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Meine Großmutter hatte einen alten Küchenschrank. – »Unter der Linde, aus welcher der alte Schrank gezimmert wurde, hat eine goethische Liebste gesessen.« Das sagte die Großmutter, als wir Enkel oben in ihrer Küche zuschauten, wie die Ananaserdbeeren aus einem kupfernen Topf, in dem sie in lauter Zucker und Glut ihre duftenden Seelen aushauchten, in Gläser gefüllt werden sollten. Die kleine Küche duftete herzbewegend. Der würzige Geruch drang durchs offene Fenster hinaus in sonnedurchschienene Juniluft. Die Schwalben zogen in kristallener Bläue ihre zarten, schrillen Wonne- und Jagdrufe nach sich. Der Küchenschrank bekam ein Gesicht; ich sah ihn gewissermaßen zum erstenmal. Da stand er – aus weichem, wie sammetweich gescheuertem Holz, trug etliche Kupfergefäße, eine messingene Teemaschine – altes Hausgerät, das nur noch blank gerieben, aber kaum mehr gebraucht wurde.
Aus seinem Innern drang Brotgeruch; aber ein eigentümlicher Brotgeruch, ein Geruch nach Brotgenerationen, die bis hinab in die Jugendzeit meiner Urgroßmutter reichten.
Unvergeßlich ist mir dieser Geruch. Er verband uns mit einer fernen, fernen Zeit, mit nie gesehenen, nahverwandten, vergessenen Menschen.
»Unter der Linde, aus der dieser Schrank gemacht wurde, hat eine goethische Liebste gesessen.« Der Schrank trieb Blätter und Blüten und ward zu einem Baum voller Geheimnisse. Damals waren die Ananaserdbeeren gerade in Gefahr gekommen, anzubrennen. Es entstand ein Durcheinander, kleine, eifrige Schreie der Großmutter: »Ei – ei – ei – ei – ei der Tausend!« Die alte Köchin brummte, die Ananaserdbeeren dufteten auf höchster Höhe des Duftes. Um den Topf wob sich eine Wolke weißen Dampfes, der Großmutter lief die Brille an. Sie schob sie auf die Stirn. – Sie rührten und schauten.
Die Beeren waren, gottlob, gerettet. Wir aber wurden hinausgeworfen. Regine, die Köchin, verstand keinen Spaß, denn sie war eine alte, sonderbare Person mit sonderbaren Schicksalen, die ihre erste Jugend im goethischen Hause verlebt hatte. Mit zwölf Jahren war sie Spielgefährtin und Wärterin von Goethes Enkelin Alma, worauf sie sich gar viel zugute tat, und von uns Kindern wurde sie deshalb wie ein heiliges Wunder angestaunt und verehrt.
*
»Großmutter,« sagte ich am Abend, als ich mit der lieben Frau in ihrem blumengeschmückten Zimmer saß, »was für eine Geschichte mag das sein, von der goethischen Liebe unter dem Lindenbaum, aus dem dein Küchenschrank gemacht wurde?«
»So,« sagte meine Großmutter, »willst du das wissen? – Ja, das war etwas. – 's ist nie so recht ans Tageslicht gekommen. – Bei uns daheim, in meiner Jugend war auch gar mancherlei davon bekannt. Die Sache ist mit den Leuten, die davon wußten, begraben worden.
Mein alter Küchenschrank, der von der Urgroßmutter stammt, ist freilich aus dem Holze gemacht, von jenem Lindenbaum, unter dem der alten Bäckermeisterin Bauchen, von der wir die Semmeln bekommen, ihre Großtante mit den Schwestern gesessen hat.«
»Ja, das sagtest du schon einmal,« unterbrach ich sie.
»Das hab' ich oft gesagt,« wiederholte meine Großmutter, »und oft hat es mir meine Mutter gesagt. Zu deren Aussteuer kaufte dein Urgroßvater bei der Bauchschen Familie, die damals Metzgersleute waren, das Holz zu diesem Schranke, altes, ausgetrocknetes Lindenholz –,« und die Großmutter erzählte mancherlei, was sie wußte.
Wir gingen an einem schönen Sommertage, gegen Abend, die liebe Frau und ich, auf der leichten Anhöhe, von der aus man in das grüne Ilmtal blickt, oben am Horn spazieren.
Es war zur Zeit, als die Mohnblumen wie Blutstropfen in den Feldern standen; das Laub der Bäume war von einer ganz erstaunlichen Dichte und Mächtigkeit, denn noch hatte man unbewußt die kahlen Bäume im Sinn. Und die neue Gestalt hatte noch etwas Befremdliches an sich. Sie rauschten so weich und voll, wie sie im Juli, wenn die Blätter härter sind, nicht mehr rauschen. Man spürte im Rauschen dieser Blätter weiche Zartheit, und es löste sich noch ein junger, würziger Duft von ihnen.
Meine Großmutter und ich, wir trugen beide große Mohnblumensträuße. Um diese Zeit zogen wir gar zu gern miteinander aus. Und ich sah sie noch, wie eifrig sie in die Kornfelder einbrach mit einer jugendlichen Freude am Blumenraub. Ich war die Aengstlichere. »Das geht nicht, Gomelchen, das geht nicht, so tief darfst du nicht hinein!«
»Geh, laß mich, du siehst doch, wie geschickt ich's mach'.«
Ich: »Wenn dich wer sieht.«
Sie: »I gar – laß nur!«
Und wie sie ging, so leicht und ungebeugt von Zeit und Erfahrungen, ein lieber Trost für die, die auch einmal alt werden müssen. Alter, wo ist dein Stachel, Kummer, wo ist dein Sieg?! – Leid und Kummer waren ihr hoch über die Seele gegangen; aber wie ein buntschillerndes Entlein war ihre Seele immer wieder glatt und schimmernd aus der trüben Flut aufgetaucht und war im Sonnenlichte weitergeschwommen.
»Sieh einmal da,« sagte sie und wies auf ein knorriges Taxusgebüsch, das, in einem Zaun aus Korneliuskirschen eingeklemmt, ersticken wollte. Seine unterdrückten, aus der Erde schwer herausgerungenen Aeste waren mit wenigem saftigem Grün bedeckt.
»Siehst du, von demselben Busche hier haben meine Schwester und ich in unserer Kinderzeit im Winter gar oft frisches Grün geholt zum Geburtstag und auch für unsere Pyramide zu Weihnachten. Damals war der Taxus schon genau so uralt; aber er hatte doch viel mehr Grün. Es war auch noch mehr von ihm da, man sah damals noch, daß er zu einer Taxushecke gehört hatte.« Dabei brach sie mit leicht in dem Gelenk sitzender Hand einige Korneliuskirschenzweige, um ihrem alten, treuen Freunde Luft zu machen.
Ich hatte sie schon einmal so gesehen, wie sie die wild gewachsenen Rosenranken auf einem ihr sehr teueren Grab beiseite schob, weil sie den Efeu zu ersticken drohten. Mich hatte damals ein großes Weh überlaufen, wenn ich daran dachte, daß sie dem Schläfer dort unten das Haar gar oft zärtlich aus der Stirn gestrichen haben mochte, wie jetzt die Rosenranken von seinem Grabe. Und ihre Augen hatten freundlich ernst dabei geblickt, genau wie jetzt.
Sie ging auf Gräbern, wo sie auch ging, die liebe, alte Frau, und sie ging mit einer hohen seelischen Anmut, – die ich nie wieder gesehen habe, – bei meiner Mutter in schweren Tagen, da sah ich, wie dieselbe rührende, heilige Anmut wie ein Schleier ihren großen Schmerz verhüllte. Und ich dachte: So hinterläßt eine Generation der andern das Ornat der wehmütig schmerzlichen Menschenwürde. Unserer Großmutter Menschenwürde war ein leichtes, weiches Schleierchen.
Aber ich gehe andere Wege, als ich zu gehen beabsichtige. Ich wollte sagen, wie ich zur Kenntnis einer seltsam schönen Geschichte kam, die ich gar lange Jahre mit mir umhertrug, ehe ich sie niederschrieb.
Wir standen also vor dem alten Korneliuskirschenzaun, der den verknorrten Taxus zu ersticken drohte.
»Weißt du,« sagte meine Großmutter, »hier, an dieser Stelle, ist meiner Mutter Küchenschrank gewachsen.«
»Hier war das?« fragte ich betroffen, denn ich wußte nun schon so manches.
»Ja, hier, hinter dem Zaun, standen zwei große Linden vor einem Häuschen, und darin wohnten sie. Das Häuschen hat der Metzgermeister Bauch abtragen lassen, weil es jedenfalls baufällig war, und am Ende des Gartens wurde zu meiner Zeit das neue dort gebaut, mit dem Blick auf die Stadt.«
»Was du nur weißt, das sag' mir doch!« bat ich, »und daß niemand mehr diese Geschichten kennt?«
»Die sie kannten, sind vergessen,« sagte meine Großmutter wehmütig. »Die alte Bäckermeisterin, die muß noch allerlei von ihrer Mutter wissen, denn deren Mutter war ja eine von den Schwestern.«
*
Unsere Köchin Regine sagte einmal, daß es in Goethes Garten zu Goethes Lebzeiten gespukt hat. Sie bleibt dabei. »Was ich weiß, das weiß ich –« So ist ihre Redensart. – »Und es hat nicht etwa in der Nacht gespukt, sondern am hellichten Tag, mittags zwölf Uhr, und nur im Sommer in heißer Sonnenglut.«
»Das gibt es ja gar nicht, Regine.«
»So?« sagte sie, »das gibt's nicht? – Und wenn ich Ihnen sage, die Alma Goethe hat's selbst gesehen, als ich dabei war, und ist vor Schrecken ein paar Tage im Bett gelegen – und der alte Herr ist so oft zu ihr hinein. Ich hab' damals immer bei ihr sitzen müssen und weiß, was sie geredet haben – die Alma war damals ein Kind – Gott, so'n drei bis vier Jahr. Ich mocht' so'n zehn, zwölfe gewesen sein, etwa; das weiß ich nicht mehr so ganz genau. Die Alma, was die Enkelin vom alten Herrn war, und ich, wir saßen im Garten, und ich lehrte sie stricken. – Die Alma war ein ganz außerordentliches Kind, und schön, sag' ich Ihnen. Wenn ich an die Hundert werde, die Alma vergess' ich nicht. – Aus ihren Augen brach's wie Sonne heraus, so braune, große dunkle Augen in einem Gesicht wie eine zarte Rose, und die Haare goldblond, eine ganze Mähne, nicht zum Durchkämmen. Man konnte gar nicht von ihr fortsehen. Sie sprang und hüpfte. Nie sah man sie ruhig gehen. Die war so voller Leben, das ist gar nicht zu beschreiben. Und solche müssen so früh sterben! – – Der Tod von der Alma ist mir seinerzeit arg gewesen. – Du mein Gott, – du mein Gott! Ach, und wer alles so weiß. Na, wie wir so damals saßen – – – – es war in Mitte Sommer, die Rosen blühten am Hause hin, überall blühten auch die Zentifolien – und der Eisenhut und der Mohn und die Aglei. – Ja, was der goethische Garten damals gewesen ist, ist nicht zu sagen. – Der Paradiesgarten kann nicht schöner sein. Es war im letzten Jahr des alten Herrn. Geblüht hat's damals, ich sag' Ihnen – nie seitdem hat's wieder so geblüht. Es war, als wüßten's alle Sträucher im Garten, daß der alte Herr bald fort müßte, und wollten Abschied nehmen. – Wir saßen im Schatten; aber heiß war's, kein Wölkchen am Himmel, die Schwalben schrien, und ein Duft stieg auf von all den Rosen und Blumenzeug. Es mochte so gerade Mittag sein, und still war's ringsumher, als wenn alles eingeschlafen wär'.
Mit einem Mal – da sehe ich, daß die Alma ganz blaß ist, und sieht so eigen vor sich hin.
›Alma!‹ ruft ich – ›Alma, was ist denn?‹ Sie antwortet nicht und regt sich nicht. Ich fass' vor Schreck ihre Hand; aber sie rührt sich nicht.
›Ich fürcht' mich,‹ sagt sie jetzt ganz leise, kaum hörbar wie im Traum. – ›Es ist jemand im Garten, hier bei uns.‹ Aber sie rührt sich immer noch nicht. –
Da seh' ich den alten Herrn aus dem Hause treten, die Arme auf dem Rücken, im weißen Hausrock. Und wie er so einige zwanzig Schritt von uns noch entfernt ist – da erhebt sich die Alma, geht mit starren Augen, schneeweiß, ihm entgegen, bleibt stehen, faltet die Hände. – Und ich höre, wie sie sagt – aber es klingt wie ein schwerer, tiefer Seufzer – O! – o! – o! Der alte Herr ist auch stehen geblieben. Er faßt sich an die Brust und fährt so sacht an seinem Arm hin. Er sieht auch ganz eigentümlich aus – – Und so stehen sie.
Nie im Leben ist mir so bange gewesen, – denn da war etwas, und da sehe ich, daß die Alma ganz matt hinsinkt, ganz auf die Seite, so sanft sah das aus. Ich kann mich vor Schreck nicht rühren und denke, sie ist tot; – aber der Herr ist schon bei ihr und hebt sie auf und hat das Kind in den Armen. Auch er ist ganz bleich.
Ohne ein Wort zu reden, trägt er sie durch den Garten, und durch die Zimmer, und durchs ganze Haus, und legt sie in ihrem Stübchen auf ihr Bett. – Sie hat die Augen weit auf. – Sie war aber bei sich. Er hielt ihre beiden Händchen in den seinen, und so bleibt er neben ihr sitzen; und keins regt sich. Ich stehe an der Türe, die ich hinter mir zugemacht habe, und wage kaum zu atmen.
›Ist dir bange, Alma?‹
Sie schüttelt den Kopf.
Nach einer Weile sagt sie leise: ›Sie war so schön.‹
›Wer, mein Kind?‹
›Die bei dir war, die aus dem Schatten zu dir hinwehte,‹ so sagte die Alma. ›Kennst du sie?‹
›Kind? – was sprichst du?‹
›Du weißt ja‹ sagte Alma ruhig. Dann fielen ihr die Augen zu, und sie schlief.
Er saß noch lange nachdenklich neben ihrem Bettchen und hielt die kleinen Hände – dann erhob er sich und sah sehr ernst aus. Er erblickte mich und sagte: ›Verlasse sie keinen Augenblick!‹
Nach einer Stunde schon kam er wieder, nahm wieder an ihrem Bettchen Platz, da erwachte sie gerade und sagte: ›Haare wie ein gold'nes Schleierchen und dunkle – dunkle Augen.‹
›Du teures Kind!‹ das sagte er sehr bewegt und ganz erschüttert. ›Ja, dunkle – dunkle Augen – das war die Sommerseele.‹ –
Und gegruselt hat mich's wie um Mitternacht auf dem Friedhof.
Unsere Dienstboten hatten immer vom Sommermittagspuk im Garten gesprochen. Die kleine Alma aber hatte ihn gesehen. – Sie war einige Tage sehr matt und still, und der alte Herr behielt sie viel um sich. Gesprochen hat sie nie von dem, was sie gesehen. – Und dann hat sie es wohl wieder vergessen.
Und nun sagen Sie nicht, das hat sich die kleine Alma eingebildet. So'n kleenes Kind. Wenn Sie die beiden gesehen hätten; die Alma und den alten Herrn. Nie sah ich etwas Feierlicheres, als den alten Herrn im weißen, langen Schlafrock, wie er das arme, schöne Kind durch den Garten und durchs Haus trug und dann an ihrem Bettchen saß, so tief in Gedanken, daß eins ehrfürchtig davor hätte niederknien können.«
*
Regines Geschichten zogen mich hinter ihr her, so lief ich ihr auch immer nach, wenn sie zum Bäckermeister Bauch ging.
Regine hat mich mit zur alten Bäckermeisterin Bauch genommen, wie schon einigemal. Da haben die beiden Alten viel geplaudert, und ich habe zugehört.
»Mein Vater selig hatte noch die Möbel aus dem kleinen Haus am Horn,« sagte die alte Bäckermeisterin, »in das die Pfarrerswitwe mit ihren Töchtern nach dem Tode des Mannes gezogen war, dann hat er sie verkauft – schade drum! – Jetzt wär' mancher froh, wenn er sie hätte. Sie waren ganz eigen, weiß und grün gemalt und schön, reich vergoldet und auf dem Schrank ein großes rotes Herz mit Strahlen als Krönung, und auf dem Betthimmel auch, und überall Herzen und Dornenkronen. – So alte Erbstücke sollte eins nicht weggeben. – Es tut mir selbst drum leid.
Eine uralte Zeichnung hatte meine Mutter auch von ihrer Mutter und den Schwestern; wo die hingekommen ist, weiß ich auch nicht mehr; aber wie oft haben wir sie als Kinder gesehen! Da saßen alle vier Schwestern unter einem Baume nebeneinander. Der Baum stand in der Mitte. Es war nicht schön gemacht; aber die Mutter sagte, ihre Mutter täte sie erkennen an einem Tuch. Unter jeder Figur stand etwas, und unter dem Bilde stand: ›Das hat der Uerle gemacht.‹ Und der Uerle, das war der Mann von der Lieschen. Die Mutter sagte immer: Das war ein überspannter Kerl, trotzdem er unser Verwandter war. Ja – ja, so vergehen die Sachen und die Dinge!«
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Durch gar eigentümliche Zufälle stehen heutzutage dieselben wunderlichen Möbel, von denen die alte Bäckermeisterin sprach, in meinem Schlafzimmer. Tiefgrüne Schnörkel bedecken wie dichtes Laubwerk einen elfenbeinweißen Grund. Dazwischen sind Dornenkronen und durchstochene und brennende Herzen, als Bekrönungen von Schrank und Bett ein großes, rotes, brennendes Herz in einer Gloriole von goldenen Strahlen. Reichvergoldete Schnitzereien lassen die märchenhaften Stücke gar prächtig erscheinen.
Ein wunderlicher Kauz muß der gewesen sein, der diese Stücke zimmerte und malte, und man gedenkt des Unbekannten mit Wohlgefallen, ob man eine Schranktür öffnet oder sich zur Ruhe legt, als einer starken, phantastischen Persönlichkeit. –
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Unter den Linden, die so wohlvertraut in meine Seele rauschten, als hätte ich sie selbst gekannt und geliebt, stand ein kleines Haus in einem großen, langen Garten, auf dem lieblichen Höhenzug, das Horn genannt, dem zu Füßen die Ilm rauscht und das alte Städtchen Weimar liegt.
Es war zu jener Zeit noch nicht geheiligt und erhoben vor allen Städten des Deutschen Reiches, sondern lag schlecht und recht, wie es so ein altes Landstädtlein tut, an seinem kleinen, muntern Fluß und träumte so hin. – Und seine Weimaraner wurden geboren und wurden gewickelt und wie Ameisenpuppen in die Wiegen gelegt, und wurden aufgezogen, und begannen sich zu verlieben, und taten irgend etwas mit großer Wichtigkeit, und zankten und klatschten, kauften und verkauften, und wurden dann wieder in ihre Särge eingesponnen und in die Erde gelegt.
Vom Horn aus sah man nichts als ein Häuflein grauer, buckliger Schieferdächer, die wie eine Herde mißfarbener Tiere mit Rückenpanzern enggepfercht zwischen Mauern und Türmen beieinander hockten. Es war ein uraltes Gedränge im kleinen Raum, und es sah aus, als könnten die Mauern ihre gepanzerte Herde nicht beieinander halten, als quölle sie ihnen heraus. Die wenigen Häuser, welche hie und da in Gärten auf dem Horn standen, gehörten wohl auch zu Weimar, aber waren der Enge entsprungen und badeten sich da oben von allen Seiten in Regen, Sturm und Sonnenlicht. Es waren aber alles recht armselige Hütten oder Sommerhäuser, die von Weimaranern zur Gartenzeit einige Wochen benutzt wurden. Das kleine Haus unter den Linden gehörte der Pfarrerswitwe von Süßenborn. Sie war nach dem Tode ihres Mannes mit ihren vier Töchtern und mit all ihrem Hausrat dahinein übergesiedelt.
Das Häuslein enthielt vier Stuben und eine Küche. Haus und Garten und der Witwe kleine Pension waren das Lebensbrot der fünf Weiblein. Der Garten brachte Früchte, Gemüse, Erdäpfel. Die Mädchen hatten die Schule in Süßenborn frei. Wenn eins von der Schule abfiel, gesellte es sich der Mutter zu, die eine große Geschicklichkeit hatte im Handschuhnähen und -zuschneiden. Und wer etwas recht Feines wollte, der scheute den Weg nicht und bestellte bei der Pfarrerswitwe seine Festhandschuhe. Sie arbeitete immer nur auf Bestellung und hielt sich nie einen Vorrat, denn sie scheute jede Unternehmung, die Sorge und Grübelei machen würde. Sie hatte ihre vier Mädchen gar wohl behütet und erzogen in der Stille und Abgeschiedenheit auf dem Horn.
Mit den Pfarrersleuten aus Süßenborn standen sie in regem Verkehr, auch mit dem Lehrer und seinen Kindern, und auch in Weimar hatte die brave Witwe einigen Anschluß. – Aber sie ließ die Mädchen nicht oft hinab und nur selten zu einem Tanz oder sonst einer Festlichkeit. Ihr Leben floß friedlich dahin und in einer gar lieblichen Schönheit, wie man es, je weiter die Geschichte fortschreitet, verspüren wird. – Die älteste Pfarrerstochter hatte sich ein junger Pfarramtskandidat, als er in der Nähe von Weimar angestellt wurde, zum Weibe geholt. Sie war aber gar bald als blutjunge Witwe mit einem Kindlein wieder bei ihrer Mutter im alten Haus unter den Linden eingekehrt, und so hatten sie nun, die zwei Witwen und die drei Jungfrauen, ein winziges Bübchen bei sich.
Im Rebengarten, der sich, wie jener der Witwe, sanft abfallend dem Tale zuneigte, war ein sonderbarer Mensch eingemietet, der seit Jahren schon an der Witwe und ihren Töchtern mit großer Treue hing – ein braver Handlungsgehilfe, Schreiber, Geschäftsführer der ersten Kolonialwarenhandlung unten in der Stadt, für die er durch Tüchtigkeit der Mann für alles geworden war.
An dunklen, einsamen Winterabenden, wenn da oben am Horn kein menschliches Wesen mehr anzutreffen war, und wenn das Licht durch die Herzen der Fensterläden aus dem Wohnstübchen der fleißigen Frauenzimmer in die dunkelste, einsamste Oede hinausfiel, da war es ihnen gar heimisch, wohlbekannte Schritte auf das Häuschen zukommen zu hören.
»Der Uerle,« sagten dann eine oder zwei oder alle zu gleicher Zeit – »der Uerle.« Die Oede draußen hatte gleichsam eine Seele bekommen, eine sehr freundliche, vertraute Seele. Sie lag nicht mehr gar so tot und unermeßlich in ihrer stillen Dunkelheit um das warme Nest.
Bald folgte ein Klopfen am Fensterladen in immer gleichbleibendem Rhythmus. So klopft nur der Uerle, sollte das heißen, seid ganz ruhig, ihr macht nichts Unrechtem auf! – Nein, es war nichts Unrechtes, was da kam und von einer der Töchter mit der kleinen Oelfunzel – die andern saßen derweil im Dunkeln – hereingeleuchtet wurde.
»Allerseits einen guten, geruhsamen Abend!« erklang dann eine etwas hölzerne, unbiegsame Stimme, und ein Duft nach allen erdenklichen nützlichen Dingen drang mit dem Eintretenden ins Zimmer. Der Duft des Kolonialwarengewölbes, der mit dem Uerle aufs Horn gewandert war: Kaffee und Sirup und getrockneter Stockfisch und Salzgurken und Zimmet, Mandeln, Zitronat und Kardamom, Zitronenschale, Lorbeerblatt. All diese Dinge hatten um den langen Menschen eine Atmosphäre gewoben, der er nicht mehr entfliehen konnte.
Die Mädchen sagten: »Er riecht wie ein Weihnachtspunsch.« Es roch für das ganze Häuslein nach Festlichkeit, nach heimischem Behagen, nach Geselligkeit.
Die Frauenzimmer waren uneingestandenermaßen dem Uerle dankbar, daß er überhaupt da war. Ohne Uerle wären die Winterabende am Horn gar zu weltverloren einsam gewesen, ohne den Uerle hätten die beiden Linden vor dem Häuschen bei Sturm und Regen gar zu schaurig wie zwei große Riesenbesen die Wolken gekehrt. – Und auch des Nachts war es ein guter Gedanke, daß im Nachbarhäuslein der Uerle lag und schlief, der Uerle, der sein Leben für sie alle dahingegeben hätte.
Trat er abends ein, wurde die Arbeit beiseite gelegt, und sie rüsteten sich zum Musizieren, oder die Mutter erzählte Märchen, gesegnete, uralte Märchen, oder der Uerle las vor, der Uerle, der tagsüber am Heringsfaß, an der Kaffeeröstmaschine, am Hauptbuch, im Keller seinen Mann stand, wurde abends ein wirklicher und wahrhaftiger Schöngeist.
Er mußte jeden Tag eine ganz gewaltige Umwandlung über sich ergehen lassen, so eingreifend wie die Umwandlung der Puppe zum Schmetterling. Und jeden Tag dieselbe Geschichte, das halte einer aus! Zu jener guten, alten Zeit, da war das möglich, da waren die Nerven der Menschen noch kinderjung, noch nicht gezerrt und gepeinigt wie die unsern, da konnte ein Mensch zwei ganz verschiedene Arten von Dasein führen und in jedem sich ausleben, wie ein Kind am Vormittag Pfarrer und am Nachmittag Räuber spielen kann, beides mit der vollen Kraft seiner Seele.
Nur der Duft des Kolonialwarengewölbes, der war nicht zu vertreiben, der hing sich auch dem Schöngeist an.
So saßen sie, und Uerle kam, mit Büchern gepolstert, die hagere Gestalt hatte allerlei Auswüchse, und jeder Auswuchs war literarisch bedeutungsvoll. Des alten Musäus Märchen hatte er unter seinem Rock dahergebracht, Wielands Werke, was nur irgend Neues und Altes für ihn erreichbar war.
Das war eine gar wunderliche Sache zwischen Uerle und den Pfarrerstöchtern. Wie mit Ketten hing sein Herz an ihnen. Er wohnte als ihr Wächter und Freund da oben auf dem weltverlassenen Horn, und sie waren ihm alle vier in die Seele hineingewachsen.
Im Winter war es ihm, als stände er Lieschen, der Aeltesten, am nächsten. Die liebte das stille Daheimsitzen, die langen, gemütlichen Abende. Die Bratäpfel legte stets sie ins Rohr. Das Feuer schürte sie. Die Lampe putzte sie. Sie war, so schien es ihm, im Winter besonders liebenswert. Anne, die blutjunge Witwe – als er dies sanfte Wesen mit ihrem Kindchen im Frühjahr auf der Bank unter den Linden einst sitzen sah, die ersten Stare pfiffen in den Wipfeln, da rührte ihn das sanft sich lösende Weh, das aus den jungen Augen sprach, und die Liebesfrühlingsregung der jungen Mutter zum Kinde und das Frühlingslallen des Kindleins und das zarte Knospen um sie her, und bewegten Herzens verband er sie wieder mit seiner Liebe zum Frühling.
Der Sommer zog herauf, die Felder dufteten, die Mohnblumen standen wie Blutstropfen im blühenden Korn, die Rosen, die Kirschen und alle Sommerblumen im Garten blühten. Die Linden vor dem Hause trugen ihre goldene Blütenlast und dufteten Sommersicherheit. Mächtige Bienenvölker sogen an den abertausend Blüten, und die vollaubigen, dunklen, goldüberstäubten Bäume dröhnten wie zwei Orgeln, so gewaltig war das Summen der Bienenvölker in ihren Kronen. Und abends klang aus den offenen Fenstern des Häuschens unter den dröhnenden Bäumen Musik und Gesang. Vier Mädchenstimmen sangen zu Spinett und Laute Sommersehnsuchtslieder. Die schwachen Mauern des kleinen Hauses konnten kaum der Töne Ueberschwall fassen. – Das war ein Duften und Dröhnen und Klingen zu Ehren des Sommers, und wer vorüberging, sah und hörte mit Staunen die dunklen Baumorgeln vor dem singenden Haus, das seine Klänge nicht zu fassen wußte.
Uerle liebte die dritte Schwester Alma wie ein geheimnisvolles Sommerlied, das so schön und tief war, wie es keines auf Erden gibt, das gesungen und gebetet wird.
Da war nicht eins, das er so aus vollem Herzen vor sich hin hätte singen können, wenn er an Alma dachte und an die Sommerherrlichkeit um sie her. Am ehesten noch das:
»Geh aus, mein Herz, und suche Freud'
In dieser schönen Sommerszeit
An deines Gottes Gaben.«
Das Lied des alten Paul Gerhard. Uerle war kein Dichter, er kannte die Todesnöte der Dichter nicht, ihre Kämpfe nicht und ihre Qualen nicht. Er pflückte nur ganz friedlich die Schönheiten, die aus diesen Qualen und Seligkeiten wuchsen, und wenn er Schöngeist wurde, wurde er Dichterfreund, so rückhaltlos und hingebend, wie die Dichter wahrlich wenig Freunde auf Erden gehabt haben.
Saß er abends unter den dröhnenden Bäumen und hörte auf den Gesang der Mädchen, so rannen ihm vor Seligkeit die Tränen über die Wangen.
Alma, das wundervolle, blonde Mädchen mit den dunklen, geheimnisvollen Sommeraugen, der sehnsuchtsvollen Stimme, hatte in den Sommerwochen einen Anbeter, wie ihn sich ein Götterbild nur hätte wünschen können, und er duftete sogar wie Weihrauch, nach Lorbeer, Kaffeepulver, Zitronenschale und Kardamom. Er trieb tatsächlich einen verschwiegenen Gottesdienst mit ihr. Er betete an, er kniete nieder. Freilich nur in seiner Vorstellung, denn nie hätten seine steifen, spießbürgerlichen Glieder, die ihm die schönheitstrunkene Seele zusammenhielten, sich zu solchem Götzendienst hergegeben.
Sie war für ihn die Blüte des Sommers oder dessen Frucht. Im Winter war es ihm, als schliefe sie, als wenn man sie nicht wecken dürfte, da hatte sie etwas so tief Sehnsüchtiges – Wartendes, daß sie ihm immer zu Herzen ging. Ihm war's, als stürbe sie jedesmal mit dem Sommer. Sie blieb dann sein Sorgenkind; aber er sah im Herbst Ulrikchen zu einem rotbackigen, köstlichen Herbstapfel werden. Das übrige Jahr stand er mit ihr auf Kriegsfuß.
Uerle kam schwer aus seinem Seelenfrieden und hielt wohl für das wichtigste Gesetz, Frieden zu halten mit sich selbst; so hatte er sich auch mit dem wunderlichen Schicksal, sich in vier Frauen zu verlieben, kunstvoll abgefunden.
Im Grund seiner Seele liebte er aber auch noch die zarte, sanfte Mutter der vier Mädchen. An ihr hing er Frühling, Sommer, Herbst und Winter und wurde nicht müde, der alten, lieblichen Frau zu dienen, wo und wie er konnte. So hatten die Frauenzimmer auf dem Horn wirklich einen erprobten Freund, auf den sie bauen und dem sie trauen konnten. So verschwiegen Uerle auch seine vierfache Liebe hielt, so lebten die Mädchen doch in der Sonnenwärme dieser Liebe und gediehen in Weltfremdheit und Einsamkeit gar herrlich.
Es war an einem Sommerabend, da kam Freund Uerle und sah feierlich aus. Er trug auch sein Feiertagsgewand und hatte in der Brusttasche einen kleinen literarischen Auswuchs.
»Er hat etwas in der Tasche,« sagte Alma, »er bringt etwas Schönes.«
»Ja,« sagte Uerle bewegt, »die Jungfern werden Augen machen. Wir setzen den Tisch unter die Linden, und den bequemen Stuhl der Frau Mutter tragen wir hinaus. Ich werde beim Bienengesumme etwas lesen, wie wir alle, alle noch nichts gehört haben. – Wollte Gott,« setzte er hinzu, »ich dürfte niederknien und dem herrlichen Menschen die Hände küssen.
Und noch eins: ehe ich anfange, wäre es sehr schön, wenn die vier werten Jungfern« – die junge Witwe wurde dabei nicht weiter berücksichtigt – »ein Lied zum besten geben wollten.
Meinen guten Rock hab' ich schon angezogen; aber die Seele muß auch rein werden von allem, was ihr anhängt.«
Die Mädchen waren gern bereit und sangen, und er saß unter den Linden. »Herr Gott,« sagte er, »was für ein glücklicher Mensch bin ich doch! Wissen Sie noch, Frau Pfarrerin, wie wir einander kennen lernten, – wie ich Ihnen den Kaffee, Zucker, Reis und Mehl selber heraustrug, weil ich mich hier oben gern auskennen wollte – und wie mir's gleich so sehr gefiel? Sie setzten mir damals ein Schälchen Kaffee für den langen Weg vor, und wir kamen ins Plaudern. – Wie die Zeit dahingeht, Frau Pfarrerin!« –
Als der letzte Ton des Liedes verklungen war und die Mädchen heraustraten, holte Uerle den Stuhl für die Frau Mutter, setzte sich an den Tisch, brachte weihevoll und langsam ein Büchlein aus der Tasche und sagte: »Das ist von einem geschrieben, gegen den alle andern bisher gar nichts sind – aber auch gar nichts!«
»Das hat er schon so oft gesagt!« meinte Ulrikchen und lachte.
»Und hat er nicht recht gehabt, war nicht eins schöner wie's andere?« meinte die kleine Witwe.
»Ja,« sagte die Mutter, »zu Dank sind wir dem guten Uerle verpflichtet.«
»Werteste Frau Pfarrerin, der Dank ist ganz auf meiner Seite.«
Wenn Uerle höflich wurde, stand es bedenklich um ihn, da brannten auch seine Ohren, und wenn die Ohren ihm brannten, stand das Herz ihm in Feuer. Und die Höflichkeit war gewissermaßen das Ventil für seine Leidenschaften. Seine Glieder, seine Stimme, seine Bewegungen, alles lag bei dem armen Menschen in Fesseln und Banden und Steifheit. – O, hätte er die Höflichkeit nicht gehabt, so wäre er gewiß vor Ekstase schon zersprungen.
»Ich bitte,« sagte er gemessen, »die liebe Frau Pfarrerin und die verehrten Jungfern, ganz andächtig zuzuhören!«
Er schlug das Buch auf und las: »Des jungen Werthers Leiden.«
Die Bäume dröhnten vom Summen der Bienenvölker. Im Himmelsblau jubilierten die Lerchen ihr Abendlied, und das Korn duftete den großen Opferduft der weiten Ebene.
»Des jungen Werthers Leiden« las er noch einmal und machte wieder eine Pause.
»Nun?« fragte Ulrikchen.
»Verzeihen Sie – wenn Sie wüßten. Wissen Sie, daß Tausende von jungen Herzen jetzt in ganz Deutschland hingerissen sind, daß man nicht ein und aus weiß unter der Jugend vor Begeisterung? – Unten in Weimar hörte ich, daß es schon Jünglinge gäbe, die sich ganz so kleideten, wie in diesem Buche der junge Werther es tut. Ja, so etwas geschah noch nicht. Heute nacht hab' ich gelesen und gelesen und gelesen, und wenn es die Schicklichkeit erlaubt hätte, wär' ich da schon herübergelaufen und hätte vor dem Fenster im Mondenschein das Wundervolle Ihnen allen vorgelesen.«
»Nun, so beginnen Sie doch,« meinte Ulrikchen.
»Ich habe immer gedacht,« sagte Alma ruhig und sinnend, »es müßte einmal etwas Wundervolles geschehen. – Ein Tag ist wie der andere, und es muß doch einmal etwas geschehen, daß man vor Wonne sterben könnte.«
»Du mein Gott, Kind,« sagte die Pfarrerin, »versündige dich nicht! – Danken muß man Gott, verläuft ein Tag wie der andere. Gutes kommt selten, und vor dem Bösen möge der Herr uns behüten.«
»Ich meine,« sagte Alma, »ein jeder Mensch müßte einmal blühen wie ein Rosenstrauch oder wie unsere Lindenbäume.«
Ulrikchen lachte. »Und die Bienen müßten einem dann um den Kopf summen wie hier.«
»Nein,« erwiderte Alma ernst, »die müßten einem im Herzen summen, in der Seele, es müßte alles klingen und schwirren vor Seligkeit. Ich weiß gewiß,« sagte Alma ganz feierlich, »ich war einmal ein Rosenstrauch, ehe ich der Mutter Tochter wurde, der hat ungezählte Rosen getragen, ungezählte – ist ganz zu lauter Rosen geworden – – und ist so selig gewesen. Und der Duft aller Rosen war die große, große Freude seines Herzens.«
»Ach, Alma,« meinte Ulrikchen, »so red' nicht so dumm und stör' nicht!«
»Jungfer Ulrikchen,« sagte Uerle erbleichend, »Sie müssen die Schwester reden lassen! – Ja, um Gottes willen, lassen Sie sie reden! Reden Sie, Jungfer Alma, das wird Ihnen wohltun! Es ist eine heilige Stunde jetzt, und das, was Sie sagen, weiß ich ja, weiß ich ja längst!«
»Nun hört sich aber alles auf!« rief Ulrikchen.
»Ja, was ist Ihnen denn?« fragte die Frühlingsliebe, die blutjunge Witwe.
»Nein – nichts – nichts!« sagte Uerle verwirrt. »Ich erschrak nur, daß sie es auch weiß.«
»Aber was weiß?« meinte die Pfarrerin. »Träumt ihr denn?«
»Nein, nein,« sagte Uerle, »es ist auch gar nichts – Gott möge die liebe Jungfer Alma behüten.«
»Na, der Wunsch wäre am Platze gewesen, damals, als sie gar so ein schöner Rosenstrauch gewesen ist, da hätte man einen Stadtsoldaten davorstellen müssen, denn ich hätte mir auch einen Arm voll gelangt,« sagte Ulrikchen.
Uerle kam aber nicht leicht aus seiner Verwirrung, denn Alma hatte ausgesprochen, was er dunkel gefühlt. Sie empfand wie er selbst, daß sie gar eng und geheimnisvoll mit dem Sommer zusammenhing. Es überschauerte ihn. Er fühlte sich ihr nah. –
»Am vierten Mai: Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen!« begann er zu lesen und las weiter.
Und zuviel hatte er nicht gesagt. Sie waren, als er für dieses Mal das Buch schloß, jedes in seiner Art davon benommen. – Sogar Ulrikchen, die einen losen Schnabel der Literatur gegenüber hatte, gab sich drein, es sehr, sehr reizend zu finden.
Alma war ganz still.
»Nun und Sie, Jungfer Alma, was sagen Sie?«
Sie sah ihn bittend an. »Man bringt ihn ins Gered' mit dem Sprechen darüber. Er hat sich das nicht gedacht, als er's schrieb, daß so viel fremde Leute es lesen würden.«
Uerle sagte etwas lächelnd: »O nein, Jungfer Alma, er hat ein großer Dichter damit werden wollen.«
»Nein, gewiß nicht!« sagte sie hastig.
»Aber nein, so eine Idee! Meinen Sie, die Dichter schreiben und dichten nicht für die Menschen und für den Ruhm?«
»Ja, die anderen; aber das sind ja doch dann wohl auch keine Dichter, das sind Krämer.«
»Ich bin müde,« sagte sie, stand langsam auf, nickte allen eine Gute Nacht zu, küßte die Mutter auf die Stirn und trat ins Haus.
»Sonderbares Frauenzimmer,« meinte Ulrikchen und gähnte. Uerle verabschiedete sich auch. Als sie unter sich waren, meinte die junge Witwe: »Der Uerle scheint sich in unsere Alma verliebt zu haben.«
»Nee, das hat er nicht,« antwortete Ulrikchen »der Uerle liebt uns alle ein für allemal miteinander und damit basta!«
*
Uerle war diesen Sommer ganz außer dem Häuschen, wie sie in Weimar sagen. Was er vom Verfasser des jungen Werther erlangen konnte, das brachte er angeschleppt und war in einer wahren Aufregung. »Werthers Leiden« behielt den Platz auf seinem Herzen.
Ulrikchen erkundigte sich oft, ob das eine unheilbare Geschwulst unter seiner Brusttasche wäre. »Wenn man nur dem armen Uerle eine recht unglückliche Liebe verschaffen könnte,« neckte sie ihn im Beisein der andern, »damit er sich abkrageln könnte. – Wär' das ein Hochgenuß!«
»Jungfer Ulrikchen,« sagte Uerle einmal bekümmert, »ich bin ein ganz armseliger Mensch; zu meiner Schande muß ich gestehen, mir fiele wahrscheinlich in des jungen Werthers Fall irgend eine vernünftige, friedliche Lösung ein. Ach, ich bin ein nichtsnutziger Kerl!«
»Jetzt weiß ich mir aber keinen Rat, Uerle, ist Er denn ganz närrisch geworden?« sagte bei so einer Gelegenheit die gute Frau Pfarrerin bekümmert. »Hab' ich doch mein' Tag solch sündliche Torheit nicht gehört! Wo hat Er denn sein Christentum, Uerle? Mein Gott, der ganze Herr Goethe reicht unserm Uerle das Wasser nicht, was Treue und Bravheit und friedliche Lebensführung ist – und macht ihn uns noch ganz närrisch!
Ich wollte, er hätte das Geschreibe unserm Uerle überlassen, da wäre eine friedliche und moralische Sache dabei herausgekommen!«
»Hochzuverehrende Frau Pfarrerin,« antwortete ganz verwirrt und erregt Uerle, »das hätte ich nicht gedacht, daß so eine vernünftige, kluge Frau solch eine Blasphemie zu sagen imstande wäre.«
»Was wäre?« fragte die Pfarrerin. Uerle verdeutschte es ihr.
»Da sei Gott vor!« rief die Pfarrerin, »und was hat das mit euch jungen, törichten Leuten zu tun?«
»Mit uns? – Mit uns?« schrie Uerle. »Ja, will uns denn die Frau Pfarrerin vielleicht in einen Topf tun?«
»Ei was,« sagte die Pfarrerin, »ich halt' mich an die Menschen, und da gehört ihr doch wohl zueinander. Ein bissel klüger oder weniger klug, das spricht nicht mit.«
»Herr Gott im Himmel – Herr Gott im Himmel! So eine Frau! – Uns zueinander!« Uerle war ganz außer sich.
»Ach was, Genie,« sagte die Frau Pfarrerin, »ein guter Mensch soll einer sein.«
»Hier handelt sich's aber nicht darum, sondern um eine Liebesgeschichte, um ein herrliches Kunstwerk, Frau Pfarrerin!«
»Ja, ja,« sagte die gute Frau, »solch ein herrliches Kunstwerk hat jeder durchgemacht, und alle werden's durchmachen, aber da sei Gott vor, daß sie's auch alle beschreiben und wenn sie's noch so schön täten! Ich kann nun einmal die Dichtersleut' nicht so unmäßig bewundern. Und lieber ist mir allemal einer, der sein Heiligstes ins Herz verschließt, wie Sie, Herr Uerle.«
»Liebwerte Frau Pfarrerin, das lassen Sie nur sein, mich hier zu nennen. Nicht wert bin ich, ihm die Füße zu küssen.«
»Pfui!« rief die Frau Pfarrerin, »und das sagt ein Mannsbild, weil einer eine Liebesgeschichte artig vorzutragen weiß. Ei, sind Sie denn ganz des Kuckucks! Ist denn so ein Mannsbild als Mensch ein rein Garnichts, und nur, was so einem eingetrichtert ist, oder seine Kunstfertigkeit gilt etwas. Da lob' ich mir die Frauenzimmer, die müssen als Menschen etwas gelten, wenn sie gelten wollen. Die hat ausgespielt, die als Mensch nichts gilt. Mannsbilder sind doch ein ganz unnatürliches Volk!«
*
Die Frau Pfarrerin war mit ihrem guten Freund Uerle gar nicht mehr so recht zufrieden und gar, als er an einem trüben Novembertag, ohne anzuklopfen, abends ins Zimmer gestürzt kam und gar nicht zu Worte kommen konnte, weil er ganz außer Atem war.
»Nu, aber was?« fragte seine alte Gönnerin etwas ungeduldig.
»Ach, verzeihen Sie, sie haben unten in Weimar den Goethe –«
»Was?«
»Ja – das haben sie! – Sie haben ihn lassen holen. Unser junger Herzog ist genau so vernarrt in ihn wie . . .« Uerle sprach respektvoll nicht aus.
»Ach, das lassen Sie sich doch nicht weismachen, der ist ja bürgerlich! – Wo werden die! – Die sehen ihn sich einmal an, warum nicht? Langweilen tun sie sich ja so; dann lassen sie ihn aber laufen.«
»Nee, nee! Damit wird's nichts!« rief Uerle sehr erregt. »Unser kleiner Herzog soll nicht mehr ohne ihn leben können.«
»Ohne einen Bürgerlichen?– Sei'n Sie nich komisch – das sagen Sie wem anders!« rief die Pfarrerin geärgert.
»So vernagelt, wie Sie glauben, Frau Pfarrerin, ist unser junger Herzog nun noch nicht. Goethe ist eben doch unten und bleibt auch, und damit basta, und Feste gibt's auf Feste. Sie sollen alle ganz toll sein. – Na, geklatscht wird jetzt schon, daß es eine Art hat. Gesehen habe ich ihn noch nicht, aber . . .«
»Der Uerle wird jetzt irgendwo Posto fassen und lauern, und wir werden das Nachsehen mit dem Uerle haben,« meinte Ulrikchen.
»Beileibe nicht,« antwortete er – »aber Sie werden sehen. Sie werden sehen –«
*
Mit Uerle war es den ganzen Winter nicht richtig. Die übrige Literatur ließ er liegen und summte »Wanderers Sturmlied«, wo er ging und stand, und deklamierte es den Pfarrersleuten, – und »Götz von Berlichingen« las er abends mit heiliger Inbrunst. In keinem Hause drunten in Weimar mochte des jungen Herzogs Freund so gefeiert werden wie im Häuschen am Horn.
*
Der heilige Augustinus sagt: »Verlangt dich nach der Erde, wirst du zu Erde. Verlangt dich nach Gott – was sage ich – so bist du Gott.«
Verlangt dich nach Goethe, wirst du zwar nicht Goethe; aber du könntest es bis zu dessen Abschreiber bringen. So erging es Uerle. Ein Februarabend fand ihn über ein goethisches Manuskript gebeugt. Seine Ohren brannten, seine Seele war ungeheuer zusammengefaßt. Der Dichter konnte nicht weltentrückter geschaffen haben, als Uerle abschrieb. Ja, er hatte den Mut gehabt, Herrn Goethe seine Dienste anzutragen, und war für gut befunden worden zu einer Abschrift.
Jetzt hörten fürs erste die Abende bei Pfarrers auf, denn Uerle schrieb nächtelang. Am Morgen aber, ehe er ins Geschäft ging, brachte er Alma das Manuskript, und sie mußte es in seinem Beisein in ihre Lade schließen und versprechen, den ganzen Tag das Haus nicht zu verlassen.
*
Der Sommer zog wieder herauf.
Die langen Tage, die kurzen Nächte, die heißen Stunden bewegten sein Herz.
Almas Schönheit strahlte, ihre Laune war so warm, so sonnig; was sie tat, tat sie mit großer Freudigkeit. Mit den warmen, großen Tagen erwachte sie zu ihrem Lebensfest.
Unter ihren Sommerblumen im Garten mußte man sie sehen, um ihr Wesen ganz zu fassen. Da lag über der jungen Person eine Seligkeit gebreitet, wie sie eines Menschen Wesen nur im Augenblick höchsten Glückes durchleuchtet. Vielleicht einmal im Leben, wenn die schweren, körperlichen Stoffe von Lebenswonne ganz durchdrungen sind.
Wer aber die Erinnerung in sich trägt, als Rosenstrauch einst geblüht zu haben, dem ist die heilige Sommersonne Glücks genug, um ganz in Freude aufgelöst zu werden.
Die Pfarrersmädchen saßen an einem stillen Abend mit der Mutter im Wohnzimmer und sangen, während Alma sie am Spinett begleitete. Die Linden tropften in voller Blütenpracht, und ihr Duft hatte wie jedes Jahr die Bienenvölker angelockt. Die Bäume dröhnten vom Bienensummen und Brausen wie zwei Orgeln, und das Häuschen schien die süßen, starken Klänge der vier Frauenstimmen in seinen Mauern nicht fassen zu können. Es strömte über. Ein leichter, warmer Regen fiel.
Drei junge Männer, die ein Spaziergang heraufgeführt haben mochte, standen und lauschten. Mitten in wogenden, blühenden Kornfeldern ein singendes Haus und musizierende Linden davor, das war eine gar wunderlich liebliche Sache.
Der Gesang verstummte. Da ging einer von den Dreien dem Hause zu und bedeutete die beiden anderen, sie möchten ein wenig zurückbleiben. Er öffnete die niedere Gartentür in der Taxushecke, trat unter die Linden und fand sich einem dunkeläugigen Mädchen gegenüber, das soeben aus der Haustür trat und erstaunt aufsah.
Der Fremde grüßte artig und sagte: »Wir suchen einen gewissen Uerle, der hier auf dem Horn wohnt; könnte die Jungfer uns Auskunft geben?«
»Du mein Gott,« antwortete das Mädchen bewegt, »den Uerle? Ja, der Uerle wohnt hier oben – aber – er ist nicht da.« Sie sprach erregt. »O, vielleicht kommen Sie wegen der Abschrift?«
»Ja, deshalb komme ich freilich.« Das Mädchen war ganz verwirrt; eine tiefe Glut floß über ihr Gesicht. Sie schaute den Fremden wie hilflos an und schaute in zwei Augensonnen hinein, in denen, wie in den ihren, die große Weltfreude strahlte, die Wonne am Sein, der Sommerfriede. Sie blickten einander an, und in jedem Gesicht war ein Ausdruck von Betroffenheit. Beide vergaßen einen Augenblick, zu fragen und zu antworten.
»Nein, er ist nicht hier, der Uerle. Er ist noch unten im Geschäft. Das Schriftstück aber, das habe ich in meiner Truhe.«
»Da ist es ja prächtig aufgehoben!« rief der vornehme, schöne Mensch, froh auflachend.
»Wollen Sie bei uns eintreten?« fragte das Mädchen nach einer Pause bewegt.
»Wenn Sie erlauben, da möcht' ich aber auch für meine Freunde bitten. Der Regen wird stärker.« Er winkte den beiden anderen, zu kommen.
Alma führte klopfenden Herzens die Fremden ins Haus. Sie schritt ihnen voraus in das Wohnzimmer, ging auf ihre Mutter zu, die sich erhoben hatte, legte den Arm um deren Schulter, neigte den Kopf an deren Wange, deutete leicht auf die Eintretenden und sagte, unbeschreiblich in ihrer Bewegung: »Mutter, der Herr Goethe kommt zu uns!« Es war ein so tiefer Herzenston und die Art, wie sie es sagte, so ungewöhnlich, so rührend schön, daß alle erstaunt aufblickten, Schwestern und Mutter, und die Fremden traten, wie geweiht durch das Gebaren des schönen Geschöpfes, ein und wurden freundlich bewillkommt.
Die Frau Pfarrerin reichte dem jungen, berühmten Mann die Hand und sagte auf ihre einfache, würdige Weise: »Wir haben gar schöne Stunden durch Ihre Werke genossen. Unser Freund Uerle wurde nicht müde, uns vorzulesen und zu erzählen.«
Die Begleiter waren zwei junge Stollbergs, die nicht Worte genug fanden, ihr Erstaunen auszudrücken über das liebliche Wunder des Häuschens unter den brausenden, blühenden Bäumen. Der Regen strömte jetzt stärker und hielt die Bienen in ihrem weiten, duftenden Gefängnis. Die Erregung der unendlich vielen kleinen Seelen brauste ganz gewaltig auf. »Ja, wenn es regnet,« fügte die Pfarrerin, »sind sie ganz des Kuckucks da draußen.«
»Aber hier, Frau Pfarrerin, das läßt man sich nicht träumen,« sagte der jüngste Stollberg, »in dieser Einöde solch ein behaglicher Winkel.«
Sie betrachteten den Schrank und das Himmelbett der Pfarrerin. Auf elfenbeinweißem Grund hatte ein kühner Maler dunkelgrüne, breite, geschwungene Linien gezogen, die wie Laubwerk den Grund fast verdeckten, dazwischen Dornenkronen, durchstochene rote Herzen und brennende Herzen und als Bekrönung von Schrank und Bett rote Herzen in Strahlenglorien.
»Sieh, Wolfgang, was ich gefunden hab', sieh, nur am Fußende des Bettes, die beiden Herzen! Siehst du, in jedem Herz ist eine schwarze Drei gemalt. Treu! Verstehst du? Ist das nicht entzückend?« rief wieder der jüngste Stollberg lebhaft. Frau Pfarrerin, wo haben Sie diese Märchenstücke her? Man sollte glauben, in ein verzaubertes Haus geraten zu sein.«
Alma trat mit dem Manuskript ein und gab es dem jungen Goethe in die Hand, der hielt es, ohne darauf zu achten, und blickte auf das Mädchen, das in seiner Seelenbewegtheit von größter Schönheit war.
Die Pfarrerin erzählte, daß ein durchreisender katholischer Schreiner und Maler in ihrer Eltern Haus zur Aussteuer für sie diesen Schrank und das Bett gefertigt hätte. Sie sagte: »Ich entsinne mich des noch sehr genau, es gab Streit zwischen meinen Eltern und dem reisenden Meister. – Sie fanden die Sachen zu katholisch für ein protestantisches Pfarrhaus und wollten die Herzen und die Dornenkronen forthaben. Der wunderliche Mann aber sagte: »Trägt bei euch unser Heiland keine Dornenkrone, und hat man bei euch keine Herzen, die durchstochen sind, und keine, die brennen, so sollt ihr mir leid tun, und ich male euch was anderes hin.«
»Da sagte meine Mutter: ›Laßt sie nur darauf, Herr Meister, Dornenkronen und zerstochene Herzen gibt's wohl allerorten. Es ist gut, das immer vor Augen zu haben.‹«
»Frau Pfarrerin,« meinte Stollberg, »Ihre Frau Mutter war eine echte Protestantin, aber die brennenden Herzen hat sie ganz vergessen.«
»Das mag sein,« meinte die Pfarrerin, »sie war eine hart geplagte Frau, meine gute Mutter, ihr standen die Dornenkränze wohl am nächsten.«
Mächtig strömte der Regen jetzt über die Sommerlandschaft hin, durch die offenen Fenster drang Korn- und Erdgeruch herein.
»Nun müssen die Herren schon noch ein bißchen mit uns fürlieb nehmen,« meinte die Pfarrerin.
Der junge Goethe bat, das Lied noch einmal zu singen, das sie im Vorübergehen gehört hatten.
»Ja, tut das, ihr Kinder,« sagte die Pfarrerin, und ohne daß sie sich zierten oder bitten ließen, öffneten sie das Spinett, Alma spielte, und sie sangen:
»Geh aus, mein Herz, und suche Freud'
In dieser schönen Sommerszeit
An deines Gottes Gaben;
Schau an der schönen Gärten Zier
Und siehe, wie sie dir und mir
Sich ausgeschmücket haben.
Die Bäume stehen voller Laub,
Das Erdreich decket seinen Staub
Mit einem grünen Kleide.
Narcissus und die Tulipan,
Die ziehen sich viel schöner an
Als Salomonis Seide.«
Das fromme, lebensheiße, schöne Lied zog in seiner Schönheit in aller Herzen ein und stimmte sie festlich und feierlich.
Während des Gesanges trat, vom Regen ganz besprengt, Uerle ein, sachte, wie er es zu tun gewohnt war. Er blieb aber auf der Schwelle, unfähig sich zu regen, stehen; eine tiefe Glut stieg in seinem Gesicht auf und setzte sich an den Ohren fest, die wie Mohnblumen zu brennen begannen. Ja, er stand und stand und schaute und wagte nicht vor- und nicht rückwärts zu gehen. Der junge Goethe erbarmte sich seiner Not, stand auf, gab ihm die Hand und wies ihm den Platz neben sich auf der Ofenbank an. Da saß nun der gute Uerle mit einem völlig ratlosen Gesicht.
Als die Mädchen geendet hatten, sagte der junge Goethe zur Pfarrerin: »Haben Sie etwas dagegen, verehrte Frau, wenn wir hier im singenden Hause noch ein wenig bleiben, trotzdem der Regen nachgelassen hat? Es ist eine so schöne Stunde jetzt.«
Die Frau Pfarrerin gab lächelnd ihre Zustimmung und sagte: »Fremdes Brot ist den Kindern Kuchen. Bleiben Sie, wenn es Ihnen gefällt, uns ist es eine Freude.«
Das wurde nun ein wunderschöner Abend. Draußen war die Luft angefrischt, das unverhoffte Begebnis, so vornehm liebenswürdige Menschen bei sich zu sehen, die sich zwanglos natürlich betrugen, stimmte alle lebendig und froh. Unter den Linden deckten die junge Witwe und Alma den Tisch. Uerle saß unter den anderen im Zimmer, hatte das Bübchen, gewissermaßen seiner Verlegenheit zum Schutze, auf den Schoß genommen und gab sich still und bescheiden mit ihm ab. Alma trug eine Schüssel voll Erdbeeren, die sie am Morgen im Garten gepflückt hatte, frische Milch, Brot und Butter zum Abendessen auf, und die Pfarrerin lud ihre Gäste freundlich und mit einer angenehmen Würde ein, mit ihnen zu speisen. Sie ließen sich nicht lange bitten, und bald saßen alle harmlos beieinander unter den brausenden Bäumen, und es war, als wäre man längst schon bekannt miteinander gewesen. Die Mädchen und das junge Frauchen tauten aus einer etwas ehrfürchtigen Stimmung auf und genossen das außerordentliche Ereignis. Alma war still und bediente die Gäste.
»Nun sieh,« sagte die Pfarrerin, »es ist noch nicht gar so lang' her, da sagtest du: Nichts Absonderliches geschieht, ein Tag geht wie der andere – und nun ist doch etwas geschehen. Ist dir's nun so recht?«
Sie antwortete nicht und blickte ihre Mutter still an.
Die beiden Stollbergs waren vergnügt und ausgelassen. »So ein mondstrahlenzartes Frauchen mit seinem Bübchen auf dem Schoß«, sagte der jüngste Stollberg, »ist doch ein wundersüßes Bild – schade, daß wir keine Maler sind. Ich wüßte gar nicht, wo wir hier beginnen sollten. Ich glaube, wir sind in ein Märchen geraten, und das Haus ist wie ein Pilz aus der Erde mit all seinen Bewohnern aufgeschossen.«
Als man sich vom Tisch wieder erhob, bat der junge Goethe Alma: »Nun zeigen Sie mir auch noch Ihren Garten, in dem die guten Beeren gewachsen sind.«
Sie führte ihn durch das Haus, hinter welchem der Garten lag, und die anderen kamen nach. So wandelten sie zwischen den regenfrischen Beeten hin und her, an den Gemüsen und Blumen vorüber.
Das kleine Anwesen der Pfarrerin bekam Wert und Bedeutung. Der Blick vom Garten auf das Ilmtal und das alte Städtchen konnte nicht genug gerühmt werden.
»Man sollte meinen, daß wir einen ganz raren Schatz besäßen,« sagte die Pfarrerin, »wenn die Städter von unten einmal heraufkommen. Der Garten will aber bestellt sein, wenn er etwas tragen soll, und wir Frauenzimmer haben oft unsere liebe Not damit.«
Alma sagte zu ihrem Begleiter: »Das ist der Mutter nicht ernst. Nicht um die Welt würde sie tauschen. Die Arbeit ist auch so gut eingeteilt; für das Gröbste kommt ein Bauer aus Süßenborn, und mit dem übrigen werden wir gut fertig.«
»Die Menschen lieben es, sich ihres Glückes nicht bewußt zu werden, Jungfer Alma, und es ist ihnen nicht zu verdenken.«
»So groß wird Ihnen das Glück hier oben nicht erscheinen,« meinte Alma ruhig.
»Doch, wenn ich diese wundervollen Sommerblumen hier sehe und denke, wie die Linden vor dem Hause blühen und von Bienenschwärmen brausen, so ist das ein Stück Paradies, um das ein König Sie beneiden könnte, denn ich weiß wohl, solche Blumenbüsche und solche Zentifolien wollen in Muße gedeihen, die kann keine plötzliche Laune sich herstellen, die brauchen viele Winter und Sommer und viele Mühe und Sorge.«
»Ja,« sagte Alma, »es sind alte Stöcke. Wenn man hinter diesen Rittersporn tritt, ist man verborgen in den blauen Aehren.«
Sie blickte ihn eine Weile stumm an. »Darf ich Ihnen von den Blumen geben?«
»Gewiß, liebe Jungfer.«
»Aber«, sagte sie, »sie sind alle gar so voll und mächtig; wollen Sie mit solchem Blütenbusch nach Hause gehen?«
»Ja, glauben Sie, ich wäre nicht imstande, Sommerfreude zu tragen?« Er lachte frisch auf.
Sie nahm ein kleines Messer aus der Tasche, klappte es auf und schnitt vom Rittersporn eine Aehre. Die Tropfen standen wie Diamanten darauf. Sie hielt die Blüte vor sich hin und meinte: »Ist das nicht ein königliches Geschenk? Wenn wir die Blume nicht so gewöhnt wären und es die einzige ihrer Art wäre, dann könnte man sie einem großen Dichter ohne Scheu geben.«
»So ist es,« rief er bewegt. »Ein Dichter sieht die Dinge ungewohnt, immer neu, immer zum erstenmal. Das ist die große Wonne und die tiefe Pein.«
Eben kam Ulrikchen vorüber in Begleitung des älteren Stollberg, blieb stehen und sagte auf ihre schnippische, mutwillige Art: »Da ist sie wieder zwischen ihren Blumen! Wissen Sie, Herr Goethe, daß meine Schwester Alma, ehe sie Pfarrers Alma wurde, ein blühender Rosenstrauch gewesen ist? Das glaubt sie nämlich.«
Alma erglühte tief, und des jungen Mannes Blicke umfingen sie wie betroffen. Sie war nicht verlegen über den Scherz ihrer Schwester. Sanft nachdenklich stand sie, als zöge mancherlei an ihrer Seele vorüber. »Das versteht meine Schwester nicht,« sagte sie, »weil sie die Blumen, die Sonne und den warmen Wind nicht so lieb hat wie ich. – Ich liebe das alles!« Sie blickte mit Innigkeit über ihr kleines Reich. »Wer so vom Frühjahr an das Knospen und dann endlich das Blühen sieht und viele, viele stille Stunden dabei verbringt – –«
»O, ich verstehe,« sagte er, »der wird eins mit diesen lieben Dingen – der gehört zu ihnen.«
»Ja,« sagte sie auf ihre lebendige Art, »der gehört zu ihnen.«
Sie schnitt von den Rosen lange, schlanke Zweige mit der süßen, nickenden, schweren Blume am zarten Ende.
»Wir auf dem einsamen Horn kennen Ihre tiefsten Gedanken, Ihr Leiden und Ihr ganzes Herz – – Ist das ein Glück oder etwas Schreckliches, daß jeder Mensch, wer es auch sei, Sie so kennen darf? Uns hier konnten Sie Ihr Geheimnis ruhig geben. Wir halten es heilig.«
Erstaunt schaute er auf sie. – »Da habe ich auf dem einsamen Horn, im kleinen Haus eine Heimat, ohne es zu ahnen. – Und die Menschen im kleinen Haus hüten mein Geheimnis so still und verschwiegen. – Wie ist das wundervoll einzig!«
In ihren Augen standen Tränen. »Ich verstehe es nicht, wie es geschehen konnte, daß Sie hier zu uns kommen!«
»Das mußte so sein,« antwortete er bewegt. »Wie konnte ich denn an meiner stillen Heimat vorübergehen? Welcher Mensch könnte das? Wir leben ja nicht nur in unserem kleinen Bewußtsein. Wir leben über uns selbst hinaus.«
Sie schnitt einen ganzen Arm voll Zentifolienrosen, die keine Rose auf Erden an Schönheit, Zartheit und Farbe erreicht. Und sie tat es mit einer Hingabe einer Versunkenheit, daß er nicht wagte, sie zu stören. In ihrer Haltung, in ihrem Blick stand deutlich, daß sie ein seliges Opfer brachte.
»Wenn es zu viel ist, tragen Sie die Rosen, bis Sie unten an der Ilm vorüberkommen. Da können Sie davon hineinwerfen oder alle – aber nicht früher! Nehmen Sie sie so in den Arm. – Sehen Sie – so, dann macht es nicht müde.«
»Und so am Herzen«, meinte er, »solch einen Busch Zentifolien heimtragen, ist auch ein größeres Glück, als es uns stumpfen Menschen erscheint.« Seine Blicke hielten ihre Gestalt, zärtlich hingenommen, umfangen.
Als die drei unverhofften Gäste gegangen waren, ließen sie die stillen Bewohner des einsamen Hauses am Horn in großer Bewegung zurück.
Uerle sagte: »So ist's, wenn ein Göttlicher bei armen Sterblichen eingekehrt ist! – Aber sein Manuskript hat er doch richtig vergessen.«
»Na, natürlich, wenn ihn die Alma so beladen hat, wie sollte er denn noch etwas schleppen?« meinte Ulrikchen.
Die junge Witwe lobte über alles den jüngsten Stollberg.
Ulrikchen aber sagte ärgerlich: »Macht ihr ein Aufhebens, weil sie ›von‹ sind und weil der eine Gott weiß was ist! Ich sag' ein für allemal: der junge Bauch, den ich neulich in Süßenborn kennen lernte, und wenn er zehnmal Bauch heißt und zehnmal Metzger ist, gefällt mir besser als alle drei miteinander. – Und ich sage: die reichen ihm das Wasser nicht, so verständig und brav wie er ist.«
Die Pfarrerin mußte lächeln. – Sie kannte Ulrikens Vorliebe und hatte sich schon halbwegs damit ausgesöhnt, ihr tüchtiges Töchterchen einmal als Wirtsfrau zu sehen. Der junge Bauch ging mit dem Gedanken um, sich ein Wirtsanwesen zu kaufen, und eine arme Witwe muß froh sein, ihr Kind an ein so nahrhaftes Gewerbe zu verlieren.
Alma war die einzige, die sich ganz still verhielt. Ihre Augen leuchteten aber aus dem zarten Gesicht heraus, daß Uerle den Blick nicht von ihr wenden konnte.
Die Pfarrerin machte schließlich allem Geplauder ein Ende. Sie wollte sich niederlegen und unter den Dornenkronen und den brennenden und durchstochenen Herzen schlafen. Die Läden wurden geschlossen, Uerle verabschiedete sich, die Mädchen suchten ihre Kammern auf, Alma aber ging, als alles in Ruhe lag, hinaus unter die Linden. Es hielt sie im Hause nicht, die sanfte Mondnacht lockte, das Herz war ihr so bewegt. – Sie brauchte wohl die Stille der ganzen nächtlichen Welt, um ihr Gemüt zu beruhigen und zu heilen.
So saß sie lange, die Hände gefaltet, und schaute in die Ferne. Auf den blühenden Feldern schimmerte der Mond. Der Kornblütenduft lag wie ein schwerer, warmer Atem in der Luft. Himmel und Erde schimmerten ineinander. – Ein leichter Schritt tauchte aus dem Unbestimmbaren auf. Sie erschauerte. – Es war so spät – so spät. – Sie duckte sich zusammen, als sollte etwas über sie hereinbrechen. Da sah sie eine Gestalt, die ihr wie mit Feuer in die Seele geprägt war, das kleine Gittertürchen öffnen. – Sie wurde nicht bemerkt, sah ihn stehen und schauen. Er blickte in die weite, monddurchschimmerte Ferne, so wie sie vordem. – Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Sie preßte die Hände darauf.
Welche Stille war hier oben! – In dieser Stille ein junges, menschliches Herz, das aus seiner sanften Sommersehnsucht, aus seinem Zustand des Knospens und zarten Blühens von einer brennenden Flamme ergriffen worden war, die aus dem Leben herausschlug und vom Leben zehrte. Sie fühlte das Flammen ihrer armen Seele mit einer Bangigkeit sondergleichen.
Und als er sie bemerkte und auf sie zukam, war sie wie von tödlichem Schreck hingenommen. Schreck oder Wonne, es war nicht auseinander zu kennen.
»Und ich habe Sie erschreckt,« sagte er bewegt. »Mich hielt es da unten nicht mehr, ich mußte in der hellen Nacht das liebliche Haus und die große Weite darum her sehen. Und an Sie, liebes Geschöpf, wollt' ich denken.«
Sie fand kein Wort zu erwidern, sank an den Stamm der Linde zurück und blickte ihn mit großen Augen an.
Bewegt von ihrer Hilflosigkeit, strich er ihr zart über die Stirne. »Daß so einer so ein stilles, stilles Heimatshaus hat und weiß nichts davon,« sagte er wie für sich hin. – »Ach, mir ist wohl! – Die Rosen stehen vor meinem Bette in einem Krug mit Wasser und duften. – Der Mond schien herein. – Es war heut' alles so schön und sommerlich. Eure jungen Stimmen hier im Haus, das Lied, der Gartenfrieden und die tiefen Lebensaugen!«
Sie erschauderte, erhob sich – preßte in einer Bewegung von Ratlosigkeit die Hand aufs Herz.
»Bedrängt Sie meine Nähe?« fragte er.
»Bedrängen? – Ist es Freude – – oder Pein, ich weiß nicht – ich weiß nicht!« Sie verstummte. »So viele Menschen lieben Sie – Fürsten und schöne Frauen – und alle bewundern Sie – und Sie können denken und sagen, was kein anderer Mensch denken und sagen kann. Das alles legt sich mir wie eine schwere Last auf.«
»Nein! – Sie sollen sich freuen, wie ich mich freue!« rief er, »daß der Regen mich heut in Ihr Haus führte. Alles andere ist gleichgültig.«
»Ja,« flüsterte sie hastig, »ich danke Gott dafür.«
»Nun also, so ist alles gut!« In großer Bewegung gab er ihr die Hand.
»Welch eine Nacht! Schlafe wohl und auf Wiedersehen!«
Sie sah seine schlanke Gestalt wieder durchs niedere Pförtchen gehen, und eilige Schritte verklangen. Und diese Schritte waren wie ein Rhythmus zu seinem ganzen Wesen. Es lag eine große Kraft in diesem Schritteklang, leicht und unbezwinglich, fest und freudig.
Der Regen hatte ihr ein großes Schicksal ins Haus gebracht.
*
Das weltfremde Haus unter den brausenden Bäumen nahm am folgenden Abend seine Gäste wieder auf. Sie kamen spät nach der Nachtessenszeit, um der Pfarrerin keine Ungelegenheit zu machen. Man saß miteinander unter den Linden.
Die Pfarrerin sah besorgt auf ihr Kind, das war wie in Sonne getaucht, da war kein Verbergen möglich. Es blühte und strahlte.
Die Mutter dachte in Herzenseinfalt, was sie wohl tun könnte, und wie zu helfen wäre, und das machte sie gar still und schweigsam. Auch Uerle war es schwer zumute, und er sah seine geliebte Sommerseele von sich hinwegblühen, einer großen, verbrennenden Sonne zu. Der arme Uerle war ganz verwirrt und gedachte eines Ausspruches aus seinem geliebtesten Werke: ›Mußte denn das so sein, daß das, was der Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle ihres Elends würde?‹
Er schaute gar Eigenes an diesem Abend – der eine liebte sommerlich seine, Uerles, Sommerliebe, und der andere war der Frühlingsliebe gar gewogen, und sie ihm. Den jüngsten Stollberg sah er mit der kleinen Witwe unter der Linde sitzen, und ihr Bübchen küßte gar liebreizend bald des schönen Jünglings Lippen und trug lebendige Schauer von einem zum andern.– Frühlingsschauer! O, Uerle kennt seine Frühlingsliebe, die verbrannte sich und andere nicht, diese sanfte Seele! Aber auch sie genoß Seligkeit und trank sie von ihres Bübchens Lippen.
Sie hatten aber einen großen Dichter unter sich – der hieß Uerle. Keiner weiß von ihm, seine Bilder und Eingebungen, die ihm die schönheitsvollen Dinge dieser Welt erweckten, sind mit ihm in den tiefen Todesschlaf schlafen gegangen. Sie waren nur für ihn da, und er war vornehm genug, daß ihn dies nicht bedrückte.
Der stille, lange, schweigsame Mensch, wer dem an diesem Abend ins Herz hätte sehen können!
Es kam auf, daß die Pfarrerin eine gar gute Märchenerzählerin wäre. Die beiden Stollbergs bestürmten sie, zu erzählen, und wollten ein Märchen im Zimmer mit den Froschkönigmöbeln hören, so nannten sie der Pfarrerin seltsame Aussteuerstücke.
Sie war bedrückten Herzens, die Frau Pfarrerin, und es war ihr nicht darum zu tun, zu erzählen, denn sie sann hin und her, wie sie ihrem guten Kinde helfen und es bewahren könnte. Sie fürchtete nicht, daß ihr Kind sich verlieren würde, aber sie fürchtete den Kummer, den großen Liebeskummer, der hier folgen mußte. Schließlich aber mußte sie dem Drängen folgen, nahm Platz in ihrem Lehnstuhl und erzählte vom Machandelboom – und kam an die Stelle: »Da begrub ihr Mann sie unter dem Machandelboom, und er fing an sehr zu weinen eine Zeitlang, dann wurde das was sachter, und als er noch eine Weile geweint hatte, da hörte er auf – und noch eine Zeit, da nahm er sich wieder eine Frau.«
Darauf erzählte sie, wie der Frau das Bübchen der Verstorbenen allerwegen im Wege stand, wie sie die eigene Tochter so sehr liebte, daß der Anblick des Bübchens ihr immer wie ein Schwert durchs Herz ging. Und die Pfarrerin erzählte, wie die Mutter das Bübchen so gar schauerlich tötete und es kochte, und wohl zubereitet als ein fremdes Gericht es dem Vater vorsetzte – und wie der Vater es aß und es ihm so gar wohlschmeckte.
»Er aß und wurde sterbenstraurig davon, gönnte niemand einen Bissen.«
In solchen Worten lag eine Zärtlichkeit, Inbrunst und Todestraurigkeit, als wäre alle Traurigkeit und Zärtlichkeit der Welt in sie zusammengedrückt. – »Und das Schwesterlein Marleneken sammelt die Knöchlein, die der Vater unter den Tisch warf, in ein seidenes Tüchlein und trägt sie unter den Machandelboom und begräbt sie dort – und der Machandelboom bewegt sich und tut die Zweige so recht auseinander und wieder zu Hauf, und ein Nebel steigt vom Baum auf, der wie Feuer brennt, und aus dem Nebel fliegt ein schöner Vogel heraus, der singt so herrlich und fliegt hoch in die Luft, und das Tuch mit den Knochen ist weg. Marleneken aber ist es so recht leicht und vergnügt, als wenn der Bruder noch lebe.
Der Vogel aber fliegt weg und setzt sich dem Goldschmied aufs Haus und fängt an zu singen:
Meine Mutter, die mich schlacht,
Mein Vater, der mich aß,
Mein Schwester, das Marlenichen.
Sucht alle meine Benichen,
Bind't sie in ein seiden Tuch,
Legt's unter den Machandelboom,
Kywitt – kywitt, wat for'n schön
Vogel bün ick.«
Das alte wundervolle Märchen, in dem alle Traurigkeit, Sünde, Zärtlichkeit, Wonne, Angst und Grauen der Welt liegen, schritt vorwärts.
Der Vogel fordert seine Geschenke zum Lohn für seinen herrlichen Gesang, die goldene Kette, die Schuhe und den Mühlstein.
Und welche Steigerung, welches Grauen! Jedes Wort haftet, nichts vergißt sich. Der Vogel ist der geliebte, heißersehnte Sohn der verstorbenen, vergessenen Frau, die im Grab noch liebt. Er ist der Gemordete, vom Vater Verzehrte, von Marleneken Geliebte. Alles ist in den einfachen Worten gegenwärtig. Und wie der Vater, Stiefmutter und Marleneken beim Mittagsmahle sitzen und der Vogel draußen auf dem Machandelboome zu singen beginnt und Marleneken in ihr Tüchlein weint und dem Vater so licht und froh wird, als sollte er einen alten Bekannten wiedersehen, und er sagt: »Die Sonne scheint so warm, und es riecht nach lauter Zimmet und Zinnemamen.«
Das ist eine Freude! Die hat das Volk sich gewürzt und mit Düften gedacht, und von der Sonne warm beschienen und nach Zinnemamen duftend.
Daneben das Grauen der Mutter: die Ohren, die Augen hält sie sich zu, als sie draußen den Vogel hört. Aber es braust ihr in den Ohren wie der allerstärkste Strom, und die Augen brennen ihr und zucken wie Blitze, und die Mütze fällt ihr vom Kopf, und die Haare stehen ihr zu Berg als Feuerflammen, und ihr ist, als bebte das Haus, als sollte die Welt untergehen. Sie will auch hinunter, ob ihr leichter werden soll.
Die Pfarrerin erzählte das alte Märchen, wie es eben erzählt werden muß, wie von Vorzeiten her eine Mutter oder Ahne es ihren Kindern oder Enkeln erzählte an langen Winterabenden, wie es von Mund zu Mund gegangen ist, so wundervoll tief und stark.
Alle waren von dem Eindruck benommen, die beiden Stollbergs ganz hingerissen. Die Töchter schauten mit einer gewissen Ehrfurcht auf ihre Mutter und fühlten durch den Erfolg, den sie hatte, so recht deutlich, was sie ihnen war.
Die Stollbergs meinten, sie begriffen nicht, daß noch kein großer Tonkünstler diese wundervollen Kräfte und Mächte in Musik gesetzt hätte. Diese Freude, die nach Zimmet und Zinnemamen duftet, und von der hellen, warmen Sonne beschienen ist – und dazu die einsame Sündenqual der Mutter.
»Es ist ein Großes um diese alten Geschichten,« sagte der junge Goethe, »ihr geheimnisvolles Entstehen macht sie unendlich reizvoll, und das von Mund zu Mund ist ein lebendiger Gruß von längst vergessenen Menschen.«
»Nie hat die Mutter auch nur ein Wort verändern dürfen an ihren Geschichten, und sie hat's mit ihrer Mutter genau so gemacht wie wir.«
»So ist durch das eigensinnige Festhalten der Kinder«, meinte der verehrte Gast, »der alte kostbare Schatz auf uns gekommen und wird über uns hinweg von Mund zu Mund, von Generation zu Generation weiter wandern.«
Alma sagte: »Das sind die Werke der Frauen, damit sie doch auch etwas getan haben und nicht ganz leer ausgehen.«
»Als wenn sie leer ausgingen!« rief er. »Sie sind da! – und alles ist voller Innigkeit und Poesie und sanfter Kraft. Wenn man um sich schaut, alles, was heimisch und lieb und vertraut ist, was das Leben wert macht, ist durch sie. – Wir sind an all das so gewöhnt, daß wir es kaum bewußt gewahr werden. – Wenn es fehlte, welche Oede, welche Kargheit! – In jeder Stadt müßte ein Denkmal »der Mutter« stehen, und kein Jahr dürfte vergehen, das nicht den Tag brächte, an dem das Bild festlich bekränzt würde, an dem nicht ein heiteres, inniges Fest vor diesem Bild gefeiert würde, ein Dank- und Freudenfest, an dem jeder seiner eigenen Mutter gedächte. – Solch ein Fest wäre notwendiger gewesen als das Fronleichnamsfest der frommen Nonne Roswitha.«
Die Pfarrerin schaute auf und sagte: »Das ist ein gar wunderlicher Gedanke, und wenn dem so wäre, wie Sie sagen, würde gar manche arme Mutter, die es sich ungelohnt und unerkannt, Tag und Nacht bitterlich sauer werden ließ, getröstet und aufgerichtet werden.«
»Ja,« sagte der lebhafte Gast der Pfarrerin in großer Wärme und Liebenswürdigkeit, »es ist eine rohe, barbarische Welt, in der ein jeder sich von seiner Mutter hat opferfreudig lieben, behüten, mit Güte überschütten lassen, und es ist nie zu einer großen Dankesäußerung der Menschheit gekommen.
Es ist doch gewiß, daß in der Welt dem Menschen nichts notwendiger ist als die Liebe.
Herr Gott, wenn ich an meine eigene Mutter denke! Was mir blühte, blühte durch sie. – Sie feiern alles Erdenkliche, aber das Beste! Einzige! das lassen sie unbedankt – und diese Danklosigkeit, dies Totgeschwiegenwerden liegt auf den Frauen. Die Katholiken haben ihre Feier und ihren Dank der Gottesmutter gebracht. – Ach, hätten sie's ein wenig deutlicher gemacht! Und wir altklugen Protestanten haben auch dies schöne Symbol als unverständig beiseite getan.«
Die Pfarrerin sagte: »Sie sind ein guter Mensch. Ich meine, etwas Besseres kann ich Ihnen nicht sagen, auch wenn Sie anderes zu hören gewöhnt sind. Ich wollte wünschen, es käme die Zeit, in der man Ihr schönes Fest feiern würde.« Der Pfarrerin wurde es leichter und weniger bang ums Herz. Am liebsten aber wäre sie zu ihm hingetreten und hätte gesagt: So lieb und wert Sie uns sind, ich bitte, vergessen Sie unser Häuschen und mein armes Kind, eilen Sie, gehen Sie! – Sehen Sie nicht, wie des Kindes Augen an Ihnen hängen, als wären Sie allein auf Erden?
Ja, wenn nur des Mädchens Augen an ihm gehangen hätten: aber auch er umfaßte sie mit seinen Blicken, hielt sie fest, sog sie mit seinen Augen an sich. – Sie schienen beide in der Kraft ihrer Blicke zu leben.
Alle gingen sie jetzt wieder in dem langen Gartengrundstück auf und nieder. Niemand dachte an ein Aufbrechen.
Der Abend war so schön, die schlafende Sommerherrlichkeit lag wie ein unfaßbares und doch vertrautes Wunder um sie her. Geheimnisvoll dufteten die Blumen, geheimnisvoll schien der Mond, und die vollaubigen Bäume rauschten hin und wieder einen schwermütigen Akkord dazu.
Uerle hielt sich zu der Pfarrerin. Er ging neben ihr her wie ein guter Sohn, der seiner Mutter Kummer tragen hilft.
»Guter, lieber Uerle, was sollen wir machen?« fragte die Pfarrerin nach langem Schweigen. »Da gehen sie miteinander ganz weltvergessen, was mögen sie wohl reden?«
Uerle schwieg.
»Lieber Uerle,« sagte die Pfarrerin wieder, »so gar manches Mal schien es mir, als stände meine Alma Ihnen nahe, als wäre sie Ihnen teuer. – Helfen Sie doch!«
»Helfen?« – sagte Uerle wie gedankenlos. »Frau Pfarrerin, das ist nun jetzt ein Schicksal. Ich glaube, da können wir alle nichts machen; was wir auch täten, würde grob und töricht sein. Die sind beide Sommermenschen.«
»Ach, Uerle – was soll das heißen?« Die Pfarrerin schüttelte traurig den Kopf.
»Haben Sie darauf gemerkt,« sagte Uerle wieder bedächtig, »wie in des jungen Werthers Leiden zu allem, was geschieht, die Bäume rauschen, wie der Sommer in alles hineinprangt? Man atmet Sommer. Man sieht eine Gegend mit großen Laubmassen und Laubduft und alles in Sonne getaucht. Es ist solch eine Sommerseligkeit und solch Sommerleid in allem, was geschieht, so aus der tiefsten Seele heraus. Er ist ein Sommerkind. Sehen Sie doch die Menschen an, wie wenig Sonne haben alle in den Augen, kühle Frühlingsaugen, trübe Winteraugen; aber die beiden haben Sommersonnenaugen, da können wir andern alle nicht mitmachen.«
»Sie wird sich und mir kein Leid tun,« meinte die Pfarrerin.
»Sie ist vom größten Dichter der Welt geliebt,« sagte Uerle.
»Was Dichter!« sagte die Pfarrerin, »er soll ein guter Mensch sein!«
»Liebe Frau, dem einen brennt sein Haus nieder, dem andern stirbt sein Vieh. Sein Geld verliert einer, seine Ruh' der andere – jeder hat zu leiden und bringt Leiden. Quälen Sie sich nicht. Da liegt das Geheimnis der Welt.«
*
Als es gar spät war und es an ein Abschiednehmen ging, da küßte sich das wundervolle junge Paar vor den Augen der Mutter und den Augen der Schwestern und Freunde im traulichen Zimmer beim Scheine der kleinen Oellampe.
»Du teures, einziges Geschöpf!« sagte der junge Mann hingerissen.
»Daß der Regen dich brachte!« sagte sie still, »mir dich brachte!«
Sie stand leuchtend vor Wonne, und alle, die es wußten, dachten an den blühenden Rosenstrauch, der mit tausend Rosen blühte, und der Duft der Rosen waren die glückseligen Gedanken.
Der junge Mann stürzte auf die Pfarrerin zu, küßte ihr die Hand. »Liebe, liebe Frau,« sagte er, »Gott behüte uns alle!« Dann ergriff er beide Hände des schönen Mädchens noch einmal.
»Kommt!« sagte er zu seinen Begleitern, »kommt!« Dann ging er, ohne fast irgend jemand anzublicken.
»Alma – Kind!« rief die Pfarrerin, als die Türe hinter den Gästen geschlossen war.
Alma achtete nicht auf sie. Wie angstvoll lauschte sie auf die verhallenden Schritte.
»Mein Kind –,« sagte die Pfarrerin noch einmal.
Da sank das Mädchen vor ihr in die Knie. »Ich danke dir,« schluchzte sie auf, »daß ich lebe! Ich danke dir! – Ich danke dir!« Und sie küßte die Hände der Mutter. Ihr Haar war aufgegangen, und sie wischte die eigenen Tränen damit von den Händen der Pfarrerin.
»Will er Dich denn heiraten?« frug Ulrikchen kühl.
Uerle aber trat vor Ulrikchen hin und sagte: »Lassen Sie sie doch, Judas Ischarioth!«
»Nun ist er ganz verrückt!« meinte Ulrikchen. »Die andern glauben doch, Sie sähen meine Schwester nicht ungern. Wie leiden Sie denn das?«
»Wahrlich,« sagte Uerle, »ich habe sie geliebt und liebe sie – ja – ja – ja! ich liebe sie!« Seine Steifheit brach im übermächtigen Gefühl zusammen – und er war frei! frei! – Zum erstenmal im Leben Herr seiner Stimme, seiner Glieder, zum erstenmal schmolzen ihm die Gedanken wie im Feuer. »Ja, ich liebte sie! ich liebte sie! – aber was will das sagen gegen ihre Liebe!«
»Ach, Uerle, unser guter Freund,« sagte die Pfarrerin seufzend und hielt ihr Kind, das vor ihr am Lehnsessel kniete und den Kopf ihr an der Brust barg, mit einem Arm umschlungen. »Ach, Uerle, ich wollte, Sie wären bei all Ihrem Edelmute nicht gar so bescheiden. Bei Ihnen wäre sie behütet.«
»Ich bin ein gar elender Mensch,« sagte Uerle ruhig, »ich finde mich mit allen Dingen gut und bürgerlich ab. Wenn meine Mutter mich strafte, fand ich in jeder Strafe einen süßen Kern; sogar, wenn sie mich prügelte, freute ich mich auf die wunderliebe Versöhnung danach, denn die Prügel kamen ihr selbst hart an, und sie griff mit Freuden nach dem ersten Zeichen meiner Reue.«
»Ach, Uerle,« meinte Ulrikchen, »Sie spielen mit den Gedanken, als ob Sie uns Geschichten erzählen wollten; das ist immer wie aus dem Buch, wenn man Ihnen zuhört.«
»Ja, das ist's ja eben,« sagte Uerle traurig. »Und nun schlafen Sie alle wohl, und Gott behüte Sie miteinander.«
»Schlafen Sie wohl, Uerle,« die Pfarrerin gab ihm die Hand. Alma erhob sich, und als sie ihm die Hand reichte, sah er in ein Gesicht, in dem die Erdenwonne wie ein Wunder strahlte, so rein und groß und festlich.
»O, Erde, wie bist du schön!« sagte Uerle und sah das Mädchen an. »Berge von Freude! – und Täler voll Leid! Und Sie, Alma, stehen jetzt auf einem hohen Berg der Freude und sehen die Erde unter sich.«
Sie aber neigte sich, faßte seine Hand, küßte sie und sagte: »Uerle, ich danke Ihnen für alle Güte, für alle schönen Stunden. – Ich verstehe Sie ganz, Uerle.«
Dunkelrot ward Uerles Gesicht – Tränen traten in seine Augen, er wendete sich ab und ging zur Tür hinaus.
*
Die Pfarrerin setzte sich ans Spinett und spielte ein Schlummerlied, das sie früher mit ihren Kindern vorm Einschlafen gesungen hatte – und alle Töchter fielen in die alten, trauten Worte ein.
Was die Pfarrerin dazu getrieben, das alte Kinderlied zu spielen, war ihrem ratlos bangen Herzen wohl kaum klar geworden.
Als sie eine Weile schon geendet hatte, hörten sie Uerles rhythmisches Klopfen am Fensterladen, was so viel bedeutete als: Es ist nur der Uerle, macht getrost auf. Und das taten sie, sie öffneten den Laden, da stand Uerle und schaute herein. Die Pfarrerin hatte schon ihre Haube abgesetzt und stülpte sie jetzt eilig wieder auf, und Ulrikchen nestelte ihr Kleid wieder zu und lugte durch die Türe, die in ihr und der jungen Witwe Schlafzimmer führte, begierig heraus.
»Mir ist da etwas eingefallen, liebe Frau Pfarrerin, was ich sagen muß – heut abend noch – verzeihen Sie.« Er war tief erregt, seine Stimme bebte: »Die Gesetze der Menschen sind nicht Gottes Gesetze. Böse ist oft gut, und gut ist böse.« Er sprach sehr hastig und laut. Es war, als wenn sein Gefühl ihm mit der Stimme durchginge. »Gott aber ist überall und sieht, wie die Menschen sich ihre Gesetze machen, oft gegen seinen Willen, und er sieht zu und lächelt über ihr Tun.
– Und dann – – – dann wollt' ich noch sagen, wenn Menschen auch nur einen wahrhaft guten, ganz ergebenen treuen Freund haben, sind sie nicht verlassen, und wären sie von der ganzen Welt verlassen. – Frau Pfarrerin, ich möchte Ihnen das alles sagen, wie im Namen Gottes! – Quälen Sie sich gar nicht. – Legen Sie sich alle ruhig schlafen. – Die Menschen machen einander die größte Qual auf Erden. Wenn ihr denkt, ihr wollt nur helfen – heilen und gut miteinander sein, so ist alles übrige gar gleichgültig. Verzeihen Sie, Frau Pfarrerin. Gute Nacht.« Damit war er auf und davon.
Ulrikchen sagte: »Ich weiß nicht – mit dem sollte einmal der junge Metzger Bauch reden!«
»Laß das, Ulrikchen,« sagte die Pfarrerin, »davon verstehst du nichts. – Was der Uerle auch sagt, herzlich gut ist's gemeint, und das ist die Hauptsache.«
*
Nachts träumte die Pfarrerin, ein weicher, lautlos fliegender Vogel flöge an ihr vorüber und streifte sie mit den Flügeln – und streifte sie immer wieder und wieder. Sie dachte im Traum: das ist nur eine Schleiereule, und war begierig, sie zu sehen. Der Vogel war aber so schnell im Flug, daß sie nie einen Eindruck von ihm haben konnte – dann war es ihr, als sagte die Schleiereule »Mutter« zu ihr – »Mutter!« – ganz leise, wie aus der Ferne, und sie erwachte und sah ihre Tochter Alma angekleidet vor sich stehen. Die sagte wie geistesabwesend in einer wie von Weh durchtränkten Betonung: »Mutter – Mutter?«
»Ja, was machst du denn da, Kind?« fragte die Pfarrerin schlaftrunken.
Alma antwortete nicht gleich. Sie hatte das kleine, offen brennende Oellämpchen in der Hand, »Mutter,« sagte sie, »es wird jetzt schon hell.«
»Ach, es ist noch tiefe Nacht. – Du hast ja Licht gemacht.«
»Nein,« sagte Alma, »es brennt noch vom Abend her.«
Jetzt war die Pfarrerin ganz munter und setzte sich im Bette auf. »Hast du noch gar nicht geschlafen?«
Das Mädchen stand gerade aufgerichtet mit dem Lämpchen in der Hand. – »Mutter,« sagte sie, »ist es denn möglich, einen Menschen so zu lieben, daß man ohne ihn gar nichts mehr ist?«
»Kind,« antwortete die Pfarrerin ernst, »ich habe euren Vater sehr lieb gehabt und bin nun doch eure gute Mutter geblieben.« – Alma schien nicht auf sie zu achten.
»Es heißt,« sagte die Pfarrerin, »du sollst nicht andere Götter haben neben mir. – Wir sollen Gott über alles lieben.«
»Gott – Gott – ach – ja Gott!« sagte das Mädchen langsam vor sich hin.
»Alma, du träumst ja, du bist ja gar nicht recht wach, – Kind, was ist dir denn?«
»So bang',« sagte sie. – »Ach, Mutter, steh' doch auf und geh' mit mir hinaus vors Haus, ins Feld, da wird mir's besser werden.«
»Alma, wie kommst du mir denn vor? – Jetzt bei Nacht!«
»Es wird schon hell – komm' mit!« bat das Mädchen dringlich.
»Nun, weshalb denn nicht?«
Die Pfarrerin erhob sich. Während sie ihre Strümpfe anzog, schaute sie besorgt auf die Tochter, die immer noch mit dem Lämpchen stand. »Setz' doch die Lampe nieder, Alma, und mach' die Läden auf!«
Alma tat es, wie in Gedanken verloren, und die erste Morgendämmerung drang ins Zimmer.
Die Pfarrerin spülte sich das Gesicht ab, um völlig wach zu werden. »So, nun können wir gehen!« meinte sie.
Alma nahm der Mutter Hand, als sie aus dem Pförtchen getreten waren.
»Merkst du,« sagte die Pfarrerin, »jetzt ist's in den Linden still, jetzt schlafen die Bienen.«
Kein Lüftchen regte sich noch. Das matte Licht war gleichmäßig weißgrau. Die Aehrenfelder lagen wie schlafend. Es war die große, tiefe Stille der ersten Morgendämmerung. Kein Bewußtsein wachte rings umher. Das gibt dieser stillen, stillen Stunde das Urweltliche – das Herzbeklemmende. – Das Wort erstirbt im Munde.
So gingen Mutter und Tochter auch schweigend im großen Schweigen.
Die erste Lerche schmetterte aus grauem Licht ihr Lied. Wie gewaltig das klang, als erfüllte ihr Gesang den ganzen Himmelsraum.
»Mutter,« – sagte das Mädchen, »vor kurzem noch kannte ich ihn nicht. Kannst du dir das vorstellen?«
»Ach, Kind, red' doch nicht so!«
»Sag' mir, muß solch eine Liebe auch wieder vergehen? Ist das möglich?«
»Gewiß, Kind – sie muß zu Ende gehen, denk' doch selbst!«
Die Pfarrerin spürte, wie die brennende Hand ihres Mädchens in der ihren aufzuckte.
Mein Gott, dachte die Frau, wie sie leidet! Sie ist zu klug, um nicht alles zu sehen.
»Sag' mir,« bat Alma, »wie war mein allererster Tag auf Erden? – Schien die Sonne?«
»Ja,« sagte die Pfarrerin, »du warst ja mein einziges Sommerkind, kaum warst du geboren und in die Wiege gelegt, da wurde die Wiege ans offene Fenster gestellt. Es war mittags zwölf Uhr und zur Rosenzeit; aber das weißt du ja. Die Kletterrosen nickten zum Fenster herein.
Draußen war es wundervoll sonnig. Die Bauern waren alle zur Heuernte hinaus. Das Dorf war ganz still, und ich lag in meinem Bett und war voller Dank und Freude über dich.
Der Vater hatte sich zu seinen drei Mädchen gar sehr einen Buben gewünscht. Als er dich aber so friedlich in deinen Kissen liegen sah, war auch er voller Freude über sein viertes Töchterchen und legte dir eine frische Rose auf deine Wiege.«
»Und man wird geboren, um zu sterben. – Mir ist so angst –,« sagte Alma leise; »ich bin nicht mehr mein eigen – wohin er geht, zieht er mich nach. – Ich möchte wieder mir selbst gehören, es war doch alles so schön und ruhig.«
»Ja, mein Kind, das muß alles wieder so werden, wie es war.«
»Wo er auch hingeht, kann er mich nicht gebrauchen. Ich seh' ihn da und dort. Ach, Mutter, so werd' ich ihm bald lästig werden!«
Sie setzte sich auf einen Grasrain am Wege wie erschöpft nieder und lehnte den Kopf an ihrer Mutter Schulter.
»Als du den Vater liebtest, war es da auch, als hättest du im Herzen eine Wunde und dein Leben flösse da heraus; auch wenn du die Hände darauf preßtest – es nützte nichts?«
Das Mädchen preßte die Hände aufs Herz, als wenn sie eine Wunde schließen wollte.
»Nein,« sagte die Mutter, »Alma, mir war, als strömte das Leben mir von allen Seiten zu, als würde ich täglich besser und glücklicher.«
»Ich liebe ihn zu sehr – zu sehr!« schluchzte das Mädchen auf und sank ihrer Mutter an die Brust.
»Deine Stirn glüht so und deine Hände,« sagte die Pfarrerin.
»Mein Kopf schmerzt so sehr.«
Der Pfarrerin ward es ganz angst, wie sie in der lebenverlassenen, ersten Morgenfrühe in der großen Stille mit ihrem armen Mädchen mitten zwischen den Kornfeldern saß.
Ihr Kind hielt sich jetzt so still bei ihr, als wäre es hingelehnt bei ihr eingeschlafen.
»Alma,« sagte die Pfarrerin leise, aber sie bekam keine Antwort. Sie faßte die Hand, die matt herabhing; die brannte wie Feuer, das Gesicht glühte, und das Herz schlug so schnell und heftig, daß sie es spürte.
Krank ist sie, dachte die Pfarrerin bang. Krank war sie, als sie mich weckte. Unbegreiflich war es der Pfarrerin erschienen, daß ihr gutes, rücksichtsvolles Kind sie geweckt hatte – und jetzt verstand sie es schreckvoll.
»Alma, hör' doch –«
»Laß mich, laß mich, Mutterchen!« kam leise, wie schlaftrunken die Antwort. »Ich will noch ein bißchen im Bett bleiben.«
Sie lag ganz regungslos, die Pfarrerin, über sie gebeugt, spürte ihren heißen Atem.
Windwellen fuhren über die Felder hin. Es wogte ringsumher. Die Wolken strahlten rosig, die Sonne ging auf. Von all der Herrlichkeit sah die Pfarrerin nichts. –
»Komm', Alma, komm', Kind!«
Keine Antwort. Sie war ganz in sich versunken, lag mit halbgeschlossenen Augen und atmete sehr schnell. Zeit auf Zeit verstrich. Das Mädchen lag teilnahmlos mit dem Kopf auf der Mutter Schoß.
Endlich wußte die Pfarrerin sich nicht mehr zu helfen und versuchte, sich und Alma aufzurichten.
»Ja, ja. Mutterchen, ja – ja,« sagte das Mädchen dabei in einem rührend zustimmenden Ton.
Sie waren nicht gar weit vom Hause. Die Pfarrerin hob ihr armes Mädchen mühselig in die Höhe, stützte sie, so daß sie sie fast trug, und schleppte sich mit ihr dem Hause zu.
Dort legte die Pfarrerin sie in das Bett mit den Dornenkronen und den brennenden, durchstochenen Herzen nieder und setzte sich an den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen.
Die junge Witwe kam, um der Mutter wie jeden Morgen die Fensterläden zu öffnen.
»Alma ist krank, ruft Uerle, daß er uns den Doktor schickt, wenn er zur Stadt geht!«
Alma lag ganz teilnahmlos mit ihren Kleidern auf der Mutter Bett.
»Bist du schon die ganze Nacht auf, Mutterchen? Ja, was ist denn? Was ist denn?« Die junge Witwe trat ans Bett ihrer Schwester und fühlte die starke Hitze, die von ihr ausging.
»Fieber!« meinte sie ganz ratlos.
»Hilf mir sie auskleiden,« sagte die Pfarrerin.
Als die Kleider, in denen sie gestern so schön und glückselig war, nun ihr abgestreift waren, schlugen ihr die Zähne vor Frost aufeinander. Die Frauen hüllten sie warm ein, aber der böse Frost ließ nicht von ihr ab, warf ihren Körper hin und her. Man sah, wie die Schauer ihr über die brennende Haut fuhren. –
»Ach, was macht ihr denn mit mir? – Was macht ihr denn mit mir?«
Die beiden anderen Schwestern kamen; eine lief zu Uerle, der war auch gar bald zur Stelle.
»Sie ist nicht bei sich, Uerle,« sagte die Pfarrerin in großer Bangigkeit, als er eintrat.
Da war es aber, als wenn sie Uerles Nähe spürte. »Uerle,« sagte sie leise, von Frost geschüttelt. »Er soll nicht zu mir heraufkommen. – Er soll mich nicht so krank sehen. – – Wenn ich es nicht weiß, könnte er hereinkommen. – Niemand darf ihn hereinlassen!« sagte sie angstvoll. – »Versprechen, Uerle, versprechen! – Ich kann nicht wach bleiben.«
»Gewiß nicht, Alma, bis Sie gesund sind!«
Sie nickte. Die Augenlider lagen schwer über den Augen.
*
Schwere Tage zogen über das kleine Haus hin. Die beiden jungen Stollbergs gingen ein und aus, als wären sie die Brüder der Pfarrerskinder. »Wir müssen ihm Nachricht bringen. Er verzehrt sich dort unten vor Sorge.«
»Und kommt nicht ein einziges Mal,« meinte die Pfarrerin.
»Er kann nicht,« sagte der jüngere Stollberg. »Rechnen Sie ihm das nicht an. Und Alma will es nicht. – Beide sind sich gar wunderlich gleich. – Rühren wir nicht daran!«
»Ja,« sagte die Pfarrerin; »Gott möge ihm helfen, daß er so lieben und leben kann, wie er lieben und leben muß. Wir anderen werden nicht gefragt, was wir wollen und können.«
»Seien Sie nicht bitter, liebste Frau. Er ist wie aus einer anderen Welt, er steht unter anderen Gesetzen, und Alma, Ihr Kind, auch. Wir werden lebensstark durch unsere Liebe, und Ihr Kind liegt davon niedergeschmettert.«
»Ich rühre ja an nichts,« sagte die Pfarrerin trübe. – »Wir lebten so still und glücklich, und nun spüren wir mit einem Male die Hand Gottes, die uns einen schweren, nie gesehenen Weg auftut.«
*
Ja, die Pfarrerin ging einen schweren Weg. Ihr Kind blieb nicht in der tiefen, lautlosen Fieberdumpfheit liegen wie in den ersten Tagen. Die lebensselige Sommernatur glühte in der Fieberglut der schweren Krankheit zu einem leidenschaftlichen Leben auf. Ohne Bewußtsein sang sie mit unendlich klarer, reiner Stimme Strophen aus dem alten heiligen Sommerlied:
Die Bäume stehen voller Laub,
Das Erdreich decket seinen Staub
Mit einem grünen Kleide.
Narcissus und die Tulipan,
Die ziehen sich viel schöner an
Als Salomonis Seide.
Und sie sang dieselben Worte wieder und wieder. Oft auch fand sie keine Worte, nur jubelnde Töne, hell, bebend vor Seligkeit, daß sich allen, die es hörten, das Herz vor Weh zusammenzog.
Die Stimme war so überströmend von Erdenwonne, daß sie erschauern machte.
Die Fenster mußten immer geöffnet sein, denn sie ertrug den geschlossenen Raum keinen Augenblick, und so drang die unaufhaltsame, kristallklare, schöne, selige Stimme hinaus über die Felder bei Tag und bei Nacht.
»Anbetungswürdig ist diese Seele,« sagte Uerle zur Pfarrerin, »daß sie solch große Seligkeit in sich trägt. – So singt eine Lerche im Himmelsraum, wie unsere heilige Sommerseele. Hören Sie doch ihren Gesang, sündlos und rein – und daß ein Geschöpf solche Wonne im Herzen trägt!«
»Ja,« sagte die Pfarrerin trostlos, »dazu muß es von Sinnen sein.«
»Wer sagt Ihnen das?« fragte Uerle. »Sie sieht uns nur nicht. – Sie weiß von nichts um sich her. Sie sieht nur in sich selbst hinein, und in ihr ist es so weiß und hell und wonnevoll, wie ihre Stimme ist. – In ihr ist eine große Herrlichkeit. – Geboren – gelebt, wie ein seliges Kind aufgefahren gen Himmel – sitzend zur rechten Hand Gottes!« Uerles Stimme bebte von verhaltenen Tränen. Er verbarg hastig sein Gesicht am Fensterkreuz, vor dem sie standen.
»Uerle, was reden Sie?« sagte die Pfarrerin erschrocken. – Uerle aber wollte die Pfarrerin mit solch wunderlich wehen Worten trösten. Kein Arzt brauchte ihm zu sagen, daß seine Sommerseele im Entschweben war.
*
Nachdem das Fieber alle Kräfte verbrannt hatte, sank die Lebenswärme zu einer schauerlichen Kühle.
Die Schwestern sagten: »Das Fieber ist vorüber.« Uerle aber und die Pfarrerin wußten es anders.
*
Ganz leise flüsterte das Mädchen, zu Uerle gewendet, der an ihrem Bette saß, und so, als läge zwischen ihrem letzten und wieder ersten bewußten Wort keine lange, bange Zeit: »Wo ist er?«
»Er ist voll Bangigkeit um Sie, Alma.«
»Was mich hinderte, ihn zu lieben, ist nun fortgeglüht. – Nun liebe ich ihn bis in alle Ewigkeit. Sag' ihm, nun werd' ich ihm nah' sein.«
Uerle hatte ihre letzten Worte gehört – ihr letztes Bewußtsein empfunden. Von nun an sank sie in eine kühle, bleierne Ruhe, die dem Tode voranging.
*
Im Hause regte sich stundenlang kein Laut. Die beiden Stollbergs standen draußen an einem der niederen Fenster, durch die der warme Sommerwind ins Zimmer drang, und schauten auf das stille Verlöschen und den schweigenden Schmerz derer, die zurückblieben.
Die Pfarrerin hielt die erkaltende Hand ihres Kindes in der ihren, mit der Ruhe, welche das Leben jenen Schmerzgeprüften gibt, die den größten Teil des Weges schon gegangen sind. Die sind so schmerzbekannt, so schmerzverwandt, daß sie sich mit einer Würde betragen, die den Jungen, Ungeprüften wie ein Wunder erscheint.
Die drei Töchter hingen mit ihren Blicken an ihrer Mutter, als käme von ihr in dieser fremden, bangen Stunde Rat und Hilfe.
Als die Pfarrerin sich über ihr Kind beugte und ihm die Hände ineinander faltete, da wußten sie alle, daß es geschehen war. Die Pfarrerin blieb stumm über ihr Kind gebeugt, – Uerle stand am Fußende des Bettes, und die drei Schwestern knieten, wo sie gestanden hatten, die eine verbarg ihr Gesicht in den Händen, die beiden anderen suchten Schutz in enger Umschlingung.
Lautlos kamen die beiden Stollbergs herein, und der jüngere sagte hingerissen: »Sie hat sich ihm selbst entrückt durch ihre große Liebe und ihr tiefes Verstehen. Das wurde ihr tödlich, daß sie alles erkannte. – Ihn wollte sie nicht binden und euch nicht kränken.
Wir gehen zu ihm!«
*
Die schöne Hülle der Sommerseele lag schlafend im weißen Sarg, unter Blumen, einen weißen Rosenkranz auf dem bleichen Haupt.
Mutter und Schwestern, Uerle und die Stollbergs hegten und schmückten das stille Geschöpf.
Nachts vor dem Begräbnis wurde sie im offenen Sarg von Uerle und einem braven Menschen, den er kannte, sowie den beiden Stollbergs nach Süßenborn getragen. Die zwei Söhne des Lehrers von dort trugen Fackeln und wechselten mit den Trägern.
Das alles hatte Uerle so gewollt.
Ulrikchen blieb bei der Mutter und beim Bübchen. Die beiden anderen Schwestern folgten dem Sarge.
Es war eine schöne, milde Sommernacht.
Die Pfarrerin sah, wie sie ihr gutes Kind den schmalen Weg durch die wogenden Felder trugen. Der Himmel war sternfunkelnd. Die sanfte Nachtluft strich über das geliebte, tote Gesicht.
Und aus der Ferne hörte die Mutter zwei verschleierte Mädchenstimmen eine Strophe aus ihres Kindes Lieblingslied singen:
Der Weizen wächset mit Gewalt,
Darüber jauchzet jung und alt
Und rühmt die große Güte
Des, der so überflüssig labt
Und mit so manchem Gut begabt
Das menschliche Gemüte.
Welch hohe Lust, welch heller Schein
Wird wohl in Christi Garten sein,
Wie muß es da wohl klingen?
Da so viel tausend Seraphim
Mit unverdross'nem Mund und Stimm'
Ihr Hallelujah singen.
Das mochte der Pfarrerin ein gar schmerzvolles Lied sein.
*
Das stille Mädchen lag ihre letzte Nacht auf Erden an dem Süßenborner Kirchlein zwischen sechs brennenden Kerzen.
Ihre alte Kinderfrau, die noch im Süßenborner Pfarrhaus bei den neuen Pfarrersleuten ihres Amtes waltete, hatte es sich nicht nehmen lassen, bei ihrem guten Kinde zu wachen.
Uerle und die beiden Mädchen gingen langsam und schweigend dem Häuschen auf dem Horn wieder zu.
Die beiden Stollbergs aber eilten. »Wir müssen zu ihm! Wir sahen sie in ihrer Schönheit bis zu dieser Stunde. Es war ein so ruhiges Verlöschen, so begreiflich, als wenn die Sonne untergeht. – Er kämpft mit Unbegreiflichem. Uns zeigte die Natur im Bilde, wie weit sie begriffen sein will. Er geht ins Ungemessene. Er leidet tiefer als wir alle.«
*
Aus Goethes Gartenhaus an der Ilm schimmerte spät in der Nacht ein einsames Licht aus offenem Fenster heraus auf die nebligen Wiesen. Die hohen Wipfel der Bäume im Garten und in der ganzen Weite, am Horn und an den Ufern der Ilm wurden von keinem Windhauch berührt. Die Nebel lagen wie schimmernde Schleier.
Aus dem Garten begannen zarte Geigentöne sanft hinaus in die Nacht zu klingen.
Zwei Freundgestalten standen unter dichten Bäumen nicht allzufern vom erleuchteten Fenster und spielten eine ernste Weise. Sie wollten eine große, beraubte Seele beruhigen, eine, der alles Lebensleid zu Musik werden sollte.
Auf ihren Geigen spielend, gingen sie lautlos im Grase auf und nieder, so daß die Töne dem, der im erleuchteten Stübchen war, bald nah, bald fern klingen mochten. Ein kaum vernehmbares Aufschluchzen vom Hause her ließ die Geigentöne verstummen.
Der Morgen graute.
Ueber die Wiesen sah man die beiden Gestalten durch die Nebelschleier gehen, immer geigend, der schlafenden Stadt zu.