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VI.

Als pflichtbewußter Paragraphenlehrling hatte der Referendarius Doktor Hans Fritze sich die Frage vorgelegt, ob sein Plan, die Zeugin Krölke ein wenig näher unter die Lupe zu nehmen, auch der gesetzlichen Grundlage nicht entbehre. Zu seiner hohen Befriedigung hatte er dabei entdeckt, daß nach Paragraph 188 der Strafprozeßordnung der Untersuchungsrichter auch diejenigen Beweise zu erheben habe, deren Aufnahme zur Vorbereitung der Verteidigung des Angeschuldigten erforderlich schien. Mit andern Worten: der Apparat der Voruntersuchung arbeitete denn doch nicht bloß einseitig im Interesse der Staatsanwaltschaft, sondern auch in demjenigen des Angeschuldigten. Und somit däuchte ihn, er wirke nur im Sinne seiner Amtspflicht, wenn er – freilich auf nicht ganz ressortmäßigem Wege – die moralischen Qualitäten der Hauptbelastungszeugin im Fall Mengershausen einer möglichst gewissenhaften Prüfung unterzöge.

Zu diesem Zwecke hatte er sich zunächst aus den Akten vergewissert, daß die Zeugin zur Zeit in der Steglitzer Straße 128 bei Roth wohnte. Aus dem Adreßbuche hatte er ermittelt, daß Roth eine Sie bedeutete, und zwar eine »Zimmervermieterin« ... Es war anzunehmen, daß Fräulein Krölke bei dieser ehrenwerten Dame kaum als Gesellschaftsfräulein sich aufhalte, sondern als ... nun, als »Privatière«.

Hans Fritze entsann sich zufällig, daß er mit einem der Polizeileutnants des betreffenden Polizeireviers im vergangenen Jahre gemeinsam eine militärische Übung absolviert hatte. Er suchte den Kameraden auf, weihte ihn vertraulich in die Angelegenheit ein, die ihm am Herzen lag, und alsbald war festgestellt, daß Anna Krölke – unter sittenpolizeilicher Kontrolle stand! Wenig fehlte, und Hans Fritze wäre seinem Kameraden um den Hals gefallen bei dieser Entdeckung.

Ob die Rothaarige sich noch seiner erinnern würde? Pah – sie würde während ihrer Vernehmung wohl Wichtigeres zu tun gehabt haben, als sich die Persönlichkeit des Gerichtsschreibers einzuprägen. Auf jeden Fall: das war zuerst festzustellen. Kannte sie ihn nicht mehr – nun, dann gab es ja Mittel genug, sich in ihr Vertrauen einzuschleichen, und wenn ein ganzer Monatswechsel zum Teufel gehen sollte ... Kavalierspflicht, nichts weiter –! Im Notfalle konnte man ja dem alten Herrn beichten – man hatte ihn sowieso in der letzten Zeit durch allzu große Solidität ein bißchen verwöhnt. Also auf zur Steglitzer Straße! Und frisch und graden Wegs in die Höhle der ... Löwin hinein –! Oder sagen wir lieber der Wölfin ... lupa auf lateinisch ...

Und abends um die achte Stunde klingelte Hans Fritze im vierten Stock des Hauses Steglitzer Straße 128  an der Tür der Zimmervermieterin Frau Witwe Roth ...

Eine schlumpige Vettel in schmutzstarrender Flanellbluse steckte den Kopf durch den Türspalt:

»Was wär' Ihn' gefällig, mein schöner Herr?«

»Fräulein Elsbeth zu sprechen?«

Ein frech vertrauliches Grinsen:

»Ick jloobe, det Fräulein hat jrade Besuch – wer' aber mal nachseh'n!«

Die Türe fiel ins Schloß. Aber nach wenigen Minuten erschien das fahle, gedunsene Gesicht der ehrsamen Wittib aufs neue in der Türritze:

»Stimmt, junger Herr – wenn Se mechten in ener halben Stunde wiederkommen –?«

Also richtig taxiert ... Hans Fritze zog es vor, die nähere Bekanntschaft des Fräulein Elsbeth zunächst außerhalb ihrer eigenen Behausung zu suchen. Er murmelte etwas von »keine Zeit ...« und stapfte die vier ausgetretenen, mit verschlissenen Läufern belegten Treppen wieder hinunter. Und dann patrouillierte er wie ein Detektiv auf dem gegenüberliegenden Ufer der Steglitzer Straße entlang, zwanzig Schritte rechts, zwanzig Schritte links, ohne die Türöffnung des Hauses Nummer 128 auch nur eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. Ein besonderes Vergnügen war das nun gerade nicht. Der Februarabend war eisig, und Viertelstunde um Viertelstunde verrann, ohne daß das grellrote Haar, der ungeheure Hut mit den wippenden Bandschleifen unter dem gelben Lichtkreis der Straßenlaterne aufgetaucht wäre, die hart neben dem Eingang des Hauses angebracht war und den Verkehr des Torweges leicht kontrollierbar machte. Aber was tut ein dreiundzwanzigjähriger deutscher Jüngling nicht alles, wenn es gilt, sich als Ritter der verfolgten Unschuld fühlen zu dürfen.

Dreiviertel neun – neun – viertel zehn ... halb zehn ... Verflucht –! Das wird ungemütlich! Ob der »Besuch« denn noch immer nicht weg ist? Am Ende werde ich die ganze Nacht hier frieren, während Fräulein Elsbeth nicht die leisesten Anstalten macht, noch einmal heut auf Raub auszugehen!

Aber nein – da war sie! Unweigerlich, da war sie! Und zwar ohne Begleitung – sie ging zur nächsten Straßenkreuzung, rief einen Taxameter an, und Hans Fritze, der wie ein Schießhund hinter ihr drein geflitzt war, vernahm noch, wie sie dem Kutscher die Adresse eines bekannten Tanzlokals in der Behrenstraße angab.

Nun war Hans Fritze im Bilde. Er meinte, sein Taschengeld unter diesen Umständen nicht erst noch durch Anheuerung eines Taxameters strapazieren zu sollen, und fuhr mit der nächsten elektrischen Bahn bis zur Kreuzung der Leipziger und Friedrichstraße. So schnell würde sich hoffentlich kein »Anschluß« für die fahlbäckige Rothaarige finden ...

Und richtig – als er seine Garderobe in dem engen muffigen Vorraum des Ballokals deponiert hatte und sich nun in das dunstige, farbenschillernde Gewühl der Tanzenden hineinschob, erkannte er sofort die rote Perücke und den wippenden Hut. Fräulein Elsbeth lag ergebungsvoll an der breiten Männerbrust eines jungen Herrn, in dem ein Blinder den Leutnant in Zivil erkannt hätte. Mit Befriedigung konstatierte Hans, daß der Kavalier seine Tänzerin nach Schluß des Walzers an einen der Tische des unteren Raumes führte und sich darauf beschränkte, sie mit einem Glase Münchener zu regalieren. Es würde also ein leichtes sein, diesen Reflektanten durch eine Einladung in den höher gelegenen Raum, in dem nur Wein verschenkt wurde, auszustechen. Zunächst aber war zu ermitteln, ob die Holde den Gerichtsschreiber von heute nachmittag über dem eleganten Smoking, dem Faltenhemde, der langschößigen silbergrauen Weste wiedererkennen würde. Mit gemessener Liebenswürdigkeit fragte Hans Fritze den jungen Herrn mit dem wettergebräunten Gesicht und der blendend weißen Stirn darüber: ob der dritte Stuhl am Tische schon besetzt sei? Höfliche Verneinung, nachlässige Verneigung beiderseits, holdseliges Kopfnicken bei Elsbeth Krölke ... man konnte ja nie wissen ...

Der Leutnant war hübsch und gut angezogen, aber obwohl der Februar noch keine zehn Tage alt war, schien es mit seinen Kassenverhältnissen nicht allzu gut zu stehen, denn als Elsbeth ihn um eine Zigarette bat, bedauerte er mit leichter Verlegenheit und lehnte auch ihr Ansinnen ab, doch eine Schachtel kommen zu lassen. Schnell hakte Hans Fritze ein und streckte dem Mädchen sein silbernes Zigarettenetui hin, nicht ohne eine höfliche Verneigung zu dem Leutnant hin:

»Sie gestatten wohl, daß ich aushelfe, nicht wahr?«

Fräulein Elsbeth fixierte den neuen Bewerber von dem tadellosen Scheitel bis zu den blinkenden Lackschuhen hinunter mit einem kühl taxierenden Blick, der sich aber alsbald in strahlende Freundlichkeit verwandelte, und nahm mit spitzen Fingern die angebotene Zigarette aus dem Etui. Nicht der leiseste Schimmer eines Wiedererkennens flog über das fahle, jetzt vom Tanze leicht gerötete Gesicht. Schnell war die Unterhaltung im schönsten Gang, und der stramme Herr von der »Knochenmühle« fühlte sich alsbald durch den zahlungskräftigeren Rivalen aus dem Sattel gehoben. Beim Beginn des nächsten Tanzes erhob er sich mit leichter Verneigung, hielt Umschau unter den Damen und schoß alsbald auf eins der bescheidensten Geschöpfe zu, um mit ihr sich ins Tanzgewoge zu stürzen. Er kam nicht wieder, und so konnte Hans Fritze seine Einladung in die Weinabteilung anbringen. Selbstverständlich bekam er keinen Korb, und bald wurde die Unterhaltung recht intim, da die Sektmarke, die Hans anfahren ließ, einen überaus vertrauenerweckenden Eindruck machte.

Und alsbald marschierte die übliche, von Anfang bis zu Ende erlogene Geschichte auf. Fräulein Elsbeth hätte bis vor wenigen Tagen ein Verhältnis mit einem adligen Gardeoffizier gehabt, das viele Jahre hindurch gedauert und ihr die Mittel zu einer sehr glänzenden Existenz gewährt hatte. Aber endlich hatte der Freund, dem dringenden Wunsche seiner Familie gemäß, sich verheiraten müssen, und darum waren sie beide nach herzzerreißendem Abschied in innigster Liebe und Freundschaft auseinandergegangen. Und nun trauerte sie dem Verlorenen, dem Unersetzlichen nach ... und es war heute das erstemal, daß sie sich überhaupt wieder unter Menschen wagte ... nur um sich zu zerstreuen ... Einen wirklichen Ersatz für den verlorenen Geliebten würde sie ja wohl niemals wieder finden ... aber wenn ihr zufällig ein junger Herr begegnete, der ihrem verwöhnten Geschmack einigermaßen zusagte und übrigens die ehrliche Absicht auf eine dauernde Verbindung hätte ... dann, aber auch nur dann würde sie vielleicht die Möglichkeit in Erwägung ziehen, sich aus der trostlosen Trauer ihrer Verlassenheit ein wenig aufrütteln zu lassen ...

Hans Fritze hörte diese Geschichte mit einer erschütterten Teilnahme an, mit einem Gesicht voll gläubiger Kinderunschuld, das beste Wirkung tat. Und da er außerdem mit dem Sekt nicht kargte und die besten Zigaretten bestellte, so wurde schön Elsbeth zusehends zugänglicher ... und bald mehr als bloß das ...

Aber zwischen handgreiflichen Beweisen einer stürmisch erwachten Sympathie vergaß Elsbeth durchaus nicht, sich mit tastender Vorsicht über die näheren Lebensumstände des harmlosen, guten Jungen zu informieren, den das Glück ihr da ins Netz getrieben hatte. Und wie denn so allmählich die Fragen nach Namen, Stand und Art sich hervorwagten, da kam dem Referendarius eine Idee, die ihn, wenn nicht zum Untersuchungsrichter, so doch mindestens zum Detektiv qualifiziert haben würde. Die Lust an der tollen Situation übermannte ihn, reizte ihn, aufs Ganze zu gehen.

»Was ich bin, wollen Sie wissen, Fräulein? Ich bin Mediziner – aber ich habe eben ein gräßliches Malheur gehabt. Denken Sie sich bloß, vor acht Tagen hat mich ein hiesiger sehr bekannter Arzt als Assistenten engagiert ... kaum hatte ich angetreten, da geht mein Chef hin und schießt sich eine Kugel durch den Kopf – ist das nicht ein hundemäßiges Pech –?«

Die rote Elsbeth spitzte plötzlich die Ohren. Ihre Hand, die mit größter Zärtlichkeit des neuen Freundes Knie getätschelt hatte, zog sich mit einem plötzlichen Ruck zurück, die graugrünen Augen hefteten sich mit unsicherem Flackern an das Gesicht des jungen Mannes.

Na, wenn sie mich nun nicht erkennt, dann ist alles wirklich in schönster Ordnung, dachte Hans Fritze.

Elsbeth sann einen Augenblick nach, immer die prüfenden Augen auf das Gesicht des Erzählers geheftet.

»So? das Leben genommen hat er sich – Ihr Chef? – wie hat er denn geheißen?«

»Nun – haben Sie denn nicht die Geschichte in der Zeitung gelesen, Fräulein? Alle Blätter sind ja voll davon –«

»Oh –« sagte Elsbeth Krölke langsam, »dann war's wohl gar am Ende – der Geheimrat Mengershausen –?«

»Na, sehen Sie wohl! natürlich war er's! Scheußliches Pech, nicht wahr? Ein Glück, daß man wenigstens pekuniär unabhängig ist – und sich in Ruhe nach was Neuem umsehen kann! Na – reden wir lieber von was Anderm, von was Lustigem! Erzählen Sie mir mal was von Ihrem Baron!«

Elsbeth antwortete nichts und trank in tiefen Gedanken lange Züge aus ihrem Sektglas. Es schien ihm, als kämpfte sie heftig mit der Versuchung, von jemandem, der dem Verstorbenen so nahe gestanden, seine Meinung über den Stand der Affäre zu erfragen. Und wirklich, nach etlichem Zögern kamen dann die ersten, behutsamen Anzapfungen ... Ob er denn auch die Frau kennen gelernt habe? Und ob er denn auch mal in der Privatwohnung des Geheimrats gewesen sei? Und was er denn wohl meine – ob es wahr sei, daß die Dame ihren Mann hypnotisiert und ihn so zum Selbstmord gezwungen hätte? Hans Fritze hielt es für angezeigt, Vertrauen zu erwecken, und erklärte: die Sache sei doch schon so gut wie aufgeklärt – es sei nicht der leiseste Zweifel, daß die Frau zum Tode verurteilt werden würde. Eine junge Dame, die bei der Frau Geheimrat als Gesellschaftsdame in Stellung gewesen sei, habe durch einen Zufall mit angehört, wie Frau Mengershausen ihrem Manne in hypnotischem Zustande und so weiter und so weiter.

Elsbeths Augen funkelten in schlecht verhehltem Triumph.

»Das ist mir lieb zu hören ...« sagte sie, »das ist mir wirklich sehr lieb zu hören –! Sie müssen nämlich wissen ... diese junge Dame, durch die alles herausgekommen ist ... das ist ... das ist eine Freundin von mir ... sie hat mir die ganze Geschichte erzählt ...«

»Ah – das ist ja höchst interessant. Sie kennen Fräulein Elsbeth Krölke? Oh bitte, erzählen Sie mir doch noch etwas von ihr! Wo ist sie denn jetzt? hat sie schon wieder eine neue Stellung angetreten?«

»Oh gewiß – sie ... sie ist jetzt in einem sehr feinen Hause ... bei einem Millionär auf dem Kurfürstendamm ... einem Witwer ... da leitet sie die Erziehung von der fünfzehnjährigen Tochter ...«

Bestie –! dachte Hans Fritze ... Lüge du nur munter weiter, schwindle dir zusammen, was deine gottverlassene Phantasie dir nur immer über die Lippen laufen läßt! Je toller, je besser! Ich werde den Herren Geschworenen seinerzeit ein Licht aufstecken, was für ein Fabuliergenie du bist.

Laut aber sagte er:

»Hören Sie, liebes Fräulein – Ihre Freundin Elsbeth Krölke, die muß ich aber einmal kennen lernen! Dies tapfere Mädchen, das den Mut gehabt hat, ihre zufällige Wahrnehmung über das Verbrechen der Herrin vor aller Welt wahrzuhalten, obgleich sie doch wissen mußte, daß ihr sonst auch nicht der leiseste Beweis für die Schuld der Frau Mengershausen zur Seite stehen würde!«

»Oh –!« rief das Mädchen selbstvergessen aus und fuchtelte heftig mit der hübschen Hand und dem schlanken, wohlgebauten Unterarm in der Luft herum, »kein weiterer Beweis?! Haben Sie denn nicht gelesen, daß die Polizei in der Nachttischschublade einen Zettel gefunden hat?«

»– den Zettel, auf dem die Frau Mengershausen sich den Brief, den ihr Mann schreiben sollte, aufgesetzt hatte – oh ich weiß! ich weiß alles, Fräulein! Aber die Frau Mengershausen behauptet doch, das sei eine Abschrift, die sie am Abend vor ihrer Verhaftung von dem Brief ihres Mannes gemacht und auf ihrem Schreibtisch liegen gelassen habe! Es sei gar nicht anders denkbar, als daß Fräulein Elsbeth Krölke diesen Zettel gefunden und in die Nachttischschublade ihrer Herrin praktiziert habe!«

» Oho – das soll sie mal erst beweisen

Hans Fritze hatte Mühe, einen Aufschrei des Triumphes zu unterdrücken. Es war klar, dieser abgefeimte Satan hatte sich verraten! Sie hatte wirklich das einzige Beweisstück, das ihrer Aussage eine gewisse Stütze zu geben schien, an die Stelle gebracht, wo es gefunden werden sollte!

Aber das, wenn möglich, noch etwas besser festnageln!

Hans Fritze ließ seine Phantasie spielen, während er ein paar Augenblicke stumm an seiner Zigarette sog und in das bunte Gequirle der tanzenden Paare starrte. Glücklicherweise kam ihm der Zufall zu Hilfe: irgendein junger Mensch, anscheinend ein älterer und begünstigter Vertrauter der Dame Krölke, forderte diese zum Tanz auf. Und während Fräulein Elsbeth sich, hingebungsvoll an die Brust ihres älteren Freundes geschmiegt, in die tollen Verschlingungen des frechen Tanzes stürzte, legte sich Hans Fritze seine nächsten Schachzüge zurecht und war gerüstet, als seine Partnerin hastig atmend, mit einem Lächeln, das nach zwei Seiten gleichzeitig um Entschuldigung zu bitten schien, an seinen Tisch und zu dem lockenden Sektkühler zurückkehrte.

»Wissen Sie –« sagte er, »die Sache mit der Briefabschrift, die liegt denn doch nicht so ganz einfach für Fräulein Krölke, wie Ihre Freundin sich das denkt. Fräulein Krölke hat entschieden bestritten, die Urkunde gefunden und aus dem Damenzimmer ins Schlafzimmer und in die Nachttischschublade gebracht zu haben. Sie hat behauptet, sie habe die Urkunde überhaupt nie gesehen. Das kann aber nicht stimmen.«

Bei diesen Andeutungen schon merkte er, daß Elsbeths Wangen, die erst vom Tanze leicht gerötet waren, ein paar Schattierungen fahler wurden, und daß die hübsche Hand, die den Sektkelch zu auskostendem Naschen an die Lippen hielt, leise zu zittern begann.

»So ... meinen Sie? ... Das ... das kann ich mir doch nicht recht denken ...«

»Ja – es kommen die merkwürdigsten Sachen vor. Also denken Sie, bei Mengershausens war doch außer Fräulein Krölke noch ein Hausmädchen im Dienst –«

»Ach so – die Emmy – ach – das ist ein ganz verlogenes Frauenzimmer ... auf die kann man gar nichts geben!«

»Sehen Sie einmal, wie gut Sie Bescheid wissen!«

»... Na ja, Sie wissen doch, meine Freundin ... die hat mir eben ganz genau von allem erzählt!«

»Richtig, selbstverständlich! Ihre Freundin – natürlich! Also nun denken Sie sich – diese Emmy, die ist vernommen worden ... und was glauben Sie, was die ausgesagt hat?«

Fräulein Elsbeth wurde immer unruhiger.

»Woher ... woher wissen Sie denn das eigentlich so genau –?« fragte sie halblaut mit einem schielenden Seitenblick zu ihrem Nachbar hinüber. Der lächelte sie harmlos an, füllte aufs neue ihr Glas, dessen Rest sie hastig hinuntergestürzt hatte, und trank ihr zu.

»Oh – ich weiß alles aus allerbester Quelle. Die Emmy, die hat nämlich eine Schwester – die ist bei meiner eigenen Mutter in Stellung!«

»Na, auf die Quelle bilden Sie sich man nicht zu viel ein – ich hab' Ihnen ja schon gesagt, die Emmy das ist ein ganz gottverlassenes Geschöpf! Aber nun sagen Sie mal, was hat sie denn eigentlich gesagt?«

»Also sie hat ausgesagt: sie habe selbst an dem Morgen, an dem Frau Mengershausen verhaftet wurde, den bewußten Zettel in der Stube der Frau Mengershausen auf dem Schreibtisch liegen gesehen, habe ihn auch gelesen und dann ruhig liegen gelassen. Sie sei zu allererst aufgestanden und habe in dem Zimmer ihrer Herrin aufgeräumt. Dabei habe sie den Zettel gefunden. Später aber, da sei das Fräulein Elsbeth längere Zeit in der Stube der Frau Mengershausen gewesen, noch ehe diese aufgestanden sei. Und nachher – da sei der Zettel auf einmal verschwunden gewesen.«

»Das ist eine freche Lüge –!« schrie das Mädchen so heftig, daß an allen Nachbartischen die Unterhaltung stockte, und neugierige, spöttische Blicke von allen Seiten zu dem Paare hinüberflogen, das bisher so zärtlich gewesen und sich nun veruneinigt zu haben schien.

»Aber Kind – wer wird sich denn so aufregen!« begütigte Hans Fritze. »Ich kann's mir ja wohl vorstellen, wie sehr Ihnen das Geschick Ihrer Freundin am Herzen liegt – aber darum wollen wir uns doch hier die erste Stunde unserer Freundschaft nicht ungemütlich machen! Also prost, liebes Fräulein! – übrigens, da fällt mir ein, ich weiß ja noch nicht einmal Ihren Vornamen!«

»Ich ... denken Sie nur ... ich heiße auch Elsbeth, gerade wie meine Freundin!«

»Sieh da – Elsbeth! Auch Elsbeth!« rief der junge Herr mit harmlosem, liebenswürdigem Lachen. »Da kann ich wahrhaftig begreifen, daß Sie so für Ihre Namensschwester ins Zeug gehen, als wenn's Ihre eigene Sache gälte! Also nochmals, prost, stoßen wir darauf an, daß Ihre Freundin recht bald und gründlich triumphieren möge, und daß die Mörderin ihren Lohn bekommt!«

Der kleine Referendar mußte seine ganze Selbstbeherrschung zu Hilfe nehmen, damit die gespielte Zärtlichkeit den Sturm der Gedanken verdeckte, die sich in seiner jungen Schwärmerseele zur Kette schlossen. Klar war nun folgendes: die Vermutung, die ihm gleich ursprünglich aufgestiegen war, daß die Krölke den ominösen Zettel auf dem Tisch ihrer Herrin gefunden habe, daß ihr just auf diesen Fund hin der diabolische Anschlag gegen ihre Herrin zur Reife gediehen sei – diese seine erste Vermutung war anscheinend richtig ... und vielleicht sogar beweisbar ...

Die andere Frage aber, die ihm von vornherein soviel Kopfzerbrechen gemacht, die Frage nämlich, wie das Mädchen auf die Idee gekommen sein könne, das Dokument, das der Zufall ihr in die Hand gespielt, just in dieser so wunderlichen Verknüpfung auszuspielen ... in der Verknüpfung mit der Erdichtung eines hypnotischen Attentats gegen ihre Herrin – diese Frage schien durch das Ergebnis der eigenen freiwilligen Bekundung der Frau Mengershausen gelöst ...

Gelöst –? vielleicht doch noch nicht ganz. Soviel konnte man als sicher annehmen: die Zofe hatte ihre Herrin bei Ausübung ihres hypnotischen Vermögens belauscht, und zwar nicht nur das erstemal, das sie selbst freiwillig gestanden hatte – nicht nur bei jener Spielerei auf dem Nachmittagstee gegenüber Frau Mirjam Bogdanski – sie mochte auch noch eine jener nächtlichen Szenen belauscht haben, bei denen Frau Mengershausen auf eigenen Wunsch ihres Gatten und nach seiner und des zugezogenen Spezialisten Anweisung und Anleitung ihrem Manne auf hypnotischem Wege den langentbehrten Schlaf beschert hatte ...

Aber noch klaffte eine Lücke zwischen diesen Wahrnehmungen, die Elsbeth Krölke gemacht haben konnte, nein, die sie zweifellos gemacht hatte ... und der ungeheuerlichen Beschuldigung, die sie auf diese Wahrnehmungen aufgebaut ... Angenommen wirklich, sie wußte, daß ihre verhaßte Herrin hypnotischer Einflüsse mächtig war ... und daß sie diese auch gegen ihren Mann in Anwendung brachte ... von einem harmlosen Scherz zwischen Freundinnen, von einer Anwendung der Hypnose zur Einschläferung eines damit einverstandenen Mannes bis zu der Suggestion des Selbstmordes und der Niederschrift des den Selbstmord zu erklären bestimmten Briefes war noch ein weiter Sprung – den eine Person vom Bildungsgrade der Krölke denn doch nicht so ohne weiteres zu leisten imstande war, wenn nicht noch ... irgend etwas ... ihr zu Hilfe kam ... Hier galt es noch weiter zu spüren. Und wieder fiel ihm seine Vermutung ein: diese Phantasie müsse irgendwie auf Lektüre zurückzuführen sein ... auf Lektüre jener Sorte von Literatur, die in ekelhaften, in grellillustrierte Umschläge gebundenen Heften die Hintertreppe hinaufspazierte, in all die Hängeböden und engen Gelasse hinein, in denen die Kinder des Volkes inmitten der Familien der oberen Hunderttausend hausten, von deren Bildung und Weltanschauung eine ganze Welt sie trennte ... Gewiß, das schien die einzige Lösung ... vermutlich existierte das Vorbild des ungeheuerlichen Verbrechens, das Elsbeth Krölke ihrer Herrin angedichtet, in irgendeiner der von entarteter Phantasie ihren Urhebern eingegebenen Erzählungen, die auf diesem dunklen, unsauberen Wege den Ärmsten im Geiste zugeführt wurden –

Hans Fritze hatte heute schon soviel Erfolge erreicht, indem er keck aufs Ganze ging – daß ihm diese Taktik auch weiterhin angebracht erschien.

»Denken Sie sich nur, Fräulein Elsbeth – da habe ich doch neulich eine Geschichte gelesen – ich kann mich bloß nicht mehr erinnern, wo – da kam genau dieselbe Sache drin vor, die Frau Mengershausen mit ihrem Manne gemacht hat ... da hat auch eine Frau, die ihren Mann gerne los sein wollte, ihn in hypnotischen Schlaf versetzt und ihm bei dieser Gelegenheit den Befehl gegeben, einen Brief zu schreiben, wie der Professor ihn geschrieben hat, und sich dann das Leben zu nehmen –! Ist das nicht schnurrig –? Wenn ich mich bloß besinnen könnte, wo die Geschichte gestanden hat? Ich meine, es wäre einer von den Zehnpfennig-Romanen gewesen, wie die bekannten fliegenden Händler sie verkaufen ...«

Während dieser ganzen Erzählung hatte ein erst unsicheres, dann immer verschmitzteres Lächeln sich über das dreiste Gesicht der Krölke gelegt.

»Das ist aber ulkig – Sie kennen die Geschichte auch –?«

Hans Fritze fühlte, wie ihm das Herz stille stand. Das war's ja ... das war die Rettung ... Herrgott – nun noch eine halbe Minute Fassung, das Stürmen des Herzens nicht zu früh zu verraten –!

»Ja, ich kenne sie –« sagte er ruhig, »aber wie ich Ihnen schon sagte – ich weiß nicht mehr recht, wie es war –?«

»Ach – das ist doch eigentlich 'ne ganz berühmte Geschichte! Alle meine Freundinnen kennen sie – ich habe mindestens schon siebzig bis achtzig Hefte davon in meiner Wohnung –!«

»Sehen Sie –!« lachte Elsbeths Kavalier, »ich hatte also recht – wie heißt doch noch der Titel?«

»Ja – wie heißt er noch?! Ich weiß – ›Im Bunde mit den Höllengeistern!‹ – so heißt er – ja! ›Im Bunde mit den Höllengeistern.‹ Ach, er ist wunderschön! So was entsetzlich Spannendes habe ich noch nie in meinem ganzen Leben gelesen!«

Es war heraus. Den Titel! – er hatte den Titel –! »Im Bunde mit den Höllengeistern« – ha, ha, ha! köstlich, unbezahlbar! Wie ein schlechter Witz klang das – und war doch das Glück – die Erlösung, die Rettung!

Nun man den Titel wußte, müßte es ein Leichtes sein, dies erhabene Kunstwerk zu erlangen, dessen abgeschmackte Phantasien als Modell für Elsbeth Krölkes Denunziation gedient hatten. Und dann – dann war ja alles klar! Die trübe Quelle war aufgedeckt, aus welcher die Verleumderin die schmutzige Flut geschöpft, mit der sie das Bild einer Märtyrerin übergossen hatte ...

Der Titel! Der Titel!

Mehr brauchte Hans Fritze nun nicht zu wissen. Jede fernere Vertraulichkeit mit der roten Elsbeth wäre nur unnütze Zeitvergeudung gewesen. Zudem war das Mädchen unter dem Einfluß der ungewöhnlich reichlichen Sektspende ihres splendiden Verehrers allmählich in ein vorgerücktes Stadium von Zärtlichkeit und Anschmiegsamkeit geraten, das Hans Fritze nicht mehr länger öffentlich über sich ergehen lassen mochte, nun der Zweck erreicht war ... Also Schluß – zahlen ... dem Mädel als Abfindung ein Zehnmarkstück in die Hand gedrückt und dann nach Hause! Ins Bett mit dem Bewußtsein, eine gute Tat getan zu haben ... und mit tausend Gedanken knappenhafter Anbetung an die Ferne, Unglückliche ... die Wunder-wunderschöne –!

Aber nein ... allzu brüsk durfte die kostbare Fühlung mit Elsbeth nicht aufgegeben werden – man konnte nicht wissen ...

Und Hans Fritze konzedierte noch ein weiteres Viertelstündchen. Er ließ sich noch einmal den Inhalt des Romans erzählen ... er leerte die letzte Flasche mit dem kleinen Mädchen in völligstem Einverständnis ... und als er dennoch zum Aufbruch rüstete, wußte er ihr mit so viel Schmeicheleien und Versprechungen über ihre Enttäuschung hinwegzuhelfen, daß man sich in aller Freundschaft von einander trennte, um so mehr, als Hans Fritze seinem Taschengelde noch ein weiteres Opfer zugemutet und die Abstandssumme verdoppelt hatte ...

Und dann war er draußen auf der Behrenstraße. Das Wetter war umgeschlagen; es war wärmer geworden: lustiges Schneegestöber umsprühte den kleinen Referendar, der nun mit aufgeklapptem Rockkragen munter heimwärts strebte ... selbstverständlich zu Fuß ... nun auch noch einen Taxameter oder gar ein Auto springen zu lassen – das hätte denn doch geheißen, seine Finanzen allzusehr strapazieren ...

Und wie herrlich ging sich's durch die stiebende Winterpracht, da man so glücklich war ... und so jung ... und eine reine Anbetung im Herzen trug zu einem hohen, fernen Frauenbild ...


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