, im duftenden Garten, auf schmalen Wegen zwischen unermeßlich weitem, goldenem Korngewoge gehört hatte.

Ihm schien's, als wäre er in diesen Tagen an dieser Stimme gesundet.

So hirnmüde, so abgearbeitet und gehetzt ist er gewesen, als er sich entschlossen hatte, bei seinem alten Jugendfreund einzukehren und einmal in dieser Stille auszuruhen.

Hier, in diesem alten, einfachen Gutshause hatte er den Laub- und Wiesen- und Waldfrieden gefunden, – den sommerlichen Gartenfrieden. Er war hier in etwas ganz Sonderbares hineingeraten, ins Träumen mit wachen Augen, in ein junges, längst vergessenes Träumen. Das war ihm über die Glieder geflossen wie ein laues Bad. Ja, aber er hatte auch noch nie den wahren und vollen Landfrieden genossen, nie in seinem ganzen Leben wie jetzt.

Sommerfrischen aller Art, mit so und so viel abgehetzten Städtemenschen, die sich in irgendeinem Hotel zusammengefunden, das hatte er alljährlich immer wieder kennen gelernt; das fieberhaft eilige Naturgenießen von einem möglichst lärmreichen, unruhigen Hotelzentrum aus.

Aber hier! da war man außer der Welt, wie in Korngewoge begraben, wie eins mit dem Laub- und Erdgeruch – da gehörte man mit dazu, da wurde man eingesogen. Da ging man ein und aus und war daheim unter der großen Himmelsglocke.

Ach – das war so einfach – so einfach, so wehmütig zu Herzen gehend.

Immer und immer wieder war es ihm zumute, als hätte er Unsägliches verloren. Oft überkam ihn eine große Traurigkeit. Sein Leben erschien ihm so unsinnig, so ungemütlich, so unheimisch auf Erden. Er, der hochangesehene Mann, kam sich arm und elend vor.

Ja, weshalb eigentlich? Hätte er mit seinem Freunde tauschen mögen? – oder mit irgend einem Feldarbeiter? Nicht um die Welt – nein. Und doch diese wie im Raum schwebende Traurigkeit, die ihn manchmal überkam, die Traurigkeit des Kulturmenschen, den ein uraltes Heimweh zu Mutter Erde packt.

Und die Stimme des kräftigen, blonden Mädchens weckte diese Gefühle, wie Musik das Weh nach ewig Verlorenem, nie Gekanntem weckt. Für ihn lag in dieser Stimme ein Geheimnis. Er erwartete etwas von dieser Stimme. Und dieses unbestimmte Erwarten durchwebte das junge Träumen eines alten, müden Menschen.

*

In dem einfachen Eßzimmer saßen sie miteinander beim Mittagsmahl.

Es war ein großer, viereckiger, ebenerdiger Raum mit niederer Decke und niederen Fenstern.

Vor den Ostfenstern floß ein Bach vorüber. Man hörte, wenn es still im Zimmer war, ein feines Plätschern und Glucksen. Die Südfenster vom Weinlaube dicht umsponnen. Eine Rebe war zwischen Fensterrahmen und Mauer hindurchgewachsen und grünte in das Zimmer hinein, ja, war der Hauptschmuck des Raumes.

Ein altmodischer Sekretär, auf dem Säckchen mit Namen und allerhand Krimskrams stand, hielt sich bescheiden und unauffällig in einer Ecke und machte den Eindruck eines mißachteten und mißhandelten Möbels.

Um den Tisch saß ein kräftiges Geschlecht. Alles blonde, große Gestalten, rosige Menschen, die das Maß gewöhnlicher Sterblichen um ein Beträchtliches überschritten hatten. Die jüngeren Kinder trugen Mähnen von blondem, lockigem Haar. Den älteren Mädchen war dies feste Haar in einen Knoten gedreht. Die beiden großen Buben waren jetzt auch daheim in den Ferien und trugen in die Höh' starrende blonde Schöpfe über den großzügigen Gesichtern, die nicht gerade nach allzuviel Festigkeit aussahen, etwas Träumerisches, ein ganz klein wenig Verbummeltes lag ihnen im Ausdruck, als – wären sie hauptsächlich Phantasiemenschen.

Ihr Großvater war ein Dichter gewesen, weit berühmt über Deutschland hinaus. Und diese blonden Enkel sahen insgesamt so aus, als hätte der dichterische Genius des Großvaters sie sich ausgedacht.

Schöne Menschen, überaus schöne Menschen. Auch der Vater dieser blonden Rangen war eine prächtige Persönlichkeit. Hochgradig Phantasiemensch. Seine großen Glieder hatten eine gewisse Weichheit, die man fortgewünscht hätte.

All' diese sonnigen Leute, an diesem mächtigen Tisch, in dem bäuerlichen Raum, ließen den Ausdruck von Dürftigkeit nicht aufkommen.

Es waren ihrer so viele, und jeder von ihnen strahlte so viel Wärme, Heiterkeit und Blondheit aus, daß man den Eindruck von etwas Goldigem, Ueberschwänglichem nicht los wurde. Sie brauchten keine Möbel, keine Vorhänge. Jeder hatte seinen Platz, auf dem er sitzen konnte, den Tisch, an dem er essen konnte, und die weite Sommernatur draußen.

Es gab da auch etwas, wie einen Salon, einen dumpfen, unbelebten Raum, in dem nie jemand zu finden war.

Sie steckten immer zusammen, wenn sie nicht draußen sich umhertrieben, und immer in dem großen niedern Zimmer. Da machten die Kinder die Schularbeiten, da wurde geflickt und genäht, da zahlte der Vater die Leute aus, da hielten sie ihre Mahlzeiten, kernige Mahlzeiten, an die der Professor sich erst gewöhnen mußte.

Heute war, so schien es ihm, ein halbes Schaf auf den Tisch gekommen. In einer Riesenschüssel schwammen Riesenstücke in einer braunen Sauce, und Klöße gab es dazu, groß wie Kanonenkugeln; aber von allem, was auf dem Tisch stand, stieg ein Duft auf wie ein Opfergeruch aus fernen Zeiten.

Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle.

Der Professor dachte an seine Mahlzeiten daheim mit seinen beiden Töchtern und seinem Sohne. Da war ihm nicht aufgefallen, daß die Speisen dufteten. Jeder aß gleichgültig etwas Gleichgültiges.

Sie waren alle übermüdet und hatten alle den Kopf voll.

Das war nicht anders gewesen, als die Frau noch lebte. Sie waren daheim alle geistige Naturen, alle Intelligenzen. Die Frau hatte bald nach diesem, bald nach jenem Regime kochen lassen, Speisen, die das Hirn am besten nährten, den Organen die denkbar geringste Arbeit verursachten.

Nie hatte er aber gesehen, daß die Kinder mit Appetit gegessen hatten, ja, daß sie mit Appetit gelebt hätten.

Von früh an waren sie alle auf Ziele losgegangen, bewußt, brav und pflichttreu, voller nervöser Eigenheiten, die von der Mutter respektiert wurden; – unbehagliche Menschen, Hirnmenschen ohne Wärme! Niemand hatte Freude gehabt an den häuslichen Dingen, am Nestbau, an den Dingen, die von uralt tierischer Wärme durchdrungen sind, die den Tiermenschen so nahe angehen, die den geistigen Menschen aufrecht erhalten.

Ja, sie hatten immer wie ohne festen Unterbau gelebt, nicht erdensicher.

Und diese hier lebten erdensicher. Mit ihren großen Füßen standen sie alle so fest und liefen so dröhnend und lebenslustig durchs Haus, dem es am Oberbau fehlte.

Ja, denn ihr Dasein streckte sich nicht in die Höhe, ging in die Breite, dem Erdboden nah.

Im Salon, im ersten Stock, waren sie schon nicht erdensicher und erdenheimisch.

Aus der Zimmertür hinaus ins Freie, mit ein paar Schritten, das mußte so sein. Sie wären sich sonst gefangen vorgekommen.

Wie dem Professor hier alles zu Herzen sprach.

Ja, und das gefiel ihm, die solide, einfache Ordnung im Haus. Was man berührte: verbraucht, wie abgeschliffen, aber blank und rein.

Da war eine tüchtige Hand zu spüren. Marias Hand.

Die verstorbene Frau mußte eine brave Hauswirtin gewesen sein, denn es waren alte, ausgefahrene Geleise, in denen die Räder der Wirtschaft liefen.

Von der Mutter trugen auch die meisten der Kinder feste und schöne Linien in der Mundbildung, die den weichen Gesichtern sehr zugute kamen.

Und diese Gesundheit im Hause!

Unwillkürlich hielt sich der Gast hier aufrechter als gewöhnlich. Er kam sich kräftiger vor.

Der Hauch dieser blonden, herrlichen Geschöpfe belebte seine Nerven. Ja, in diesem großen Raum, an diesem breiten Tisch, da stieg die Lebenskraft, wie nach einem Frühlingsregen die Erdkraft aus der Erde auf.

Die feine, ausgearbeitete Intelligenz des Gastes wurde hier von Bildern berührt, die die Feinheit dieser Intelligenz dem Manne wie eine langwierige, schmerzhafte Krankheit erscheinen ließen.

Wenn er abends als der letzte zur Ruhe ging, standen auf dem Treppenabsatz die Schuhe der Familie, um am andern Morgen von der Hausmagd gereinigt zu werden.

Und es verging kein Abend, an dem er nicht diese unabsehbare Reihe dräuender Stiefel, mit dicken Sohlen und urweltlichen Gesichtern, betrachtete.

Sie standen immer der Größe nach geordnet. Zuerst des Vaters Riesenkähne, darauf die Schuhe der vier großen Töchter und darauf drei Paar kräftige, unausgewachsene. Und alle standen sie so unschuldsvoll da, so treuherzig, schämten sich nicht ihrer Mängel und Flicken. Es war, als wenn sie sagten: Da sind wir! – Da! So wie wir sind, sind wir. Wir sind zufrieden. Uns war's den ganzen Tag über wohl an unsern lebendigen, warmen Füßen.

Ihren Schmutz und Staub trugen sie stolz wie Ehrenzeichen. Sie hatten weiß Gott nicht gefaulenzt.

Es war so ein gesunder, lustiger Schmutz an ihnen, der von tollen, übermütigen Streichen erzählte und von einem intimen Verkehr mit allerhand Viehvolk.

Da waren Marias Schuhe, die steckte in ihren freien Stunden am liebsten bei den Fohlen. Heute war er ihr draußen auf der Wiese begegnet. Die fünf braunen Fohlen hatten sie umgeben. Mit ihren weichen Nüstern hatten sie an ihr geschnuppert.

Sie lief, und die Fohlen trotteten mit ihr in großen, steifen Sprüngen.

Dieses braune, flockige Volk mit den stumpfschwarzen Mähnen und Schwanzhaar! Wie köstlich war das große, blonde Mädchen da gewesen, wie unvergeßlich.

Ja, die Schuhe der jungen Geschöpfe taten es jeden Abend dem zartnervigen, sensiblen Manne an.

Das waren die Schuhe urwüchsiger, lustiger, weltfremder Göttinnen.

Er dachte dann an die schmalen, winzigen Fußbekleidungen seiner verstorbenen Frau, an die noch zierlicheren seiner Töchter. Er sah die blutarmen, bleichen, klugen Füßchen, die nicht wußten, was Laufen ist, die mit kurzen Schritten Zielen zustrebten, die angestrengt, geistiger Art waren. Da liefen diese klugen Füßchen in die Staatsbibliothek, zu Versammlungen, zu Vorlesungen; in Ateliers, jetzt in die Hörsäle – ach, zu Gott weiß was, und mußten immer still unter den dunkeln Kleidern stehen, ohne Luft und Licht, bis sie wieder einen kurzen Weg auf hartem Straßenpflaster machen durften.

Ja, der Professor war hier in dieser Luft zu dem Hang gekommen, seinen Phantasien nachzugehen. Dies Haus und dieser Garten beeinflußten ihn.

Und seine Phantasie beschäftigte sich zumeist mit Maria.

Wenn er auf den holprigen Feldwegen, mitten zwischen den goldnen Kornfluten ging, begleitete ihn ihr Bild, gleichgültig, ob sie leibhaftig neben ihm schritt oder nicht, ob er die blonde, sonnige Stimme hörte oder nicht.

Sie war seinem Wohlbefinden notwendig geworden.

Ihre wundervolle Gesundheit erquickte ihn und auch die Liebe, mit der sie jedes wachsende Leben umschloß, jedes Tier, jede Pflanze.

Er empfand, als hätte sie ihn selbst mit mütterlicher, heiterer Fürsorge berührt, wenn sie es irgendeinem Geschöpf tat. Wie sie einem Halm, dessen schweres Haupt ihn auf den Weg niedergezogen hatte, aufhalf, ihn mit einer weichen, zärtlichen Handbewegung dem Meere seiner Brüder wieder zugesellt, erschien ihm wie eine rührende, heilige Handlung.

Nie im Leben war ihm das mütterliche Weib begegnet.

Selten begegnet es einem.

Ja, und es ist kein Wunder, dachte er, als er wieder einmal neben ihr herging: – das Mütterliche hat man in euch verkümmern lassen, alles hat man verkümmern lassen – und auch dies, – dies Innigste. Ein falsches, häßliches Schamgefühl ist darüber gebreitet. Ihr solltet euch eurer Mütterlichkeit nicht bewußt werden. Eure geistige Mütterlichkeit wächst nicht wie eine schöne Blume unschuldig in der Sonne; sie verkümmert in Dumpfheit, als wäre sie etwas Schmachvolles; und wenn ihr Mütter werdet, werdet ihr's ohne die geistige, süße, warme Vorbereitung dazu.

Maria ging oft schweigsam mit ihm.

Er frug sie einmal: »Nicht wahr, Sie sagen es offen, wenn Sie lieber einmal mich nicht begleiteten?«

»Gewiß,« antwortete sie; »aber ich gehe gern mit Ihnen, wenn Sie mich wollen.

Wir haben noch nie solch einen Gast gehabt. Wir leben, wie die Bauern, nicht viel anders, und wir sind alle immer glücklich dabei gewesen. Aber wir alle, die Marianne auch, werden Sie sehr vermissen. Es ist durch Sie etwas gekommen, was niemand kannte, so etwas Rastloses.«

Er frug sie, was sie damit meinte. Sie wußte sich nicht recht auszudrücken, wie es schien, und sagte nach, einer Weile:

»Sie denken immer; es erweckt in Ihnen alles Gedanken. Wir alle fühlen nur. Das ist ein großer Unterschied. Sie müssen doch nicht viel jünger wie der Vater sein und sind doch so viel jünger. Das macht, weil Ihr Geist lebendig ist. Hier auf dem Lande altert der Mensch, wenn der Körper altert. Sehen Sie den Vater. Aber, man ist viel ruhiger, wie Sie es sind. Es hat alles sein Gutes.« Sie sagte das vornehm und setzte sich und die Ihrigen damit nicht herab. Es klang nur heraus: Wir sind anders wie du.

Er mußte ihr von seinen Töchtern und seinem Sohn erzählen, von der verstorbenen Frau und von seinem Leben.

Er klagte ihr, daß es bei ihm daheim nicht behaglich sei.

»Das glaub' ich,« sagte sie, »bei euch hat ja niemand die Dinge und das Haus lieb. Es will alles geliebt sein, und ihr seid viel zu gescheit dazu.«

Er lächelte.

Aber von dieser Stunde an wurden seine Träume und Phantasien faßlicher – beängstigender.

Stundenlang wandelte er im Garten auf und nieder, unausgesetzt mit dem Wunsche beschäftigt, dies sonnige, starke Weib in sein eigenes Haus zu verpflanzen.

Es schwebte ihm dabei etwas ganz Wunderliches, Gestaltungsloses vor, etwas, was seinen Ursprung in alten, fast vergessenen, vielleicht biblischen Eindrücken haben mochte. Eine herrliche, sorgsame Hausmagd – ein Kleinod, etwas, was es nicht gibt und nicht gab, etwas Alttestamentarisches, etwas Wundervolles.

Sein ganzes Haus schien ihm warm und sonnig zu werden, wenn er sich vorstellte, daß sie darin waltete. Die freudlosen Töchter erblühten, das entsetzliche Dienstbotenvolk zerstob wie unreines Gesindel.

Ja, er war in dieser Abgeschiedenheit in das weltfremde Träumen tief hineingekommen – so tief, daß er seine Träume leidenschaftlich zu lieben begann, wie ein junger Mann die Qualitäten des Lebens.

Wenn er sich vorstellte, daß er sie zur Frau Professor machen könnte, so erschien ihm das beunruhigend, unmöglich: – nicht seiner Kinder wegen – das nicht. Er war ein wohlhabender Mann, und seinen Töchtern, deren Eigenart sie zur Ehelosigkeit zu führen schien, würde er durch diese Frau einen Lebenshalt geben.

Auf Kinder aus zweiter Ehe rechnete er nicht mehr, – wünschte sie nicht.

Es würde im Grunde eine ruhige, friedliche Angelegenheit werden, diese Sonne in sein Haus zu bringen.

Aber da war etwas, weshalb er Maria nicht als Frau, sondern als biblische, urweltliche Hausmagd wollte, so ein sonderbarer Gedanke es auch war.

Es lag für ihn in der Idee einer zweiten Ehe der Welt gegenüber so viel Peinliches. Er mit seinen siebenundfünfzig Jahren, Vater von längst erwachsenen Töchtern. Jede Auffälligkeit war ihm unsäglich zuwider.

Liebe konnte er auch das Gefühl, das ihn zu dem Mädchen hinzog, kaum nennen. Nein, es war weit mehr ein ästhetisches Bedürfnis, sie in seiner Nähe zu haben; eine Sehnsucht nach Wärme und Behagen.

Aber dies Bedürfnis war stark, fast leidenschaftlich und peinigte ihn.

*

So vergingen sechs Wochen. Für ihn sechs aufregende, merkwürdige Wochen, in denen er empfand, daß sein Wesen durchaus nicht so in sich abgeschlossen war, wie er wähnte.

*

Der Landaufenthalt bei dem Jugendfreund schloß damit, daß sich der Professor mit der ältesten Tochter des Hauses feierlich verlobte.

Maria hatte sich vordem kurze Bedenkzeit ausgebeten. Und in diesen Tagen war sie mit ihrem Vater jeden Nachmittag weit über Land gegangen.

Da schritten die beiden großen Gestalten meist schweigend nebeneinander her, und hin und wieder fielen Worte wie: »Ja, wie soll ich dir da zureden. – – – Ich wollt', er hätte seine zwanzig Jahr weniger auf dem Buckel – aber – aber –«

Dann wieder Schweigen. »Er ist brav, reich, angesehen. – Wie soll ich denn meine Kinder an den Mann bringen? – Und eine solche Verwandtschaft! – Maria, widerlich ist er dir doch nicht? – was man so widerlich nennt?« »Vater! nein, – gewiß nicht. – So ein edler, guter Mensch.«

»Aber die großen Kinder, Maria!« Ja, das war auch ihr das ärgste. »Und alle noch im Haus.«

Dann sprachen sie von den drückenden Familienverhältnissen – über die Unmöglichkeit, die Töchter daheim zu behalten; über das »Unter fremde Leute gehen« – das Brotverdienen, über die großen Ausgaben, die die Söhne verursachen würden.

Sie breiteten voreinander die Lasten aus, die auf der starken, lebenskräftigen Familie lagen und sie langsam zu ersticken drohten.

»So ein Halt in der Welt, Maria, ist für Leute, wie wir sind, von großem Wert.«

Dann wieder: »Aber ganz nach deinem Gutdünken, denke nicht an uns; denke an dich!«

Sie redeten miteinander, wie die Menschen es tun, die etwas wollen und zu gleicher Zeit nicht wollen, die den Mut nicht haben, etwas aus den Händen gleiten zu lassen, und die Kraft nicht haben, es zu halten.

Aber schließlich hatte Maria die Kraft gefunden, zu halten, was das Schicksal ihr bestimmen wollte. Ja, und mit einer ehrlichen Freudigkeit hielt sie es. Sie wollte ihre Pflicht tun, wie sie ihre Pflicht bis jetzt immer getan hatte. Sie wollte dem guten, klugen Menschen sein Heim behaglich machen. Nein – es war ihrer Natur kein Opfer, das sie brachte, so schien es ihr.

Die Verlobung wurde also gefeiert und die Hochzeit auf sechs Wochen später angesetzt.

Sie sollte den Kindern des Professors erst als junge Frau entgegentreten.

Die Kinder schrieben kühle, formgewandte, höfliche Briefe an die Braut ihres Vaters, wie sie dieselben kaum anders hätten schreiben können.

Kein Mißklang störte das Verhältnis zwischen ihr und dem Professor.

Sie schrieb, als er wieder nach München zurückgekehrt war, ihre einfachen, natürlichen Briefchen an ihn, und er vertrauensvolle, sie ehrende Briefe an sie.

Eine wahre Liebe hatte Maria ihr Lebtag noch nicht kennen gelernt. Gefeiert hatte man sie natürlich, wo sie sich zeigte, und wenn sie und Marianne im Winter einigemal in die Stadt zu Bällen gefahren waren, hatten die Immenbachschen Töchter an Anbetern keinen Mangel gehabt; aber die Immenbachschen Vermögensverhältnisse waren hinreichend bekannt. Da gab's nichts zu holen.

So war Marias Herz kühl und stolz geblieben. Ueber ihre Schwester Marianne ärgerte sie sich oftmals, weil die es nicht lassen konnte, einen oder den anderen am Bändel zu halten, bis es mit Tränen endete.

*

Die Hochzeit sollte ganz still im Gutshaus gefeiert werden ohne allen Aufwand.

Maria hatte jetzt schon seit Wochen alle Hände voll zu tun, um mit den geringsten Mitteln eine kleine Wäscheaussteuer zu richten – und dann die Hochzeitsvorbereitungen. Der Vater sollte keine Last davon haben.

Maria buk und wirtschaftete, damit am Hochzeitstage alle, die zum Hause gehörten, befriedigt werden konnten, die Knechte, die Mägde und die Leute im Dorf. Das war die Hauptsache.

Maria war seit Wochen gar nicht zu sich selbst gekommen. Am Vorabend ihrer Hochzeit, bevor der Professor kam, ging sie leicht ermattet von aller Arbeit und allem Schaffen einen stillen, einsamen Weg, einen Hügel hinan, durch liebes, heimisches Gehölz.

Die Blutwellen waren ihr noch nicht beruhigt nach dem großen Arbeitssturm.

Mild, wie lauwarm war es heut; aber die modernde Laubdecke unter den Bäumen duftete schon herbstlich scharf.

Und wie sie so wandelte, legte sich ihr etwas schwer über die Glieder, über ihr ganzes Wesen, etwas wie eine große Hoffnungslosigkeit.

Neben einer schlanken Buche setzte sie sich auf den Waldgrund nieder und legte den Kopf an den Stamm, und schwer, weich, erstickend sank etwas Unbekanntes auf sie nieder, etwas Trostloses, etwas, das sie nicht benennen konnte, etwas ganz Freudloses.

Und sonderbar, sie fühlte zum erstenmal im Leben, daß sie Maria Immenbach war.

Sie preßte ihren Kopf fest an die glatte Buche und weinte herzbrechend wie ein armes, großes Kind, dann sank sie mit dem Angesicht auf die Erde und küßte diese liebe Erde wie ihre Mutter.

Heiß und leidenschaftlich küßte sie, daß es schwarz und feucht ihr zwischen die Lippen kam. »Ich liebe dich!« schluchzte sie, »du bist gut!«

Als sie ihr rosiges Gesicht verwundert von seinem Tränenstrom getrocknet und mit dem Taschentuch sich angefächelt hatte, ging sie langsam zum Gutshof zurück, feierlich durch alle Ställe.

Die Hündin hatte am Tage vorher Junge geworfen und lag mit ihren Kleinen schwerfällig und geduldig im Pferdestall auf einer Schütte Stroh. Ihrer sechs tranken an ihr und rissen an den starken Brüsten des Tieres und marterten es. Die Hündin hatte einen geduldigen, leidenden Blick, in dem eine große, stumme Klage lag, ein großes, stummes Weh und eine stumme Freude.

So lag sie zu Marias Füßen und klopfte leise, wie müde mit dem buschigen Schwanz auf das Stroh.

Maria kniete zu ihr nieder und neigte ihr Gesicht zum Kopf der Hündin, nahm ihn zärtlich zwischen ihre beiden Hände und sagte wieder schluchzend und erregt: »Ein Kind! – dann ist alles – alles gut.«

Dann neigte sie sich noch tiefer und drückte ihr Gesicht an das Gesicht der Hündin stumm und zärtlich und leidenschaftlich.

*

Der Professor reiste mit dem jungen, weltfremden Weib und zeigte ihr ein neues Stück der guten Erde.

Sie gingen miteinander durch Italiens Galerien und Kirchen und Museen, wie sie miteinander auf den schmalen, holperigen Wegen zwischen dem goldigen Korngewoge gegangen waren.

Er, liebenswürdig und klug, ihr allerhand von seiner aufgespeicherten Weisheit mitteilend, und sie freundlich, folgsam und aufmerkend, nicht scheu, nicht bedrückt, eine in sich geschlossene Persönlichkeit, die sich in ihrem ruhigen Menschentum wohl und sicher fühlt.

Ihr ist davon nichts aufgegangen, daß ihre stolze, frohe Weibseele etwas Geringeres ist als die mit Wissen und Weisheit ausgefüllte ihres Gatten.

Für sie ist Gelehrsamkeit ein Geschäft, etwa wie ein Krämergeschäft, und hat mit dem eigentlichen Menschentum nichts gemein.

Ein Krämer muß seine Ware haben und ist sonst ein Mensch wie andere, und ein Professor muß seine Ware haben und ist sonst ein Mensch wie andere.

Davon aber war sie überzeugt, daß ihr Gatte die feinste und beste Ware führte, daß er durchaus reell war, und daß man ihm jedes Wort, was er sagte, unbesorgt glauben konnte. Sie fand es höchst natürlich, daß er alles wußte, daß ihnen nichts begegnete, was er nicht erklären konnte, und fand es sehr hübsch, so vielerlei zu erfahren. Ja, sie lebte in einer ganz neuen Welt.

Gewohnt, die Dinge zu nehmen, wie sie kamen, war ihr Leben so ein gleichmäßiges, arbeitsreiches gewesen, so ein völlig traumloses, wie auch ein guter, gesunder Schlaf traumlos sein muß. Sie hatte ganz ohne Liebesduselei gelebt, ganz ohne Sehnsucht.

So schön war es bei ihnen daheim gewesen, so lebendig, – so viel Jugend, daß niemand an schwindende Jahre dachte und an Liebesernte. Sie lebten alle ins Blaue hinein; von einem Tag zum andern. So war Marias Seele in ihrem vierundzwanzigsten Jahre noch so ruhig und unerregt, wie die Seele eines Kindes, und sie nahm des Professors weise geregelte Ehemannsgewohnheiten für den Inbegriff von Liebe und Leidenschaft. Ja, nun kannte sie die Liebe, nun kannte sie das große Geheimnis, und die Welt war deshalb nicht schöner und anders geworden.

*

Auf dieser Reise hatte sie unmenschlich viel Bilder gesehen.

Ihr wäre viel lieber gewesen, an dem schönen blauen Meer länger zu bleiben, als so von Galerie zu Galerie getrieben zu werden. Für jedes fremde Kraut fühlte sie wärmeres Interesse, als für das berühmteste Kunstwerk.

Für die liebe Wirklichkeit zeigte ihr Professor aber wenig Neigung und Achtung. Draußen im Freien mußte er immer eilen, um zu einem Ziel zu kommen, und ein Ziel war immer ein Kunstgenuß. Maria kam es vor, als hätten die Dinge erst Wert für ihn, wenn sie im Goldrahmen steckten und von einem Menschen nachgebildet worden waren. Komisch – sehr – sehr komisch.

Es strengte sie auch namenlos an, der Geschmacksrichtung ihres Professors zu folgen. Lieber wie ein Ackerknecht durch die Furchen stapfen, als auf dem harten Estrich der Galerien stundenlang von Bild zu Bild gehen.

Und er teilte die Bilder in Schulen und wollte, daß sie diese Einteilung behalten sollte. Sie bemühte sich, dies zu tun; aber es langweilte sie unsäglich und war ihr völlig gleichgültig.

Ihr Professor aber schien in den Galerien übermenschliche Kräfte zu erhalten; wenn ihr schwindelte und übel und weh war, hörte er noch längst nicht auf, zu dozieren und sein Opfer zu examinieren.

Nein, sie konnte gar nicht mehr und kam, von der Not gedrängt, auf eine List.

»Nichts von alledem ist mir doch so lieb wie die Kaiserin Agrippina auf ihrem schönen Sessel. Laß mich ein bissel da –,« sie hätte fast gesagt »verschnaufen«, besann sich aber beizeiten.

»O,« meinte der Professor, »du hast keinen üblen Geschmack, das freut mich, Maria. Du weißt aber, daß die Kaiserin ein schändliches Weib war,« sagte er scherzend.

»Das macht nichts.«

Er ließ sie also bei der Kaiserin Agrippina.

Maria aber hatte schon längst einen Rohrstuhl bemerkt, der hinter der Kaiserin stand.

Das war der »schöne Sessel«.

Von diesem Sessel aus sah man nichts als die Rückseiten der Statuen und die lange Fensterreihe der Galerie.

Als der Professor zurückkam, fand er Maria eingeschlafen.

»Maria!« rief er lachend und legte ihr die Hand auf die Schulter.

Sie starrte ihn an. Wie kam der hierher? Was wollte er? So tief hatte sie geschlafen und von daheim geträumt.

*

Ja, als der Professor sie endlich in seinem eigenen Hause hatte, da empfand er, daß es so besser war. Sie hätten nicht so lang' unterwegs bleiben sollen. Maria brauchte Arbeit. Das verstand sie nicht, die Kunst wie einen Lebensinhalt für sich zu genießen. Nein, sie war kein Genußmensch, auch im besten Sinne nicht, und sie gehörte nicht zu den Weibern, die als Herrinnen, Kritikerinnen und Gönnerinnen, von allem, was Männerhand schuf, fühlen sah. O nein, diese Vermessenheit im Kunstgenuß lag ihr fern.

Ihm war das eine ganz neue Erfahrung – eine sehr wohltuende Erfahrung. Die Weiber seines Kreises hatten diese demütig-vornehme Zurückhaltung nicht. Erst jetzt empfand er dies Ueberall-mit-hineinreden, diese unbegründete Souveränität in allen Dingen als etwas Qualvolles und freute sich seiner ruhigen, ehrlichen, jungen Frau.

»Mir scheint,« sagte sie, »daß dies oder jenes schön oder nicht schön ist.« »Das ist schön oder nicht schön,« wäre ihr nie über die Lippen gekommen.

Daß seine beiden Töchter ihr sehr kühl entgegenkamen, schmerzte ihn. Er achtete in dieser Kühle die Treue gegen die Tote – und wagte nicht, sich darüber zu äußern.

Maria nahm ihre Pflichten als Hausfrau mit Gewissenhaftigkeit und Ruhe auf sich.

Sie fand einen verwahrlosten, mit reichen Mitteln geführten Hausstand vor, ein liebloses Durcheinander von Verschwendung und Unachtsamkeit.

»Nicht wahr, ich habe das Recht, hier so zu handeln, als wäre es mein Eigentum, ich darf alles so ordnen und einrichten, wie es mir gut scheint. Ich kränke damit nicht?« frug sie ihren Gatten.

»Natürlich, mein Kind, mache es uns behaglich.«

Sie richtete dieselbe Frage auch an ihre beiden Stieftöchter, nur in einer etwas anderen Form.

»Bitte, ganz wie es dir beliebt, du bist die Hausfrau.«

Im Ton aber lag die große Kühle, das Unnahbare.

Maria aber hatte sich so ihr Recht gesichert, um ihre Pflicht tun zu können.

Sie griff mit an bei der Arbeit wie eine treue Magd, die in ihres Herrn Besitz redlich Ordnung schaffen will. Die toten Dinge des täglichen Lebens begannen unter ihren Händen Seele zu bekommen. Ja, es war, als hätte alles im Schatten gestanden und wäre jetzt in die Sonne gerückt, begann zu grünen und zu blühen.

Die beiden Töchter widmeten sich nun ganz ungestört ihren eigenen Bestrebungen. Die eine der Musik, die andere hatte schon ihr Maturitätsexamen hinter sich und wollte Philosophie studieren. Der Sohn studierte Jura. Sie waren alle vollauf beschäftigt und ernste, strebsame Menschen.

Während der Mahlzeiten war es, als wollten sie dem Eindringling beweisen, wie sie alle zum Vater gehörten, so viel feiner, enger, als das magdhafte Weib, das er ihnen aufgedrungen.

Besonders die Mädchen waren unerschöpflich, seinen Rat in Anspruch zu nehmen, mit ihm über die schwierigsten Dinge zu streiten, die dem großen, jungen Weibe völlig fern lagen. Sie hatten immer Anliegen, und so vergingen die Mahlzeiten in anregenden, anstrengenden Gesprächen.

Dem Bruder wurde dieses Sich-geistig-montieren bei Tisch zu viel.

»Na, na,« sagte er, »gebt a Ruh,« als die eine sich über Idealität der Zeit und des Raumes ereiferte. »Dabei soll einem nun das Essen bekommen! Diese Weiber!«

Für Maria ward diese gesunde Anmerkung wohltuend und brachte sie ihrem großen Stiefsohn etwas näher.

Die beiden Mädchen aber erreichten, was sie im dumpfen Aerger wollten, – sie erreichten noch weit mehr, denn ihr wehe zu tun, war nicht die Absicht gewesen. Sie hatten ihr nur zeigen wollen, daß sie über ihr ständen; – aber sie trieben das junge Weib in die Einsamkeit. Sie verschloß sich ganz in sich selbst, wie es die Art starker Naturen ist. Ihr Gatte verstand es nicht, sie zu schützen, ja, er kam kaum auf diesen Gedanken, denn er wurde seinen Kindern gegenüber ein Gefühl der Schuld nicht los und gab ihnen sein junges Weib, aus einem Gefühl gerecht zu sein, preis.

Wer aber konnte dies »preisgeben« nennen? Gewiß keine Menschenseele, ja, wer konnte hier überhaupt etwas Greifbares finden, um es zu benennen?

Und doch – und doch. – So ein hilfloses Herz fühlt Streiche, die niemand fallen sieht, wird verwundet, ohne daß jemand einen Angreifer gewahr wird. Maria begann unter einem großen Druck zu leben, fühlte sich von nun an unsicherer und fremder im fremden Haus.

Nur in den Pflichten, die sie übernommen, blieb sie heimisch und war rastlos bis in die Nacht.

Die Rastlosigkeit und angestrengte Aufmerksamkeit gab ihr das Magdhafte – Demütige, Stille. Die klugen, gelehrten Leute hatten ein armes, großes Kind in ihrer Mitte, ein Kind, das nach Wärme und Liebe verlangte.

Sie sahen aber etwas anderes: Eine blonde Hausfrau, so eine von der echten Sorte, so eine von den ganz Engen, von denen, deren Horizont nicht über die vier Wände hinausgeht.

Und die Kinder begriffen den Vater nicht, wie er nach dem Verlust einer geistig bedeutenden Frau so etwas ins Haus hatte bringen können.

Sie waren alle zu wohlerzogen, um ihre Stiefmutter direkt etwas von ihren Empfindungen fühlen zu lassen; aber, ohne daß sie es beabsichtigten, sickerte ihre Gesinnung durch die guten Formen hindurch und wirkte vergiftend.

Maria, die nur die allerreinste Luft daheim geatmet, nie etwas Verstecktes empfunden hatte, war wie in eine Welt ohne sicheren Boden geraten.

Sie empfand, als sollte sie an der Höflichkeit ihrer großen Stiefkinder verschmachten.

Und wunderlich, Vater und Kinder schlossen sich eng und enger aneinander – enger als je zuvor.

»Maria,« sagte ihr Gatte manchmal zu ihr, wenn er sie so ganz in ihren Hausfrauensorgen aufgehen sah, »du solltest dich uns mehr widmen, mein Herz.«

Er gedachte seiner sonderbar träumerischen Idee, die er während jener goldenen Sommertage gehegt hatte, daß er Maria am liebsten als alttestamentarische Hausmagd in sein Haus führen wollte, als urweltliche, treue, aufopfernde Magd, als etwas, was es nirgends gab und wohl auch nie gegeben hatte.

Aber sonderbar, die Wirklichkeit war seinem Traume nahe gekommen, und er hätte lügen müssen, wenn er sich in diesem Traume nicht recht wohl befunden hätte.

Diese ruhige, geduldige Seele im Hause war allen, ohne daß sie es sich selbst zugaben, eine Wohltat.

Sie hatten so viel mit ihren eigenen Persönlichkeiten zu tun, und sie gehörten zu den modernen Menschen, die ihre Individualität wie ein Kunstwerk ausarbeiten, und die jene mit Recht oder Unrecht mißachten, die sich selbst auflösen, die aus der eigenen Persönlichkeit Freude, Nahrung, Lebensstärkung für andere bereiten.

Je hilfreicher und treuer Maria wurde, je mehr gab sie sich preis und sank im Wert, denn sie war nicht hilfreich und treu aus innerer Freudigkeit heraus, sondern, weil sie sich nicht behaupten konnte, weil sie sich betäuben wollte.

So vergingen die Jahre.

Die Familie lebte ihre stillen Tage, so ein gut bürgerliches Leben. Drei-, viermal gab es im Winter Einladung, wo sich des Professors Haus im vollen Glanze zeigte. An solchen Tagen pries man ihn glücklich seiner schönen, tüchtigen Frau wegen, bewunderte der einen Tochter Virtuosentum, das vorzügliche Souper, die guten Weine, tat des Professors Gesellschafts-Zigarren alle Ehre an.

An solchen Abenden hörte Maria freundlich lächelnd ihrer Stieftochter Klavierspiel zu, diesem Klavierspiel, dem sie, wo sie konnte, auswich; denn es riß ihr am Herzen. Es tat ihr weh. Sie verlor die Fassung. Ungestüme Lebenssehnsucht ergriff sie. Sie hatte in dem vornehmen behaglichen Salon, in dem der Flügel stand, oft aufschreien mögen in heißem Glückesverlangen. Ihre beiden Stieftöchter aber meinten: »Ein schlimmes Zeichen.«

Nein, zwischen den beiden Mädchen und des Vaters junger Frau war auch nicht das leiseste Verständnis füreinander aufgegangen.

»Gottlob,« sagten die beiden manchmal zueinander, »daß sie uns wenigstens mit Stiefgeschwisterchen verschont, das kann man ihr nicht hoch genug anrechnen.«

Niemand im Hause war sich der Brutalität bewußt, mit der man gegen sie empfand, und niemand ahnte die Einsamkeit, in der sie lebte, und sie waren alle feine, hochentwickelte, vortreffliche Menschen.

*

Von Pflichttreue, Aufopferung überdeckt, brannte in dem jungen Weib ein sie quälendes, verzehrendes Feuer. Ihr starkes, natürliches Wesen wollte unbewußt sein vollgerüttelt Maß Lebensfreude und Befriedigung. Sie lebte vornehm und besser, als sie es sich je geträumt hatte. In allen Dingen war sie wohlversorgt und hungerte doch nach dem starken Lebensbrot. Diese aus Hunger und Ueberfluß zusammengebraute Daseinsform war schmerzlich und erregend zu tragen. Der Ueberfluß tat weh, wie die Sehnsucht.

Diese prächtigen, schönen Glieder des jungen Weibes, diese rosige Haut, die in der großen, vollen Sonne aufgeblüht war, das getreidefarbene, starke Haar, alles schrie nach Glück und Sonne.

Nichts an ihr war geschaffen, um in frommer Unnatur dahinzuleben.

Sie war an die Stelle der ersten, längst gealterten Frau des Professors getreten. Dieser Platz, der der kleinen, verblühten Dame völlig genügt hatte, beengte die junge Riesin, ließ ihr keine freie Bewegung, nicht Luft genug für die tiefen, sehnsuchtsvollen Atemzüge. Was ihr eigentlich fehlte, wußte sie selbst nicht, denn als gutes Kind scheute sie das Wesen ihrer Gefühle zu ergründen. Ein Wissen ihres Zustandes wäre ihr als undankbares Verbrechen erschienen. Eins, das wußte sie aber peinigend klar, die kalte, sich immer gleich bleibende Höflichkeit ihrer Stiefkinder, ließ sie nach der süßen Zärtlichkeit ihres eigenen Kindes leidenschaftlich verlangen. Und das sollte und konnte nicht sein. Sie war nun fast schon vier Jahre verheiratet.

Nachts biß sie sich voll hoffnungsloser Verzweiflung in den festen Arm, auf dem ihr Haupt ruhte. Sie wollte ihr eigenes Leben spüren – nur das eine nicht – diese vernünftige Hoffnungslosigkeit.

O, diese Nächte voll Sehnsucht! Niemanden hatte sie, an dessen Herz sie hätte ihren Kopf legen können, niemand auf der Welt.

Der Professor hatte die lebendige Natur selbst in sein Haus genommen, damit es bei ihm sonnig und warm würde, daß alles im Haus, was verkümmert und überfeinert war, aufblühen sollte; aber er hatte nur an sich und die Seinen dabei gedacht.

Er, den die Mütterlichkeit ihres Wesens vor allem bezaubert hatte, war fremd und fast unangenehm berührt, als in tiefer Nacht seine Zimmertür zaghaft geöffnet wurde und ein Lichtschein hereinglitt, der eine weiße Gestalt weich beleuchtete.

»Was ist denn?« fragte er schlaftrunken. »Ist was?«

»Ach nein,« sagte sie und sank vor seinem Bett in die Knie und verbarg ihr Gesicht in seinen Kissen. »Ich bin nur so traurig.«

Mit Mühe scheuchte er den schweren Schlaf von sich.

»Na, weshalb denn traurig?« Er konnte sich gar nicht in diese Situation hineinfinden.

Da brach aber ein so heißes, von den Kissen ersticktes Schluchzen los. –

»Tröste mich! – Sag' was!«

»Ja, was denn, um Himmels willen?«

Er richtete sich etwas auf.

»Ich habe kein Kind!« Wie ein undeutlicher Aufschrei kam das heraus, so ein gequältes Aufschreien.

»Ich fürchte mich so allein!«

Diese ruhige, pflichttreue, junge Frau so fassungslos zu sehen, war ihm unbegreiflich.

»Na, na, was ist denn das?« Ach, wie unbequem das war! So etwas würde doch nicht öfter vorkommen?

»Sei ruhig.«

Da stand er ja vor einer schönen Geschichte, er, der vor allen Dingen Ruhe brauchte.

Und was sollte er nun da sagen?

»Aber Maria, mein Herz, es gibt doch genug Frauen, die keine Kinder haben. Ist das so etwas Außergewöhnliches?«

»Ja, und was weißt du denn von denen?« frug sie hastig.

»Du hast doch alles, was du willst,« fuhr er fort. »Die besten Kinder von der Welt! Na! und du bist nicht zufrieden!«

»Tröste mich!« schluchzte sie. »Sag' was!«

Er strich ihr über das Haar.

»Nu, weißt du, wenn alle Menschen alles und jedes haben wollten; – was würde daraus?

Denk' an die armen Menschen ringsumher, an die Kranken und Elenden, die Verbrecher und Hungrigen – und dann denk' an dich – – – und schäm' dich ein wenig, mein Herz. Ei, ei, so undankbar!«

»Dir ist's gleichgültig, ob wir ein Kind haben oder nicht?«

»Gleichgültig? – nein, mein Herz,« sagte er ruhig.

»Ach!« schrie sie auf, kurz wie ein Stöhnen – »und ich – sterbe vor Sehnsucht!«

Da lag alles darin. Sie hatte durchschaut. Er, der satte Mann, der alles genossen, bei dem naturgemäß Ruhe und Beschaulichkeit eingetreten waren, und sie, das nach Glück und Liebe und Leben hungernde Weib, das vom Schicksal sein Kind, sein einziges Eigentum auf Erden wollte.

»Komm', gieß dir mal in das Glas Wasser hier, aus dem Fläschchen ein paar Baldriantropfen.«

Er setzte sich ganz auf, nahm selbst das Fläschchen und tröpfelte ihr behutsam sechzehn Tropfen ins Glas.

»So, mein Kind, nun trink.«

Sie trank. Sie war ganz ruhig geworden, denn sie hatte durchschaut.

Er hatte alles.

Sie hatte nichts, und die Lebenstür sollte ihr ewig zugeschlagen bleiben.

Nein, er konnte sie nicht verstehen! Nutzlos war es gewesen, daß sie gekommen, daß sie ihn geweckt hatte. Er konnte sie nicht trösten, denn er ahnte ihre tiefe Not nicht.

Sie wünschte ihm: Gute Nacht. Er faßte ihre Hand. »Ist dir's besser?«

Sie nickte.

»Aber auch gewiß besser?«

Sie nickte wieder und lächelte.

Dann suchte sie ihr Zimmer auf, streckte sich in ihrem Bette aus.

Die Tücher waren noch lau, von so einer einschläfernden Lauheit. Die sechzehn Baldriantropfen hatten sie müde gemacht und die Erkenntnis, daß sie niemand auf Erden habe, der sie verstehen und trösten konnte.

*

Mehr und mehr empfand sie das Auf-sich-selbst-angewiesen-sein und trug an diesem Bewußtsein wie an einer schweren Last.

Ihre einfache, großzügige Natur lag ihr selbst durchsichtig vor Augen.

Sie kannte ihren Schmerz und ihre Verlassenheit – und etwas Nebelgraues zog in sie ein.

Ja, es legte sich etwas Nebelgraues über ihr goldiges Haar, ihre rosigen Farben, und sie bekam eine spießbürgerliche, gedrückte Beimischung in ihr freies, frisches Blut. Das Traurigste, was einem Menschen geschehen kann, geschah ihr: Die lebendige Idee ihres Wesens und ihrer Erscheinung schien sich zu verlieren, war nicht mehr in jeder Bewegung zu spüren. Fremdes, das eigentliche Wesen Auflösendes drang ein.

Sie suchte Trost in der Religion, saß in stillen, dämmerigen Stunden in der guten, alten, geheimnisvollen Frauenkirche und starrte in das unklare, mystische Licht, das durch mächtige Säulenreihen wie eine trübe, zarte Flut rieselte.

Ihre arme, sonnenheiße Seele wollte sich hier kühlen, wollte die Sonne vergessen und die Sonnensehnsucht und die goldenen Aehrenfelder und das fruchtbare, lebendige Menschenleben.

Der blaue Himmel oder der graue Regenhimmel tat ihr weh und auch die grünen Bäume, wie alles und jedes Lebendige, denn mit allem, was sie leben sah, wollte sie leben. Deshalb ertrug sie in solchen einsamen, geheimnisvollen Kirchenstunden gar gern einen schweren, steinernen Himmel und steinerne Bäume und einen ewig steinernen Erdboden und eine stille, tote Luft, die die heiligen Sonnenstrahlen nicht kannte.

Ja, so etwas dachte und fühlte sie oft. Ihren alten Herrgott hatte sie so recht von Herzen nur immer unter freiem Himmel anbeten können.

Hier, in der uralten Kirche, das war ein ganz anderer Gott – ein Gott mit einem kühlen, saugenden Atem, der sehnsüchtigen Menschenseelen ihre heiße Lebenssehnsucht aussog und sie kühl und starr und unbeweglich machte.

Ihr war es oft, als ob ihre gleichgültig und müde gemachte Seele von ihr losgelöst an den Säulen hinstrich, zärtlich bang sich an sie schmiegte und die steinerne Kälte in sich einrinnen ließ.

So war der arme Gottesdienst des Weibes, das nach Sonne verlangte, dessen Daseinsarbeit darin bestand, im Schatten stehend die Lebenssehnsucht zu ertöten, wie eine Mutter ihr einziges Kind töten würde, um damit ein frommes Opfer zu bringen, mit ebensolchem herzschneidenden Weh.

Im Hause des Professors hatten die kühlen, klugen, hochgebildeten Leute jetzt ein wildes, verzweifeltes Stück Natur, das ihnen brav und tadellos das Haus führte.

Sie würden sich entsetzt haben, wenn sie es hätten verstehen und durchschauen können.

Sie sahen aber alle die magdhafte, pflichttreue Hausfrau, die sie durch und durch und bis zum Ueberdruß zu kennen vermeinten.

»Zu all ihren Vorzügen ist sie nun noch fromm geworden,« sagten die Stieftöchter und ahnten noch nicht, was das Leben ist und was es heißt, wenn eine Seele »fromm« wird. Sie wußten nicht, daß die blonde Frau bei ihnen daheim an Kälte gestorben war, und daß ihr armer Körper bei ihnen nur noch umging.

Ja, die Menschen wissen nichts voneinander.

*

Ein junger Mann aus Marias Heimat, der ihr Vaterhaus, ihren großen Garten und ihre Geschwister kannte, kam in das Haus des Professors, um Grüße zu bringen.

Er war mit den Immenbachschen Kindern aufgewachsen und in Marias Alter, kannte, was sie kannte und liebte, und war ein blonder, frischer Mensch, der Immenbachschen Rasse ähnlich, ein echter Jugendfreund, einer, der zu dem harmlosen, goldigen Riesenvolk gepaßt hatte.

In früher Jugend schon war er in die weite Welt verschlagen worden und hatte sein Glück gemacht, ein arbeitsvolles, ganz gesundes Glück.

In Mazedonien hatte er seinen Platz als Ingenieur gefunden und war jetzt gekommen, um sich die alte Heimat, die alten Menschen und seine Studienstadt München einmal wieder anzuschauen.

Die Immenbachs hatten ihn zu Maria, auf die sie alle stolz waren, geschickt – und er war gern gegangen – denn Maria Immenbach stand ihm in der Erinnerung als die Beste und Schönste des ganzen Nestes – ja, ihm war, als hätte er eine wundervolle, vergessene Neigung als grüner Bub zu dem herrlichen Kinde gehabt.

Vom Professor und der ganzen Familie wurde er gastfreundlich empfangen. Er wohnte im Haus.

»Marias Gast!« sagte der Professor. Sie hatte in der ganzen Zeit seit ihrer Verheiratung kaum einmal jemand ihrer Familie bei sich gehabt, so oft der Professor es ihr auch freundlich angeboten, und nun kam gerade dieser Fremde.

Sie hatte sich seiner kaum mehr erinnert, nur seine Augen hatte sie nicht vergessen. – Scharf blickende Augen, vor die man nur ganz gesund und schön und seelenruhig treten mochte.

Sie hatte als Kind gern diese Augen auf sich ruhen gefühlt, so in dem Gefühl: Schau du nur – ich hab' nichts zu verstecken.

Drei Tage wohnte er nun schon bei ihnen und war allen angenehm.

Maria aber empfand, als wären ihr die Glieder in Ketten geschlagen.

Jetzt erst wurde sie selbst es inne, daß sie ihr Lachen verloren hatte, daß ihre Bewegungen unfrei, unvornehm geworden waren. Ihr war, als lastete das ganze Professorenhaus auf ihr, als stünde sie zu jedem Menschen und jedem Möbel in einem drückenden Verhältnis.

Ihn hatte sie in der freien Sonnenluft gekannt und im glitzernden, schneeweißen Winter, in voller Jugendlust, und jetzt sah sie ihn in diesen städtischen Räumen wieder, wo man sie nicht verstand und auch nicht besonders liebte.

Er sprach nur wenig mit ihr, seine Blicke aber fühlte sie hin und wieder forschend auf sich ruhen.

Und sie verstand diese Blicke. Er suchte die alte Maria Immenbach.

»Ewig schade,« dachte er, denn erst jetzt empfand er, daß sie etwas Vollendetes gewesen war.

*

An einem Abend saßen sie miteinander im Salon. Der April hatte Frühlingsschnee gebracht. Die Lampe brannte, und im Ofen knisterten neu aufgeschüttete Kohlen.

Marias Stieftochter spielte Chopin.

Seit Jahren hatte der Gast ein völlig kunstfremdes Leben geführt und war jetzt durch das sensibel empfundene Spiel des Mädchens in träumerisch weltfremde Stimmung geraten, die für den gesunden Gewohnheitsarbeiter etwas köstlich Seelen und Körper Ausruhendes bedeutet.

Sie waren nur zu dreien im Zimmer.

Maria saß neben ihrem Gast und lauschte auch auf die weichen, perlenden Töne.

Wie schön sie zu spielen verstand, das zarte, fleißige Mädchen.

Noch nie hatte Maria die Fläche ihrer Seele dieser Musik so hingegeben wie heute. Sie hatte sich bisher gegen solche Töne innerlich aufgelehnt und jetzt spülten sie wie laue, lösende Wellen über sie hin.

Endlos hätte sie hören können.

Eine fremde, bewegte Männerstimme flüsterte hin und wieder vorsichtig leise, um die Spielerin nicht zu stören, nach Dingen, von denen hier niemand wußte und nach denen niemand fragte; – und diese Stimme war mit den Tönen wie zu einem Ganzen vermischt und flutete mit ihnen über sie hin, tat ihr körperlich gut. Es kam ihr selbst vor, als wache sie aus einem schweren, ungesunden Schlaf auf.

Wie ein warmer Regen über ein sommermattes Blumenbeet fällt und die müden Blüten lebendig macht, so fühlte sie in sich tausend Dinge sich stärken, und alles nur, weil ein Mensch sie warm und dringlich nach ihrem eignen Selbst frug, nach Dingen, die ihre Erinnerung, ihr Bewußtsein ausmachten.

Sie antwortete wie ein verlassenes, wieder aufgefundenes Kind, so erregt, so bang, so schmerznachzitternd, so daß auch seine Stimme weich und weicher wurde.

Das große, arme Kind mit der verlassenen, einsamen Seele, dem herrlichen, ungeliebten Körper, rührte und bewegte ihn. Ihre, ihr selbst unbewußte Liebes- und Wärmesehnsucht ergriff ihn.

Ja, da hatte er ja die Heimat neben sich, nach der er gedurstet, die Heimat, die einem trauten Stück ungepflegter Erde glich.

Er war umhergelaufen von Erinnerung zu Erinnerung, und nichts Lebendiges war ihm begegnet. Wie ein abgeschiedener Geist hatte er die Dinge gesehen und war heimatloser wie in der Fremde geblieben; aber hier in dieser Dämmerecke, in dieser leichtdurchheizten, von perlenden Tönen durchzitterten Zimmerluft begann das Heimische zu keimen –, hier war er auf das Lebendige gestoßen wie mit Fühlfäden.

Er war so bewegt, so warm.

»Lehnen Sie sich besser zurück, Sie sitzen nicht bequem,« sagte er leise zu Maria und schob ihr ein weiches Kissen behaglicher.

Weh tat ihr diese Fürsorge bis in die Seele. Diese eine Bewegung sagte ihr: Du lebst ohne Fürsorge.

Sie errötete tief. Etwas Verlegenes, Unsicheres sprach sich mit einemmal in ihrer ganzen Haltung aus – etwas Ungeliebtes – Ungepflegtes, das rührte ihn. Es sprach sich so einfach in ihr aus, daß er verstehen mußte.

*

Maria lebte seit diesem Abend träumend. Sie fühlte in sich alle Kräfte blühen wie in einem Sommergarten. Alles war lebendig geworden.

Der lebensaugende Atem des kühlen Gottes aus der Frauenkirche war wie ein Nachtwindchen von der großen Lebenssonne fortgewärmt worden.

Nur nicht denken, nicht denken! Jede Minute leben.

Sie hatte nun tödliche Sehnsucht nach ihm, trotzdem er noch da war. Eine Sehnsucht sondergleichen, die sie fremd und angstvoll bedrängte. – Wenn er ging, nahm er alles mit, alles Leben wieder, was so warm erwacht war, was endlich erwacht war! O, wie sie sich fürchtete, – vor sich selbst, vor ihm – vor allem und jedem. Es konnte ihr nur noch Leid geschehen. Sie war ohne jeden Schutz.

Nicht denken – nur nicht denken, denken ist Tod.

Wie sie durch ihn nur lebte!

Welche Qual!

*

Eine Hand voll Veilchen hatte sie in ihrem langen, lebensdurstigen Traumzustand verstohlen und wie schlafwandelnd gekauft und war in der Dämmerstunde, als sie niemanden daheim wußte, auch ihn nicht, in sein Zimmer geschlüpft.

Sie hatte vor, ihm die Veilchen auf sein Lager, zwischen die Decke und das weiße Leintuch zu streuen, damit der Duft ihn berührte, ohne daß er von den Blumen wußte.

Mit welcher Angst fürchtete sie, daß er die Blumen doch finden könnte.

Aber es mußte sein, mußte sein, daß sie es tat.

Ihres Lebens Seligkeit hing daran, daß sie gerade dies tat.

Es war auch das einzige, was sie zu tun wußte.

Eigentlich das einzige auf der Welt, was es zu tun gab – die einzige Tat. Alles andre war undeutlich und auch ganz verschwunden.

Sie kniete vor dem Bett und hatte das Tuch zurückgeschlagen.

Die Veilchen lagen in ihrer taufrischen, gebrechlichen Frühlingssaftigkeit auf dem weißen Leinen. Ihr zitterte die Hand. Das Herz schlug ihr laut. Sie drückte die Wange angstvoll zärtlich auf die kühlen Tücher und lebte nur in der Wonne, daß er noch da war – jetzt noch da war!

Die Tür tat sich auf und er trat ein, – sah sie in der Dämmerung knien. Der zarte Veilchenduft erfüllte wie ein feiner Opferhauch das kleine Zimmer.

Das Weib in seiner tiefen, süßen Torheit blieb fassungslos knien, blickte ihn aus der weichen Dämmerung heraus wie zu Tode getroffen an.

Er sah nur das Stück Heimat, nach dem ihm gedürstet, das Stück Heimat, das nach ihm verlangte.

Ohne diese wunderliche Stunde wären sie in stummer Qual aneinander vorübergegangen; jetzt aber löste sich jeder Zweifel, jedes Bedenken, und über alles hinweg nahm er sie stumm und heiß in die Arme.

Das Uebermaß von Sonnensehnsucht, das in dem bedrückten Weibe lebte, machte sie groß und frei in dieser abgestohlenen, heißen Liebesstunde, im engen, verschlossenen Gemache ihres eignen Heims, das sie mit vollem Pflichtbewußtsein bisher gepflegt und gehütet, als das Eigentum eines guten, edlen Menschen.

Gegen ihn ein Unrecht begehen – undenkbar! Für Gut und Recht nicht ganz und gar eintreten – undenkbar! Die Pflichten, die sie übernommen, verraten – undenkbar! – und doch.

In das große, schreckliche Liebeswunder versank sie wie eine weltfremde Göttin, die von Menschengesetz und Satzung nie etwas gehört hatte. Im Arm des geliebten Mannes, ganz von heißer Liebe umfangen, von heimatsuchenden Küssen erstickt, empfand sie durch alle Schauer hindurch eine heilige Verheißung, eine sehnsuchtsbange Verkündigung, einen goldenen Lichtstrahl und einen großen Glauben, dem sie sich opfern mußte.

Ihr innerstes Wollen, von dem sie ihr Lebtag nichts gewußt, verlangte von ihr das zu tun, was sie tat, mit einer Stimme wie ein großer Gott, und sie erbebte vor diesem ihrem mächtig wollenden Willen, der größer war wie ihre Tugend, reiner wie ihre Reinheit, stärker wie ihre duldende Weibeskraft und über alle Sünde erhaben.

Als der geliebte Mann, auf den Knien vor ihr liegend, das Haupt an ihre Brust gepreßt, wie erstickt aufschrie: »Maria, ich muß gehen. – Keine Stunde mehr darf ich bleiben. Wir müssen uns trennen.« Da sagte sie weh, aber mit wunderlicher Ruhe: »Geh'.«

Dann banges, banges Schweigen. »Du wirst mich jederzeit finden,« flüsterte er heiß, »du wirst ganz, ganz mein werden, – für immer, Maria!«

Da blieb sie stumm.

»Maria!«

Sie antwortete nicht. »Ich werde dich nie finden,« sagte sie hart.

»Jeder trage sein Unrecht – aber nicht miteinander.«

Ein wildes Schluchzen erschütterte ihr ganzes Wesen.

»Ich wollte keine Liebesgeschichte!« Das kam so heftig, so ursprünglich heraus.

Sie warf sich mit dem Kopf auf die Kissen – »ich wollte« – banges, schluchzendes Schweigen – »ich wollte nichts Böses.«

Darauf erhob sie sich, schlang die Arme um den Hals des Mannes, sah ihm verweint in die Augen und sagte ganz weich und ganz aufgelöst in Liebe:

»Gott behüte dich – du. Geh'. – Geh'. Nie hören wir wieder voneinander. – Geh'. Du hast recht. Noch diese Stunde.«

Wie Verzweifelte hielten sie sich umschlungen.

Dann ein Sich-von-einander-losreißen – und er stand allein im dunkeln Zimmer.

Kein Laut mehr – keine Bewegung, als läge ein Toter hier.

Dann endlich ein Sichregen. Er zündete seine Kerze an, packte in wilder Hast seine paar Sachen und verließ das Haus wie ein Trunkener und mit einem Gefühl verzweifelter Heimatlosigkeit.

*

Die ersten Sommerwochen waren gekommen, sonnige, wundervolle Junitage nach einem kalten, regnerischen Frühjahr.

Im Hause des Professors rüsteten sie sich zu einer großen Reise.

Dem Professor war ein wissenschaftlicher Auftrag geworden, der ihn für lange Zeit in Athen festhalten konnte, und er wollte Maria und seine Töchter mit sich nehmen.

Maria war in dieser Zeit allen durch ihr traumhaftes, in sich gekehrtes Wesen aufgefallen. Etwas Verschlossenes, Herbes lag über ihr, und nahezu schien sie verstummt zu sein. Die mit sich selbst Beschäftigten beobachteten oberflächlich – nur halb bewußt. Niemand machte sich irgend eine Sorge um sie. Man war an sie gewöhnt und sah sie kaum mehr, wie das so geht.

Nur der Professor machte sich hin und wieder seine Gedanken über die junge Frau, die ihn mit einem häuslichen Behagen umgeben hatte, wie er es nie in seinem Leben gespürt. Unter ihrer Fürsorge war er aufgelebt, fühlte sich verjüngt und zufrieden, und es bedrückte ihn, daß diese sonnige Frau in seinem Hause so verstummt war.

Ihretwegen ganz besonders hatte er sich ausgedacht, mit allen seinen Lieben eine neue herrliche Umgebung zu genießen.

Als er seiner Frau zum erstenmal Mitteilung von seinem Plan gemacht hatte, war sie wie erschreckt mit ihrer Näherei von ihrem Platz am Fenster aufgestanden, die Hände über der Brust gefaltet, die Augen voll Tränen.

»Freut dich das so, mein Herz?« hatte der Professor fröhlich gesagt. »Siehst du, das ist mir aber lieb, daß dir's so nah geht.«

Schluchzend war sie zur Tür hinausgestürzt und hatte ihn ganz verblüfft im Zimmer zurückgelassen.

»O Frauen! – Was sind Frauen wunderlich!«

Wenige Tage nach diesem Vorfall fand er einen Brief von Maria auf seinem Tische liegen, in dem sie ihn bat, sie für ein paar Tage nach Haus zum Vater und zu den Geschwistern zu lassen.

»Nun ja,« dachte er, »weshalb denn nicht?«

Unnatürliche, unverständliche Wesen sind die Frauen. Was ist das nun? Stimmungen über Stimmungen!

Wahrhaftig, du ewige Kausalität, du lückenlose, das Weib ist dir dennoch entkommen. So dachte der gute Mensch in einer Art Professorenhumor.

*

Maria reiste. Ihr Abschied war stumm und erregt.

»Weißt du, Maria,« er klopfte ihr väterlich sanft auf die Schulter, als sie ihm die Hand gereicht; »du vernünftiges, tüchtiges Wesen – du solltest doch nicht . . .«

Da schaute sie ihn mit großen, bangen Augen an.

»Ich meine,« sagte er. – »Es liegt doch absolut nichts vor. – Du wirst doch nicht, wie sie alle es tun, mit Launen dich abgeben? Weißt du, das wäre schade um dich, mein Kind.«

»Wer gibt sich mit Launen ab?« frug sie wie im Traum.

»Die Frauen.«

»Die Frauen?« frug Maria, »das scheint wohl oft nur so?«

*

Zwei Wochen gingen ins Land, ohne daß Maria an ihren Gatten geschrieben hatte, – da kam ein Brief mit der Bitte, daß er zu ihr kommen möchte, wenn auch nur auf einen Tag, auf wenige Stunden.

Der Brief enthielt keine Andeutung, um was es sich handelt – und machte einen dringlichen Eindruck.

Der Professor empfand keine besondere Befürchtung. Sehr unbequem war ihm aber dieser Eingriff in sein gewöhntes Dasein. »Herr, mein Gott,« dachte er, »wo soll ich die Zeit hernehmen?«

Auf dem Wege zu seiner Vorlesung stand ihm mit einem Mal klar vor Augen: ›Sie will gewiß versuchen, ob es ihr glückt, nicht mitzureisen.« Er erinnerte sich jetzt ihrer Gleichgültigkeit während ihres Aufenthalts in Italien.

Dieser Gleichgültigkeit hatte er sich nicht erinnert, als es ihm bequem war, ihr mit der großen Reise eine Freude zu machen.

Jetzt war er verstimmt, sie gehörte zu seinem Behagen; die Reise bekam ein ganz anderes Gesicht, wenn sie nicht mit wollte, wurde für alle so viel mühseliger.

Schon die zwei Wochen Strohwitwerschaft waren ihm nicht recht. Alles, besonders das Essen hatte etwas Liebloses bekommen, fast wie früher.

In Marias Art, die Speisen zu bereiten, lag Zärtlichkeit. Ja, er hatte ihre Güte, ihre Lebensfreudigkeit gewissermaßen gegessen.

Ganz grob sinnlich war es sein Magen gewesen, der ein Urteil über sie gewonnen hatte – und zwar ein recht freundliches.

*

Nun, er reiste also. –

Da ließ sich nichts machen.

Auf dem Wege zum Bahnhof kam es ihm wie ein Epigramm in den Sinn, das folgendermaßen lautete: »Die beste Frau ist die, von der man nichts merkt.« So sollte es sein.

›Und es war bisher so,« dachte er nebelhaft weiter, wie bei dämmerndem Bewußtsein.

*

Die Immenbachs fand er im vollen Sommerglück. Der Garten glühte von Blumen, die Obstbäume beugten sich, wie damals, als er sich sein Weib heimholte. Die Sonne lag brütend über der ganzen fruchtbaren Herrlichkeit, und über der weiten, goldgelben Ebene wölbte sich der Himmel wie eine blaue Glocke.

Der gehetzte, eifrige Mann spürte hier wieder Mutter Erdens Nähe so seelenlösend. Seine wissenschaftliche Bedeutung, seine ganze Wichtigkeit begann wie tropfend von ihm abzutauen, und so etwas Fremdes, Weiches, Menschliches rührte sich. Ihm war, als strichen duftende Hände über ihn hin und strichen alles fort, was er war, was er zu sein glaubte.

Unerwartet kam er an, und wie er den Weg, der zwischen dem langen Streifen Sommerblumen auf das Haus zuführte, ging, mußte er stehen bleiben und lauschen und schauen.

Aus der weiten Laube nahe am Haus hob eben ein wundervolles, süßes Lied vielstimmig an. Ein so einfaches, gutes, starkes Lied, ein Lied wie der Sommer selbst. Was es Schönes auf Erden gibt, Sonne und Liebe und Sehnsucht und die große Freude am Leben lagen darin.

Wie der Professor so stand, stieg es ihm warm zum Herzen und in die Augen.

Alle Erinnerung war wie von ihm gewichen und nur noch ein paar liebe, freie Jugendstunden waren noch mit ihm verbunden.

Die Immenbachschen Töchter und Maria sah er um einen mächtigen Tisch stehen, einen Haufen duftender Gartenerdbeeren ordneten sie in Körbe. Sie waren ganz versunken in ihre Arbeit und ihren Gesang.

So schön und stark standen die jungen, frischen Geschöpfe da.

Aus der weiten Laube strömten mit dem Gesang Lebensfreudigkeit und Jugendwonne in die blaue, warme Sommerluft hinaus.

Wie fremd erschien ihm sein Weib unter diesen köstlichen Gestalten, selbst so schön und jung und froh.

Er sah sie mit einem Mal wieder in demselben Zauber, in dem er sie früher gesehen.

Wie hatte er wagen können, dieses Geschöpf in sein Haus, das der großen, freien Natur so fern stand, zu verpflanzen? Da war nichts Magdhaftes, nichts Gedrücktes, nichts Verstummtes, königlich stand sie und sang und arbeitete mit dem anderen blonden prächtigen Volke.

Sie bemerkten ihn erst, als er ganz nahe bei ihnen war. Da sah er, wie Maria bei seinem Anblick erbleichte.

Freundlich und erstaunt wurde er von den andern begrüßt.

»Ja, hat euch denn meine Frau nicht gesagt, daß ich kommen sollte?«

»Nicht ein Wort davon,« und alle Blauaugen richteten sich fragend auf Maria.

Die stand noch immer tief erbleicht und sagte: »Ich erwartete dich noch nicht, – aber alles ist bereit. Komm ins Haus und ruh'.«

Dann saßen sie alle miteinander am Teetisch, die Immenbachs-Mädel noch immer in der sanften Wellenbewegung eines fröhlichen Erstaunens. Maria eigentümlich fremd und ernst, versäumte aber keinen Augenblick, eine aufmerksame Wirtin zu sein.

Einen ganz eigentümlichen Eindruck machte sie auf den Professor, schön und vornehm in ihrer gehaltenen Ruhe.

Hier war sie daheim, – bei ihm nicht. »Willst du nun etwas auf dein Zimmer gehen?« fragte sie.

»Nein, Maria, laß uns den Tag genießen. Geh' mit mir solch einen Weg wie einst.«

»Ja,« sagte Maria, erhob sich langsam, schritt zögernd auf die stattliche Reihe wetterharter Gartenhüte zu, die noch immer ihren alten Platz hatten, nahm einen davon und setzte ihn sich auf ihr blondes Haupt.

»Ich bin bereit,« sagte sie.

Er mußte lächeln, das paßte so ganz zu ihr, dieser langsame Griff nach irgend einem der abenteuerlichen Hüte. Sie brauchte einen Schutz gegen die Sonne. Alles andre war Nebensache, ob dieser Schutz sie kleidete oder nicht.

Sie war, die sie war.

Er sah sie heute, wie er sonst nur Kunstwerke zu sehen verstand.

So gingen sie miteinander.

Es mochte gegen sechs Uhr abends sein. Die Sonne hielt in ihrem Sommerrecht; ihr gehörte jetzt diese Stunde, die sie durchwärmte, mit ihrer Liebeskraft durchströmte.

Mochten Herbst und Winter die Stunden dann wieder auskühlen.

Heute aber lebte die Sonne, strahlte in warmem Nachmittagslicht, voll und tief.

Die Felder dufteten. Sie hatten schon einen warmen Goldton. Wie in endloses Blau hinein, schmetterte eine Lerche ihr starkes Lied von der Lebenswonne, die wie ein Wunder in diesem heißen, lebendigen Federstäubchen lebte, das da oben im Sonnenlichte wirbelte.

Maria ging stumm neben ihrem Manne her.

Er sah, wie sie sich niederbeugte und einen schweren, müden Halm mit einer mütterlichen Bewegung wieder mit dem Meer seiner Brüder vereinigte.

Aus dieser selben Bewegung war einst bei ihm der Wunsch entstanden, sie bei sich zu haben und sich mit ihr zu verbinden.

Sonderbar, nun hatte er wieder daran gedacht, daß seine Liebe zu ihr in ihrer Mütterlichkeit Wurzel geschlagen.

Auch jetzt dämmerte es ihm nur leicht, berührte ihn kaum.

»Sage mir,« fragte Maria nach langem Schweigen, »aber so wahr wie ein Mensch zum andern überhaupt sein kann: Gehöre ich notwendig zu dir?«

»Wie denn, mein Kind, was willst du denn?«

»Es ist eine ernste Frage, du mußt mir antworten.«

»Ich dir? Weshalb denn?«

»Es ist notwendig,« sagte Maria.

»Nun aber, natürlich gehörst du zu mir?«

»Wie Geist zum Geist und Leib zum Leib?« frug sie weiter – und sagte selbst ruhig und entschieden: »Nein.«

»Wie kommst du darauf?« frug er unwillig erstaunt. »Laß das!«

»Nein,« sagte sie. »Ich muß das alles fragen, denn ich muß dich vor etwas, soviel in meiner Macht steht, bewahren.«

»Was hast du denn, Kind?«

»Laß mich reden,« bat sie, »deinetwegen. Du kennst meine Seele nicht und ich nicht deine. Meine Jahre sind dir fremd und mir deine. Dein ganzes Leben ist mir fremd und dir meins. Uns ist gegenseitig an uns beiden alles fremd.

Du brauchst mich gar nicht.«

»Maria, was soll das alles?«

»Sag' mir, im Namen Gottes,« bat sie flehend, »ob ich dir irgendwie nahestehe, ob ihr alle euch nicht viel besser befändet, wenn irgend jemand wie ich euer Haus führte, so wie ich es tat, ohne zu euch zu gehören?«

»Soll das heißen, du willst wieder frei werden?« fragte er gereizt.

»Was ich frage, muß gefragt sein. Ich bitte dich, denke mit mir! – Wenn ich stürbe, – stirbt dir nur eine gute Magd, – sagen wir so. Wenn du über mich trauertest, wärest du dir selbst nicht klar. Ihr würdet auch alle nicht um mich trauern, es würde euch nur unbequem sein. – Im Grunde nur das.«

Sie sprach seltsam ruhig.

Sie standen sich jetzt gegenüber. Der Professor hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt. »Kind! Kind! versündige dich nicht.«

»Nein, es ist alles so, wie ich's sage.«

»So – nun also.« In dem braven Manne stieg der Zorn auf. – Er legte seine Hände auf dem Rücken zusammen und ging, als bereite er sich zu einer seiner Vorlesungen vor, ganz in sich selbst versunken.

»Wenn ich dir sage,« begann er heftig, »daß ich dich wie eine Tochter liebe, – genügt dir das?«

»Nein,« sagte sie.

Er schaute auf.

»Ich bin dein Weib und nicht deine Tochter.«

»Nun – mein Gott – ja. Du hast gewußt, daß ich kein Jüngling bin. Hätte uns Gott ein Kind schenken wollen, so hättest du dies Glück wie andere auch genossen. – Ja, aber es sollte nicht sein. Es war dir nicht bestimmt.«

»Also, du liebst mich nicht mehr wie dein Weib?« fragte sie weich – wie beseligt. »Sag' es noch einmal!«

»Nun, – was willst du denn?« Er war ungeduldig. »Ich denke nicht, Maria, – aber ich liebe dich dennoch.«

»O – du!« rief sie. In ihren Augen standen Tränen. »Ich danke dir! – Nächtelang hab' ich Gott gebeten, – daß es so sein möchte, daß du so antworten müßtest. – Nicht um meinetwillen, aber um deinetwillen.«

Dann brach sie ab, über ihr Gesicht zog ein leiser Ernst. Sie stand immer noch vor ihm, faßte seine beiden Hände und sagte, wie es nur die weltfremde Göttin tun konnte, um die er hier einst gefreit: »Ich war eine Nacht das Weib eines andern und fühle mich Mutter.«

Er ließ ihre Hände fahren und starrte sie an.

Ihr war, als wenn er taumelte, und sie machte eine Bewegung, um ihn zu stützen.

»Laß! – laß! – Geh'!«

Das wurde hastig, wie außer sich hervorgestoßen!

»Laß dich nicht hinreißen – sei ruhig –,« bat sie – »um deinetwillen. Gott behüte dich.« Sie faßte seine Hand. So mütterlich, so hingebend gut stand sie vor ihm, so einzig in ihrer Art.

»Du armer Mann – du armer. – Gönn' mir's – um deinetwillen. Glaub' doch nicht, daß du unglücklich sein mußt! Ich will dir dienen, und wenn du mich nicht mehr magst, bleib' ich hier beim Vater; die beiden Schwestern heiraten nun, da bin ich am Platz.

Ohne Kind wäre ich verschmachtet.«

Das war alles so einfach, so richtig und so weltfremd.

Hier unter dieser großen, blauen Himmelsglocke, vom goldenen Getreide unabsehbar umwogt, begleitet von dem unausgesetzten, erdenwohligen Lerchentriller, fühlte er gegen seinen Willen ringsumher eine Macht aufgerichtet, gegen die er nicht konnte, wie er wollte, die ihn sanft überwältigte und gleichsam erstickte.

Mutter Erde duftete nach Korn, blühte betäubend, einschläfernd, und das blonde, ruhige Weib mit der weichen, vollen Stimme, die in Angst um ihn bebte. Große, gewaltige Mutter Erde, die hier in der kornwogenden Einsamkeit wie unmittelbar mit diesem naturfremden Manne in Berührung kam!

Ihm war, als schaute er in ein uraltes Mysterium, ihm schwindelte.

Nie hätte er sich in eine solche Lage, wie er sie jetzt im schweren Traume erlebte, hineindenken können. Taumelnd ließ er sich auf einen alten Meilenstein nieder. –

Ja, und sie stützte ihn. Mütterlich schützte sie ihn, wie den Halm, den sie dem Meere seiner Brüder wieder anschloß – nicht anders.

Er empfand ihre starke Mütterlichkeit wie einen Schauer. Das Weltfremde in ihr, das Ureinfache hatte es ihm wieder angetan.

Verfluchen, mißachten und verstoßen sollte er sie.

Ihm war betäubt zumute, – die schwere Betäubung nach einem großen Schreck.

Daß ihm so etwas passieren konnte – so etwas ihm! Das war einfach undenkbar! – und doch!

Er sah, wie sein Weib die gefalteten Hände zu ihm aufhob – da winkte er ihr, zu gehen.

Wie ein Bann lag eine schwere, lähmende Dumpfheit über ihm. Die Art aber, wie er Maria zugewinkt, mußte etwas Tröstendes für sie haben, denn sie faßte seine Hand und küßte sie demütig.

Die Hand sank matt herab; mit der andern stützte er sein Haupt. So blieb er sitzen, und sie ging.

Das Außerordentliche hielt ihn wie in Ketten. Er stand ihm hilflos wie ein Kind gegenüber.

Was sollte geschehen?

Nein, so weit dachte er noch gar nicht. Er fühlte das Altsein wie eine wehe Trauer – und Mutter Erde war so stark und jung und gleichmütig. In ihrer Werdewonne erschien sie ihm, dem Alten, so fremd.

Wie es um ihn her wogte und glänzte und jubilierte! Es trieb und wuchs und wollte in die Unendlichkeit hinein sich fortsetzen.

Er selbst erschien sich hier wie etwas Vergangenes, wie er so gebeugt und widerstandslos saß, und fühlte das Gegenwärtige wie über sich hinwegwachsen.

Ach – wie er ermattet war von diesem Schreck.

Sie hatte seine große Güte getreten. Pfui!

Da stieg sie vor seiner Seele auf wie ein Kunstwerk – und er konnte sie nicht mißachten.

*

Als er in der Dämmerung mit schweren Schritten ratlos, was zu tun, auf Immenbachs Haus zuging, ja selbst ratlos, was er fühlen sollte, da stand sie an der Gartentür.

Sie wartete auf ihn.

Mit einem demütigen Mut ging sie ihm entgegen und sagte:

»Mir war so angst um dich, tue mit mir, was du willst.« – Und wieder küßte sie ihm die Hand; nicht sklavisch, nicht unterwürfig, sondern wie ein Mensch, der dem andern wider Willen wehe getan und ihn wieder heilen möchte.

»Maria – Maria,« sagte er. »Mein ganzes Leben war rein.«

Sie preßte die Hände vor die Stirn. Ein Schluchzen erschütterte sie.

»Geh mit mir,« sagte er kurz und tonlos.

Sie führte ihn in das Fremdenzimmer, in dem er vor Jahren schon gewohnt. Die Lampe brannte, der Tisch zur Abendmahlzeit war für ihn allein gedeckt. Ein Rosenstrauß duftete, der Teekessel summte bald.

»Darf ich dir helfen?«

Sie goß ihm den Tee ein und schnitt ihm ein kaltes Hühnchen zurecht.

»Iß bitte. – Du wirst sonst krank!« Demütig und ruhig schien sie zu sein, ein Weib, das bereit war, jedes Schicksal zu tragen und doch sich nicht selbst verloren hat.

Keins von beiden sprach mehr ein Wort. Er aß ein paar Bissen, trank eine Tasse Tee. Sie reichte ihm Brot und Salz.

»Schlaf wohl, Maria,« sagte er dann und gab ihr die Hand.

Somit hatten sie sich fürs erste zum letztenmal für lange Zeit gesehn.

*

Vor Tagesanbruch machte sich der Professor zur Bahnstation auf und hinterließ seiner Frau einen verschlossenen Brief.

*

Maria findet diesen Brief im Zimmer ihres Gatten, öffnet ihn mit bebender Hand und liest:

»Ich bleibe dein Freund. – Erwarte mich bei deinem Pater. Wir reisen jetzt. Du hörst von mir.«

Sie hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen und sank nun in die Knie und weinte und lachte und hätte die Luft umarmen können.

Dann geht sie hinaus in die wundervolle Sommermorgenfrische – so voller Glück und Frieden.

Hinter dem Gemüsegarten dehnten sich die Felder aus.

Auf dem grünen Grasrain, zwischen Feld und Gartenmauer, läßt sie sich nieder – ganz in sich zusammengekauert.

Sie ist müde – so müde – müde nach langer Angst und erlöst von langer Angst.

Jetzt ist sie gerettet! – und alle sind gerettet!

Ihren Kopf birgt sie ins volle Gras und küßt die kühlen, festen Halme, die ihr die Lippen streifen.

Nun streckt sie sich.

Wie wohl es ihr ist.

Und so versteckt vom wogenden Korn liegt sie wie ein Kind in Mutterarmen.

Niemand sucht sie hier.

Niemand ahnt die große Seligkeit.

Niemand weiß von ihrer Not, die ihr guter Freund von ihr genommen.

Sie ist freigesprochen.

Und keiner kannte ihre Sünde.

Und voller Sommer ist's!

Und sie ist Mutter.

Das ist alles so schön.

Sie ist befriedigt, wie sie es nicht als Kind war.

Ein Windchen weht über die Aehren. Das Licht liegt warm und golden über der Welt. Ihr Zopf hat sich gelöst und schimmert auch wie Gold in der Sonne.

Sie schläft fest ein und träumt von etwas Weichem, Zartem, Goldigem, das sich ihr in den Armen, an der Brust regt – ihr Kind! – Nein. – Ja – nein. Ja, – es ist das Köpfchen eines Küchleins, was sie da sieht, groß wie ein Kinderköpfchen – ganz goldig, flaumig, warm pulsierend – und duftet nach Kornblüte.

Und eine Liebe – eine Liebe – regt sich in ihr zum Hinsterben, da hört sie sich singen: »Goldvogel weint – Goldvögelein lacht.«

Da liegt die ganze große Seligkeit darin, wie in einem Zauber.

Ihr erscheint das so wundervoll schön.

»Goldvogel« heißt es –! Da kommen ihr süße, selige Tränen in die Augen.

Und still, ohne Regung liegt sie und spürt erschauernd den Traum.

 


 


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