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Das Zusammenfließen der Seelen

Es kristallisiert sich um einen jeden eine Welt. Mitten darin steckt er. Wie in einem Gefängnis fühlt sich die Seele manchmal.

Alle im Hause standen im Frieden. Die Lebenssorgen waren fortgetaut, allmählich, unmerklich, so wie der Winter vergeht.

Eine Sehnsucht aber stieg auf, die Sehnsucht nach neuen Stimmen.

Wohltätiger, klarer wie die Stimme ihres Gefährten, die aus dessen Werk wie aus seiner tiefsten Seele zu ihr drang, konnte keine zweite Stimme zu ihr dringen.

Für Alexander Dohrn war Sibylle die gute Erde geblieben, wie er sie noch immer nannte. Ja, sie war das Erdreich für ihn und sein Werk. Aber wie er die Wandlung unserer Erde in tiefer Lebensversunkenheit oft kaum wahrnahm, so geschah es auch hier: Für Alexander Dohrn war Sibylle die Jsebies geblieben, die Isebies, die ihm gehörte. Die Wandlungen der Seele, die in ihr sich vollzogen hatten, mochten ihm wohl fremd sein. Sehnte sich Sibylle nach einem neuen Wiederklang ihrer selbst?

Niemand lockte sie; auch niemand, den sie sich hätte vorstellen können. Aus der Menschenwelt kamen diese Stimmen, nach denen sie sich sehnte, nicht.

Aber da mit einemmal wußte sie, wonach sie sich sehnte, – danach, was wir alle scheinbar haben, was wir scheinbar kennen. – Sie sehnte sich nach der Natur, – nach ihrem Erbteil, – nach einem Stückchen Erde. Wir, die wir selber Erde sind, in Erde ruhen werden, wir sollen ihr auch im Leben am Herzen liegen, – – – je müder wir sind, je lieber, je mehr wir von allem wissen, je sehnsüchtiger. Wir haben alle diese eine Heimat.

Sibylle wollte nicht über ihre Heimat nur hingereist sein. Sie wollte sie besitzen.

Und so geschah es, daß Sibylle sich bemühte, ein Stückchen Erde zu finden, das sie lieben konnte. Sie wandte sich dahin und dorthin, und wenn sie die Beschreibung irgendeines Besitzes las, dachte sie: Wie schön muß das sein! Aber wenn sie sich aufgemacht hatte, um es anzuschauen, kam sie enttäuscht zurück. Nein, was sie wünschte, fand sie nirgends. Nie fand sie ein wirklich gewachsenes liebes Haus, das sich jemand einst gebaut hatte in aller Unschuld und Seligkeit und in Liebe zu dem Fleckchen Erde, auf dem es stand.

So vergingen Jahr und Tag, und wenn sie etwas zu Herzen Sprechendes sah, so gehörte es schon jemandem, der es behalten wollte.

 

Ein Tag kam, da wanderte Sibylle auf einer Landstraße, die sich durch das allerschönfte Frühlingsland zog, einem unbekannten Ziele zu.

Hohe Linden zu beiden Seiten des Weges, Wiesen ganz mit Blumen durchwirkt, ein stiller See, in der Ferne Gebirgszüge, feuchte Weichheit der Luft, Hügel und Buchen, die von ihren zarten, noch nicht vollkommen entfalteten grünen Blätterschmetterlingen schon ganz überflogen waren; und Sibylle trug einen Schlüssel in der Tasche, den Schlüssel hielt sie manchmal in der Hand, wie liebkosend, den Schlüssel zur Heimat, zur Lebenszuflucht, zum Stückchen Erde. Sie hatte ihn in der Stadt bekommen von jemand, der sich seines Landhauses entäußern wollte.

Sibyllens Stimmung war eine ganz selige. Jede Biegung des Weges zeigte ihr ein seelengeliebtes Land, – ein Stück Natur mit weit offenen Armen – – und jetzt, bei dieser Wegeswindung, war es, als ob es die Arme schloß und das sehnsüchtige Menschenherz eng an sich heranzöge, – so heimisch, so heimlich, – dann auf einem Hügel, ganz waldumrauscht, Wasserblinken durch die Zweige, – verstecktes, sanftes Gehen, – dann wieder Schauen auf große Weite, Berge und See, – dann wieder ein Eingehülltsein, – Träumen, Schauen, – Aufwachen, – Einschlummern, ein wundervoller Wechsel, und das kleine Dörfchen versteckt unter blühenden Bäumen auf der Höhe des Hügels.

Und nun! – Welches mag die Heimat sein? – Zu welcher Türe wird der Schlüssel passen? Sie ging jetzt ein wenig abwärts auf einem Wiesenpfad – und stand vor der Erfüllung ihrer Sehnsucht. – So sah diese Sehnsucht aus! Wenn es dieses wäre!

Unter zwei mächtigen lichten Wallnußbäumen lag erhöht auf einem sanften grünen Wall ihre Heimat, ein weißes stilles Haus mit grünen Fensterläden, überwachsen von frühlingszartem Blattgefieder, von hohen Buchen und Tannen umgeben. Im Garten blühten die Obstbäume, und durch den Wald leuchtete der See. Zu beiden Seiten der Treppe, die zu dem kleinen Haus heraufführte, blühten große Glydrabüsche, und die zarten rosa Herzen bewegten sich im Windhauch.

Sibylle ging zaghaft die Stufen hinauf.

Es war eine ganze Woge von Zartheit und Weichheit und Grünheit, die über dem weißen Haus zusammenschlug: das durchleuchtete Buchenlaub, das noch körperlos wie grüner Nebel die Zweige umgab, die goldenen jungen Nußblätter, der Abendsonnenglanz, das Licht auf dem blühenden Rasen; Himmelschlüssel und die blauen Edelsteinflämmchen des Enzian.

Alle tausend und abertausend Ecken der Welt, hier waren sie überwunden. Ein seidenes Nest!

 

Sibylle wurde Besitzerin vom seidenen Nest – und hatte es von einem großen, hart schauenden Weibe erworben, die es offenbar gern aus der Hand gab. Es mochte ein Leben lang zu weich für das Weib gewesen sein, – es gehörte nicht zu ihr. – Sie hatte wohl die Sehnsucht nach Ecken in ihrer Natur und wollte deshalb in die Stadt ziehen.

Im Grunde ihres Herzens hatte Sibylle das seidene Nest für den Gefährten, für sich und ihn erworben, sie hoffte, daß es ihn locken, daß seine einstige große Liebe zur Natur ihm keine Ruhe lassen würde.

Der trockene harte Schatten, das Weib, blieb noch im Haus, bis ihre Angelegenheiten geordnet waren. Solange Sibylle das liebliche Heim für sich und die Ihrigen herrichtete, hatte sie bei allem, was sie tat, eine Zuschauerin.

Der Schatten kochte seine wohlduftende Suppe. Der Schatten tat alles wie ein gotisches Königsbild, steif und eckig, sorgte auf das ausgiebigste für sich. Sibylle hatte den Eindruck, als wenn der Schatten sich selbst mit Ehrerbietung diente. Er tat alles, was ihm bekömmlich, und war den ganzen Tag deshalb auf den Beinen, um sich wohl zu tun.

Ohne anzuklopfen trat er ein. Wenn ihm das, was Sibylle im Hause tat, nicht gefiel, schärfte Schadenfreude die gotischen Züge, und wenn es doch etwas wurde und gelang, traten Tränen in die Trockenheit, und der Schatten lief ins Dorf und klagte, daß er das Häusel so billig weggegeben.

Er las auch in der Bibel, damit seine ewige Seligkeit nicht zu kurz käme, der Schatten kochte Kaffee und trank ihn in der Küche, den Kopf zur Wand gekehrt, die Arme breit aufgestützt wie eine Mauer. Er saß da wie ein Bollwerk und schützte sich gegen das Verlangen der Welt.

Sibylle aber war dem Schatten unendlich dankbar, daß er das seidene Nest so wohl behütet hatte, während er sich selbst vorzüglich diente.

Sie aber hatte ihr Stückchen Erde gefunden. Mitten in der Arbeit des Einräumens lief sie hinaus und blickte auf ihre Waldbäume und trank die Luft und streichelte einen glatten Buchenstamm und sah in den Sonnenschein, der auf Maienblättern lag, und legte sich ins Gras, vergrub ihr Gesicht in einem Büschel Priemeln und schaute ganz versunken in die duftigen Wolken der blühenden Bäume, wußte gar nicht, wie sie ganz eins mit dem werden konnte, was sie umgab, mit dem Stück Erde, das ihr gehörte.

Mit welcher Freude sah Sibylle, wenn ihr großer Bub Samstags herauskam voller Neugier und Seligkeit, daß auch der sich verkroch und einhüllte in das, was sonst nur der Ort der Lebenshandlung ist, das, was uns stumm zu umgeben pflegt.

Aber hier sprach alles, rauschte zu Herzen, wenn in den Bäumen der Wind strich. Die blühenden Bäume und die angesetzten jungen Früchte wurden zum innigen tiefen Erlebnis, sie gingen Sibylle nah an.

Sibylle war froh, als eines schönen Morgens ein Ochsengespann vor dem Hause hielt und der trockene Schatten anhub, sein Lager abzubrechen.

Er hatte schon all seinen Besitz in eine kleine Scheuer geschafft und dort zur Abreise vorbereitet.

Alles, was zu ihm gehörte, war wert, geheiligt, behütet und aufs äußerste gepflegt zu werden. Die Tische und Stühle und Betten reisten ab wie dicke in Pelze gehüllte Bürgermeister und Standespersonen. Man erkannte vor lauter sorgenden Umhüllungen ihre wahre Gestalt nicht. Es war nicht unmöglich, daß in diesem oder jenem Riesenballen ein alter Regenschirm den Kern bildete.

Wie weich war das seidene Nest, als die Eckenkönigin auf ihrer Ochsenfuhre stumm davongefahren war.

Jede Stunde brachte eine neue Glückseligkeit, jedes aus der Türetreten war ein Bad der Seele. Und wenn sie hinter dem Hause den Weg zwischen den hohen stillen Tannen ging, und der See heraufschimmerte, und der Abhang mit den jungen Buchen leuchtete, und die alten mächtigen Buchen ihre Zweige reckten und sich die glatten silbernen Stämme streicheln ließen, denn alle Waldbäume weit um das Haus waren jetzt Sibyllens Bäume, – dann kam eine Ruhe des Herzens über sie wie noch nie im Leben.

Isebies-Sibylle wußte genau, weshalb das Nest ein seidenes Nest war. Die Natur nahm sie so leise auf wie eine Mutter, die nichts will und nichts gibt als Ruhe.

 

Als Sibylle ihren Mann in das seidene Nest führte, war ihre Seele bewegt, als vollzöge sich die heiligste Handlung ihres Lebens.

Alexander Dohrn hatte seit Jahren in seinem schönen Arbeitsraum gelebt, dort floß durch ein breites hohes Bogenfenster die Sonne in Strömen ein, und der Blick schweifte über Baumwipfel. Dieser Raum war seine Welt geworden, kein Verlangen mehr hatte ihn aus dieser stillen Klause getrieben. Hier lebte er in seinem Werk, hier empfing er seine Schüler und Freunde, hier war er so ganz daheim bei sich, der Welt entrückt.

Und nun hatte Sibylle ihn hinausgelockt in die weiche säuselnde Junipracht, in ein stilles, köstliches Nest, das sein eigen war. Sie führte ihn mit Tränen in den Augen, und er ließ sich staunend führen.

Was für ein stiller Denker war er geworden, wie schien er so ganz versunken, dem großen Ziele seines Lebens hingegeben, – und wie erwachte er zur Freude an der Schönheit, der Zärtlichkeit und Weichheit der eben entfalteten Sommernatur.

»Siehst du auch alles um uns her? Sind wir dir nicht fremd? – Kennst du auch mich?« sagte Sibylle, ihre Stimme bebte.

Sie sah in der lebendigen sommerlichen Umgebung, gleichsam zum ersten Male, sein so ganz vergeistigtes schönes Gesicht. Er erschien ihr trotz seiner Freude erdenfern, – ihr selbst sehr fern.

Es war ihr, als führte sie einen verklärten Menschen durch ihr zärtliches Sommerreich; – und wie sich in seinen Zügen die kindliche starke Freude des Besitzes, die staunende Überraschung ausbreitete, wurde es ihr weh ums Herz. Sie wußte es sich selbst nicht zu deuten.

Er ist in seine heiligen Jahre eingetreten, – fühlte sie in namenlosem Erdenweh und faßte seine Hand: »Ach, kennst du mich denn auch, – fühlst du mich?« fragte sie wieder bang. »Du kommst mir oft so fern vor.«

Da strich er ihr über die Wange und sagte lächelnd: »Wundervoll schön ist es hier, – und mir ist, als kennte ich dich, meine liebe gute Erde, du. – Aber: wie ein Strom Ufer von Ufer trennt, so trennt sinnliche Anschauung Seele von Seele; und wie du von Ufer zu Ufer auf unsicher schwankender Fähre gelangst, so gelangt Seele zu Seele durch blind suchende Sinne.

Sinnliches Schauen ist der Blindheit als wahrem Schauen vergleichbar. – Du erinnerst dich?«

»Ja,« sagte Sibylle, »ich weiß es. – Schmerzvoll fern ist man einander hier auf Erden, trotz aller Nähe.«

»Ja,« sagte er, »man sieht einander nicht. Man ahnt einander kaum, – aber man ist zufrieden, – so will es das Leben. – Später – später – vielleicht, – das höchste Erkennen will errungen sein.«

Sie sah, wie er liebevoll mit der Hand über ein Tännchen strich, das die zarten hellen Triebe wie ein weiches Gewand über die harten Zweige und Nadeln gebreitet hatte.

»Aber,« fragte Sibylle, »unsere so gar liebe Erscheinung hier, Haus und Wald, tut dir auch wohl?«

»Unbeschreiblich,« sagte er und drückte die Hand seiner Frau. »Unbeschreiblich.«

Und von nun an sah Sibylle ihn gar oft in stillem Beschauen durch die jungen Tannen streichen, sah ihn in seinen Mantel gehüllt in staunender Hingenommenheit stehen.

 

Und als der Herbst kam, sollten sie Wunder erleben. Es war, als wüßte das Stückchen Erde, daß es die Freude, die Lebensruhe zweier Menschenherzen geworden sei. Gegen den blauen Herbsthimmel hoben sich die Zweige voll rotleuchtender Äpfel ab. Es glühte täglich mehr von sonnenfarbener, goldgelber, rotbäckiger Pracht. Die Zwetschen, hellblau angelaufen; die Birnen fielen wie goldene Tropfen ins Gras, und die beiden mächtigen Nußbäume trugen schwer.

Sibylle hörte, wie zwei Bauernbuben sagten: »Die Nüsse lachen jetzt schon.« Womit sie das Herauslugen der Nüsse aus den zersprengten braunen Schalen meinten.

Wenn man ruhig auf dem sanften südlichen Abhang des Obstgartens sich ausstreckte, war es, als hörte und fühlte man das wohlige Reifen überall, und die schwere Fülle zog die Äpfel zur Erde herab. Sibylle mußte stützen, damit die Zweige nicht brachen, und bei dem leisesten Windchen fielen von den obersten Wipfeln Früchte, so überreich, so farbensatt, glühend wie Lebensfreude.

Alexander Dohrn fühlte die gestillte Sehnsucht der Frau und lächelte, wie sie die Blicke nicht von ihren Bäumen wenden konnte, wie sie nur schaute und schaute und sich bückte und immer etwas Köstliches und noch Köstlicheres fand. Der große liebe Bub war außer Rand und Band, und die Schönheit wurde immer strahlender, immer unglaublicher. In den leuchtenden Obstgarten hinein schauten die goldenen Buchen über die Tannen. Es war, als könnte die Natur sich nicht genug tun an Herrlichkeit. Weg und Steg blühte golden. – Die Bäume breiteten purpurne und goldene Teppiche unter sich. Die Wiesen sahen doppelt so grün und saftig wie früher aus; – und dann ging es an ein Pflücken und Schleppen der köstlichen Äpfel und Früchte, und war ein Reichtum sondergleichen.

Der Wind fuhr in die Nußbäume, und ein Bauernbursch half ihm nach; da kam ein Hagelwetter von Nüssen, wie ein Gewittersturm. Das prasselte und schlug auf und tanzte und sprang. Hände waren nicht genug da, zu bergen und aufzuhäufen. Man hatte keine Gefäße, keine Körbe, um alles zu fassen. An so etwas hatte niemand gedacht. Abends war Sibylle todmüde, nur vom Nehmen, vom Händeaufhalten, vom Aufheben all der königlichen Gaben der Bäume.

Was hatte die Natur ihr alles schon geschenkt, von den Maiblumen an, die sich wie weiße, duftende Schleier unter den helleuchtenden Buchen ausbreiteten und den süßesten Opfergeruch ausströmten. Eine Gabe löste die andere. Sibylle stand immer wie reich beglückt. Nie brauchte man beschämt zu sein.

Ihr Mann hielt sich nicht wie sie an die überreiche Ernte, an die sonnendurchglühten Früchte der geduldigen, schwer tragenden Bäume.

Er ging in seiner Wildnis umher, sammelte von schlanken Gräsern und Waldstauden, die er liebte, den Samen und säte ihn an kahlen dürftigen Stellen aus, nicht wie ein Mensch, der seinen Garten bestellt und das Erdreich lockert und vorbereitet: wie die Natur es tut, überreich, verschwenderisch und im Vertrauen, daß der treue Erdboden die Schätze wohl bewahren werde.

»Den ganzen Sommer,« sagte er, »den ganzen Herbst trug ich Samen, ganze Taschen voll, und säte aus. Wenig, wenig wird aufgehen, nach altem heiligen Gesetz.«

Das alles ging Sibyllen gar wunderlich zu Herzen. Aus ihrer großen Erntefreude heraus sah sie den Gefährten seine stillen Wege gehen in dem alten grauen Mantel, einem König oder Bettler vergleichbar.

Ja, das hatte sie immer empfunden: – König und Bettler zugleich.

Und er hatte nie die Hand nach reicher Ernte ausgestreckt, – nie, – solang sie ihn kannte. Wie er in seiner Wildnis wohlig ging und den Samen der Waldgräser auf dürftige Stellen säte, so war er immer in seiner freien Geistesnatur gegangen und hatte das reichkultivierte Land, die prangenden Gärten und deren Menschen mit einem leichten Interesse nur vorübergehend betrachtet.

Er aber gehörte in Gottes Natur und liebte nur diese mit heiliger Liebe, selbst ein Teil von ihr. Wenn er in einer Seele das Verlangen zum Wesentlichen, die Unterscheidung von wesentlich und unwesentlich erkannte, so mochte diese Seele im übrigen beschaffen sein, wie sie wollte, – er gab sich ihr hin.

Ungeduldig war Sibylle oft geworden, wenn sie sah, daß er eine Kargheit überschüttete mit Reichtum und der Gnade seiner Seele.

Und waren nicht dennoch, und weil er sich hingab, um Alexander Dohrn Freunde gewachsen, wie aus Gottes freier Natur heraus, im tiefsten Erkennen wurzelnd, Freunde, die sein Werk ganz in ihm erkannten und ihn in seinem Werk, die ihm und dem Wesentlichen des Daseins tief zugeneigt waren? War ihm nicht auch Ottomar Rauchfuß ganz zugefallen, dieser Lebendige, Wahrhaftige, dieser Gute und Getreue, der mit einer lieben Frau und mit Lilly in Pfarrer Schönwetters geheiligtem Hause und Garten seines Amtes waltete? Auch dieser hatte Alexander Dohrn ganz erkannt, ihn und das Werk, an das Sibyllens Gefährte immer von neuem die Hand legte, ohne sich je genug daran zu tun.

 

Der Wechsel der Schönheiten des seidenen Nestes ging auch in der Stadt durch Sibyllens Seele, auch wenn sie nicht in der Seelenheimat war. Bald dachte sie daran, wie aus den braunen Zweigen die grüne Zartheit gequollen war, die wie eine Liebkosung über die Starrheit hinsank, dann kam der schwere volle Sommer ihr in den Sinn und die Farbenfluten und der Früchte-Rausch. – Und nun sollte der Winter kommen, – die unirdische Verklärtheit.

Eine tiefe Befriedigung empfand sie, daß ihr Gefährte mit ihr alle ersehnte Schönheit genossen und den Frieden der Seele, den die Natur gibt. Ihr war, als verbände sie dies alles inniger mit ihm.

Eine schmerzhafte Nähe und Ferne lag oft auf dieser ihrer Liebe zu ihm. Worte hätte sie finden mögen, ihn so ganz zu sich zu ziehen, – ihm zu sagen: Weißt du es denn, wie ich dich geliebt habe, zitternder Liebe voll, – weißt du es denn, wie ich dich erkannt habe, als niemand dich erkannte, wie meine ganze Seele von dir erfüllt war und erfüllt ist, – wie ich in Schmerzen gebebt habe, wenn sie dich mißverstanden? Welche Einsamkeiten schlugen über mir zusammen, wenn ich fühlte, daß du einsam warst. Ach, einmal wollte ich, du könntest in meine Seele ganz sehen.

Und daß du nun alt bist! – Und daß meine Seele dunkel ist – und ins Dunkle schaut und nichts für dich sieht! – Um deinetwillen möcht' ich an wundervolle undenkbare Wandlungen der Seele über den Tod hinaus glauben. – Ich möchte dich so wohl geborgen wissen, hier und in Ewigkeit.

Solche Empfindungen gingen tausendfach durch Sibyllens Seele, und sie fühlte: Weit ist er dir voraus, was dich bedrängt, bedrängt ihn nicht. Fern sind die Menschen einander in aller Liebe, – fern und fremd, tastend wie im Dunkeln fühlt man des Geliebten Nähe und sein Leben nur hin und wieder im Vorübergleiten warm und gewiß.

Und so kam der Winter, die unirdische Verklärtheit, – der die Seelen so ferne stehen, die warmen, bangen Sommerseelen.

 

Winterschatten sanken über das Leben, tiefe gewaltige Schatten. Das Haus steht nicht im nährenden lebendigen Sonnenlicht. Es ist, als entwiche Kraft, und als drängte sich an Stelle dieser heimischen guten Kraft Feindliches und Zehrendes ein.

Sibylle schreibt an Ottomar:

 

»Ich gedenke Eurer, – Deiner und Deiner Frau, Lillys und aller, die sich in Eurem Hause regen.

Wir sind wieder daheim. Sag' mir, was ist's, was mich so bedrängt? Du kennst ihn und mich, Du bist so ganz sein Freund geworden, – Du kennst unser Leben, – Du kennst und weißt alles.

Sein Werk ist vollendet. Es soll bald die Reise aus der lebendigen Stille antreten. – Ob das ihn bedrückt?

Schön und köstlich war alles, was mit dem höchsten Inhalt seines und meines Lebens zusammenhing. Gesegnete Menschen und Versteher wie Du machten die Stille, die um das wachsende Werk lag, zur höchsten Lebendigkeit. Alles ist bereit; es soll herausgegeben werden. Er zögert – und zögert – und zögert –.

Ich habe geglaubt, er müßte sich froh und erleichtert fühlen, seine Lebensarbeit abzuschließen.

Fremd gestimmt kehrt er aus der Weite, aus der großen Natur zurück in seinen einst so geliebten Arbeitsraum. Er fand sich nicht im alten Behagen. – Es wurde ihm schwer, sich wieder einzuleben. – Ich fühle in ihm etwas unbestimmt Suchendes.

Seine Arbeit liegt abgeschlossen neben ihm. Er kann in ihr nicht mehr ganz untertauchen. Als hätte er eine Heimat verloren, ist es, einen Aufenthalt seiner Seele.

Du fehlst uns jetzt sehr und noch manche lebendige Freunde, die uns jahrelang nahe waren, und die das Schicksal von uns rief.

Statt Euch allen sind jetzt zehrende Kargheiten aufgetaucht, Menschen, die aus dem Ungewissen kommen, die er zu beleben sucht mit seinem Reichtum. – Mir ist's, als wären es Schemen.

Er kommt mir so arm vor, – so müde, – Du weißt mein schmerzvolles Bild: König und Bettler. – Ich fühl' ihn jetzt wie auf der Bettlerseite angekommen.

Sibylle.«

 

Ottomar an Sibylle:

 

»Ich komme, Sibylle. – Fürchte keine Schatten. – Gib Dich den Dingen ohne Furcht hin. – Ihr habt nichts zu fürchten. – Ich sehe nur Klarheit um Euch. Trau meinem Blick und sieh keine Schemen. Er hat aus manchem Schemen ein Menschengebilde geschaffen. Laß ihn gewähren.

Eure Freunde wuchsen an ihm. Ich wuchs an ihm. Viele wurden sich bewußt durch ihn und durch die Kraft Deines Glaubens an ihn.

Ich komme jetzt zu Euch. Ich fühle. Du riefst mich. Ich sage Dir eins: Halte Deine Seele rein von Furcht.

Ottomar.«

 

Ottomar Rauchfuß war in das Haus eingetreten, – in das Haus seiner alten Freunde, das jetzt nicht in der nährenden Sonne stand.

Nichts lag im Grunde vor, – eine Versunkenheit Alexander Dohrns, eine Zeit schweren Schauens und Empfindens, wie sie schon manches Mal durchlebt worden war, – eine Zeit der Ebbe, wie jedes Leben sie kennt.

Ottomar Rauchfuß machte es sich heimisch bei seinen Freunden. Alexander Dohrn schien aufzuleben. Sie lasen miteinander den Schluß des Werkes, den Ottomar noch nicht kannte. Von Sibylle taute die Furcht ab, die Schemen verloren ihre Bedeutung. Behagen schlich sich matt wieder ein und ein zartes Vergessen der aufgetauchten Schatten.

 

Da, mit einemmal, versank Sibyllens Gefährte in einen dunkeln schweren Kampf Leibes und der Seele. Schmerzen traten auf, Unruhen; düsteres drückendes Empfinden umhüllte ihn mit Unzugänglichkeit für die, die ihn liebten.

Er stand in einer Ferne, der Sibylle sich nicht nähern konnte, in einer fürchterlichen, lichtlosen Einsamkeit sondergleichen. Kein Wort traf seine Seele, kein Eindruck von außen berührte ihn.

Ottomar Rauchfuß war von tiefer Ruhe, die Sibyllen wie ein ungelöstes Geheimnis erschien. Seine Augen, die sie so wohl seit ihrer Kindheit kannte, die ihr immer tiefer wie anderer Menschen Augen erschienen waren, bekamen einen sichern, großen Blick. Seine Art, mit dem Freund zu reden, war ganz sich ihm hingebend, von einer Hingebung in jedem Wort, in jeder Gebärde, wie sie selten ein Mensch auf dieser Erde gegeben und empfangen.

Unser aller Heiland Jesus Christus hatte, ringend in der Menschheit höchster Seelennot, in seiner grenzenlosen Einsamkeit, als der Engel raunend ihm den Leidenskelch bot, – keines Menschen Seele, die bei ihm war.

Seine Jünger schliefen.

Sibylle aber sah, wie ihres Gefährten Seele von einer andern in Ehrfurcht und großer Liebe ganz umschlossen wurde.

Bang saß sie nachts am Bette ihres Mannes, auf dem er angekleidet ruhte, in seinen Mantel gehüllt.

Mit ihren Händen strich sie seit Nächten über ihn hin und sagte hin und wieder: »Meine ganze Seele umfängt dich. – Nichts Quälendes soll dir nahn, – nichts, was du mit offenen Armen nicht empfingst. Meine Liebe zu dir ist stärker als alles auf Erden. – Sie ist immer mit dir gegangen. – Sie ist auch jetzt übermächtig, übermenschlich in mir. Sie schützt dich.« –

Ottomar Rauchfuß war wiederholt an das Bett getreten, – so auch jetzt. – Und er wandte sich zu Sibylle und sagte: »Laß uns allein.«

Eine leise Stimme: »Aber du kommst wieder –«


Die Freunde schweigen miteinander.


Ringen einer stolzen, herben Seele, die sich nicht geben kann, – doch geben will, – geben muß, – die im ungeheuren Entschluß, – im Kampf der Auflösung, – sich in Freundesseele schutzsuchend bergen möchte. Nach Ausdruck ringend – Schamhaft –: »Schmerzlich empfinde ich, daß ich sterbend bin –«

Alles verstehend, die unaussprechliche irdische Not der Seele erkennend, die unbewegte Tiefe der Seele wissend, wurde der Freund ganz helfender Wille, die Verwirrung der Auflösung, die Erdenschwere fortzuheben vom Ewigkeitswillen, dem höchsten Drange dieses Gottsuchers.

 

Ottomar trat zu Sibylle in das Arbeitszimmer. – »Er ist ruhig und will schlafen, – du möchtest dich auch schlafen legen.«

Ottomar bot Sibyllen einen Stuhl und legte schweigend das wundersame Bild einer Mutter Gottes, von einem altdeutschen Meister gemalt, vor sie hin.

»Sieh es dir an,« sagte er und blieb hinter ihrem Stuhle stehen und blickte mit ihr auf das Blatt.

Nachdem eine Zeit verstrichen war, sagte er und deutete auf das Bild: »Hier erst verstand ich, was es bedeutet: Krönung der Maria.

Die zwei schwebenden Engel über ihr tragen die wundervolle Krone, die Krone des höchsten Menschenleides.

Schwer tragen die Engel, – denn die Krone soll eine Menschenseele krönen.

Kein Gott und kein Engel kann Menschenleid tragen, – darum der tiefe Sinn der Menschwerdung.

Maria fühlt die Last der Krone über sich schweben. Die Krone strahlt Leid aus.

Erschauernd neigt sie ihr Haupt von ihrem Sohne ab. – Sie ist aus Liebe wissend.

Das wundervolle Gewand ist wie in Herzblut getaucht. – Es leuchtet im tiefen Rot – Herzleid der Menschheit.

Ihre Gestalt hebt sich in schwerer Trauer ab von dem blühenden Garten der Welt, auf goldenem Grunde. Sie hört nicht mehr das Singen der bunten Vögel in ihrer Leidversunkenheit.

Und doch ist diese schwere Schicksalslast höchste Himmelskrönung.

Du wirst Wundervolles erleben,« sagte Ottomar leise. »Fürchte die Krone nicht. Deine Seele sei frei von Furcht.

Der, den du dein ganzes Leben lang liebtest, dem du dientest, wird sterben.

Schon ist er weit von uns entfernt im Weltenschritt.

Ich aber weiß, du wirst, ehe er deinem Blick entschwindet, Wunder schauen.«

»Weshalb sterben?« fragte Sibylle hart und tonlos. – »Weshalb das? – Was willst du?«

»Doch ist es so,« antwortete Ottomar; »– auch dein Sohn weiß es, – und soll ich dir sagen, was er mir antwortete, als ich ihn vorbereitete?«

Sibylle schaute auf.

»Seine Arbeit ist fertig; sie zu verbreiten ist seine Aufgabe vielleicht nicht. Ich denke mir, daß seine Seele das nicht nötig hat.«

»Das sagte mein Kind?« fragte Sibylle leise. – »Er weiß das Furchtbare, – bevor ich es wußte?«

»Nicht das Furchtbare,« antwortete Ottomar abwehrend.

Er führte Sibylle wortlos in ihr Schlafzimmer. »Jetzt ruhe, du wirst gerufen.«

Und Sibylle ruhte betäubt, in tiefem Erschauern. Sie gehorchte der großen einfachen Seele des Freundes ihrer Kindheit, gehorchte ihm, wie sie ihm als Kind gehorcht hatte.

Sie ließ die Leidensfurcht nicht in ihre Seele ein.

 

Tief in der Nacht kam Ottomar und holte Sibylle zu ihrem Manne, – und sie fand einen verklärten, seligen Menschen, der sie mit fremder Stimme selig empfing.

Er hielt schon Ottomars Hand und suchte nach der Sibyllens und strömte über von Zärtlichkeit und Dank in jeder Bewegung.

»Das All–eine, – Eine nimmt mich auf –« Erdenfern klang seine Stimme, als er dies langsam aussprach. Einen Augenblick schlug er die Augen auf. Da sah Sibylle sie mächtig erstrahlen. Sie erschauerte. Das war nicht mehr der in sich verschlossene, sich verhüllende Alexander Dohrn, der in seinen Gefühlsäußerungen oft so karg war. Seine glühende schrankenlose, unverhüllte Seele hatte die Erdenschwere durchbrochen.

Die Lider sanken wieder über den offenbarenden Blick.

»Meine liebe gute Erde, die du bist,« begann er langsam. »Entsinnst du dich, – vor Jahren – Jahren – Jahren – schrieb ich dir: Sei gläubig, glaube an unsere Liebe! – Nun glaube! – Glaube an meine unsterbliche Seele. Geh mit mir.«

»Bleibe,« – sagte Sibylle ganz leise in der Glut ihrer armen verlangenden Seele.

Er aber hatte es gehört. Sie spürte, wie er ihre Hand drückte.

»Ich lebe gern und ich sterbe gern,« kam es einfach in voller Gelassenheit von seinen Lippen.

Erschüttert sah sie auf sein friedvolles geliebtes Gesicht, auf die geschlossenen Augen, die den großen freien Blick bargen.

»Wie es auch sei:« – flüsterte sie bebend – »ich finde dich wieder.«

»Höchste Selbstverständlichkeit!« antwortete er laut und stark und mächtig.


Tiefes, langes Schweigen.


Ottomar sagte: »Laß uns aus deinem Werke lesen, aus der Erfüllung deines Wesens,« und er schlug auf und las:

 

»Empfindend bist du Seele, empfunden Leib; beseelter Körper, verkörperte Seele. Sinnliche Gestalt in seelischer Gestaltung, leibliche Zeugung – seelische Überzeugung. – Gottabgewandt: Welt, – weltabgewandt: Gottheit. Alles, was dir als wirkliche Welt erscheint, welche Namen es auch trage, ist Seele, von Seele in dir sinnlich erfaßt. Seele, – alles andere Sinnenmitgift. Alle Gestaltung Seele, alle Gebilde in die Sinne fallende Erscheinung. – Sinnbild der Seele: – Seele im Bannkreis der Sinne – Seele in irdischer Umhüllung, – in Sinnenwelt versunkene Gottheit.

Nur für irdische Augen ist diese Welt; seelisch durchschaut versinkt die Erscheinungswelt deinen Sinnen; nur für seelisches Schauen ist Erlösung – Verklärung der Welt – der Seele Seligkeit.«

 

So las Ottomar ruhig, deutlich, inneren Wissens und Schauens voll, machte große Pausen und las wieder unbeschreiblich ringende Worte, die das Wesen der Welt, das Wesen des Verlangens, das Wesen der Einswerdung, die Rückkehr zum Ursprung, durchdrangen; er las Worte, mit denen Sibyllens Gefährte jahrlang gerungen, die er heldenhaft gezwungen hatte, seine Erkenntnis zu tragen.

Er hatte sie mit seiner Glut des Erkennens schwer beladen, daß sie im mächtigen Schritte dem Ziele zugingen, wie Worte ihrem gebräuchlichen Wesen nach nicht zu gehen vermögen.

»Du kannst ruhig sein, lieber Freund, für dein Werk sorgen wir,« sagte Ottomar.

»Ich bin ganz ruhig,« antwortete der Sterbende freundlich. »Das Werk ist fertig, – ich gehe.«

Als Alexander Dohrn ruhte, traten Ottomar und Sibylle in das Arbeitszimmer, und Ottomar stützte Sibylle, denn sie schwankte, auch beladen, wie jene Worte, von Unaussprechlichem.

»Sibylle,« sagte Ottomar, »wenn ich alles bedenke, wie hat er sein Leben gezimmert, anders wie alle andern. Wie treu war er sich selbst! In seinen Mantel gehüllt, wie ein Ritter in seiner Rüstung, liegt er im eigen gezimmerten Bett. Es ist der eigen geschaffene Mantel, das eigen gezimmerte Bett, eigengezimmert die ganze Lebensburg und schön!

Von der Welt schied er sich und lebte wie keiner lebt. – Von seinem eigenen Werke wird er in ein neues Leben geleitet. Seine eigenen Worte führen ihn. Und sein Werk läßt er ohne Verlangen und Sorge zurück.

Sein Sterben ist nicht wie das Sterben anderer Menschen, wie sein Leben nicht wie das Leben anderer Menschen war. Über alles hinaus lebte er sich zum Höchsten hin, zum höchsten Ziel der Menschheit, – der glühendste Gottsucher, der reinste Verlanger.

Auch sein Werk war nicht das Letzte, auch seine Liebe nicht, keine Schuld und kein Verdienst verwirrte ihn. Wie über Geröll ging er über menschliche Dinge, – auch zuletzt noch über sein Werk hin; mit einem Willen sondergleichen drang er in die Ewigkeit wie ein Keil ein. Er wollte unzerstörbar leben, deshalb stirbt er.«

»Ja! ja! ja!« schluchzte Sibylle auf.

 

Und sie erlebte Unaussprechliches.

Es war, als konnte die Seele Alexander Dohrns sich noch nicht entschließen, diese Welt zu verlassen, ehe sie nicht ganz zu Liebe geworden war, ehe sie sich nicht ganz seiner Gefährtin offenbart hatte. Die Zärtlichkeit und Liebe eines Lebens, das an nichts mehr gebunden war, sank auf sie herab. »Fühlst du, wie ich dich erkenne? Wie du mein bist und ich dein?«

Und die Blindheit der Sinne sank. Sie erkannten einander, Seele zu Seele, über das Leben hinaus, wie schon entrückt den blindsuchenden Sinnen. Ein Sichschauen sondergleichen. Mit ihm wurde sie ganz Seele, weltabgewandt: Gottheit.

Mit ihm löste sie sich vom irdischen Leben, mit ihm ging sie, wie sie einst mit ihm gegangen war, fort aus allem vertrauten Leben, hinaus in die Fremde. Er gab ihr die Krone des Lebens. Alle Sehnsucht war gestillt. Alles Suchen befriedigt.

Seinen Freund Ottomar sah der Sterbende an. Glück und Dank in den Augen.

»Wie angenehm ist es,« sagte er und hielt die Frau und den Freund an der Hand, »wenn Gott einem wohl will.« –

 

Daß mein Vater sterbend uns so selig macht, das ist des Sterbens wert. Bei uns sind hohe Festtage,« sagte der junge Sohn in diesen Tagen zu seiner Mutter.

Sie feierten miteinander wundervolle Stunden, – hohe Festtage.

Niemand wußte, waren es Stunden, waren es Tage. In keinem Herzen regte sich Angst oder Trauer. Überirdische Heiterkeit lag über alle ausgebreitet. – Zeitlosigkeit, – Gefühl der Ewigkeit. Sie folgten dem Sterbenden in das Undenkbare, und Ottomar Rauchfuß wiederum trug die abscheidende Seele wie auf Flügeln.

Wahrlich, dieser schlief nicht wie die Jünger des Herrn.

Keine Krankheit quälte, und die Dienste, die man dem schwachen Körper erwies, kümmerlich an sich, trugen den Charakter heiliger, Seelen verbindender Handlungen.

»Ottomar,« sagte Sibylle bebend, als ihr Gefährte schlummerte, »ich fühle mich wie schuldbewußt, ich fürchte mich, erdenschwer wieder zu werden. Rein und frei ist er wie ein Überirdischer und war es immer, nur ich verstand ihn oft nicht. Ich wußte nicht, wie fern er mir war.«

»Kein Schuldgefühl, – keine Reue!« sagte Ottomar fast heftig. »Tue das nicht, das ist alles unbeschreiblich unnötig. Kennst du die Bilder von Christophorus, der das heilige Kind durch den Strom trägt, durch den Lebensstrom? Er trägt es getreulich, und es wird schwerer wie die Welt, – er unterliegt fast. Solche Kinder, deren Reich nicht von dieser Welt ist, tragen sich schwer. – Erlöser tragen sich schwer.

Er liegt so leicht und rein auf seinem Bett, – sei auch du rein und leicht. Er zieht seelengewiß von dieser Erde in seine Heimat. Zieh ganz mit ihm. – Er ist deine Ewigkeit. Er schließt dir die Pforte auf. Du liebtest in ihm deine Ewigkeit, durch manche Not und manche Beschwerde, – und nun leuchtet sie dir!

Gott schenkt uns solche Abbilder der Ewigkeit in unserer großen Liebe, da wir das Ewige selbst nicht lieben können. Und wenn solch ein geliebtes Stück Ewigkeit scheidet, schauen wir die leuchtende Bahn und wissen den Weg und wissen das Ziel. Und das Ewigkeitstor öffnet sich, ihn einzulassen, und durch die Spalte dringt für uns das Licht des Ursprungs.«

Die schwere Leidenskrone der Menschheit, die, von Engeln ehrfürchtig getragen, auf die Seele herabschwebt, hatte sich auf Sibyllens Haupt gesenkt als die Krone des Lebens; wundervoll war diese heilige Leidenskrönung, diese Lebenskrönung, diese Heiligung des ganzen Lebens und des Todes, – diese Heiligung aller Schuld des Lebens, diese große Liebesheiligung.

 

Tiefe Nacht. – Sibylle wacht am Bette ihres Mannes. Ottomar steht neben ihr. Er legt ihr die Hand leicht auf die Schulter und sagt: »Höre!«

Sanft wogt der Atem ihres Mannes, leicht und zart, – dann versinkt der Atem wie im unendlichen Raum. – Fabelhafte Stille tritt ein, als stiege die Ewigkeit leise – leise – leise empor, – eine Stille sondergleichen, ein Friede sondergleichen. – Und der mühelose sanfte Atem setzt wieder ein und hebt die Stille der Ewigkeit wieder auf. – Neun leichte Atemzüge, – und wieder eine Zeit, an neun Atemzüge lang, ohne Atem, – und wieder der sanfte Atem der Welt, einer Insel gleich, auftauchend aus dem Meer der ewigen Stille, das auch diese letzten Inseln sanft überfluten wird.

So, gleich einem ungeheuren Rhythmus, folgte Lebensodem auf Ewigkeitsstille in friedvollem Wechsel.

Und diesem Rhythmus lauscht nun Sibylle betäubt, erstarrten Herzens, – verstehend.

Wie einer ungeheuren Offenbarung lauscht sie ihm.

So schreitet ihr Leid auf sie zu, so wogt es heran in Ebbe und Flut – wie ein Meer, – und sie fühlt ihn versinken, in einer ewigen friedvollen Tiefe, – steigen in ewig stille Höhe, – von ihr geschieden.

Ein leiser Ruf: »Erde – liebe Erde –!« Und sie ist nah bei ihm, – noch einmal nah bei ihm, – und er lächelt sie an, sucht ihre Hand, – ein Blick fällt auf sie, strahlend von innerem erdenentrücktem Wissen und voller Liebe zu ihr.

So lächelte er nie, so ganz in Glück und Frieden.

Und Sibylle stimmt ein in die Seligkeit ihres Gefährten. Sie bleibt nicht zurück. Sie hält Schritt mit ihm. Ihre große Liebe gibt ihr die Gewalt dazu, – ihre Seele jubelt still mit ihm.

»Ja,« flüstert sie, ihr Haupt nahe dem seinen, als er schwach und fern in seinen Kissen liegt, »fröhlich wollen wir sein, – fröhlich wie nie, – so aus allerinnerstem Sein fröhlich.«

»Ja,« antwortet er mühsam und drückt ihr die Hand, die er in der seinen hält. – Fern schon war ihm menschlicher Ausdruck; aber über sein Gesicht ging ein wundervolles Leuchten, – und er rief laut ihr als Antwort, wie ein freudiger Mensch ruft auf Bergeshöhe: »Ho! Ho! Ho!« Stark rief er und überselig. Sibyllen aber war es, als zerrisse ihr das Herz vor Weh von oben bis unten, wie der Vorhang im Tempel zerriß.

Nach diesem Ruf öffnete er noch einmal den Mund zum reden, – fand nur noch einmal den Ausdruck seines Menschentums.

»Morgen kommt das große Glück!« sagte er, Wissens voll. – – Und es kam.

 

Wie ein zartes, schönes Gehäuse ließ die freie Seele ihre Schale zurück.

Leicht und zierlich lag sein Haupt auf den Kissen, ohne Schwere, – leuchtend im Frieden, den die wissende Seele ihrem vergänglichen Bilde aufgedrückt hatte.

Ganz nun vom Tod umfangen, stand Sibylle doch im höchsten Reichtum des Lebens, geliebt, wie mit Liebe überschüttet, seligen Glaubens voll an die Ewigkeit der abgeschiedenen Seele, von neuen Lebensgluten durchdrungen, mit neuem Lebenswissen.

So war er ihre große Liebe gewesen und ihr Erlöser geworden. Mit ihrem lieben Bub blieb sie zurück, wie beschenkt, wie erquickt, emporgehoben inmitten allen Wehs und aller Sehnsucht, bebend voll Hingebung und Einswerdung und Dankbarkeit, daß ihr Gefährte das Sterben ihr so wundervoll gelehrt.

 

Köstliches Leben, das zu solchem Ziele geführt. Wollte Gott vielen Menschen, die durch das schwere Dasein gehen, durch Schuld und Not, Mißverstehen und Verwirrung, durch Liebe und große Freude, solch höchstes Lebensziel bescheren.

 

So bietet Isebies Sibylle eine Handvoll Wasser aus dem unerschöpflichen Meere ihres Lebens und aus dem Meere ihres Leides und aus dem Meere ihrer Liebe und ihrer Seligkeiten, das bis hinauf in die Ewigkeit rauscht.

Omar al Raschid Bey

Frau al Raschid Bey und Omar al Raschid Bey
(Helene Böhlau und Friedrich Arnd)


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