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Kennt ihr das Erschauern in einsamer Abendstunde, im stillen, lampenerhellten Zimmer? Der Regen fällt, der Wind weht, die Seele ist nicht kräftig wie in sonnendurchleuchteter Mittagsstunde. Schatten sind über sie gefallen. Ihr kennt die Wehmut dieser Stunden, die Sehnsucht dieser Stunden, die herzzerreißende Sehnsucht nach Vergangenheiten, das Rückwärtsschauen, das Rückwärtsleben – und das stille Bangen vor der Zukunft.
Die Vergangenheit hebt ihr Haupt und lächelt euch zu, wie nur die Vergangenheit lächeln kann. Ihr sehnt euch nach Tränen; aber dieses Lächeln wehrt jeder Träne, denn es ist schmerzlicher wie alle Tränen der Erde. Es ist ein Lächeln, das jeder Lebendige kennen lernt, – an das er sich nie gewöhnt, das ihn immer von neuem das Herz beengt. Er weiß nicht, wie er sich dagegen wehren soll. – Dies erstorbene Lächeln tut unsagbar weh; es zu schauen, zu empfinden ist eine der größten Seelenpeinen dieser schweren, dunkeln, geheimnisvollen Erde, auf der wir wohnen müssen. – Die fröhlichsten, seligsten Dinge sind zu den wehesten geworden. – Große vergangene Schmerzen aber legen ihre frommen Hände segnend auf das müde Herz.
Ach, welch ein Schauen, welch ein Fühlen in der stillen abendlichen Stunde.
Hör' nur, wie der Regen fällt,
Hör', wie Nachbars Hündchen bellt.
Uraltes Schlummerlied, zwischen deinen Zeilen fühl ich ein Herz schlagen, das wehmutsvoll in dunkler einsamer Stunde an einer Wiege diese Worte fand.
Auch ich wurde als Kind mit diesem Liedchen eingesungen wie seit Jahrhunderten so manches müde Kind. Ich entsinne mich, meine liebe Großmutter säuselte es mit murmelnder Stimme, und mir ist, als hätte sie ohne Worte in die Melodie hineingewoben: »Ach, mein armes kleines Kind, wenn du wüßtest, wenn du wüßtest,« und es ist mir, als wäre ich unter dem Säuseln des Liedes bang eingeschlafen.
O diese stillen erinnerungsschweren Stunden – diese Bilder und Gestalten –, wie sie kommen und gehen, auftauchen und verschwinden.
Lebendiges – köstliches Leben, das zum Schemen wurde.
Eingetaucht in ein wogendes Meer der Vergänglichkeit! Hin und her geworfen von Welle zu Welle. Und wir sollen standhaft sein, ruhigen Sinnes und voll geduldiger Kraft. Welch eine Anforderung! Welch ein Heldentum – und wir sollen lachen und fröhlich sein. – Und wir lachen und sind fröhlich, und wir sind oft auch standhaft und voll geduldiger Kraft.
O unergründliche Natur, was hast du mit deinen Geschöpfen vor?
Du bist so wundervoll, man möchte dir vertrauen wie einer herrlichen unergründlichen weisen Mutter.
Auf tausend Fragen aber keine Antwort. Im bittersten Leid Stummheit.
Da war es einmal, ich schaute aus einem alten südtiroler Gasthaus auf den Platz vor dem Haus zum Fenster hinaus. Über die Dächer blinkten die sonnigen herbstlichen Berge.
Im Sonnenglanz tummelte sich Mensch und Vieh im Jahrmarktstreiben. Buden waren aufgeschlagen, und gerade unter meinem Fenster war Pferdemarkt
Bauern kamen mit alten Arbeitspferden, die auf Gebirgspfaden ihre armen letzten Kräfte von einem neuen Herrn verbrauchen lassen sollten. Die Tiere hatten etwas Geduldiges und Gütiges im Auge. Ja, etwas Gütiges – Überlegenes.
Sie waren ganz gelassen, und gelassen waren die Käufer und Verkäufer keineswegs.
Eine Stute mit einem Fohlen wurde vorgeführt. Sie beobachtete ihr neugieriges Kind mütterlich, ruhig, gewohnheitsmäßig. Nun aber wurde ihr Fohlen verkauft. Das freie schöne Kind wurde von einer ganzen Rotte johlender Männer gebändigt, die ihm zum erstenmal ein Halfter anlegten.
Dann wurde es fortgeführt. Die verlassene Mutter schaute ihm nach, zuerst stumm, unbeweglich, dann fand ihr Schmerz Klagelaute. Die Kreatur erwachte zu schmerzvoller Geistigkeit. – Ein Wandel vollzog sich mit ihr. – Jede Sehne, jeder Muskel wurde von Verlangen und Sehnsucht gewaltig belebt. Geist und Empfinden gewannen die Oberhand. Die feste Körperlichkeit taute auf, löste sich in großem Schmerz und heißer Liebe.
Ehrfürchtig sah ich ihren Schmerz, ehrfürchtig begriff ich die heilige Geistwerdung des Tieres Schreien und Klagen sah aus wie Erlösung von der toten, schläfrigen Masse des Körpers. Ein Gewitter der heiligen Geistwerdung.
Gegen die schachernden, roh packenden Händler und Käufer hatte die Stute in dieser Stunde das Aussehen einer gottbegeisterten ekstatischen Kreatur. Und ich erschauerte im tiefsten Herzen, ein heiliges Geheimnis war mir verkündet.
Meine stumpfen Sinne hatten begriffen. Schmerzbeladene waren auf allen Wegen an mir vorübergewandelt. Schmerzen hatten mein eigenes Herz heiß genug bestürmt; aber die Geistwerdung der Kreatur durch das Weh dieser Welt hatte mir die schmerzzerrissene Tierseele offenbart.
Ich bin seit jener Stunde ein wenig geduldiger geworden, sträube mich vor der Geistwerdung nicht mehr ganz so losgelassen wie einst.
Auch die stillen dämmerigen Abendstunden fliehe ich nicht mehr wie einst. Mögen sie kommen, mögen sie mir ans Herz rühren mit ihren gestorbenen Seligkeiten und Schmerzen. Meine liebe Großmutter sagte einst zu mir: »Ich kann dich nur verstehen, wenn ich mir vorstelle, daß deine Seele noch nicht lang im Menschenreich ist. Du freust dich wie ein Tier, das nur den Augenblick kennt, und leidest wie ein Tier, das Hoffnung und Wiedersehen nicht kennt. – Gott sei dir gnädig. – Ich glaube, du liebst uns alle auch wie ein armes Tier. Du schüttest deine Liebe aus, als müßtest du in einem Augenblick alle Liebe des Lebens geben.«
So sagte meine Großmutter.
Und sie mag wohl recht gehabt haben, denn ich sehe in den Bildern, die an stillen Abenden vor nur auftauchen, eine arme fremdartige Seele, eine junge feurige, nie alternde Seele ihre schweren Wege gehen, bebend lieben, bebend ekstatisch leiden, Seligkeiten kostend und Schmerzen.
Ich sehe, wie sie fast kein »Ich« ist, dann aber, mit einemmal, Ich verschmachtet. Eine so suchende Seele, eine Welt, die sich mit heißestem Willen gestalten will, eine Seele, die alles Schöne, Heilige, Große, Fröhliche, Drollige, Wunderliche, Köstliche, Jammervolle auf Erden kannte, und schließlich sich von einem Pferde erleuchten läßt.