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VIII.

Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sicher. Die Mühlen der Königlich preußischen Rechtspflege mahlen zwar nicht ganz so sicher, dafür aber noch etwas langsamer. Drei ganze Wochen verflossen bis zu jenem Tage, da Gustav Herold aus dem Untersuchungsgefängnis einen Brief seiner Klientin erhielt, welche ihn zu einer möglichst baldigen Besprechung bat. Diesem Brief lag eine amtliche Zustellung bei, welche die Mitteilung an die Angeschuldigte enthielt, daß die Voruntersuchung geschlossen sei ...

Aufatmete der Rechtsanwalt. Diese Mitteilung bedeutete in zwiefachem Sinne für ihn die Erlösung von einem Druck, der zuletzt schon nicht mehr erträglich gewesen war:

Zunächst würde ihm als dem Verteidiger nun endgültig die Einsicht in die Untersuchungsakten freistehen ... Nun endlich würde er sich ein Bild machen können, wie der Fall Mengershausen nunmehr sich aktenmäßig darstellte ...

Und dann: die gläserne Wand, die ihn bis jetzt von seiner Klientin getrennt hatte, die war gefallen in diesem Augenblick ... und heute würde er der unglücklichen Frau unter vier Augen gegenüberstehen, noch heute würde er sich mit ihr aussprechen können ... nicht nur über den Stand ihrer Prozeßsache – ach nein, auch über all das Unermeßliche, über das er sich mit ihr auszusprechen hatte, Mensch gegen Mensch –

Er war inzwischen nicht müßig gewesen. Zunächst hatte er sich mit eiserner Energie auf die Literatur über das Problem der hypnotischen Suggestion gestürzt. Bände auf Bände hatte er aus der Königlichen Bibliothek nach Hause geschleppt und mit fieberhaftem Eifer durchstudiert. So hatte er seine Kenntnisse dieses Problems nach allen Richtungen hin vertieft, hatte aber doch die Beobachtung gemacht, daß das flüchtige Bild, das er schon am Abend der ersten Berührung gewonnen hatte, ihm alle wesentlichen Grundzüge des heutigen Standes der Frage bereits an die Hand gegeben hatte, ohne daß selbst das gründlichste Studium in dieser Richtung etwas wesentlich Neues hinzugetragen hätte.

Er war noch weiter gegangen: er hatte das Bedürfnis gehabt, sich mit einer wissenschaftlichen Autorität auf diesem Gebiete über die Frage auszusprechen. Sein erster Gedanke war der gewesen, den Professor Dr. Aldringen als Gewährsmann heranzuziehen, ihn, der zugleich als einer der ersten Kenner der in Frage kommenden psychologischen und psychiatrischen Probleme galt, und der außerdem insofern noch besonders genau über die Umstände des Falles Bescheid wissen mußte, als er den verstorbenen Kollegen in den letzten Monaten vor seinem Tode ja dauernd behandelt hatte. Aber seltsamerweise hatte Professor Aldringen sich den Bemühungen des Verteidigers der Witwe seines Kollegen gegenüber durchaus zugeknöpft verhalten. Er hatte sich darauf beschränkt, dem Rechtsanwalt mitzuteilen, daß er selbst bereits durch den Untersuchungsrichter als Sachverständiger und Zeuge vernommen worden sei und es infolgedessen ablehnen müsse, noch weitere, als die bereits aktenmäßig erteilte Auskunft privatim dem Verteidiger zu erteilen ... Das war ein Umstand, der dem Rechtsanwalt viel zu denken gab. Zwar ließ er sich zwanglos auf eine vielleicht etwas allzu peinliche wissenschaftliche und berufliche Gewissenhaftigkeit des Gelehrten zurückführen ... Aber die ganze Haltung des Herrn hatte einen etwas beklemmenden Eindruck auf den Rechtsanwalt gemacht ... er war so seltsam unnahbar, so peinlich unzugänglich gewesen ... Selbst jede private Aussprache über den Charakter der Frau Mengershausen und seine eigene Ansicht vom ganzen Stande der Sache hatte er mit einer Art von Schroffheit verweigert ... So war denn dem Rechtsanwalt nicht andres übriggeblieben, als sich mit einer anderen Autorität in Verbindung zu setzen, welcher jedes Urteil über die individuelle Lage des Falles abging, und die sich naturgemäß darauf beschränken mußte, das Problem vom allgemeinen Gesichtspunkt aus mit dem Verteidiger durchzugehen und über die Struktur des Falles sich nur insoweit auszulassen, als der Rechtsanwalt ihr diese vermitteln konnte – er, der ja selber noch nicht allzu tief in den wirklich vorliegenden Tatbestand eingedrungen sein konnte ... Die theoretischen Ausführungen, die der Professor beizusteuern in der Lage war, deckten sich im wesentlichen mit dem Bilde der Sache, das Herold sich bereits aus seinem eigenen theoretischen Studium der Frage aufgebaut hatte ... Und was sein Gewährsmann über die besonderen Umstände des vorliegenden Falles zu äußern wußte, das wurde mit aller jener Reserve gegeben, die sich geziemte angesichts des Umstandes, daß man eigentlich doch so gut wie gar nichts von der wirklichen Lage der Sache wußte ...

In zweiter Linie war Herold bestrebt gewesen, jenen andern Punkt aufzuklären, der ihm persönlich noch schwerer auf der Seele wuchtete. Er hatte versucht, die Persönlichkeit des »dunklen Freundes« zu ermitteln. Er hatte so eine Ahnung, als ob hier noch irgendwelche Momente stecken müßten, die für die Klarstellung des Falles von größter Bedeutung sein würden – ob sie sich nun bei Lichte besehen als Belastungsmomente darstellen oder auch für die Verteidigung unmittelbar verwendbar sein würden, darüber war auch nicht die leiseste Vermutung gestattet ... Immerhin kam es ja Gustav Herold nicht nur beruflich, sondern auch menschlich darauf an, völlig klar zu sehen ...

Freilich – diese Ermittlungen anzustellen war nun doch nicht so recht seines Amtes ... Und dann fehlte es ihm auch daran an Zeit und an jener Routine, die sich nur der Spezialist auf diesem Gebiete zu eigen machen konnte ... mit einem Worte: der Detektiv ...

Und so hatte Gustav Herold sich denn vorsichtig nach der Adresse eines zuverlässigen Instituts dieser Gattung erkundigt und war auf das Büro » Fiat lux« hingewiesen worden. Alsbald hatte er den Besuch des Vorstehers dieses Büros empfangen und war mit ihm nach einigem Feilschen darüber einig geworden, daß ein Vorschuß von zweihundert Mark zu zahlen sei und daß das Honorar für den einwandfreien Nachweis der Persönlichkeit und der derzeitigen Adresse des »dunklen Freundes« fünfhundert Mark betragen solle. Er hatte dann mit dem geheimnisvoll tuenden Herrn, der keinen allzu vertrauenerweckenden Eindruck machte, – aber das taten derartige Leute wohl am Ende nie – die ganze Lage des Falles und die Korrespondenz, die sich in seinen Händen befand, durchgesprochen. Herr Wolfhagen, vormals Königlicher Kriminalkommissar, der aus diesem Amt in nicht allzu ehrenvoller Weise entfernt worden war und jetzt als Leiter des besagten Instituts seine früheren Erfahrungen und Beziehungen in einer vielleicht nicht allzu noblen, jedenfalls aber scheinbar recht lukrativen Weise verwendete, hatte sich verabschiedet mit der siegesgewissen Erklärung, in acht Tagen werde er die Person des Gesuchten in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise festgestellt haben. Aus diesen acht Tagen waren inzwischen bereits fast drei Monate geworden, ohne daß Gustav Herold irgendetwas andres gehört hatte, als daß ihm von Zeit zu Zeit aus den verschiedensten Plätzen Europas Briefe zugegangen waren, in denen der Detektiv ihm kurz anzeigte, daß seine Ermittlungen einen in jeder Weise erfreulichen Verlauf nähmen, und daß in allerkürzester Frist alles Wissenswerte beisammen sein werde.

Aber da war noch ein dritter Punkt, der dem Rechtsanwalt zwar weniger Arbeit als die beiden andern, dafür aber weit mehr Kopfzerbrechen verursachte, als die beiden zusammengenommen. Die Untersuchungsbehörde hatte in dem Mengershausenschen Hause eine genaue Haussuchung veranstaltet gehabt und jeden Schnitzel Papier, der sich vorgefunden hatte, beschlagnahmt. Nun aber befand sich Gustav Herold im Besitze des wichtigsten Teils der Korrespondenz seiner Klientin ... In welche schiefe Lage war er nun geraten –?! War es nicht das beste, alles, was er in den Händen hatte, schleunigst der Untersuchungsbehörde auszuliefern? Er rang mit diesem Entschlusse ... schob ihn von Tag zu Tag auf und machte ihn dadurch immer unmöglicher ... Er war sich aufs klarste bewußt, daß er sich durch diese Unterlassung in scharfen Widerspruch mit den Pflichten seines Anwaltsberufs gesetzt hatte. Mehr als das; seine ganze berufliche Existenz war damit aufs Spiel gesetzt ... Mehr als das: mit jeder Stunde der Verzögerung brachte er sich tiefer in die Gefahr hinein – wenn ein Zufall seine Handlungsweise ans Licht bringen sollte – in den Verdacht hineinzugeraten, als habe er sich – einer etwaigen Schuld seiner Klientin gegenüber – einer strafbaren Begünstigung schuldig gemacht ...

Damit entschwand aber auch jede Möglichkeit, einen Dritten in den Fall einzuweihen und einen bewährten Verteidiger von Fach hinzuzuziehen, woran Gustav Herold schon mehrmals gedacht hatte, wenn sein auf bürgerlichrechtlichem Gebiete so sicherer Schritt auf den verschlungenen Pfaden der Kriminalistik immer wieder unvorhergesehenen Hindernissen und Schwierigkeiten begegnete. Wie wenig paßte das alles zu seinen bisherigen Lebensgrundsätzen und Gepflogenheiten ... zu seinem Wesen und der Widerstandskraft seiner Nerven! Die tiefe Depression, die auf seinem ganzen Seelenzustande lastete, gab sich für seine nähere Umgebung immer unzweideutiger zu erkennen. Schon sprach man im Kreise seiner Berufsgenossen über die seltsame Wandlung, die mit ihm vorgegangen ... über die auffallende Vernachlässigung, mit der er seine sonst so sorgfältig gepflegte Praxis behandelte ... Auch in Richterkreisen war man bereits auf diese wunderliche Wandlung aufmerksam geworden.

Und vollends Frau Helene war untröstlich über die bestehende Verstörung, deren Opfer der Gatte geworden war. Ihre Gründe konnte sie nicht einmal ahnen ... sie führte alles auf die wachsende Leidenschaft zurück, die das Geschick ihres Mannes unabwendbar mit der Katastrophe seiner Freundin zusammenwirrte ...

Aber je schwieriger und problematischer sich das Zusammenleben der Ehegatten gestaltete, um so mehr vertiefte und festigte sich der Charakter der bis dahin vom Schicksal so sehr verwöhnten Frau. In all den vielen einsamen Stunden, in denen sie die jähe Wendung ihres Ehegeschicks überdachte, fühlte sie mit instinktivem weiblichem Takt vollkommen klar das eine: für sie gab es hier nur eine Taktik, die nämlich, in die ganze tragische Wirrnis möglichst wenig einzugreifen und alles Heil von der gesunden, tüchtigen Art ihres Gatten zu erwarten, die sich über kurz oder lang finden und damit zu ihr zurückfinden müsse ... Sie konnte ja nicht ahnen, wie tief ihr Mann bereits in die verhängnisvollen Verschlingungen des Falls Mengershausen verstrickt war ... sie konnte nicht ahnen, daß sein eigenes Schicksal mit dem seiner Klientin schon durch nahezu unentwirrbare Bande zusammengeknotet worden war ...

Trotzdem hatte das Verhalten, das ihr weibliches Empfinden, ihre reife und vertiefte Liebe ihr diktiert hatte, das Richtige getroffen. Noch niemals hatte Gustav Herold den Wert seiner sturmgeschützten Häuslichkeit, den Segen stillwaltender Fürsorge so nötig gebraucht, so dankbar empfunden, wie in diesen Wochen, in denen jeder Gedanke, jedes Gefühl sich auf diesen einen Punkt konzentrierte: was ist um Susanne?! Qualvoll grauenhaft war das Ahnen, nein das Wissen, daß sich nun so völlig abseits der Reichweite seiner eigenen Helfermacht das Schicksal seiner Freundin und sein eigenes immer drohender zusammenzog. Da saßen in einem der hundert und aberhundert Zimmer des schicksalsschwangeren Fünfecks zwischen Moabit, Wilsnacker Straße und Rathenower Straße ein paar Beamte wie die Spinne in ihrem Netz und umwanden Frau Susanne Mengershausen und damit auch ihn, den Rechtsanwalt Gustav Herold, mit unsichtbaren Fäden, die sich eines Tages vielleicht zu unzerreißbarem Gewebe zusammenziehen würden ... Und er –?! wehrlos, machtlos ... nur die dumpfe Ahnung lastete auf seiner Seele, daß verhängnisvolle Dinge geschähen, in deren Verlauf er sich durch eigene Schuld hineinverstrickt hatte ... Jawohl, durch eigene Schuld!

Aber was er getan hatte, war jetzt nicht mehr rückgängig zu machen. Der Briefstapel, den er dem eleganten Schreibtisch seiner Klientin entnommen und damit dem Zugriff der Behörden entzogen hatte – der nun in seinem eigenen Schreibtisch lagerte, kam ihm vor, wie ein mit verderbenschwangeren Stoffen und Kräften geladener Explosivkörper, der eines Tages plötzlich in die Luft fliegen und seine Freundin und auch ihn selber zerschmettern müsse ... Und seltsam – seit er selber einen Schritt getan hatte, den er vor seiner Berufspflicht und vor seinem Gewissen als verderblich erkannte – seitdem lebte er sich von Tag zu Tag fester in die Überzeugung hinein, nicht nur ein ungerechter Diener, sondern auch ein Diener des Unrechts zu sein ... die Überzeugung, seine ferne schöne Freundin müsse ... schuldig sein ...

Und so war es denn eine ungeheure Erlösung, als die Nachricht eingelaufen war, die Voruntersuchung sei geschlossen und damit all die Schranken gefallen, die ihn bisher zu einem angstvollen Tappen im Dustern verdammt hatten ... ihn gebannt hatten an ein ewiges Hinstarren auf die paar lückenhaften Tatbestandmomente, über deren Kenntnis er verfügte ... Nun stand dem Verteidiger die Einsicht in die Prozeßakten offen. Kaum hatte er den Brief empfangen, da stürzte er wieder einmal in ungeheuerster Erregung in das Zimmer seines Kollegen Sieveking hinüber mit der nun schon bis zum Überdruß wiederholten Bitte, für heute auf seine Tätigkeit verzichten – seine Sachen am Kammergericht vertreten zu wollen ...

Es gab eine erregte Szene zwischen den beiden Mitarbeitern. Herr Sieveking konnte es sich nicht versagen, die Andeutung zu machen, daß ihm unter diesen Umständen an einem weiteren Zusammenarbeiten mit dem Berufsgenossen von fünf Jahren nicht mehr allzuviel gelegen sein könne ... Aber schließlich wurde er sich darüber klar, daß es immer das kleinere von zwei Übeln sei, wenn er heute wieder einmal die ganze Last der gemeinsamen Geschäfte allein auf seine Schultern nähme, als wenn er seinen Sozius in dieser Verfassung zwänge, auf die Gerichte zu gehen, und das ohnehin bereits stark erschütterte Vertrauen der Klientel und der Senate noch weiter untergraben lasse.

Und so warf sich denn Gustav Herold abermals tief aufatmend in ein Automobil und sauste zum wer weiß wievielten Male den sonst für ihn so ungewohnten Weg nach Moabit hinaus. Unterwegs versuchte er noch einmal diejenigen Umstände sich ins Gedächtnis zurückzurufen und zu ordnen, die zu seiner Kenntnis gelangt waren.

Der Ausgangspunkt war vor wie nach die Aussage der Zeugin Krölke, die er zwar noch nicht in ihrer aktenmäßigen Form kannte, wohl aber in jenem Inhalte, in dem er auch in die Öffentlichkeit gelangt war: also ihre Aussage, sie habe Frau Mengershausen nächtlich belauscht, wie sie ihrem Gatten den Entschluß des Selbstmordes und den Brief, der ihn erklären sollte, suggeriert habe ...

Der an sich problematische Charakter dieser Aussage wurde unterstützt durch jenes Dokument, das er zwar auch noch nicht zu Gesichte bekommen hatte, dessen wesentlichen Inhalt er aber auch aus der Presse kannte.

Ob die Akten noch weitere Belastungsmomente enthielten –?! Gustav Herold konnte es nicht ahnen. Für ihn stand bloß die Frage: inwieweit die Aussage der Krölke an sich glaubhaft und möglicherweise überzeugend sei? Hier griffen seine Ermittlungen über den wissenschaftlichen Stand der hypnotischen Probleme ein, deren wesentlicher Inhalt auch bei seiner heutigen, durch intensives wissenschaftliches Studium vertieften Information doch die drei gleich von ihm im Anfang ermittelten Punkte waren: Anspruch auf Glauben verdienten die Behauptungen der Krölke nur, wenn weiter nachgewiesen werden konnte, daß der Verstorbene an sich dem Gedanken an einen Selbstmord nicht innerlich förmlich ablehnend gegenübergestanden habe – daß seine Geistesverfassung zur Zeit seines unglückseligen Endes auch im allgemeinen bereits unter dem Eindruck einer starken psychischen Degeneration gestanden habe – und endlich, daß die angebliche Täterin schon früher Gelegenheit gehabt habe, ihren Gatten während einer verhältnismäßig langen Zeit hypnotisch zu beeinflussen, zu »erziehen« ...

Das war in knappen Worten das Gerüst der Situation, die sich für Gustav Herold nach dem Stande seiner bisherigen Informationen darbot.

Wo steckten die Akten zur Zeit –?! Gustav Herold mußte sich wieder einmal den Gang des Ermittlungsverfahrens ins Gedächtnis rufen. Der Paragraph 195 der Strafprozeßordnung kam in Frage:

»Erachtet der Untersuchungsrichter den Zweck der Voruntersuchung für erreicht, so übersendet er die Akten der Staatsanwaltschaft zur Stellung ihrer Anträge.«

Dies war die gegenwärtige Lage der Sache. Der Untersuchungsrichter war der Auffassung, daß das von ihm herbeigeschaffte Material die Staatsanwaltschaft in den Stand setzen würde, sich darüber zu entscheiden, ob sie das weitere Ermittlungsverfahren als aussichtslos einstellen wolle – dies für den Fall, daß sich die Unschuld der Angeschuldigten zweifelsfrei erwiesen haben sollte – oder ob sie bei der Strafkammer des Landgerichts Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Angeschuldigte stellen solle. Aus der gewaltigen Zahl der Sekretariate, in denen die Subalternbeamten der Königlichen Staatsanwaltschaft arbeiteten, hatte Gustav Herold an der Hand des Aktenzeichens, das die Benachrichtigung des Untersuchungsrichters an Frau Susanne aufwies, ohne allzu große Mühe das richtige Büro herausgefunden. Ein heftiger Schreck durchfuhr ihn, als der Sekretär ihm das mächtige Aktenstück überreichte, zu dem die Untersuchungsakten gegen Mengershausen inzwischen angeschwollen waren. Um Gotteswillen, was konnte die Inquisitionsbehörde denn nur alles gegen seine Klientin zusammengetragen haben –?!

Der Sekretär wies ihm einen Tisch an, der abseits am Fenster stand. Und inmitten der dumpfen Stube, deren Wände mit Regalen voller staubüberlagerter Aktenmappen austapeziert waren, in der das gemächliche, lautlose Schaffen zweier Registraturbeamten waltete, versenkte sich nun Gustav Herold in das Studium der Akten gegen die p. Mengershausen ...

Und wie er las und las ... da spürte er wieder den eisigen Griff der Knochenhand in seinem Nacken ... die drückte ihn tiefer und tiefer auf den Wust engbeschriebener Blätter nieder, in denen seine Hand fieberhaft Blatt um Blatt umwandte. Wie das verwickelte Räderwerk einer wohl ausgesonnenen Maschine griff da Belastungsmoment um Belastungsmoment ineinander, und alle diese Räder schienen ein gigantisches Etwas wie eine kolossale Walze zu regieren, die sich langsam heranschob, um Susanne Mengershausen zu zermalmen – und ihn mit ...

Da waren zunächst die Protokolle über die Vernehmung der Frau Mirjam Bogdanski, die über ihre Wahrnehmung an jenem Teenachmittage ausgesagt hatte, von dem Helene ihm bereits berichtet hatte. Helene selbst zu vernehmen, hatte die Untersuchungsbehörde sich bisher anscheinend nicht bemüßigt gesehen ... offenbar wegen ihres allzunahen Verhältnisses zum Verteidiger der Angeschuldigten ... denn Gustav Herold fand an irgendeiner Stelle der Akten eine Verfügung, wonach Frau Rechtsanwalt Herold zu ihrer Vernehmung als Zeugin zu laden sei ... diese Verfügung war aber späterhin wieder dick durchstrichen worden ...

Da war ferner die Vernehmung des Notars, der das Testament aufgenommen hatte ... er war über seine Eindrücke vom Geisteszustande des Testanten bei Niederlegung des Testaments vernommen worden und zwar unter Hinweis auf die protokollarische Erklärung der Witwe und Angeschuldigten, welche ihn von seiner Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit entband ... Der Notar hatte ausgesagt, seiner Auffassung nach habe Geheimrat Mengershausen an jenem Tage unter dem Einfluß einer sehr starken seelischen Depression gestanden ... er habe mehrfach erklärt, daß er ernste Besorgnisse für seinen Gesundheitszustand hege und gewillt sei, seine Frau für alle Fälle sicherzustellen ... Am meisten fühlte sich Gustav Herold aber zu Boden geschmettert durch die Aussage des Professors Aldringen. Er bezeugte: er habe seinen Kollegen Mengershausen schon seit mehr als zwei Monaten vor seinem Tode wegen starker nervöser Depression behandelt, die in heftigem Kopfschmerz, Angstzuständen und Schlaflosigkeit zum Ausdruck gekommen sei. Mengershausen hatte mehrfach die Absicht geäußert, seinem Leben ein Ziel zu setzen, doch keineswegs mit der Begründung, daß er sich selbst als unheilbar krank und herannahendem Wahnsinn verfallen ansehe – während diese Begründung doch in seinem Abschiedsbrief an seine Frau enthalten war – . Er, Aldringen, sei vielmehr der Ansicht, daß diese Selbstmordidee lediglich eine auf starke Überarbeitung und dadurch entstandene nervöse Überreizung zurückzuführen sei. Mengershausen habe beständig über andre Symptome eingebildeter Leiden geklagt, habe beständige Furcht vor Erscheinungen körperlichen Verfalles geäußert, für die der Untersuchungsbefund nicht den leisesten Anhalt gegeben habe. Er sei zum mindesten als hypochondrisch, wenn nicht gar als hysterisch anzusprechen ... eine Hysterie von jener Form, wie man sie häufig bei hochbedeutenden Menschen als bedauerliche Begleiterscheinung ihrer Genialität vorfinde.

Bis hierher hatte Gustav Herold mit steigender Bangigkeit die Bekundung des berühmten Psychiaters verfolgt. Aber seine Angst wurde lähmendes Entsetzen, als er die weiteren Bekundungen des Gelehrten las: Frau Susanne Mengershausen sei eines Tages aus eigner Veranlassung an ihn mit der Erklärung herangetreten, sie habe die Fähigkeit, andre Menschen hypnotisch zu beeinflussen. Dieser ihrer Fähigkeit sei sie sich bei einer gesellschaftlichen Spielerei mit zwei Freundinnen bewußt geworden. Sie habe oft gehört, daß Patienten, die an Schlaflosigkeit litten, durch hypnotische Beeinflussungen leicht ihren Schlaf zurückgewinnen können – sie frage an, ob er, Professor Aldringen, einverstanden sei, daß sie ihre Fähigkeit zugunsten ihres Gatten verwende. Er habe sich in vollster Überzeugung von Frau Susannes guter Absicht und aus seiner Kenntnis des felsenfesten Vertrauens heraus, das Mengershausen selbst in seine Frau setzte, mit diesem Verfahren einverstanden erklärt, und es lasse sich nicht bestreiten, daß Frau Susanne durch ihre hypnotische Beeinflussung in puncto der Schlaflosigkeit geradezu glänzende Resultate erzielt habe. Gerade in den letzten acht Tagen vor Mengershausens Tode habe sich in seinem Befinden eine wesentliche Besserung gezeigt. Der Schlaf sei regelmäßig, die Beängstigungen verschwunden gewesen – die hysterischen Zwangsvorstellungen von vorhandenen Leiden seien in den Hintergrund getreten, und er habe Frau Mengershausen mehrfach zur nahezu völligen Genesung ihres Gatten und ihrer eigenen verdienstvollen Mitwirkung dabei gratuliert ... Um so größer sei seine Überraschung gewesen, als er von Mengershausens jähem Tode gehört habe, den er sich damals mit einer plötzlichen Verschlimmerung in Mengershausens Befinden zu erklären versucht habe ... Auf die Frage des Untersuchungsrichters, ob er die Denunziation der Krölke als glaubhaft ansehe, hatte der Gelehrte geantwortet: das sei eine Frage, die er als Mann der Wissenschaft aus eigener Sachkunde heraus weder mit einem Ja noch mit einem Nein beantworten könne ... Denkbar sei es unter allen Umständen, daß die Sache sich so zugetragen habe, wie die Krölke behaupte ... Irgendwelche positiven Anhaltspunkte für die Beantwortung dieser Frage böten aber seine eigenen sachkundigen Wahrnehmungen über Mengershausens Leiden und die anscheinende Besserung, die er in den letzten Tagen vor seinem Tode erfahren habe, auf keinen Fall ...

Gustav Herold verglich die Bekundung mit seinem eigenen Schema vom Stande der Sache, das er sich auf der Herfahrt im Automobil entworfen hatte ... Ja, mein Gott – brachte diese Aussage denn nicht geradezu die Ausfüllung der drei Momente, die er selber auf Grund seiner Studien über den Stand des hypnotischen Problems als des Beweises bedürftig in seinem Kopfe notiert hatte –?! Selbstmordgedanken – psychopathische Minderwertigkeit – und endlich, was das allergrauenhafteste war – die »hypnotische Erziehung« – das alles war durch die Bekundung des behandelnden Arztes als vorhanden nachgewiesen –! Und wenn der Gelehrte selber diese Folgerungen nicht gezogen hatte – bewies nicht der Wortlaut seiner Aussage, daß er diese lediglich aus dem Gefühl heraus unterlassen hatte, nicht als Richter, sondern nur als pro informatione gehörter Sachverständiger im Prozeß zu stehen –?! Würden aber die Richter, die Geschworenen sich der Logik seiner tatsächlichen Bekundungen entziehen können, wenn ein wissenschaftlich informierter Vertreter der Staatsanwaltschaft all diese Tatsachen in fachgemäßer Deduktion entwickelte?!

Und wenn in den letzten Wochen ein unbegreiflich bängliches Gefühl dem Anwalt häufig die Gewißheit von der Schuld seiner Klientin eingeblasen hatte – in dieser Stunde, angesichts des Materials, das die Untersuchungsbehörde zusammengetragen hatte, fühlte er diese Gewißheit, dieses Gefühl sich zur pflichtgemäßen, durch das ganze Rüstzeug juristischer Logik bestimmten Überzeugung verdichten ...

Doch halt! Die letzten Aktenfaszikel brachten die Rettung. Sie enthielten zunächst eine handschriftliche Notiz des Untersuchungsrichters, wonach auf dem Schriftstück, das von der Hand der Angeschuldigten herrührte und nach deren Angabe eine Abschrift des von ihrem Manne hinterlassenen Briefes darstellte, sich drei ziemlich deutliche Fingerabdrücke befänden ... Sodann folgte ein Gutachten des vereidigten Gerichtschemikers Doktor Frederich, dem eine ganze Anzahl von Photographien beigefügt war. Diese stellten starke Vergrößerungen der Fingerabdrücke dar, welche die Untersuchungsbehörde auf dem Schriftstück entdeckt hatte. Daneben aber Vergrößerungen von Fingerabdrücken, die der Gerichtschemiker von der Hand der Zeugin Krölke hatte herstellen lassen. Man brauchte kein Sachverständiger zu sein, um auf den ersten Blick die völlige Übereinstimmung des feinen Netzgewebes, als das diese Abdrücke sich präsentierten, auf beiden Bildern zu erkennen. Es war nicht der leiseste Zweifel. Die Fingerabdrücke, die das Gericht entdeckt hatte, stimmten mit denen, welche Fräulein Krölke auf Veranlassung des Sachverständigen hatte abgeben müssen, auf das genaueste überein ...

Blätterte man aber alsdann in den Akten zurück nach Blatt zehn – auf dieses Blatt wiesen zahlreiche Registraturvermerke mit Bleistift hin, die sich auf den späteren Aktenblättern vorfanden – so entdeckte man dort in der Aussage des Fräulein Krölke eine jedenfalls von der Hand des Untersuchungsrichters angekreuzte Stelle, in der Fräulein Krölke behauptete, sie habe das von Frau Mengershausens Hand herrührende Schriftstück niemals gesehen, wisse nichts von seiner Existenz, vollends sei sie es unter keinen Umständen gewesen, die das Schriftstück vom Schreibtisch ihrer Herrin in deren Nachttischschublade befördert hätte – –

Das letzte Blatt der Akten bildete das Protokoll über eine nochmalige Vernehmung des Fräulein Krölke, in welchem sie auf richterlichen Vorhalt zugab, diese ihre Angabe sei der Wahrheit nicht entsprechend gewesen ... sie habe tatsächlich die Briefbogen mit den Schriftzügen auf dem Pult ihrer Herrin entdeckt und sie an den Platz gebracht, wo die Polizei sie entdeckt und beschlagnahmt hatte. Auf des Richters Frage, weshalb sie denn diese Manipulation vorgenommen habe, hatte Elsbeth Krölke erwidert: sie habe wohl vorausgesehen, daß man ihrer Aussage über ihre nächtlichen Wahrnehmungen, die sie vom Badezimmer aus gemacht haben wollte, nicht genügend Glauben schenken würde, und habe infolgedessen überhaupt erst dann den Mut gehabt, damit hervorzutreten, nachdem sie auf dem Schreibtisch zufällig dieses Dokument gefunden habe. Es sei ihr klar geworden, daß dieses Schriftstück, wenn die Polizei es entdecke, ihren Aussagen eine wesentliche Stütze geben würde, und deswegen habe sie es in das Nachttischschublädchen geschmuggelt, wo es dann, ganz ihren Absichten gemäß, von der Polizei entdeckt worden sei. Im übrigen halte sie ihre Aussage völlig aufrecht, als der Wahrheit aufs genaueste entsprechend.

Gustav Herold lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte zur Decke empor – dorthin, wo ihr staubiges Weiß mit dem staubigen Grau der getünchten Wände der Büroräume zusammentraf, und wo die Reste verstaubter Spinnwebennetze von der emsigen Tätigkeit längst vertrockneter Sommerkolonistinnen sprachen.

Freilich – das war überwältigend. Das warf alles über den Haufen, was sich angesammelt hatte an Belastungsmomenten ...

Wenn die Zeugin, die einzige, die überhaupt in Betracht kam – auf deren Aussage die Anschuldigung gegen Frau Susanne überhaupt beruhte – wenn sie selber zugeben mußte, daß sie in wesentlichen Punkten ihrer Bekundung frech und konsequent gelogen, daß sie das Bild des Tatbestandes durch eigne Tätigkeit verändert habe, um die Situation zum Nachteil der Angeschuldigten zu verschlimmern – dann war auch der Teil der Aussage, den sie heute noch aufrechterhielt, weil er nicht widerlegt werden konnte – völlig wertlos. Auf eine solche Aussage hin verurteilt man keine unbescholtene Frau wegen Mordes – selbst wenn im übrigen dieser oder jener Umstand vorliegen sollte, der mit ihr zusammen zu stimmen schiene.

Teufel – die Entdeckung des Fingerspitzenabdrucks, das hätte eigentlich nicht die Untersuchungsbehörde herausbekommen dürfen – das wäre etwas für ihn, für den Verteidiger gewesen!

Aber dieser ehrgeizige Neid war nur die Anwandlung eines Moments ... Frau Susanne! Es ging ja jetzt doch nur um Frau Susanne –! Sie war gerettet! Sie war unschuldig –

Aber seltsam –! hätte Gustav Herold nun nicht beglückt aufatmen müssen, erlöst von der Last eines ungeheuren Verhängnisses, das nachtschwarz über der Freundin Scheitel gelastet hatte – und über dem eigenen –?!

Und dabei fühlte er etwas wie eine grimmige, schneidende Enttäuschung – wie das Versinken eines schauerlich süßen Traumes ...

Nein, es war nun klar ... eine freche Hochstaplerin hatte die Gerichtsbehörden wochenlang am Narrenseil geführt ... eine aberwitzige Erfindung, entstanden in einem verwahrlosten, von wüsten Phantasien bevölkerten Gehirn – das und nichts andres war der Ursprung des »Falles Mengershausen« ...

Und Frau Susanne war, was sie geschienen während all der Stunden, in denen sie sich auf diese aberwitzige Anschuldigung hatte verantworten müssen – die vornehm ruhige, in ihrer Unschuld getroste Frau, in deren Seele gewiß wohl mancherlei seltsame Wallungen ihr Spiel getrieben haben mochten – die aber völlig unfähig war, einen so verruchten Plan auch nur zu träumen, geschweige denn auszuführen ...

Also nicht Mörderin – nicht Verbrecherin um eines Mannes willen ...

Und wenn man nun zufällig selber der Mann war, der sich eingebildet hatte – mit tiefem Grausen – und dennoch ... dennoch mit geheimem Schauer, mit eitlem, geckenhaftem, läppischem, ruchlosem Entzücken eingebildet hatte, dies Ungeheuerliche, dies Unmögliche sei geschehen ihm selber zu Liebe – mußte man dann nicht vor sich selber ausspeien in Scham und Ekel? Und mußte man das eigne Herz nicht mit Skorpionen züchtigen, weil es so infame Vorstellungen beherbergt hatte – ach, und in fader Enttäuschung zappelte, nun es diese Wahngebilde zerfließen sah?

Was würde nun werden? Die Strafkammer hatte das Hauptverfahren noch nicht eröffnet – war es überhaupt denkbar, daß die Staatsanwaltschaft Anklage erhob auf Grund einer an sich phantastischen, nun aber in ihrer Glaubwürdigkeit völlig problematisch gewordenen Denunziation?!

Nun, um die Erhebung der Anklage und um die Eröffnung des Hauptverfahrens war am Ende doch wohl nicht herumzukommen. Das Protokoll über die letzte Vernehmung der Zeugin Krölke schloß mit der Feststellung, daß die Zeugin ihre Aussage beschworen habe. Der Untersuchungsrichter registrierte dabei, daß in Gemäßheit des § 65 Abs. 3 der Strafprozeßordnung die Beeidigung erfolgt sei, weil sie als Mittel zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage über eine Tatsache, von der die Erhebung der öffentlichen Klage abhängig wäre, erforderlich erschienen sei. Er war also der Ansicht gewesen, daß, wenn die Zeugin ihre Aussage insoweit, als sie diese noch aufrecht erhielt, beschwören würde, die Erhebung der öffentlichen Anklage geboten sein würde ... Ob die Staatsanwaltschaft sich dieser Ansicht anschließen würde, war immerhin fraglich, aber man mußte doch wohl annehmen, daß die Staatsanwaltschaft die Entscheidung über die Glaubwürdigkeit der Aussage der Zeugin Krölke und ihre Tragweite dem erkennenden Gericht überlassen und die Anklage jedenfalls erheben würde. Nun, und wenn die Strafkammer dann eröffnete, so kam es eben zur Hauptverhandlung ... und dann würde Gustav Herold den billigen Triumph erleben, einer mangelhaft fundamentierten Anklage gegenüber einen glatten Freispruch der Geschworenen zu beantragen und erzielen ... Und dann, dann war Susanne Mengershausen frei ...

Aber auch er, Gustav Herold, würde dann frei sein ... nicht für sie, sondern von ihr ... er war kuriert ... er hatte das Antlitz der Gorgo gesehen, das hinter jedem Bunde zweier Menschenschicksale lauert, die auf dunklen, gesetzlosen Wegen zu einander trachten ... Mochte dann die schöne Frau mit ihrer Hand und mit der unverkümmerten Erbschaft ihres Gatten beglücken, wen sie wollte – Gustav Herold wußte, wohin er gehörte ... Er würde in Zukunft gefeit sein gegen den Bann dieser opalisch schimmernden schwarzen Augen ...

Und alles würde gut werden.

*

Und es wurde immer noch lichter vor Gustav Herolds Blick. Am Nachmittag empfing er einen Brief des Herrn Wolfhagen, Königlichen Kriminalkommissars a. D. und Vorstehers der Detektivbüros » Fiat lux«, der aus Luzern meldete, daß er nunmehr die Persönlichkeit des geheimnisvollen Korrespondenten der Frau Susanne in unwiderleglicher Bestimmtheit ermittelt habe. Es war niemand andres als der Gustav Herold längst dem Namen nach bekannte Reise- und Romanschriftsteller Karl Nathusius ... eine Persönlichkeit, deren literarisches und menschliches Renommee gleich anrüchig war. Zahlreiche dickleibige Romanbände aus seiner Feder kursierten in zehntausenden von Exemplaren in Deutschland und wurden von einer gewissen Schicht des Lesepublikums verschlungen, das an der bizarren Wüstheit der exotischen Abenteuer sich erletzte, in denen die skrupellose Phantasie seines Lieblingsautors schwelgte. Mit besonderer Vorliebe behandelte dieser Autor Stoffe, die bei aller modernen Aufmachung von dem Glauben an gespenstische, diabolische Mächte zwischen Erde und Himmel getragen waren ... Gott mochte wissen, in welcher Stimmung von Langeweile und Sensationsbedürfnis Frau Susanne in die Sphäre dieses Abenteurers geraten war ...

Gustav Herold erinnerte sich, daß einer seiner Freunde, ein Verlagsbuchhändler und Chef einer der ersten Firmen, die belletristische Literatur verlegten, ihm gelegentlich gesprächsweise erzählt hatte, dieser Karl Nathusius sei von einer ungeheuerlichen Fruchtbarkeit, und die Hauptquelle seines fürstlichen Einkommens seien nicht einmal jene Bücher, für die er mit seinem eigenen Namen eintrete – vielmehr sei er nebenbei oder vielmehr gar hauptsächlich einer der wichtigsten Lieferanten jener Verlagsfirmen, die sich mit der Heranzüchtung und Verbreitung der berüchtigten Kolportageliteratur befassen ... Und wieder einmal schüttelte sich Gustav Herold in dem Gedanken, sein verstorbener Freund und Retter hätte einmal erfahren müssen, auf welchen Bahnen das unbeschäftigte Seelenleben seiner Lebensgefährtin gewandelt sei ...

Nun, das alles ging ihn ja jetzt glücklicherweise nichts mehr an. Heute morgen noch hatte er das Gefühl gehabt, als sei sein Schicksal mit dem seiner Klientin durch unzerreißbare, schicksalsmächtige Bande zusammengeschmiedet ... Nun war der qualvolle Druck gewichen, unter dem er seit Wochen geächzt ... er war frei – ganz frei –!

Der Fall Mengershausen bedeutete für ihn nun nichts weiter mehr denn eine Nummer in seinem Prozeßregister ... Wenn es denn nun einmal sein sollte – daß die Staatsanwaltschaft und die Eröffnungsstrafkammer wirklich das Bedürfnis hatten, Frau Susanne Mengershausen die Genugtuung einer öffentlichen Verhandlung und eines glänzenden Freispruchs angedeihen zu lassen – nun gut – –

Gustav Herold würde seine Rolle in der Justizkomödie, die sich vor dem auflauschenden Berlin abspielen würde, mit Anstand zu Ende führen. Würde Frau Susanne seine Rechnung über das gesetzliche Honorar von insgesamt Sechzig Mark für Verteidigung im Vorverfahren und Hauptverfahren übersenden, sie würde ihm als Antwort einen Check über, na sagen wir mal, tausend Mark schicken ... den würde Gustav Herold dann einlösen und mit Frau Helene eine riesig vergnügte nachträgliche Hochzeitsreise zum Wintersport nach Schierke antreten ... und dann war diese qualvolle und doch ... recht lehrreiche und nachdenkliche Episode zu Ende ... aber auch völlig zu Ende ...

Und als sollte dieser Tag, der in so dumpfer Beklemmung begonnen, auch noch den letzten Rest des Dunkels verscheuchen, das den inneren Zusammenhang, die eigentliche Entstehung der Affäre noch verschleierte, erhielt Rechtsanwalt Herold am Nachmittag auf seinem Büro den Besuch eines jungen Referendars, der auf der Visitenkarte als Doctor juris Hans Fritze bezeichnet war, und in dem der Anwalt beim ersten Hereintreten des jungen Herrn den Protokollführer von dem Ortsbesichtigungs-Termin im Hause Bleibtreustraße 123 wiedererkannte. Mit liebenswürdiger Befangenheit nahm der junge sympathische Herr in dem Konsultationszimmer des Anwalts Platz und eröffnete die Unterhaltung damit, daß er den Herrn Rechtsanwalt um das ehrenwörtliche Versprechen absoluter Verschwiegenheit bat. Diese Erklärung gab Gustav Herold zwar mit einigem Staunen, doch unumwunden ab. Und nun begann Hans Fritze seinen Bericht. Er erzählte, wie ein unbezwingliches Bedürfnis ihn veranlaßt habe, auch außerhalb seiner pflichtgemäßen Tätigkeit als Gehilfe des Untersuchungsrichters an der Aufklärung des Falles Mengershausen zu arbeiten ... Wie er aus dieser Absicht heraus der Persönlichkeit der Zeugin Anna Krölke ein wenig näher nachgegangen sei, und was für überraschende Entdeckungen sein improvisierter Raubzug zu Tage gefördert habe. Also die Person, die Frau Susanne Mengershausen auf Grund Gott weiß welcher Empfehlungen, welcher gefälschten Zeugnisse als Hausdame erwählt hatte, figurierte auf der polizeilichen Liste der öffentlichen Mädchen –! Sie war gleich nach ihrem plötzlichen Ausscheiden aus dem Dienste der Dame in ihr eigentliches Metier zurückgesunken –! Sie war mit beiden Beinen in die plumpe Falle hineingestolpert, die ihr neuer Bekannter ihr beim Sekt gestellt – und hatte schon damals indirekt zugegeben, was ihr später durch die Entdeckung ihrer Fingerspitzenabdrücke mathematisch nachgewiesen worden war – daß sie es gewesen, die das belastende Dokument an den Platz geschafft hatte, wo die Polizei es entdeckt hatte –!

In bescheidenem Stolz berichtete der junge Herr weiter, daß er es gewesen sei, der die Entdeckung der Spur der unsauberen Finger des Mädchens gemacht und so den mathematischen Beweis ihrer Verlogenheit ermöglicht habe. Und endlich legte Herr Fritze dem maßlos verblüfften Verteidiger noch einen stattlichen Packen gedruckter Quarthefte in grellbuntem Umschlagdeckel vor, welche die bisher erschienenen Fortsetzungen des Kolportageromans »Im Bunde mit den Höllengeistern« darstellten, und wies in raschen Stichproben nach, daß das 128. Kapitel dieses Romans das ganz genaue Vorbild der Erfindung der Elsbeth Krölke enthalte –!

In der Tat, der erste flüchtige Einblick überzeugte den Rechtsanwalt vollkommen, daß hier das Verbrechen, dessen »Elsbeth« ihre Herrin bezichtigt hatte, in einem mathematisch übereinstimmenden Modell bereits vorerfunden worden sei –

»Sie meinen also, Herr Kollege,« sagte der Rechtsanwalt, »aus diesem Kapitel habe das Frauenzimmer den Einfall, ihre Herrin mit dieser phantastischen Mordmethode zu bezichtigen, geschöpft –?«

»Aber ich bitte Sie, Herr Rechtsanwalt –« lächelte der Referendar, »lesen Sie doch nur einmal den Roman im Zusammenhang –! Wenn da noch der leiseste Zweifel möglich ist, daß dieses edle Machwerk das Modell für die Denunziation der Krölke gewesen ist –«

»Herr Kollege, ich mache Ihnen mein Kompliment. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, ich würde Ihrem Herrn Chef ruhig alles erzählen. Ein bißchen unkommentmäßig war es ja, was Sie gemacht haben – aber so glänzend, ich möchte sagen, so genial – Ihr Chef muß das wissen – das muß in Ihr Dienstzeugnis hinein –!«

»Soweit reicht mein Ehrgeiz garnicht, Herr Rechtsanwalt!« sagte der Referendar mit lächelndem Erröten. »Aber ... etwas anderes ... könnten Sie tun ... Ihrer Klientin sollen Sie es erzählen, daß ... daß ein gewisser kleiner Referendar ... sich auch ein wenig Mühe gegeben hat, sie herauszureißen ... und wenn die Frau Geheimrätin dann die Güte haben wollte, mir ein paar freundliche Zeilen zu schreiben – das wäre überreicher Lohn –!«

Die frischen Lippen des hübschen Jungen zitterten ... in seinen hellen Augen lag ein schwärmerischer Glanz, den der erfahrene Mann ihm gegenüber nicht mißdeuten konnte. Sieh da! dachte er – welch kostbare Acquisition für Frau Susannes Menagerie! Zwischen all dem Wolfsgelichter, das sie umschlichen und umgiert hat, ein schneeweißes Unschuldslämmchen –! Teufel – dieser kleine Mann hat jedenfalls viel mehr Chance, als er sich's in seinen kühnsten Träumen ahnen läßt ... Aber es ist vielleicht besser für ihn, wir bewahren ihn vor allzunaher Berührung mit Circes Zauberstab ...

»Den Brief kriegen Sie, Kollege!« lachte er – »Sie haben ihn sich redlich verdient!«

Rot vor Glückseligkeit stolperte der schmucke Bursche hinaus.

Und nun vertiefte sich Gustav Herold in den »Bund mit den Höllengeistern« ... Und wie er las und las – da tauchte eine Vorstellung auf – so verblüffend ... so aberwitzig – und doch so – unabweisbar ... daß Gustav Herold plötzlich aufsprang und ein paar hastige Gänge durch das Zimmer unternahm ... Himmel ... die Sprache ... dieses tolle Spiel mit Begriffen und Tatsachen aus dem Bereich jener dunklen Unterströmungen des Geisteslebens der Gegenwart, denen er selber so völlig verständnislos und ablehnend gegenüberstand – und die doch überall in der Tiefe der Gegenwart herumspukten, um von Zeit zu Zeit auch ganz klare Köpfe in den Strudel hinabzuziehen – – woher kannte er denn nur das alles –

Nein – es war nicht anders möglich – dies ekelhafte, schmutzige Machwerk da trug unzweifelhaft und unverkennbar die Handschrift des »dunklen Freundes« –

Teufel, Teufel –! Und dazu der Brief des Herrn Kriminalkommissars a. D. Wolfhagen –! Wär' es möglich –?! Der Verfasser des »Bundes mit den Höllengeistern« und der »dunkle Freund« – sie wären vielleicht eine Person –?!

Gustav Herold las weiter. Bald war seine fratzenhafte Ahnung unumstößliche Gewißheit geworden ... Und wie er weiter las – wie er das Geschick und die Schilderung der Persönlichkeit der Heldin seiner widerwärtigen Lektüre näher verfolgte – da ward es ihm immer klarer, daß dieses Bild die ins Groteske verzerrten und doch unverkennbaren Züge – Frau Susannes trug ...

Also dieser abenteuernde literarische Desperado, dem Artur Mengershausens Frau, Gott weiß in welcher von allen guten Geistern verlassenen Stimmung, in die Arme gelaufen war – der hatte diese Beziehung dazu ausgenutzt, Modellstudien zum »Bunde mit den Höllengeistern« zu machen –!

Und nun tauchte auch ein männlicher Gegenspieler auf ... eine Figur, zu der Karl Nathusius offenbar sich selber Modell gesessen hatte ... ein Kerl, mit allen edlen Qualitäten behängt, deren Vereinigung nur jemals das wehrlose Herzchen schmökernder Gelbsterndamen und Kinderfräulein erschauern gemacht hatte ... Graf und Millionär selbstverständlich ... aller Sprachen des bewohnten Erdballs kundig ... durch alle hohen Schulen der Liebe hindurchgegangen, teilhaft aller dunklen Wissenschaft dieser haltlos gärenden, in dumpfer Wundersehnsucht erschauernden Zeit ... Alles in allem etwa die Maske, in der Herr Karl Nathusius sich Frau Susanne präsentiert haben mochte ...

Und bald gerät die Heldin, die an einen alternden Mann geschmiedet ist, rettungslos in die Netze des »Helden«. Die beiden werden getrennt, und nun setzt ein Briefwechsel ein, der insoweit, als er von dem Grafen geführt wird, Gustav Herold bereits Wort für Wort bekannt war ... Der Rechtsanwalt lachte grimmig auf: das war einfach eine Abschrift der Briefe, die der »dunkle Freund« an Frau Susanne Mengershausen geschrieben hatte, und die sich zur Zeit wohlverwahrt im Geldschrank des Rechtsanwalts Gustav Herold befanden!

Nun, und was die Heldin antwortete – es war unschwer zu vermuten, daß Herr Karl Nathusius sich die Sache recht bequem gemacht und einfach Briefe abgeschrieben habe, die ihm selber als Antwort auf seine Ergüsse von Frau Susanne Mengershausen zugegangen waren! Der Stil, die Begriffe, die Gedanken – es stimmte alles – alles!

Ha, ha, ha, ha! zum Tränenlachen komisch! wenn's nicht zugleich so widerwärtig scheußlich gewesen wäre –! Und endlich tauchte im Fortgang der Handlung des Romans auch jener Brief des »dunklen Freundes« auf, der den diabolischen Vorschlag enthielt, seine Freundin solle ihren Gatten auf hypnotischem Wege zum Selbstmord zwingen –

Aber was Frau Susanne Mengershausen in der Wirklichkeit des Lebens mit wortlosem Abscheu abgelehnt hatte – Herr Karl Nathusius ließ es in seinem Roman sich ganz programmäßig vollziehen. Er schilderte aufs genaueste die nächtliche Szene, in der die Heldin ihren Gatten hypnotisiert und ihm den Todesentschluß und sogleich den Brief suggeriert, der bestimmt ist, die Mitwelt in den Glauben zu versetzen, er habe aus völlig freien Stücken gehandelt ...

Zwischen dieser Szene und dem Moment, den die Heldin als Zeitpunkt des Selbstmordes ihrem Gatten anbefohlen hat, liegen einige Tage ... und diese Tage benutzt die Heldin dem Rate ihres Freundes entsprechend, um ihren Gatten zur Errichtung eines Testaments zu veranlassen ...

Und endlich schildert Karl Nathusius mit wollüstigem Behagen die Ausführung des Selbstmordes ... Die Stimmung seiner Heldin, als sie halb voll Triumph und halb voll Grauen an den Leichnam des Gatten tritt ... die wilden Qualen der Reue, die Furcht vor der Entdeckung, die dämonische Macht, die nun der Freund gewonnen hat, die widerstandslose Hingabe, mit der sie in seine Arme sinkt ...

Und dann riß der »Bund mit den Höllengeistern« plötzlich ab mit dem 134. Kapitel und dem Schluß des 82. Heftes, mitten im Text ... dies letzte Heft war erst vor wenigen Tagen erschienen, und die Fortsetzung war für die nächste Woche verheißen, befand sich also zur Zeit jedenfalls schon unter der Presse ...

Zwischen tollem Gelächter und zähneknirschender Empörung hatte Gustav Herold seine Lektüre beendigt. Himmelherrgottsakrament! Das Leben machte denn doch zuweilen Witze, ausgefallener, als selbst die verzwickteste Phantasie eines »Romanschriftstellers« vom Typ des Herrn Karl Nathusius ... Was der Edle ersonnen und vergeblich in Frau Susannes Seele zum Entschluß des Handelns umzusetzen sich bemüht hatte – diesen genial-abscheulichen Einfall hatte er, da es ihm nicht gelungen war, sich mit seiner Hilfe des Vermögens des Geheimrats Mengershausen zu bemächtigen, wenigstens in ein Honorar für einen Kolportageroman umgewandelt ... Und dieser Roman hatte auf den dunklen Wegen, die er zu gehen bestimmt war, seinen Weg unter andern auch über die Hintertreppe jenes Hauses in der Bleibtreustraße gefunden, in dem das Modell der Heldin residierte ... war hier in das Papageiengehirnchen einer Zofe von zweifelhafter Provenienz gefallen und von dort aus als tolldreiste Denunziation ins Leben hinausgetreten ... in eben jenes Leben, das zu der monströsen Fabel unfreiwillig so viele Motive, Farben, Bilder und Worte geliefert hatte ...

Und nun –?! Was stand nun noch im Wege, daß Gustav Herold diese ganze schnörkelhaft wirre Geschichte aufdeckte –?! Nun, da der Ausgang für ihn entschieden hatte – nun würde er auch wagen dürfen, die Briefe, die er bislang noch der Kenntnis der Behörden entzogen hatte, diesen auszuliefern und damit sich selber von dem Verdachte völlig reinzuwaschen, als habe er sie unterschlagen wollen ...

Oder – war's nicht doch vielleicht besser, man ersparte dem Andenken Artur Mengershausens, dem Ruf seiner Witwe die Aufdeckung dieses tragikomischen Abenteuers –? Was der kleine Referendar entdeckt hatte, das genügte ja völlig, um den letzten Hauch eines Verdachts von Frau Susannes Bilde hinwegzuscheuchen! Daß sie selber in der Entstehungsgeschichte dieses Romans eine beschämende und lächerliche Rolle gespielt hatte – war es nötig, daß die Welt davon erfuhr –?! Nein – das war völlig überflüssig. Es war ja nun völlig im Licht, woher die Zeugin Krölke den aberwitzigen Einfall hatte, ihre Herrin des »hypnotischen Mordes« zu bezichtigen ... Und mehr war für Susannes Verteidigung nicht erforderlich.

Man wird sich also den kleinen Referendar noch einmal aufs Büro bestellen, ihm wiederholt nahelegen, er möge seinem Chef aus freien Stücken die Detektiverlebnisse und die Resultate seiner freiwilligen Inquisitionstätigkeit ausliefern ... Man wird den Roman zu den Akten geben ... dann wird eine abermalige Vernehmung des Fräulein Krölke stattfinden, man wird nötigenfalls die Hefte des Romans, die sich zweifellos in ihrem Besitze befinden müssen, beschlagnahmen lassen, ihr dann vorhalten, daß das einzige Stück ihrer Aussage, das sie heute noch aufrechterhält, wirklich mit jener wüsten Szene des Romans übereinstimme – und dann wird sie sich wohl endlich bequemen, auch ihre eidlich beschworene Aussage als unwahr zurückzuziehen ...

Das würde dann allerdings ein Strafverfahren gegen die Krölke wegen Meineides zur Folge haben, ein Verfahren, das zweifellos mit ihrer Verurteilung endigen müßte ... Um ihr also den Widerruf zu erleichtern, könnte man allenfalls auf den Einfall kommen, ihr zunächst einmal privatim vorzuhalten, was für Beweismittel man gegen sie in Händen habe, damit sie freiwillig ihre beeidigte Aussage bei jener Behörde, vor welcher sie abgegeben worden, widerrufe und so sich die Strafermäßigung des Paragraph 158 Strafgesetzbuchs sichere ... welche eine erheblich mildere Bestrafung dem Meineidigen in Aussicht stellt, welcher den Meineid widerruft, bevor die Anzeige gegen ihn erfolgt oder eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet und ein Rechtsnachteil für einen andern aus der falschen Aussage entstanden ist ...

Ja, das war wohl das sachgemäße Vorgehen –!

Um aber jedem Verdachte vorzubeugen, als habe man die Zeugin in rechtswidriger Weise beeinflussen wollen, empfahl es sich, ihr diese wohlgemeinte Warnung nicht in Form einer mündlichen Erörterung, sondern schriftlich zukommen zu lassen. Dann konnte wenigstens niemand mit dem Vorwurfe kommen, es sei irgend etwas andres verhandelt worden, als das, was man jeden Augenblick schriftlich belegen konnte.

– – Und so geschah es. Was aber war die Wirkung dieses Briefes an Fräulein Krölke –?! Zwei Tage später erhielt Gustav Herold eine Vorladung auf das zuständige Polizeibüro. Der Kommissar vom Dienst teilte ihm mit, daß Fräulein Anna Krölke den Brief, den er an sie gerichtet, unverzüglich der Königlichen Staatsanwaltschaft weitergegeben habe mit der Erklärung, sie müsse jeden Versuch, sie zu einer Abänderung ihrer Aussage zu veranlassen, zurückweisen ... Das, was sie noch heute behaupte und beschworen habe, sei unbedingt wahr und würde von ihr auch in der Hauptverhandlung aufrecht erhalten werden ...

Der Rechtsanwalt gab zu Protokoll, daß er nach seiner pflichtgemäßen Überzeugung gehandelt habe in der durchaus loyalen Absicht, Fräulein Krölke zu nützen, indem er sie daran hindere, auf dem Verbrechen des Meineides noch weiter zu beharren, und sie veranlaßte, sich die Vorteile des freiwilligen Rücktritts vom Meineide zu verschaffen.

Und dann stand er wieder einmal auf der Straße und sann in tiefer Bestürzung und Erregung über die Lage seiner Klientin nach. Also wirklich, die Krölke nahm den Kampf auf – trotz der unglaublich ungünstigen Situation, in der sie sich befand! Natürlich – so wenig wahrscheinlich es war, daß man bei der gegenwärtigen Lage des Falles ihrer Aussage Glauben schenken würde – sie zu widerlegen ... das Mädchen des Meineides für schuldig zu erkennen – das war natürlich sehr schwierig ... denn wenn auch alles dafür sprach, daß sie sich ihre Denunziation an der Hand der Anregungen des »Bundes mit den Höllengeistern« zurechtgelegt habe – der Beweis, daß ihre Aussage erlogen sei, war natürlich nicht zu führen.

Auch den Referendar hatte Rechtsanwalt Herold schriftlich gebeten, dem Untersuchungsrichter, seinem Chef, über seine freiwillige Expedition in die dunklen Gefilde, auf denen Anna Krölke wandelte, zu berichten ... Und Hans Fritze hatte unverzüglich geantwortet, daß er selber nach reiflicher Überlegung bereits aus freien Stücken diesen Schritt getan habe ...

Sonach war alles geschehen, was zur Zeit geschehen konnte, und es blieb nun nichts andres übrig, als sich in Geduld zu fassen und abzuwarten, wie die Strafkammer über die Eröffnung des Hauptverfahrens beschließen würde ... Und so vergingen ein paar Tage peinlich dumpfen Wartens. Und endlich lag frühmorgens auf Gustav Herolds Arbeitstisch das gelbe Briefkuvert mit dem Aufdruck der Königlichen Gefängnisverwaltung und den launischen Schriftzügen von Frau Susanne Mengershausens Hand ... Gustav Herold riß es auf, und siehe, es enthielt die Anklageschrift der Königlichen Staatsanwaltschaft zugleich mit dem Formular, in welchem der Vorsitzende der Strafkammer die Anklageschrift der Angeschuldigten mitteilte und sie zugleich den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend aufforderte, sich innerhalb einer Frist von fünf Tagen zu erklären, ob sie die Vornahme einzelner Beweiserhebungen vor der Hauptverhandlung beantragen oder Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorbringen wolle. Auf dieses Schriftstück hatte Frau Susanne mit Bleistift folgende Zeilen geschrieben:

»Sehr geehrter Herr Doktor,

bitte teilen Sie mir mit, ob auf dieses Aktenstück hin noch etwas für mich zu geschehen hat. Und suchen Sie mich auf, sobald Sie mich unter vier Augen sprechen dürfen. Vorher bitte nicht, es wäre ja nur Quälerei.

Ihre S. M.«

Susanne hatte Recht ... es hatte keinen Zweck, sich noch einmal zu sehen in Gegenwart eines Delegierten der Gerichtsbehörden ... um so mehr, als dieser Delegierte wohl schwerlich noch der gleiche sein würde ... Denn es war anzunehmen, daß nun, da nicht mehr der Untersuchungsrichter, sondern die Strafkammer die zuständige Instanz war, ein Mitglied dieser letzteren Behörde zur Beaufsichtigung der Unterhaltung zwischen Klientin und Verteidiger abgeordnet werden würde.

Gustav Herold las die Anklageschrift mehrmals sorgfältig durch. Es war eine sehr gewandte Arbeit, die den Assessor Neumann offenbar viel Gehirnschmalz gekostet hatte. Alle Verdachtsmomente waren systematisch und in wohl berechneter Steigerung gruppiert, die Aussage der Zeugin Krölke, soweit sie noch aufrecht erhalten wurde, als einzig beschworen bezeichnet und als bewiesene Tatsache behandelt.

So mochten denn die Dinge ihren Gang gehen. Das Verfahren mochte sich abrollen genau den gesetzlichen Vorschriften gemäß – er, Gustav Herold hatte kein Mittel, den Gang der Dinge abzukürzen. Aber auch verlängern wollte wenigstens er die Qual des Wartens nicht. Er schrieb seiner Klientin einen formelhaften Brief, in dem er mitteilte, daß seiner Auffassung nach keine Veranlassung vorliege, noch weitere Beweisanträge vor der Eröffnung des Hauptverfahrens zu stellen. Er wies darauf hin, daß in wenigen Tagen die Entscheidung der Strafkammer über die Eröffnung des Hauptverfahrens stattfinden werde, und daß dann den gesetzlichen Vorschriften entsprechend mit der Eröffnung des Hauptverfahrens der Zeitpunkt gekommen sein werde, wo es ihm gestattet sei, über die weitere Behandlung des Falles mit seiner Klientin ohne das Beisein einer Gerichtsperson zu verhandeln. Wieder verging eine Woche, in der nichts geschah, nichts geschehen konnte. Und dann, dann traf endlich ein neuer Brief von Susanne ein, welchem der Beschluß der Strafkammer beilag. Er besagte, daß gegen Frau Susanne Mengershausen das Hauptverfahren eröffnet werde, weil sie nach den Ergebnissen der Voruntersuchung des Mordes gegen ihren Ehemann hinreichend verdächtig sei ... Fünf Minuten später saß der Anwalt im Automobil.


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