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Die Jagdgesellschaft brach am andern Morgen nicht allzufrüh auf, da der Amtmann vorher noch eine Menge Geschäfte zu erledigen hatte, so daß nicht nur Helene, die, nach dem Beispiele ihres Vaters, die ersten Sonnenstrahlen nicht gern versäumte, sondern auch Isabella am Frühstückstische erschien. Diese war jedoch nicht wenig verwundert, daß sich Graf Bender fast ausschließlich mit Helenen unterhielt, deren Gesang und ganze Erscheinung sein Herz wunderbar bewegt hatte. Seine Stimme gewann förmlich einen innigeren Ton, als er Helenen sein Bedauern ausdrückte, sie gestern Abend durch sein Erscheinen am Fenster im Singen gestört zu haben und dadurch um den Genuß gekommen zu sein, das schöne Lied zu Ende zu hören.
Sie antwortete mit leisem Erröthen: »An meinem Gesange haben Sie sicher wenig verloren, der Sie durch die besten Sängerinnen der Welt verwöhnt sind; aber da ich gewohnt bin nur für mich allein zu singen, so wollte mir kein Ton mehr aus der Kehle, als ich plötzlich das Zimmer erleuchtet sah und einen Herrn am offenen Fenster erblickte. Uebrigens hatte ich keine Ahnung, daß Sie es waren, Herr Graf, und dachte auch gar nicht darüber nach, wer es sein könnte; ich sah mich nur belauscht, und das machte mich stumm.«
»Ich kann nur mein Bedauern wiederholen,« erwiderte er, »das Lied nicht zu Ende gehört zu haben, und ich bitte Sie, mir zu glauben, daß es mein voller Ernst ist, wenn ich sage, daß mir nie ein Gesang so zu Herzen gegangen ist, wie der Ihre.«
»Dann thut es mir herzlich leid, das Lied nicht zu Ende gesungen zu haben,« sagte sie mit reizender Unbefangenheit.
»Aber könnte das nicht noch geschehen? Vielleicht heute Abend, nach der Rückkehr von der Jagd? Sie würden mir eine große Freude dadurch machen, und auch gewiß den andern Herren.«
»Ich habe noch nie in Gesellschaft gesungen, und ich fürchte, mein erster Versuch würde mich sehr befangen machen. Aber,« fuhr sie nach einigem Nachdenken fort, »vielleicht findet sich eine Gelegenheit, Ihnen das Lied allein vorzusingen, da Sie sagen, daß es Ihnen Freude macht.«
»Ich nehme Sie beim Wort!« erwiderte er, sichtbar sehr erfreut über die Bevorzugung, die ihm zu Theil werden sollte, und erhob sich dann, um den aufbrechenden Jagdgenossen zu folgen.
Isabella hatte mit ihren feinen Ohren Alles gehört, obgleich sie den Kopf immer nach der andern Seite bog, um nicht neugierig zu erscheinen, auch der ungewohnte Glanz, der bei Graf Bender's letzten Worten seine Augen belebte, war ihr nicht entgangen, und sie säumte nicht, der noch im Bette liegenden, aber nicht mehr schlafenden Mutter getreuen Bericht von Allem abzustatten.
Die wußte vor Staunen nicht, was sie sagen sollte. Es war ihr unbegreiflich, daß ein Mann von Welt mehr Gefallen an der natürlichen Anmuth Helenens, als an der erkünstelten Grazie Isabellens finden könne. Aber daß sich die Sache wirklich so verhielt, mußte Isabella selbst zugeben.
»Wo mag der Graf nur seine Augen haben!« sagte die Mutter, ihre Tochter wohlgefällig musternd. »Freilich,« fuhr sie nach einer Weile fort, »die Männer haben oft einen wunderlichen Geschmack.«
»Helenens Gesang scheint auf den Grafen einen großen Eindruck gemacht zu haben, obwohl er nur wenig davon gehört hat,« sagte Isabella.
»Das wird's sein,« erwiderte die Mutter, »es läßt sich nicht leugnen, daß sie eine hübsche Stimme hat; aber das Singen kann man doch in jedem Theater besser hören. Uebrigens wär' es kein Unglück, wenn der Graf Helenen heirathet, Du würdest dann sicher eine um so glänzendere Partie machen.«
Isabella erwiderte Nichts.
»Ruf' mir doch einmal Helenen her«, sagte die Mutter, »ich will mit ihr sprechen.«
Helene erschien, aber Isabella kam nicht wieder. Sie fühlte doch etwas wie eine Niederlage, das sie nicht so leicht verwinden konnte.
»Nun Lenchen,« hub die Mutter zärtlicher an, als sie sonst gewohnt war mit ihrer jüngeren Tochter zu sprechen, die plötzlich in ihren Augen sehr gestiegen war. »Nun, Lenchen, erst gieb mir einmal einen Kuß, und dann erzähle mir ausführlich, wie weit Du mit Graf Bender gekommen bist und wie Du es angefangen hast, ihn für Dich zu gewinnen.«
Helene sah ihre Mutter mit großen Augen an und vergaß, höchlichst betroffen von ihrer Frage, sogar den ihr befohlenen Kuß zu geben.
»Nun,« fuhr die Mutter fort, als keine Antwort erfolgte, »hast Du mir denn gar nichts zu sagen, mein Kind? Komm, gieb mir einen Kuß und dann rücke mit der Sprache heraus: vor der Mutter braucht die Tochter nichts geheim zu halten.«
Helene beugte sich zu ihrer Mutter nieder, drückte ihr einen Kuß auf die Wange und sagte dann:
»Ich habe wirklich keine Geheimnisse zu enthüllen, liebe Mama.«
»Aber ich weiß doch von Isabellen, daß Du dem Grafen Bender versprochen hast, ihm heute Abend ein Lied unter vier Augen vorzusingen, ihm also einen Vorzug zu gewähren, dessen sich bis jetzt noch kein junger Herr von Dir zu erfreuen gehabt hat; und das setzt doch ein gewisses Einverständniß voraus, das ohne gewisse Einleitungen nicht denkbar ist, und darüber möchte ich Näheres erfahren.«
»Ich weiß von keinem Einverständniß und von keinen Einleitungen dazu,« erwiderte Helene treuherzig; »die Sache hat sich sehr einfach und ungesucht zugetragen. Gestern Abend, als ich von der kranken Gertrud kam, ging ich, während die Gesellschaft am Theetisch saß, noch ein wenig allein im Garten spazieren, setzte mich dann in die Hollunderlaube und sang, wie ich gern im Freien thue, ein Lied für mich hin, weil ich glaubte, ganz unbelauscht zu sein. Als ich aber Licht in einem der Fremdenzimmer und noch dazu eine Gestalt am offenen Fenster bemerkte, hörte ich auf zu singen und kehrte in's Haus zurück, um mich schlafen zu legen.«
»Daran hast Du wohlgethan, mein Kind.«
»Heute Morgen erst erfuhr ich, daß Graf Bender der zufällige Lauscher gewesen, und da er mir in lebhaftester Weise seine Freude an meinem Gesange, sowie sein Bedauern ausdrückte, nur eine Strophe des Liedes gehört zu haben, so fand ich nichts Unrechtes darin, ihm Hoffnung auf Erfüllung seiner Bitte zu machen, heute Abend das ganze Lied zu singen. Oder that ich Unrecht dadurch?«
»Durchaus nicht, mein liebes Kind! Aber sag' mir nur, wie Du es anzufangen gedenkst, ihm das Lied unter vier Augen vorzusingen?«
»Den Ausdruck »unter vier Augen« hab' ich nicht gebraucht, ich habe gesagt »allein«, und ich denke, es wird sich am besten so fügen, daß ich wieder im Garten singe, wie gestern, und daß Graf Bender mir vom Fenster seines Zimmers aus zuhört!«
»Da wär's doch viel einfacher, daß Ihr zusammen in den Garten ginget.«
»Das kann auch geschehen, wenn Du meinst, liebe Mama.«
Die Mutter wollte eigentlich ihrem Kinde noch einige kluge Verhaltungsregeln geben, aber sie war durch die völlige Unschuld und Offenheit, welche sich in Helenens Benehmen und Gesicht offenbarten, das sie heute viel hübscher fand als gewöhnlich, auf andere Gedanken gekommen und hielt es für besser, sie ganz ihrer eigenen Führung zu überlassen. Sie dachte: der Graf hat an ihr Gefallen gefunden, so wie sie ist, und eine Veränderung ihres Benehmens könnte leicht seine Neigung auch ändern.
* * *
Die Herren kehrten schon am Nachmittage von der Jagd zurück, sehr zufrieden mit ihrem Erfolge: Graf Bender allein hatte kein Stück Wild erlegt, zum großen Bedauern des Jagdherrn. Beim Mittagsmahl und beim Thee ging's ähnlich zu, wie am vergangenen Tage, nur mit dem Unterschiede, daß Graf Bender lebhafter in der Unterhaltung war, und Isabella weniger lächelte, obgleich sie wieder an seiner Seite saß und er es an Aufmerksamkeiten gegen sie nicht fehlen ließ. Er hatte Gelegenheit gefunden, Helene an ihr Versprechen zu erinnern, und die Antwort erhalten: sie werde mit ihm, wenn die übrigen Herren sich in's Rauchzimmer zurückgezogen hätten, in den Garten gehen und ihm dort das Lied vorsingen. Diese Antwort hatte ihn so erfreut, daß sein ganzes Wesen dadurch mehr Schwung gewann, als es sonst zu haben pflegte. Es schien ihm ein günstiges Zusammentreffen aller guten Schicksalsmächte zu sein, daß die Hausherrin den ganzen Abend über Kopfweh klagte und sich in Folge dessen schon um neun Uhr zurückzog, wonach die Herren dann auch bald aufbrachen, und desgleichen Isabella sich entfernte »um nach Mama zu sehen«. So konnte er denn gänzlich ungestört Helenen in den Garten folgen, der ihm im sanften Mondenschimmer heute noch zaubervoller erschien, als gestern.
»Ich habe doch eine gewisse Furcht,« sagte Helene, als sie mit ihm durch die Kastanienallee ging, »daß ich Ihnen heute nicht so zu Dank singen werde, wie gestern, wo ich mich allein glaubte.«
»Diese Furcht wird bald verschwinden, wenn Sie nur erst einmal im Zuge sind.«
»Aber um hineinzukommen, muß ich mich in den Schatten setzen, und so, daß ich Sie gar nicht sehe.«
»Ganz wie Sie wünschen; wenn ich nur nahe genug bleiben darf, um Sie zu hören.«
Sie setzte sich auf eine Bank, welche eine mächtige Ulme umspannte und fing dann ohne Ziererei gleich an zu singen, während er in geringer Entfernung stehen blieb, bis das Lied zu Ende war. Nun trat er hinzu und sagte bewegt:
»Wer Sie immer so singen hören könnte!«
»Der würde bald genug haben!« erwiderte sie lachend.
»Darauf würd' ich es ankommen lassen.«
»Sie sind eben sehr nachsichtig.«
»Das hab' ich noch nie von mir rühmen hören.«
»Dann wirkt hier wohl die Gunst der Umstände zu Ihrem freundlichen Urtheil mit. Es war gestern ein so schöner Abend wie heute, und im weichen Lichtmeer des Mondes verschwimmen alle Unebenheiten; die sanfte Stille, die milde, würzige Luft, das geheimnißvolle Weben der Nacht stimmen das Gemüth für Alles empfänglicher.«
»Gewiß erhöht dieser Zauber den Reiz des Schönen, läßt aber auch Alles, was zu dem holden Einklang der Natur nicht stimmt, um so greller als Mißton erscheinen.«
»Und Sie haben wirklich keinen Mißton in meinem Gesange gefunden?«
»Er war die Seele der Nacht; er gab dem Einklang der Natur den innigsten Ausdruck.«
»Sie könnten mich eitel machen, wenn ich Anlagen dazu hätte; aber Ihr Lob hat wenigstens das Gute, daß es mir mehr Selbstvertrauen giebt.«
»Ich habe nur Eines bei Ihrem Gesange vermißt.«
»Und das ist?«
»Daß ich Sie nicht dabei ansehen durfte. Ist es unbescheiden, wenn ich Sie bitte, mir noch ein Lied zu singen und dabei in Ihrer Nähe bleiben zu dürfen?«
»Durchaus nicht, denn meine Furcht ist jetzt völlig verschwunden. Aber welches Lied möchten Sie am liebsten hören?«
»Kennen Sie das Beethoven'sche: »Ich liebe Dich, sowie Du mich«?«
»Das kenn' ich sehr gut,« sagte sie, und sie sang es mit solcher Glut der Empfindung, daß dem Grafen Alles um ihn her in Seligkeit zu verschwimmen schien. Er fand keine Worte, ihr seinen Dank auszusprechen, als sie zu Ende war; er wollte ihr die Hand küssen, aber sie entzog sie ihm in einer Weise, welche zeigte, daß ihr solche Huldigungen unlieb oder ungewohnt waren. Er hätte ihr mögen zu Füßen fallen und sie fragen, ob auch nur ein Funke der Glut des Liedes ihm gegolten; aber die Furcht vor einem vernichtenden »Nein« hielt ihn zurück. Kühnes Wagen lag nicht in seiner Natur; er war nicht der Mann, sein Glück auf Einen Wurf zu setzen. Und so erhob er auch keinen Einwand, als Helene aufstand und mit einer Gelassenheit, in der Nichts von der leidenschaftlichen Bewegung des Liedes nachzitterte, sagte:
»Die Glocke schlägt zehn; wir müssen in's Hans zurück; ich lege mich gewöhnlich um diese Zeit schlafen, und Sie haben mir gesagt, daß Sie morgen zeitig aufbrechen wollen.«
»Meine Dienstpflicht bringt es leider so mit sich; sonst wär' ich gar zu gern noch geblieben. Ich werde wohl nicht das Glück haben, Sie morgen noch zu sehen?«
»Ei, das hängt ganz von Ihnen ab. Papa und ich sind Frühaufsteher und immer die Ersten im Hause.«
»Sie lieben Ihren Herrn Vater wohl sehr?«
»Ganz unsäglich; ich könnte mir das Leben ohne ihn gar nicht denken.«
»Ich hänge auch sehr an meinem Vater und unternehme nichts Wichtiges, für das Leben Entscheidendes, ohne seinen Rath einzuholen,« sagte er mit besonderer Betonung. Helene dabei bedeutungsvoll ansehend. Sie verstand den Sinn seiner Worte nicht ganz, erwiderte aber:
»Das würd' ich auch nicht thun. Doch nun gute Nacht; hier trennen sich unsere Wege,« sagte sie, ihm die Hand reichend, als sie im Flur des Schlosses angelangt waren.
»Gute Nacht!« erwiderte er, »also ich darf auf das Glück hoffen, Sie vor meiner Abreise noch zu sehen?«
»Gewiß, ich werde beim Frühstück erscheinen.«
Er wollte noch etwas sagen, aber sie war schon verschwunden und der Bediente kam ihm entgegen, um nach seinen Befehlen zu fragen.
Graf Bender ging noch lange in seinem Zimmer auf und nieder, ehe er sich schlafen legte, Gefühle der widersprechendsten Art bewegten seine Brust und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er war im Grunde seines Herzens mit sich sehr unzufrieden, während sein Verstand ihm sagte, er habe »korrekt« gehandelt – ein Lieblingsausdruck seines Vaters, auf den Sohn übergegangen.
Bei schärferem Nachdenken fand er jedoch, daß er – im Sinne des Vaters – keineswegs ganz korrekt gehandelt, da er seinem Herzen eigentlich gar nicht hätte erlauben dürfen, für ein Mädchen unter seinem Stande zu erglühen. Sein Vater – früher Militair, jetzt Obersthofmeister – war ein entschiedener Gegner aller ungleichen Verbindungen und es stand kaum zu hoffen, daß er seinen Segen zu einer solchen geben werde. Das wußte der in strenger Zucht erzogene Sohn nur zu gut. und dennoch hatte er sich verliebt in eine Bürgerliche, die ihm zuviel Achtung einflößte, als daß er im Stande gewesen wäre, sie zu hintergehen. Er begriff selbst nicht, wie er dazu gekommen, sein Herz so schnell zu verlieren, denn bis dahin hatte keine Dame einen ähnlichen Eindruck auf ihn gemacht, wie Helene. Ihr zu entsagen, hielt er für unmöglich, und doch konnte er den Gedanken nicht fassen, ohne Einwilligung seines Vaters um sie zu werben. »Wäre ich nur wenigstens mit ihr in's Reine gekommen – murmelte er unruhig auf- und abgehend vor sich hin – wüßte ich nur sicher, daß sie meine Liebe erwiderte, so stünde ich doch mit Einem Fuße auf festem Boden, während ich jetzt mit beiden in der Luft schwebe. Denn gesetzt, es gelänge mir, das Herz des Vaters zu rühren, wer bürgt mir dafür, daß sie meine Werbung günstig aufnimmt?«
Er traute sonst dem Klange seines Namens viel zu und war so gesucht einfach in seinem Anzuge, wie sparsam mit Worten in Gesellschaft, weil er glaubte, daß sein bloßes Auftreten als Graf Bender alles Andere überflüssig mache. Aber Helenen gegenüber schien ihm sein Grafentitel nicht schwer in's Gewicht zu fallen, denn die Liebe macht bescheiden und schätzt das, was sie liebt, höher als sich selbst.
Während so Graf Bender in einem Labyrinthe von Gedanken, aus welchen er keinen Ausweg zu entdecken vermochte, den größten Theil der Nacht ruhelos zubrachte, schlief Helene den süßen Schlaf der Unschuld und war schon wieder wach, als er, der um ihretwillen gewacht, kaum die Augen geschlossen hatte. Beim Frühstück fand er sie frisch, wie eine Maiblume, aber es blieb ihm nicht Zeit zu langer Unterhaltung mit ihr, denn der Wagen wartete schon auf dem Hofe und die Reisegefährten drängten zum Aufbruch.
»Wird es Ihnen nicht unangenehm sein, wenn ich bald wiederkomme?« fragte Graf Bender beim Abschiede von Helenen.
»Im Gegentheil,« antwortete sie, ihm freundlich die Hand reichend, »und ich werde inzwischen neue Lieder einstudiren.«
* * *
Helene mußte ihrer Mutter wieder über ihr gestriges Beisammensein mit Graf Bender Bericht abstatten, was sie mit der größten Unbefangenheit that.
»Warum erlaubtest Du ihm denn nicht, Deine Hand zu küssen?« fragte die Mutter.
»Ich weiß selbst nicht, liebe Mama, aber es kam mir so sonderbar vor.«
»Er scheint sich doch sehr für Dich zu interessiren.«
»Für meinen Gesang.«
»Das verstehst Du nicht besser, mein Kind! Sag' mir einmal aufrichtig, was würdest Du gethan haben, wenn er Dir ein Liebesgeständniß gemacht hätte?«
»Das weiß ich selbst nicht . . . ich glaube, ich wäre davongelaufen. Aber der Fall ist ja auch gar nicht denkbar. Du sagst ja immer, ich sei noch ein ungeschliffenes Kind, und wie sollte er dazu kommen, sich in mich zu verlieben. Er hört mich gern singen; das ist Alles.«
»Fühlst Du denn Nichts für ihn?«
»Nicht mehr, als ich für andere Menschen fühle, die zu mir so freundlich sind, wie er.«
»Du bist noch ein unerfahrenes Kind, aber es ist meine Pflicht als Mutter, Dich auf die großen Vortheile aufmerksam zu machen, welche für Dich, für uns Alle, ans einer immerhin möglichen Verbindung mit Graf Bender ersprießen würden. Du hast mir gesagt, er werde bald wiederkommen, was mir auch sehr wahrscheinlich ist; gesetzt, er hielte dann bei mir um Deine Hand an, oder erklärte Dir selbst seine Liebe, so müßten wir doch genau wissen, was in solchem Falle zu thun, und Du wirst Einsicht genug haben, um zu begreifen, daß es nicht wohlgethan sein würde, solche Partie zurückzuweisen.«
»Aber, liebe Mama, muß ich denn durchaus heirathen? Ich bliebe weit lieber zu Haus! Wollt Ihr mich denn nicht bei Euch behalten?«
Helene sagte das in einem so rührenden Tone, daß die Mutter darüber aus der Fassung kam und im Augenblick außer Stande war, in ihren Belehrungen fortzufahren.
»Beruhige Dich, mein Kind,« sagte sie, »Du wirst doch nicht glauben, daß ich Dich gegen Deine Neigung zu einer Heirath zwingen würde. Komm', küsse mich, liebes Lenchen! Wir sprechen ein andermal über die Sache.«
Helene fiel der Mutter weinend um den Hals und verließ das Zimmer in trüberer Stimmung, als sie es betreten hatte. Ihre Unbefangenheit war dahin; der Ernst des Lebens umwölkte zum Erstenmale die Sonnenhelle ihrer Gedanken.
Kaum war Helene fort, als Isabella eintrat und, betroffen ihre Mutter in ungewöhnlicher Aufregung zu finden, sie nach der Ursache fragte.
»Nun,« sagte Isabella, als sie von der Mutter alles mit Helenen Vorgefallene erfahren hatte, »für so empfindsam hätt' ich unser Lenchen nicht gehalten. Ich sollte denken, das Unglück wäre doch nicht gar so groß, von einem jungen Grafen geliebt zu werden, dem eine glänzende Laufbahn bevorsteht. Denn daß der Graf sie liebt, unterliegt für mich keinem Zweifel, und wenn sie seine Liebe nicht erwidert, so ist sie, nach meinem Dafürhalten, eine Närrin.«
»Das war auch mein Gedankengang,« sagte die Mutter, »und Du bestätigst mich darin, daß ich das Rechte getroffen; aber Du hättest nur sehen sollen, wie sie mich weinend umschlang; ich verlor ganz die Fassung; mir kamen wahrhaftig selbst die hellen Thränen in die Augen. Allein wir werden sie schon zur Vernunft bringen: es wird sich Alles noch machen, man muß ihr nur Zeit zum Nachdenken lassen; wir haben Lenchen immer zu sehr als Kind behandelt und sie geht doch schon in's achtzehnte Jahr.«
»Ich fürchte,« hub Isabella wieder an, »ich fürchte sehr, es ist ernsterer Grund vorhanden, uns traurig zu stimmen, als Lenchens Empfindsamkeit.«
»Du erschreckst mich, liebe Bella, was giebt's denn?«
»Ich war eben unten beim Vater, um ihn zu fragen, ob er nichts an Oskar zu bestellen habe, an den ich schreiben wollte, und ich traf ihn in einem Zustande, wie ich ihn nie gesehen: die Stirnadern geschwollen, die Augen umdüstert, den Mund krampfhaft verzogen; ich fürchtete mich ordentlich vor seinem Anblick. »Was giebt's?« fragte er mich barsch. »Ich wollte an Oskar schreiben, lieber Papa, und Dich fragen, ob Du nichts zu bestellen habest.« »Schreib' ihm, daß er ein gewissenloser Bursche sei, der seinen Vater in's Unglück stürze mit seiner Verschwendung!« Ich zitterte am ganzen Leibe bei diesen Worten, da er so laut sprach, daß man's im Nebenzimmer hören mußte. Ich war in einer Aufregung, daß ich Nichts erwidern konnte, und schlich mich wieder davon. Auf dem Flur kam Piper in athemloser Hast an mir vorbeigerannt, mit förmlich glühendem Gesichte. »Was giebt's, Piper?« fragte ich. Er stolperte im Versuch stehen zu bleiben, schüttelte traurig den struppigen Kopf und schwenkte abwehrend die schmutzige Hand, als ob er um ein schreckliches Geheimniß wüßte, das er nicht verrathen dürfe. Ich gab ihm ein Zehngroschenstück, um ihn zum Reden zu bringen, aber er stieß nur die Worte aus: »Schlimme Briefe sind angekommen, schlimme Briefe! Große Summen müssen schnell aufgebracht werden, große Summen!« und dann rannte er fort; seine großen fetten Augen rollten, wie im Wahnsinn.«
»Oskar wird wieder Schulden gemacht haben,« sagte die Mutter seufzend; »er ist ein guter Junge, aber gar zu leichtsinnig, und Heidelberg ist für Studenten, die von Haus aus an ein gutes Leben gewöhnt sind, ein theures Pflaster.«
»Es scheint sich aber diesmal um bedeutende Summen zu handeln.«
»Es ist eben ein Unglück, wenn man kein ansehnliches Vermögen hat und doch standesgemäß leben muß. Da werden Wucherer in Anspruch genommen, und die Schulden wachsen bald in's Große.«
Sie machte diese, nach ihrem Dafürhalten sehr weise Bemerkung, in einem Tone und mit einer Miene, als ob die Sache nun dadurch erledigt wäre. Sie bat Isabella dann, ihr das Kammermädchen zu schicken, da sie aufstehen wolle, um sich anzukleiden. Eine Stunde später trat der Amtmann bei ihr ein, sehr niedergeschlagen aussehend, aber doch nicht mehr so aufgeregt, wie Isabella ihn geschildert hatte. »Liebe Erna,« hub er an, »unsere Herren Söhne haben uns wieder eine schöne Ueberraschung bereitet. Da sieh nur!« Und er gab ihr einen Ueberblick der fälligen Wechselschulden.
»Mit Ernst scheint doch die Sache noch nicht so schlimm zu stehen,« sagte sie nach kurzer Prüfung der Papiere.
»Aber mit Oskar desto schlimmer! und mit Ernst auch schlimm genug, kurz, die Sache ist die, daß ich jetzt rasch thun muß, was schon längst hätte geschehen sollen und auch geschehen wäre, wenn Du nicht immer Einspruch dagegen gethan hättest.«
»Was meinst Du?«
»Daß ich auf der Stelle unsere Luxuspferde verkaufen und überhaupt dafür sorgen muß, von heute an unserem Haushalt einen bescheideneren Zuschnitt zu geben.«
»Aber, lieber Otto, bedenke doch nur, das ist ja unmöglich!«
»Ich habe Alles bedacht, und gefunden, daß ich schon viel zu lange gezögert, energische Maßregeln zu treffen, durch welche allein unserm Ruin vorgebeugt werden kann. Alle meine Hülfsquellen sind erschöpft; ich weiß mir nicht anders zu helfen, als durch möglichste Einschränkung. Wozu auch diese kostspielige Vornehmthuerei, die nichts Anderes bezweckt, als den Leuten Anlaß zu allerlei Gerede zu geben? Wozu brauchen wir fünf Luxuspferde und drei Wagen? So lange es irgend ging, habe ich Dir gern den Gefallen gethan; aber es geht nicht mehr: also fort mit dem Ueberflüssigen! Ein Wagen genügt für uns Alle.«
»Bedenke doch nur, wie unser Ansehn dadurch sinken müßte, gerade jetzt, wo wir Aussicht haben zu einer glänzenden Partie für Helene . . .«
»Bilde Dir doch nichts ein! Wieviel glänzende Partien hast Du schon für Isabella in Aussicht gehabt, und es ist noch keine zu Stande gekommen. Und wer ernste Absichten auf eines unserer Kinder hat, wird lieber in eine wohlgeordnete Familie hinein heirathen, als in eine ihrem Ruin mit offenen Augen entgegenstürzende.«
»Du bringst mich noch unter die Erde mit Deiner Herzlosigkeit!« rief sie unter Thränen.
»Nun soll ich gar herzlos sein!« sagte er kopfschüttelnd. »Ich habe nur zu oft Deinen Thränen nachgegeben, selbst wo alle Vernunftgründe dagegen sprachen; aber es geht nicht länger. Das Nothwendige muß endlich geschehen; ich wollte es nur nicht thun, ohne Dich vorher davon in Kenntniß zu setzen.«
Seine Frau konnte vor heftigem Schluchzen kein Wort mehr hervorbringen und weinte noch fort, als er, diesmal unbeugsam, das Zimmer wieder verlassen hatte. Isabella kam, hörte die Trauergeschichte von der weinenden Mutter und fing auch an zu weinen; nicht über die Sorgen des geplagten Vaters, sondern über den drohenden Verlust ihres schönen Apfelschimmels, auf welchem ihr das grünsammtne Reitkleid so reizend stand, wie man ihr so oft gesagt hatte.
»Ich werde die Schande nicht überleben!« seufzte die Mutter.
»Ich auch nicht!« seufzte Isabella.
»Aber ich fürchte, dadurch wird sich der Vater nicht abhalten lassen, Wagen und Pferde zu verkaufen,« sagte die Mutter.
»Das fürcht' ich auch. Giebt es denn gar keinen Ausweg?«
»Welchen Ausweg sollt' es für uns arme, hülflose Geschöpfe geben?«
»Nun,« sagte Isabella, »wenn Du zum Beispiel einen Theil Deines Schmucks verkauftest, nur das Ueberflüssige, was Du niemals trägst; das würde doch mehr einbringen, als der Verkauf der Pferde, und nicht solches Aufsehn erregen. Ja, es ließe sich ganz insgeheim bewerkstelligen, wenn wir nach der Residenz führen.«
»Das verstehst Du nicht besser, mein Kind; mein Schmuck ist ein Familienheiligthum, das nicht verkauft werden darf, nur vererbt werden kann. Mein Wappen ist darauf eingegraben; jedes Stück gehört zu mir, wie Hände und Füße. Du würdest am meisten durch den Verkauf meines Schmucks verlieren, denn Dir ist das Beste davon bestimmt. Aber Du hast mich durch Deinen Vorschlag auf einen andern Gedanken gebracht, der uns zwar nicht aus unserer Noth heraushelfen wird, aber doch ermöglichen kann, auf eine gelindere Art über die Schande hinwegzukommen, welche uns der Vater bereiten will. Wir wollen auf einige Zeit nach der Residenz. Ich schreibe gleich an meinen Bruder, um uns anzumelden. Er ist hübsch eingerichtet, hat Raum genug im Hause und eine liebenswürdige Frau, die schon dafür sorgen wird, Dich zu zerstreuen. Du kannst auch Dein Reitkleid mitnehmen, für alle Fälle.«
Der Thränenquell der Mutter war während der langen Rede völlig versiegt, und auch Isabellens Augen waren wieder trocken, als sie fragte: »Wann sollen wir denn abreisen, liebe Mama?«
»Je früher, desto besser; ich denke, schon morgen.«
* * *
Der Amtmann wollte einen letzten Versuch machen, eine Anleihe zu ermöglichen, ohne Wucherern in die Hände zu fallen. Er hatte eine Reihe von Jahren hindurch einem sehr wohlhabenden Bauern, dem reichen Heineke, wie er in der ganzen Nachbarschaft genannt wurde, wichtige Dienste geleistet durch gute Ratschläge und friedliche Lösung verwickelter Streitfragen, die sonst zu langwierigen Prozessen geführt haben würden. Der reiche Heineke, von dem die Rede ging, daß sich Alles unter seinen Händen in Gold verwandele, hatte früher öfter geäußert, wie sehr es ihn freuen würde, wenn ihm der Herr Amtmann einmal eine rechte Gelegenheit geben wollte, sich ihm dankbar zu erweisen.
Seit einiger Zeit war der Bauer dem Amtmann ganz aus den Augen gekommen; nun fand er den Namen Heineke zufällig auf einem Aktenbündel und kam dadurch auf den Gedanken, den alten Mann aufzusuchen. Er nahm Helene mit, um das verständige Mädchen über die im Schloß bevorstehenden Veränderungen aufzuklären, und die Beiden gingen zu Fuß nach dem kaum ein Stündchen entfernten Dorfe, um sich ungestört unterhalten zu können. Es betrübte Helene unendlich, ihren Vater durch die Schuld des leichtsinnigen Oskar so in Sorgen zu sehen, aber sie ging so ganz auf seine Pläne ein, daß ihm durch ihre liebevolle Theilnahme viel leichter um's Herz wurde. Er verschwieg ihr auch nicht, was ihn nach dem Dorfe führte, dem sie schon ziemlich nahe waren, als ein alter, ärmlich aussehender, gebeugt einherschleichender Mann ihnen begegnete, den der Amtmann erst recht erkannte, als jener seinen breitkrempigen, tief in's Gesicht gedrückten Hut vom Kopfe zog, um zu grüßen.
»Seid Ihr das, Heineke?« fragte der Amtmann mit bewegter Stimme.
»Ick wett selber nich, Herr Ammann, ob ick noch ick bin oder nich. Kein Minsch kann't glöben.«
Der Amtmann suchte nun durch allerlei Kreuz- und Querfragen aus dem alten Heineke herauszubringen, was die traurige Veränderung in ihm bewirkt habe, den er noch vor anderthalb Jahren als einen rüstigen, stattlichen Mann gesehen. Der wesentliche Inhalt dessen, was er von ihm erfuhr, war kurzgefaßt folgender: Der alte Heineke hatte vor einem Jahr, wenige Wochen nach der Verheirathung seiner einzigen Tochter, seinen einzigen Sohn an einer räthselhaften Krankheit verloren. Seit der Zeit wollte es mit der Arbeit nicht mehr recht vorwärts gehn, so sehr er sich auch bemühete, durch Beschäftigung seiner Trauer abzuhelfen. Eines Tages ganz schweißtriefend in plötzlich herabströmendem, kalten Regen vom Felde heimgekehrt, fühlte er im Rücken einen heftigen Schmerz und als er sich beim Auskleiden bückte, war es ihm, als ob ihm das Rückgrat gebrochen wäre. Die alte Magd meinte er habe den Hexenschuß bekommen, aber seine Tochter und sein Schwiegersohn, die am folgenden Tage erschienen, sagten, der Schlag habe ihn gerührt, und er müsse schnell sein Testament machen, denn er könne in jeder Stunde sterben. Er vermachte ihnen Alles und bereitete sich bußfertig auf den Tod vor, wurde aber nach vierzehn Tagen wieder gesund und sah sich auf's Altentheil gesetzt, wo es ihm nicht besser erging als einem Bettler, den man gern los sein möchte.
Der Amtmann schenkte dem alten Heineke, der keine Gelder mehr zu verleihen hatte, einen Thaler und kehrte unverrichteter Sache mit seiner Tochter nach Hause zurück, unter Betrachtungen über die Unbeständigkeit des Glücks auf Erden.
Auf Helene hatte die Geschichte einen tiefen Eindruck gemacht; es war ihr unfaßlich, daß ein Kind gegen den Vater so handeln könne, wie die Tochter dieses alten Lear vom Dorfe. Dabei fielen ihr ihre Brüder ein: brachten diese ihren Vater nicht auch um das Seinige, wenn auch auf andere Weise? Sie wagte den Gedanken nicht auszudenken. Dagegen gedieh jetzt ein Entschluß zur Reife, der schon, während der Vater ihr von seinen Bedrängnissen erzählte, in ihr aufgekeimt war. Sie fühlte den Beruf und die Kraft in sich, dem Vater auf irgend eine Art, die ihr Gewissen nicht schädigte, zu helfen, denn sie begriff sehr gut, daß der Verkauf der Pferde und die Einschränkung des Haushaltes, die er beabsichtigte, ihn doch nicht ganz von seinen Sorgen um die Familie befreien würde. Man hatte ihr so oft von ihrer schönen Stimme und musikalischen Begabung geredet; nun fügte es ein glücklicher Zufall, daß gerade zu der Zeit eine aus der kleinen Stadt gebürtige Sängerin, die an der Hofbühne eine hervorragende Stellung einnahm, bei ihrem Bruder, einem angesehenen Advokaten, zum Besuch war. Von dieser wollte sich Helene einmal ernstlich prüfen lassen, um zu erfahren, ob sie wirklich große Hoffnungen auf ihr Talent bauen dürfe. Der verheirathete Bruder der Sängerin stand mit den Schloßbewohnern auf geselligem Fuße, und so glaubte es Helene schon wagen zu dürfen, ihr einen Besuch zu machen. Sie kam aber erst nach ein paar Tagen dazu, da es vor der Abreise ihrer Mutter mit Isabellen nach der Residenz noch heftige Scenen im Hause setzte, welche das arme Kind ganz unglücklich machten. Diese Scenen wurden veranlaßt durch die unzarten Ausdrücke, welche die Mutter sich gegen den Vater erlaubte, um ihre Reise zu begründen.
Die trüben Eindrücke wurden einigermaßen gemildert durch das höchst günstige und verheißungsvolle Urtheil, welches die Sängerin über Helenens Begabung fällte. Da die Sängerin ein paar Wochen im Orte blieb und Helene jetzt ganz unbeengt von Mutter und Schwester sich bewegen konnte, so kamen die Beiden täglich zusammen, denn es war unmöglich Helene näherzutreten, ohne sie liebzugewinnen. Sie vertraute der ihr sehr sympathischen Sängerin ihren Plan an, und diese versprach, ihr in jeder Weise bei der Ausführung behülflich zu sein. Helene fand noch Jemanden, der ihre Zwecke fördern sollte ohne darum zu wissen. Es war das der englische Gesandte, ein langjähriger Besucher des Hauses, der jetzt kam, um Abschied zu nehmen, da ihm die schon öfter nachgesuchte Enthebung von seinem Posten endlich bewilligt worden war. Er wollte nun den Winter mit seiner jüngsten Tochter Mary in Paris zubringen und dann nach England zurückkehren. Mary war Helenen sehr zugethan und deshalb auch jetzt mitgekommen, um sie noch einmal zu sehen. Sie trat mit ihrem Vater gerade in's Zimmer, als Helene mit der Sängerin das Schreibduett aus Figaro einübte. Der alte freundliche Herr, ein großer Musikliebhaber, kannte die Sängerin sehr gut von der Residenz her, wußte jedoch von Helenens musikalischer Begabung nichts, und war deshalb nicht wenig überrascht, so süße Töne aus ihrem kleinen rosigen Munde zu hören. Er bat die Damen, sich nicht stören zu lassen; Mary war auch ganz entzückt, und die Sängerin that ihr Möglichstes, um Helenens Talent recht in's Licht zu stellen, wobei sie lebhaft ihr Bedauern ausdrückte, daß das liebe Fräulein in der kleinen Stadt gar keine Gelegenheit habe, große Vorbilder zu hören und eine höhere Schule durchzumachen.
»Aber kommen Sie doch mit uns nach Paris; da finden Sie Alles was Sie brauchen!« sagte der alte Herr mit einem Ausdruck, der deutlich verrieth, wie glücklich er sein würde, wenn sie zustimmte.
»Ach ja, kommen Sie mit uns!« fiel Mary ein, »das wäre gar zu schön! Wir wollen Ihren Papa recht bitten, und er wird gewiß nicht Nein sagen.«
Helene war so bewegt von der Aussicht, die sich ihr so unerwartet eröffnete, daß sie nicht gleich Worte fand ihren Gefühlen Ausdruck zu geben.
»Paris ist eine schöne Stadt,« hub der alte Herr wieder an, »und Sie werden es nicht bereuen, dort einen Winter mit uns zu verleben. In einer Woche bin ich mit allen Abschiedsbesuchen zu Ende und dann komm' ich wieder mit Mary hierher, um Sie abzuholen, wenn Sie Ja sagen.«
Helene sagte gern Ja, und die Einwilligung des Vaters war auch nicht schwer zu erlangen, so schmerzlich es ihm auch war, sich von seinem lieben Kinde, seinem Haustrost, wie er sie nannte, zu trennen. Von ihren tieferen Absichten hatte er keine Ahnung, aber er hielt es für gut, sie aus der unerquicklichen Luft, die jetzt im Hause wehete, zu befreien, und er wußte, daß er sich in jeder Beziehung auf sie verlassen konnte.
Die Tage der Vorbereitung zur Reise vergingen rasch; es gab rührende Stunden dazwischen, und der Abschied war so ergreifend, daß der alte Engländer sich sagte: du mußt viel thun an dem Kinde, um ihr einigermaßen Das zu ersetzen, was sie zurückläßt.