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XVI

Schatten – Schatten – Verwirrung überall.

Der Prinz brachte ein eben erschienenes Heftchen zu Professors und bat etwas zaghaft, der Professor möge zuguterletzt auch dies noch durchlesen. Der nahm es, doch mit sichtlichem Widerwillen, gab sich überhaupt so kühl und wenig freundlich, daß der Prinz die Augen nicht länger davor verschließen konnte: er war hier nicht der willkommene Gast von ehedem.

Er hätte nicht die vornehme Natur sein müssen, die er war, um achtlos daran vorüber zu gehen.

Wenn nur diese Frau nicht so unbändig reizvoll gewesen, wenn sich nicht eine so wunderliche Vertraulichkeit in ihren Verkehr eingeschlichen hätte!

Wie sie strahlte, wenn er kam; wie eine Erlöste, die die Freiheit grüßt. Kein Zweifel: er brachte Rosen für ihre Blässe, frische Luft in ihre Schwüle. Er machte sie beredt, sie brachte ihm ihre Geheimnisse, für ihn aufgespart. Sie plauderten, wie zwei, die heimlich mit einander im Bunde stehen – sie so drängend hastig, als seien die Minuten kostbar. Und in der Tat – das Erscheinen des Professors machte dem ein Ende. Dessen Gegenwart schien sich wie ein Alp auf sie zu legen.

Die Enttäuschung, die ihr die Antwort aus Charlottenburg bereitet, hatte nicht vermocht, sie von der seltsamen Schreibleidenschaft zu befreien. Sie glaubte ihrem »Otto« nichts mehr; er log und sagte dazu, daß sie eine Närrin wäre, ihm auch nur ein Wort zu glauben. Nun gut. Um so unbefangener konnte man sich mit ihm unterhalten. Es war aber doch ein Wunder, was sie in sich trug; es war etwas so unglaublich Verführerisches, wenn sie nichts Besonderes vorhatte, so Naheliegendes, dem Finger Freiheit zu geben und sich unterhalten, amüsieren, beleidigen und wieder versöhnen zu lassen.

Was dieses geheimnisvolle Etwas ihr war, das immerfort zu ihr sprach, konnte kein Mann ihr sein, der ein paar Stunden am Tage für sie übrig hatte, die er schweigsam, mürrisch mit übler Laune füllte. Während der Gatte bei ihr saß, las. Gleichgültiges sprach, fühlte sie's im Finger zucken und horchte heimlich auf sinnlose Albernheiten, die doch immer etwas Persönliches hatten.

Sie sprach zu ihrem Manne mit keinem Wort mehr darüber. Aber wenn der Prinz kam! Sie mußte sich aussprechen, und hier durfte sie es.

Es wollte dem Prinzen nicht beifallen, daß er nur ein Notbehelf in diesem Sinne für sie war. Wenn es ihm dämmern wollte, er weigerte sich klar zu sehen. Es war ihm so weich und warm innerlich, in vertrauter Nähe spielte soviel weiblicher Reiz, körperlicher, geistiger; warum sich selber wecken aus solchem Traume?

Er hatte Sehnsucht, wenn er ihr fern war. Und doch im Tiefsten ein Gefühl, daß sie nicht sein Schicksal war, daß diese entzückende Frau ihm nie würde mehr werden können. Irgendwann, auf einmal tauchte das blühende, geschmeidige Figürchen dieser blutjungen Nichte vor ihm auf, mit großen forschenden Augen, einem dunklen Vorwurf darin, und Liebe, so viel Liebe, junger, süßer Mädchenliebe ... er fühlte sie, atmete einen Duft von Heidekraut ...

Das blieb ihm ja; noch lebte eine andere Gegenwart für ihn, eine Rauschstimmung, die man sich immer wieder zu erneuern sehnt.

Nein, man muß versuchen, Einhalt zu tun. Nicht auf einmal – eine Entziehungskur!

Er bezwang sich, machte eine längere Pause bis zu seinem nächsten Besuch.

»So lange?« fragte Paula. »Wollen Sie uns untreu werden, Hoheit?«

Ah – hatte sie wirklich keine Ahnung davon, weshalb er gezögert? Oder ...

»Meine gnädigste Freundin – darf ich etwas seltener kommen?« sagte er. »Es ist, um zu verhüten, daß ich eines Tages mich ganz von Ihrem Angesicht verbannen muß.«

Sie sah ihn einen Augenblick verständnislos an, dann wurde sie rot. »Mein Mann ...?«

Der Prinz nickte. »Ich nehme zweifellos die Güte von Ihnen beiden mehr in Anspruch, als ihm angenehm ist. Ich verstehe das vollkommen.«

»Aber ich nicht, Hoheit,« sagte sie erregt. »Ich möchte unter den Launen, die er sich neuerdings angewöhnt hat, weder verkümmern noch die Sklavin abgeben.«

Der Prinz kämpfte mit sich.

»Erwägen wir ruhig ... wünschen Sie, daß ich mich dem aussetze, eines Tages von Ihrem Gatten unzweideutig abgelehnt zu werden?«

»Ah – das soll er wagen –«

»Gnädigste Freundin, das wird er wagen, glauben Sie mir. Geben Sie mir Ihre Hand ... so, und nun versprechen Sie mir, daß Sie mir's überlassen wollen, wie ich mir die Möglichkeit schaffe, Fühlung mit der entzückendsten Frau zu behalten, die ich kenne. Ja, wollen Sie?«

Sie zögerte, ließ ihm die Hand. Ein seltsam verwirrtes Gefühl kam über sie, ein Gefühl des Triumphes, gemischt mit einer süßen, sündigen Schwäche. Und daneben eine Erbitterung, eine wahre Abneigung gegen ihren Mann. »Ja,« sagte sie auf einmal hastig und entzog ihm die Hand. »Ich weiß nicht, was mit mir ist, mir kommt's vor, als wäre ich verwandelt seit Wochen. Ich bin so reizbar und empfinde so anders. Vielleicht hat mein Mann recht, daß mich Freund Otto verdirbt ... Was denn, mein Lieber ...«

Ihr Finger schrieb im Schoß. Der Prinz sah sie fragend an.

»Er will mit dem Gläschen lieben.«

»Was heißt das?«

»Mit dem Glase wie in der ersten Zeit mit dem Alphabet herumfahren. Hoheit haben das nie gesehen?«

»Nein.«

»Einen Augenblick ...«

Sie holte ihr Blatt mit dem Alphabet und eines der dünnen Wassergläser.

»Versuchen wir's zusammen. Zwei Finger, bitte, auf das Glas, wie ich.«

»Ich bin in der Tat nicht im geringsten medial, glaube ich.« Aber er legte die Finger auf. Die Fingerspitzen beider berührten sich, füllten sich mit einem wundersamen warmen Leben.

Nach ein paar Sekunden setzte sich das Glas in Bewegung.

»Inge – ich bin ein kleines Mädchen – trinke die süße Milch – eh, liebe Mama –«

Das Glas stand auf einmal still. Die Finger der beiden Menschenkinder berührten sich noch immer. Ein zitternder Strom floß herüber, hinüber. Beide blickten starr auf das Glas ...

Von draußen, von der Korridortür her klang ein Geräusch. »Mein Mann,« sagte Paula hastig und sprang auf, um Glas und Papier zusammen zu raffen. – –

Tags darauf kam ein Billett vom Prinzen. Paula riß das Kuvert auf.

»Ich bitte um Urlaub, gnädigste Freundin. Der Jagdteufel, der bei mir die Stelle Ihres Otto vertritt, reitet mich, ich will in meinen Wäldern eine kurze Kur machen. Zur Fahrt in die Mulacksgasse bin ich wieder da.

Ihr getreuer Prinz Georg.«

— — — — —

In der Tiergartenstraße große Erregung.

Nach ein paar Tagen fieberhafter Erwartung ein Brief des Leutnants an die Baronin – früh, die Gräfin lag noch zu Bett, die Baronin saß beim Frühstück.

Sie las, nickte und frühstückte ruhig zu Ende. Dann nahm sie den Brief und ging in das Schlafzimmer der Gräfin.

Das mißfarbene gedunsene Gesicht der Gräfin sah kläglich häßlich aus und die trüben Augen hafteten mit einem Ausdruck von Furcht auf der Baronin.

»Luise,« sagte die, »auf die Gefahr hin, daß deine Nerven davon nicht besser werden, habe ich dir eine Mitteilung zu machen, die meine Sorge um dich leider nur allzusehr rechtfertigt.« Und sie zog sich einen Stuhl an das Bett.

»Mein Gott, was ist denn wieder, Babette. Du bist nur noch da, um mich zu martern,« jammerte die Arme mit dem Versuch der Verzweiflung, Opposition zu machen.

»Denke, du seist krank und ich dein Arzt. Ich muß schneiden, es hilft nichts. Weißt du, was dein süßer Axel in Wahrheit ist?«

Die Gräfin sagte nichts, starrte sie bloß jammervoll an.

»Ein professionsmäßiger Spieler. Er lebt vom Spiel, er tut nichts, als spielen, jeden Abend – seit wer weiß wie viel Jahren. Er ist ein Verbrecher, ja, ein Verbrecher, es bedarf nur einer Anzeige, ihn ins Gefängnis zu bringen.«

Das Gesicht in den weißen Kissen wurde aschfahl, die Augen quollen: »Das ist nicht wahr, du mußt dich irren, Babette ...«

»Wenn du meinen Worten nicht glaubst, so will ich dir einen Brief vorlesen.

Liebe Tante Meiringen!

Die Sache stimmt, der Rittmeister ist Spieler von Profession und als solcher im ganzen Klub bekannt. Ich gehe heute noch zu ihm, um die arme Tante Bensheim von ihm zu befreien, werde sehr deutlich werden und denke, daß er nicht viel Späne machen wird. Gebe sofort Nachricht von dem Ergebnis.

Mit Handkuß Ihr Bodo Triglaff.«

Als die Baronin zu Ende gelesen, sah sie nach der Gräfin. Die lag mit geschlossenen Augen wie eine Leiche. Die Baronin lief nach einem Riechfläschchen zum Toilettentisch. »Erhole dich, du Arme, danken wir Gott, daß ich noch zur rechten Zeit ...«

Sie hielt das geöffnete Fläschchen der Gräfin unter die Nase. Es schien, daß sie ohnmächtig war. Die Baronin rieb ihr die Schläfe, strich ihr immer wieder von der scharfen Flüssigkeit unter die Nase. Ein betäubender Geruch verbreitete sich. Endlich schien der unglücklichen Frau die Besinnung wiederzukehren, sie wimmerte leise.

»Du wirst es überwinden, arme Luise. Bodo wird dich von dem Verworfenen befreien ...«

»Nein, er soll nicht,« rief die Gräfin auf einmal, »die Männer spielen doch alle, das ist doch kein Verbrechen. Mein Mann und deiner haben doch auch gespielt.«

»Aber das ist ja etwas anderes, ein harmloses Jeu, das ist Privatsache. Seinen Lebenserwerb vom Spiel suchen, das ist das Verbrecherische.«

»Du bist entsetzlich, Babette; laß mich allein. Ich glaube es noch nicht, nicht eher, als bis ich ihn selber gefragt habe.«

»Hoffentlich kommt es nicht dazu: er kann dir ja weismachen, was er will. Ich lasse nicht nach, ich will meine Pflicht als Freundin gegen dich erfüllen bis zum letzten Augenblick, daß ich es kann.«

Sie ging. Die Gräfin sah ihr mit einem Gemisch von Angst und Haß in den Augen nach wie ein Tier im Käfig dem Bändiger, der es eben verlassen. Dann überließ sie es ihren wirren Gedanken, sich zurecht zu finden ... das Ende war ein dumpfes Brüten, und wieder die Angst ...

Sie schellte der Jungfer und jammerte über ihren Kopf, ließ sich wieder einmal kalte Kompressen auflegen.

Plötzlich fiel ihr ein, der Rittmeister könnte kommen, und sie ließ sich ankleiden, legte sich auf die Chaiselongue. »Wenn der Herr Rittmeister kommt, ich will ihn sprechen, Minka, man soll ihn nicht abweisen.«

Vorläufig kam nur gegen Mittag ein Billett des Leutnants für die Baronin, eine auf der Rückseite beschriebene Visitenkarte:

»Will nicht zu Kreuze kriechen, verschanzt sich dahinter, daß man ein Dutzend Kavaliere mindestens kompromittieren müßte, um ihn zu belasten. Will mir die Sache überlegen. Verteufelte Klemme, muß aber irgendwie gedeichselt werden.«

Die Gräfin ließ sich einen Teller Suppe bringen, verließ ihr Boudoir nicht. Sie wartete, wartete ... Die Baronin hielt es für ihre Pflicht, ein paar mal nach ihr zu sehen, ohne daß sie ihr dabei von dem Billett des kleinen Leutnants sagte. Der Hauptschlag war geschehen, es kam darauf an, daß dieser zunächst verwunden würde. Sie bedauerte, tröstete, ermahnte ... Die Gräfin hörte mit blödem Blick zu und ließ sich alles gefallen.

Am Spätnachmittag: »Frau Gräfin da –?«

Das ist der Rittmeister!

Die Gräfin hastete mit ihrer ganzen Schwerfälligkeit zur Tür, die aus dem Boudoir auf den Korridor führte, fiel ihm draußen an die Schulter und umschlang ihn dabei; unbekümmert um den Diener. »Axel – o Gott, was tun sie mir an! Komm doch und sage, daß alles nicht wahr ist!«

»Was denn? Bitte, gehen wir hinein ...«

Aus der nächsten Tür trat ihnen die Baronin entgegen, eiskalte Verachtung im Gesicht.

»Ah,« sagte der Rittmeister ironisch, verbeugte sich, noch den Hut in der Hand. »Sie sehen, daß ich mich nicht fürchte, meine Gnädige.«

»Das weiß ich nicht; aber die Dreistigkeit ist das Einzige, wovon Sie sich noch Erfolg versprechen können.«

»Wollen Sie fortgehen? Bitte, es steht Ihnen frei, bei dieser Unterredung zugegen zu sein. Ich wünschte es sogar.«

Die Baronin stutzte. »Nun gut, obwohl ich mir den Verlauf des Gespräches an den Fingern hersagen kann!« Und sie kehrte um.

»Also, ich bitte, meine Damen, nehmen wir Platz. So. Sie kennen da einen Leutnant, der Ihnen gesagt hat, ich wäre ein Spieler.«

»Ein professioneller Spieler, ich bitte,« ergänzte die Baronin.

»Aha, das klingt schrecklicher – das riecht nach Kriminal. Davon abgesehen – vielleicht wissen Sie jetzt schon, daß dies schwer zu beweisen ist und daß schon ganz erschwerende Umstände hinzukommen müssen, wenn das Gesetz eingreifen soll. Aber angenommen, ich bin ein gewerbsmäßiger Spieler – wissen Sie, was der Unterschied zwischen mir und den Grafen, Fürsten, Herzögen und weniger klangvollen Namen ist, mit denen ich gespielt?«

»Ja; eben, daß Sie vom Spiel leben, diese nicht.«

»Ganz recht ... Und weshalb spielen diese Leute? Aus Leidenschaft fürs Spiel. Sie sind dem Spielteufel verfallen, der größere Teil nicht für heut, für morgen, sondern für immer. Ich nicht! Ich hasse das Spiel, habe keinen sehnlicheren Wunsch, als den, anständig leben zu können, ohne mehr eine Karte anrühren zu müssen.«

»Ach, siehst du, Babette –« rief die Gräfin mit dem ganzen Gesicht voll Verklärung. »Der arme Axel! Ihr habt alles übertrieben. Warum soll er noch spielen, wenn wir beide doch reichlich zu leben haben werden? Er haßt das Spiel, und ich finde das sehr begreiflich – immer die Angst, daß man verliert, wenn man doch nichts hat.«

»Aber, Luise, das sind ja Finten! Der Herr Rittmeister hätte gearbeitet, statt zu spielen, wenn er nicht dem Spielteufel verfallen wäre – ja, mein Herr, verfallen in Ewigkeit. Sie werden weiter spielen, wenn Sie der Mann meiner Freundin werden sollten.«

Die Augen der Gräfin irrten von neuem unsicher nach dem mit ihrer Zuneigung Beglückten, der lässig, immer mit derselben ironischen Sicherheit neben ihr saß.

»Arbeiten – das eben ist's, meine gnädige Feindin. Arbeiten wollte ich eben nicht – kein Provisionsreisender werden, keinen Zigarrenladen aufmachen, kein Holz hacken und auch keine Straße fegen. Wenn ich Ihnen in einem dieser Berufe mehr imponiert haben würde, so ist das Geschmackssache. Ich glaube nicht, daß meine teure Luise wünschen wird, ich möchte unter den Kavalier hinunter gestiegen sein.«

»Mein teurer Axel – ich bin glücklich ...« sagte die Gräfin schmelzend und drehte Madonnenaugen, indem sie nach seiner Hand griff.

Die Baronin erhob sich mit einer zornigen Bewegung. Ihr Pulver war verschossen.

»Ich bitte,« dehnte sie mit einer Verbeugung im Abgehen. »Für heute will ich Sie nicht weiter hindern, auf den Weg zur Tugend einzulenken ...«

— — — — —

Könneke hatte alle Ursache, mit seinem angeborenen guten Humor auf gespanntem Fuße zu stehen.

Weder Lauras Erziehung, noch ihre geistige Begabung wiesen sie auf kritische Zweifel hin, wo ihr aus irgendwelchem Prophetenmunde Zukunftsaussichten eröffnet wurden. In jüngeren Jahren war sie ebenso wie ihre Bekanntinnen zu den renommierteren Sibyllen der Karten und des Kaffeesatzes gegangen, und sie war noch heute der Meinung, daß ihr ein gut Teil ihres Schicksals ganz richtig vorhergesagt worden. Gegen den Spiritismus sträubte sie sich zunächst auch nur, weil sie außer ihren Mann niemand kannte, der an ihn glaubte.

Seit jener schrecklichen Prophezeiung, die so brutal auf sie eingestürmt, glaubte sie, ihr Leben finde noch vor Neujahr ein gewaltsames Ende. Wenn sie das dachte, überkam sie die furchtbare Angst, das unsagbare Grauen – mit einem Schlag war aller Lebensmut wie ausgeschüttet.

Auf welche Art wird sie umkommen? Die Treppe hinunterstürzen und sich das Genick brechen? Von einem Dachziegel erschlagen werden? Von einem Fuhrwerk überfahren? Solch ein Tod! Und immer in Angst – nicht wissen, wovon umkommen! Keinen Augenblick sicher!

Sie weint, wann immer sie es unbemerkt tun kann; auf dem Boden, auf ihren Gängen nach der Stadt macht sie ihrer Verzweiflung Luft. Wenn sie ihr Kleinstes versorgt, überkommt sie's. Sie hat schreckliche Träume, kann nicht einschlafen, wacht plötzlich jählings auf, horcht, steht auf, leuchtet unter die Betten ...

Überhaupt: sie horcht, späht, prüft mißtrauisch um sie, ob es von irgendwo etwa droht. Jedes Messer, das sie anfaßt, ist ihr verdächtig; jede Treppenstufe geht sie vorsichtig, die Hand fest am Geländer, macht Bogen um Menschen, die ihr begegnen, ist beständig auf dem Sprunge, wenn sie jemand sprechen muß. Wenn sie Feuer macht, nur ein Streichholz anzündet, zittert sie.

Sie sieht jämmerlich aus, mit tiefen Ringen um die Augen.

Zeitweise wird's ihr zuviel, dann wird sie stumpfsinnig, dann ist ihr alles gleichgültig.

»Nu aber, Frau Könneke, das werden Sie doch wohl nicht glauben, das wäre doch zu dumm,« sagte die Gärtnersfrau zu ihr. Könneke hat sie aufgefordert, seiner Frau den Unsinn auszureden, Laura selber hat zu niemand davon gesprochen. »Ich weiß es von ihrem Mann, warum Sie auf einmal so elend werden. Wie können Sie sich von so einem dämlichen Weibe den Kopf verkeilen lassen; die sollte doch von der Polizei unschädlich gemacht werden.«

»Das sagen Sie so, Frau Schotte. Seien Sie bloß in meiner Lage! So was ist oft genug eingetroffen. Mein Mann hat gut reden; früher hat er ganz anders geredet von den Spiritisten. Die Frau ist nicht ohne, sonst hätte sie nicht so viel Zuspruch. Geben Sie Acht, es kommt so, ich lebe Neujahr nicht mehr. Du lieber Gott – und gerade vorher Weihnachten ...«

Die Stimme bricht ihr und sie weint vor sich hin.

»Nu da warten Sie's doch erst ab. Es kann doch auch anders kommen. Warum wollen Sie sich denn mit Gewalt schon vorher zu Schanden machen.«

»Sie können wohl trösten, Frau Schotte, Sie triffts nicht.«

»Sie haben doch Religion, Frau Könneke; wenn Sie denn durchaus nicht anders können, wie dran glauben, dann müssen Sie sich doch fragen: Wie Gott will, ich halte still. Oder gehen Sie doch mal zum Pastor.«

»Ich glaube, ich werde verrückt,« sagte Frau Laura. »Wenn das so fortgeht, bringe ich mich gleich lieber selber um.« Dabei blieb sie.

Könneke selber war durch die unglückliche Wirkung des Zwischenfalls auf seine Frau in Wahrheit vom Spiritismus gründlich kuriert. Das heißt: er wollte nichts mehr von ihm wissen. Da dies auf Laura ohne Eindruck blieb, war er zunächst verdrießlich, wie so viele Menschen, die sich heimlich anklagen, ein Übel verursacht zu haben, und sich heimlich damit trösten, daß sie nicht eigentlich eine Schuld trifft. Für einen Sanguiniker, wie er, war dieser häusliche Jammer »zum Stiefelausziehen,« wie er sich ausdrückte.

Er versuchte also, da sein vernünftiges Zureden nicht verfing, auf seine Art Wandel zu schaffen. Er trieb tolle Possen mit Laura, mit den Kindern, schien unerschöpflich an drolligen Einfällen. Manchmal erreichte er ja ein krankhaftes Lächeln bei der Armen, aber sie besaß zu wenig Sinn für Humor, wie er sehr richtig gegen Paula geäußert.

Eines Tages – er hatte den beiden Ältesten bei den Schularbeiten geholfen, Laura saß am Fenster, wo sie in der Dämmerung Strümpfe gestopft hatte und wischte wieder die Augen – rief er die beiden noch einmal zum Tisch zurück.

»Setzt euch, ihr wohlgeratenen Früchte meiner Lenden,« sagte er ernsthaft. »Ihr werdet bemerkt haben, daß eure Mutter von einem Geist der Schwermut besessen ist. Wer von euch kann mir aus der Bibel ein Beispiel sagen, wo es einem Könige des alten Testaments ähnlich ergangen ist?«

»König Saul,« riefen die zwei einstimmig.

»Schön; ihr macht eurem Vater Ehre. Weiter: auf welche Weise wurde dieser Geist vertrieben?«

»Durch David, er spielte die Harfe.«

»Jawohl. Es hätte aber ebenso gut geholfen, wenn er die Flöte geblasen hätte. Musik – das war die Hauptsache. Wenn wir fortab sehen werden, daß der böse Geist über eure arme Mutter kommt, so werden wir Musik machen.«

»Du bist verdreht,« sagte Laura am Fenster mit ihrer melancholischen Stimme.

»Sollte ich nicht dabei sein können, so könnt ihr auch ohne mich singen; eines kann auch vielleicht die Mundharmonika dazu blasen.«

»Untersteht euch,« sagte Laura.

»Sollte eure Mutter in Ermangelung eines Spießes mit etwas anderem nach euch werfen, so darf euch das nicht irre machen, da ihr ja ein gottwohlgefälliges Werk zu ihrem Besten tut. Fangen wir zum Beispiel einmal mit dem schönen Liede an, das ich euch neulich gelehrt.«

Und er begann mit seinem hohen Schneidertenor zu singen: »'S gibt kein schöneres Leben als das Räuberleben in dem dustern dustern dustern Wald ...« Und die beiden Kinder setzten nach den ersten Worten mit schüchternem Blick auf die Mutter ein.

Laura stand auf und lief hinaus.

»Seht ihr?« sprach Könneke triumphierend, »der böse Geist kann das nicht vertragen und läuft mit ihr fort.«

Seitdem peinigte er die unglückliche Frau mit Gesang, sobald sie in seiner Gegenwart Zeichen von Betrübnis von sich gab. Die Kinder wagten freilich nicht, seinem Geheiß nach ohne ihn zu singen. Dafür brachte er gar eines Abends ein defektes Gebilde von Kinderdrehorgel mit, das er im Fenster eines Trödlers entdeckt. Sie lieferte in höchst lückenhafter Ausführung zwei Gassenhauer, einen Walzer, eine Polka und »Heil dir im Siegerkranz«.

Allein dies Hilfsmittel erwies sich als zu drastisch. Eine Stunde lang entzückte sie die Kinder, dann bekam die gequälte Laura eine Art Weinkrampf.

Könneke schnappte mit einem quiekenden Ton ab, schielte nach ihr, schüttelte den Kopf und sagte weichmütig: »Laurachen, beruhige dich, da ich sehe, daß diese Medizin zu stark für dich ist, werde ich von ihr absehen. Ich will dir etwas sagen: wir wollen einen Vertrag schließen. Die Frau Professor hat mir heute mitgeteilt, daß der Prinz und Professors und Wellmer und andere bei der Häbler eine Sitzung abhalten werden, um ihr wegen ihrer Ehrlichkeit auf den Zahn zu fühlen. Meiner Überzeugung nach wird sie sich bei dieser Gelegenheit als ausgemachte Schwindlerin entpuppen. Wäre dem so, dann hättest du keine Ursache mehr, dich zu ängstigen. Versprich mir, bis dahin deine Angst in den Schrank zu hängen, so will ich aufhören, dich zu erheitern.«

Laura blickte mißtrauisch nach ihm hin, aber sie faßte sich.

»Du kannst aber doch nicht dabei sein?«

Könneke rieb sich hinterm Ohr. »Ich möchte wohl, aber ich glaube selber nicht, daß sie mich herein läßt, denn sie kann sich denken, daß das für sie nicht gut abläuft. Aber laß nur, die andern werden's ihr schon besorgen. Jedenfalls« – er hielt ihr die Hand über den Tisch – »was, Angetraute? Du läßt bis dahin die schweren Träume wie Leonore und fährst ums Morgenrot? Na?«

Sie gab ihm zögernd die Hand.

»Bravo,« schrie der Maler und nahm den Kasten unter den Arm. »Polonaise!« Und er zog, indem er den Walzer vom Teophil weiter spielte, mit den Kindern im Gänsemarsch um die schwach lächelnde Laura herum.

Seitdem arbeitete er wieder an der gelben Stunde, die er in der unglücklichen Zeit aus Mangel an Stimmung gänzlich vernachlässigt hatte.


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