Alfred Bock
Der Flurschütz
Alfred Bock

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Hoch in den Lüften kreist ein Schwarm von Krähen. Schnell wie die Windsbraut stoßen ihrer zwei auf frisch bestelltes Ackerland herab. Mit hörbarem Brausen folgt der ganze Flug. Die schwarze Legion bedeckt den lockeren Grund und macht sich über die Wintersaat her.

Dem Bauersmann sind die Krähen verhaßt, was man ihm auch von ihrem Nutzen vorpredigen mag. Er weiß, sie wackeln hinter dem Sämann her und lesen die leckeren Fruchtkörner auf. Genehmigt es die Obrigkeit, wird das Krähenschießen zum Fest.

Am Saum des Gemeindewalds, vom Stamm einer mächtigen Kiefer gedeckt, steht der Flurschütz, das Gewehr im Anschlag.

Jetzt drückt er los.

Zwei Räuber bleiben tot auf der Stätte. Die übrigen ergreifen die Flucht, aus der Höhe klingt ihr krächzendes Kroa.

Der Flurschütz lädt aufs neue sein Gewehr, freilich nur dem Jägerbrauch folgend, denn er kennt die Krähen als schlaue Patrone. Zum Schuß wird er diesen Morgen kaum wieder kommen.

Gemächlich nähert er sich dem Feld und bindet die Jagdbeute zusammen: zwei alte, feiste Gesellen, das Gesicht vom Bohrgeschäft federlos. Die haben mancherlei auf dem Gewissen. Nun hat sie ihr Verhängnis ereilt.

Der Flurschütz überschreitet die Gewann und begibt sich hinunter zum Hollerbach. Am Uferrand 99 läßt er sich langsam nieder. Er ist seit Tagesgrauen auf den Beinen, da tut ein wenig Ruhe gut.

Der Platz ist ihm gar wohl vertraut. Hier hat er oft als Kind gesessen, der Gänsehannes neben ihm.

»Hannes, Popannes,
Was machen die Gäns?
Sie sitzen im Wasser
Und puddeln die Schwänz.«

Der Gänsehannes erzählte Geschichten, von Nöcken und Nixen wunderbar. Und das Wasser rauschte so seltsam dazu, da konnte man das Gruseln lernen. Der Jugendfreund ist lang schon tot, und die Nöcken und Nixen auch. Nur das Wasser rauscht wie jenesmal.

Ein Sandstein liegt im klaren Grund, von der Strömung sauber ausgewaschen. Wenn man den Kopf einmal so ausspülen könnte, das würde eine Wohltat sein. Da nisten die Gedanken drin und immer neue fliegen zu. Wahrhaftig, der Kopf ist härter wie Stein, sonst müßt' er bei dem Rumor zerbersten.

Was hilft das alles, Daniel? Du mußt dich halt ducken. Ja schon, aber barbarisch sauer wird's einem doch. Für wen hast du dich abgeplackt? Wann du stirbst, bleibt deine Türe offen. Jakob! Jakob! Nein, schweig still! Reiß die Vatergedanken heraus. Der Lump ist bei dir ausgetan!

Im Dorfe läutete es zehn Uhr. Was mochte jetzt die Christine schaffen? Wahrscheinlich war sie in ihrer Kammer und packte ihre Siebensachen. Daß sie heute Abschied nahm, war ausgemacht, wie er sie kannte. 100 Danach ging sie wohl in die Stadt zurück und tat sich nach einer Stelle um.

Das Mädchen gab einem Rätsel auf. Sie brachte sich lieber kümmerlich durch, als daß sie behäbig im Wohlstand saß. Oder waren ihr die Mannsleute allesamt ein Gräuel? Dem widersprach ihr leibliches Kind. Der Schnappersgritt Rede nach hatte sie's von einem Infanteristen, der längst über alle Berge war. Sein Name war nie über ihre Lippen gekommen.

Und doch – bedachte man's genau, gab's für ihr Tun nur eine Deutung: der Soldat hatte es ihr angetan, daß sie ihn nimmer vergessen konnte. Wahrhaftig, das mußte ein Mordskerl sein!

Wenn man unter den Weibsleuten Umschau hielt, es gab nicht viele wie die Christine. Er hatte seine Freude an ihr gehabt, ja daß er sich's nur eingestand, er war bis über die Ohren in sie vernättert.

Vergangene Woche hatte ihn der Balthasar Röckel geladen. Sie probierten den neuen Äpfelwein und saßen, als hätten sie Pech an den Hosen. Er hatte ein bißchen viel getrunken Um Mitternacht trat er in seine Hofreite ein. Da überkam ihn unbändige Jugendlust. Und akkurat wie die jungen Burschen taten, holte er die Leiter aus der Scheuer herbei, stellte sie unter der Christine Fenster und stieg behende die Sprossen hinauf.

»Steh auf, du wackeres Mädelein,
Komm, laß' mich zu dir herein.«

Droben regte sich nichts. So krabbelte er bedumpft herunter und stellte die Leiter an ihren Ort. Am anderen Morgen hielt er Einkehr bei sich. Der 101 Teufel sollte den Apfelwein holen. Der hatte ihn zu dem Streich verführt. Im stillen leistete er einen Schwur, sein Gelüste niederzuhalten, es sei denn, die Christine wurde sein ehelich Weib.

Nun hatte er gestern seine Hoffnung begraben. Kochend war er fortgestürmt, die Straße hinunter ins freie Feld. Die halbe Nacht war er herumgestrichen. Im Wald hatte ihn das Gewitter überfallen. Und mitten im Toben des schweren Wetters hatte er seine Ruhe wiedergewonnen. Die klare Besinnung gebot, zu verzichten.

Unser Herrgott hatte einen großen Garten. Vielerlei Pflanzen wuchsen darin, und jegliche forderte ihren Platz. Konnte man's einem Menschenkind verargen, daß es seine eignen Wege ging? Die Christine war nicht wie andre Mädchen. Die mußte man mit besondrem Maße messen. Ihr Bild stieg greifbar vor ihm auf, wie sie gestern zitternd vor ihm stand: das Bild einer armen Geängsteten. »Nehmt's nicht für ungut, es kann nicht sein!« Das hatte unsäglich traurig geklungen. Da war gewiß kein Falsch dahinter. Sollte er den Stab über sie brechen?

Er schämte sich seiner Aufgebrachtheit. Verflixt! Wenn er hundert Jahre alt wurde, die Gäule gingen halt mit ihm durch. Das war ein Erbteil von seinem Vater. Der hatte mit seinem hitzigen Blut das halbe Dorf sich feind gemacht. Und war der beste Mann von der Welt. Ja, stak in ihm denn Boshaftigkeit? In seiner Gefreundschaft wußten sie's: es war kein Tröpfchen Gift in ihm. Und wenn's die Christine nicht glauben mochte, jetzt sollte sie ihn kennen 102 lernen. Er gab ihr den vollen Jahreslohn und für ihr Bubchen was dazu. Wollte sie diesen Nachmittag ziehen, bat er den Vetter Röckel um dessen Gespann. So schwer's ihm wurde, er fuhr sie selbst. Das hatte sie um ihn verdient.

Gegen Mittag kehrte er ins Dorf zurück. Dort hatte die Kirmesfreude ihren Höhepunkt erreicht. Auf der Schleifwiese tummelte sich das junge Volk, die Musik stimmte den Siebensprung an. Vor der Krone saßen die reichsten Bauern und becherten Wein. Etliche waren schon benebelt.

Als der Flurschütz eben vorüberschritt, trank ihm dieser und jener zu. Er mochte nicht unhöflich erscheinen und ließ sich bereden, ein wenig zu bleiben. Darauf tat er der Sitte gemäß jedem Bescheid. Das starke Getränk stieg ihm zu Kopf.

Von ungefähr kam der Röckel dazu. Der nahm den Vetter geheimtuerisch beiseit.

»Daniel, hab' ich dann recht gehört?«

Der Flurschütz sah ihn verwundert an.

»Was ist los?«

Der Röckel stutzte.

»Wo kommst du dann her?«

»Direkt vom Feld.«

»Das ist nicht schlecht.«

»Ich glaub', du hast dein' Uz mit mir.«

»Bewahr'! No du wirst Augen machen.«

Dem Flurschützen riß die Geduld.

»Etz sprech' dich aus,« sagte er fast grob.

Der Röckel neigte sich nah' zu ihm hin.

»Alleweil ist mir der Bettelkaspar begegnet.«

103 »Ja und?«

»Der hat mir's verzählt. Hab' gemeint, ich müßt' auf den Rücken fallen. Dein Jakob ist diesen Morgen gekommen.«

»Der Jakob!« prallte der Flurschütz zurück und stützte sich auf seinen Stock.

»Den bringt der Teufel,« sagte der Röckel, denn er wußte als Freund und Anverwandter, wie Vater und Sohn mit einander standen.

»Krieg die Kränk!« richtete sich der Flurschütz auf, und die Flammen schlugen ihm aus dem Gesicht. »Ich hab' mit dem Nautnutz nix mehr zu schaffen.«

»Ruhig Blut!« redete ihm der Vetter zu.

»Wo soll he dann sein?»

»Wie der Kaspar spricht, bei dir zu Haus.«

»Oha! Da sein ich der Herr, da hat he nix zu suchen!«

»Ich denk' doch, du wirst fertig mit dem.«

Der Flurschütz hob den Arm empor.

»Ich sein dir gut dafür!«

Er sagte der Tischgesellschaft hastig »Adjes!« und ging. War ihm die Hiobspost in die Kniee gefahren oder war's der ungewohnte Wein, er torkelte förmlich über den Platz.

Der Röckel setzte sich zu den Bauern.

»Was hast du dann mit dem Daniel gehabt?« ging man ihn neubegierig an.

»Ich?« sagte der Röckel, »dreimal nix. Das neuste ist: der Schwalbejakob ist wieder da!«

Ein paar Fäuste schlugen auf den Tisch.

»Der Schwalbejakob!«

104 »Kreuzdonnerwetter!«

»Wo hat dann der Kleckser die Zeit her gestocken?«

»Drüben in Amerika.«

»Das heiß' ich unverhuts Kirmesbesuch.«

»Der hat noch gefehlt.«

»Achtung, ihr Leut', der Bull' geht um!«

»Sperrt etz euer Mädercher ein.«

»Ja, he hat's sellemal arg getrieben.«

»Und fängt am End' das Geschäft wieder an.«

»Schwätz doch kein Blech!«

»Wieso?«

»He wußt' genau, wo er anpochen konnt'.«

»No, no.«

»Das versteht sich.«

»Bei so was sein immer zwei, die's wollen.«

»Eschenröder Mädercher
Legt euch in die Bohne,
Wann der Schwalbejakob kommt,
Wird er auch belohne.«

Brausendes Gelächter erschütterte die Luft. Die Gläser dröhnten aneinander, der Wein rann in Strömen durch die Gurgeln.

Indes schwankt der Flurschütz die Gasse hinunter, den hochroten Kopf vornübergebeugt.

»Himmelsakerment, sein ich dann durmelig?« spricht er mit sich selbst. »Schwätz' dir nix ein, du bist nicht durmelig. Ja freilich der Wein. Mußt mich dann der Teufel reiten, daß ich das Zeug herunterschütt'? Ich sein doch durmelig. Daniel, hab' deine Gedanken zusammen. Der Stromer ist wieder lebig worden. Das hätt' ich mir nicht träumen lassen. Gott straf' 105 mich, hab gemeint, he ist rackemaustot. Was ist dann an so einem Mensch verloren? Daniel, Daniel, he ist doch dein Kind! Fein gesprochen. Und was für ein Kind! Hatt' he ein Funken Lieb' zu seinem Vater? Fauklerei! Als Faß sein ich ihm gut gewest. Das heißt, so lang er dran zapfen konnt. Spund zu! Der kommt mir recht. Von mir aus kein' roten Pfennig mehr!«

Nimmt denn die Gasse heut kein Ende? »Allo, allo!« Der Schweiß dringt ihm aus allen Poren. Da wohnt der Schmalbach, da der Röckel. »Allo, allo!« Nun kommt sein Gehöft.

Am Gartenzaun steht der Bettelkaspar und grient ihn an.

»Daniel, Mensch, wo steckst du dann? Sput' dich, hast Besuch gekriegt. Das Jaköbchen ist wieder da. Hat Bäckelcher wie Milch und Blut und ist den Mäderchen so gut. Daniel, sput dich!«

Der Flurschütz läßt den Kaspar tralatschen und schreitet das Staket entlang. Jetzt biegt er in die Torfahrt ein. Zwei Stufen führen ins Haus hinauf. Die Küche ist leer. Wo ist die Christine? Vielleicht in der Scheuer. Horch doch, horch! Was war dann das? Da stöhnt jemand, als ging's ihm ans Leben. Daniel, Daniel, bist wirr im Kopf. Horch! Jetzt wieder. Ein verhaltener Schrei.

»Gottes Donner, das ist die Christine!«

Ein Sprung, er stößt die Stubentür auf. Das Blut erstarrt in seinen Adern, die Augen quellen ihm aus den Höhlen. Ein Mann über die Christine her. Hölle und Teufel!

Nun erkennt er ihn.

106 »Jakob!«

Der Boden wankt ihm unter den Füßen. Vor seinen Augen züngeln Flammen. Ein Wirbel rast durch seinen Kopf.

Im Nu reißt er das Gewehr herunter. Knack! schnappt der Hahn. Da kracht der Schuß. Rittlings schlägt der Jakob zu Boden. Die Kugel ist in den Kopf gedrungen. Er ist tot!

Die Christine schnellt auf. Der Wahnsinn will ihr Gehirn umklammern. Ein gräßlicher Schrei entringt sich ihren Lippen.

»Was habt Ihr getan? He ist der Vater von meinem Kind!«

Der Flurschütz taumelt ein paar Schritte vorwärts und stürzt an der Leiche seines Sohnes nieder. Um seine Schultern baumeln die Krähen, die er am Morgen geschossen hat.

Der Bettelkaspar hat den Schuß gehört. Halb neugierig, halb erschreckt, schleicht er ins Haus und lugt in die Stube herein.

»Gott soll sich erbarmen!«

Das Entsetzen packt ihn, er rennt fort.

»Mordio, Mordio!«

Das Wort schlägt wie der Blitz in die Häuser. Die Leute sammeln sich auf der Gasse.

»Mordio, Mordio!«

Die Schreckenskunde dringt in die Krone. Die Alten lassen den Wein im Stich. Den Jungen ist die Lust zum Tanzen vergangen. Die Musiker klettern von ihrem Podium herunter.

»Mordio, Mordio!«

107 Der Kronenwirt steht mit schlotternden Knieen.

»Ihr müßt es drin den Gendarmen sagen!«

Da kommen sie schon in voller Wehr. Vorwärts in des Flurschützen Haus! Trapp, trapp! Hinter ihnen drängt die Menge nach. Niemand getraut sich laut zu sprechen, die Stimmen sinken zum Flüstern herab. Trapp, trapp! Die Gasse erdröhnt vom Tritt der Kolonne. Halt! Jetzt sind sie am Ziel.

Die Gendarmen wenden sich um.

»Daß sich keins untersteht, das Hans zu betreten!«

Der Bürgermeister und der Ortsdiener keuchen heran. Als Amtspersonen haben sie Zutritt.

Darauf gehen sie selbvier hinein.

Wohl eine Viertelstunde verstreicht.

Die Menge verzehrt sich in Ungeduld.

Endlich öffnet sich die Tür. Voran ein Gendarm, dahinter der Flurschütz, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Er trägt sein Dienstabzeichen auf der Brust. Die Mütze hat er tief ins Gesicht gedrückt. Seine Blicke sind auf den Boden geheftet. Er scheint sich mühsam fortzuschleppen. Die hohe Gestalt ist völlig gebrochen.

Der Menschenschwarm weicht scheu zurück und bildet unversehens Spalier. Bei den Weibern hört man unterdrücktes Schluchzen, die Männer sehen finster drein. Das Mitleid folgt dem Unglücklichen, den die Gendarmen vor den Richter führen.

Vom Kirchenplatz geht's mählich hinan. Uralte Bäume besäumen den Weg, sie tragen roten Blätterschmuck. Die leuchtenden Farben bedeuten das Leben. 108 Der Wind aber ist ein Unglücksprophet. Der rauscht, sie bedeuten den Tod.

Mit einem Mal flammt die Sonne auf und entzündet die Kronen zu gleißender Glut. Eine Feuersbrunst loht die Straße hinauf. Und die Riesenfackeln zur Rechten und zur Linken geben dem Flurschützen das Geleit.

 


 


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