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Sein Leben lang hat er gekämpft.
Nur um das rote Gold.
Doch immer narret ihn das Glück,
Es war ihm nimmer hold – – –
Mitte Mai zog Kaja aufs Land. Peter Dam konnte erst Ende Juni nachkommen, aber er meinte, sie habe die Landluft nötig und solle mit dem Dienstmädchen nur hinausziehen, sobald es sich machen lasse. Er selbst könne während dieser Zeit ausgezeichnet » en garçon« leben. Sie war ganz gerührt über seine Uneigennützigkeit, und erst nach vielen Skrupeln gab sie endlich nach.
Sie hätte sich weniger Skrupeln gemacht, wenn sie gehört hätte, wie Peter Dam an dem Tag, wo sie abgereist war, sang und pfiff. Er war wie ein Schuljunge, der Ferien bekommen hat.
»Bist du Strohwitwer?« fragte die kleine Schauspielerin und machte große Augen. »Ei, das ist ja herrlich! Dann wollen wir wie in den alten Tagen miteinander vergnügt sein – nicht wahr?« Und sie sah ihn mit höchst verführerischen Augen an.
Als Antwort gab er ihr einen Kuß mitten auf den Mund und erklärte, daß er ebenso darauf aus sei, sich zu amüsieren, wie sie. Damit war der Freundschaftspakt geschlossen, und das fröhliche Leben begann.
Mittlerweile saß Kaja draußen in dem kleinen Bauernhause in Espergerde, wo sie dieselben Zimmer gemietet hatte, wie im vergangenen Jahre. Vor sich hatte sie ein großes, fruchtbares Kleefeld und hinter sich den Wald, der gegen eine grüne Wiese abfiel, wo lustige Bächlein zwischen spitzigen, nassen Steinen rieselten.
Am Morgen, wenn sie erwachte, lauschte sie dem leisen Girren der Waldtauben, und den ganzen Tag saß sie an der Kleewiese und hörte dem Gezwitscher der Lerchen zu, während sie mit der Schwalbe, die Flaum für ihr Nest sammelte, um die Wette arbeitete. Ihr Herz war in dieser Zeit überaus weich und empfänglich gestimmt, es war, als schließe sie es allem um sie her weit auf, von der Händlerin an, die drüben am Waldgatter saß, bis zu den Heuschrecken, die auf ihr Kleid hüpften.
»Was hat diese Frau für ein prächtiges Gesicht!« sagte das alte Weib, wenn Kaja lächelnd und nickend an ihr vorüberging, den Hut am Bande leicht schwingend, während ihre rotgoldenen Haare in der Sonne leuchteten.
Es lag über der feinen Gestalt mit den weichen Bewegungen und dem wiegenden Gang eine solch frohe Erwartung, daß sie gleichsam ihrer ganzen Umgebung einen Widerschein verlieh. Am Abend saß Kaja dann vor dem kleinen Hause und las, oder sie saß drinnen auf einem Holzschemel neben der Wiege, die sie selbst mit himmelblauen Kissen ausgestattet und mit breiten weißen Spitzen verziert hatte. Stundenlang konnte sie davor sitzen, sie unverwandt anschauen und sich einbilden, sie sehe eine kleine, weiche Kinderwange auf den Kissen. Aber dann konnte sie auch plötzlich eine Sehnsucht nach Menschen überkommen und eine Unruhe sie erfassen, weil sie allein war.
Eines Tages schrieb sie an ihren Vater, daß sie ihn sehen möchte. Er kam auch gleich; aber so arm war ihr Verkehr mit ihm von jeher gewesen, und so wenig hatten die beiden gemeinsam, daß sie sich nun stumm gegenüber saßen und nicht wußten, wovon sie sprechen sollten.
Kaufmann Halling war ein sehr verschlossener Mann ohne viel allgemeine Interessen. Er ging ganz in seinen Geschäften auf, denen er mit großer Tüchtigkeit vorstand. Um dieser Geschäfte willen hatte er seine Frau vernachlässigt, und ihretwegen hatte er auch sein Kind vernachlässigt. Wenn er an seine Frau dachte, war es immer mit einem Gefühl der Sicherheit, daß sie es da, wo sie jetzt war, am besten habe – ohne den ausgesprochenen Wunsch, daß es anders sein möchte – und wenn er an Kaja dachte, war es mit einem ähnlichen Gefühl, nämlich, daß für ihre Aussteuer gesorgt sei und er die Verantwortung für sie nun auf einen anderen schieben könne.
Vater und Tochter saßen bei einander an einem Tischchen, das Kaja unter den alten Kastanienbaum vor dem Hause getragen hatte.
Nachdem sie lange geschwiegen hatten, beugte sich Kaja plötzlich vor und sagte unvermittelt:
»Ist es nicht merkwürdig, daß wir zwei uns nichts zu sagen haben? Fällt es dir nicht auf, wie fremd wir uns eigentlich sind?«
»Fremd?« wiederholte er mit einem unsicheren Blick. »Ja, ich habe eben nie viel Zeit übrig gehabt.«
Kaja lachte kurz auf. »Ich habe keine Mutter gehabt,« sagte sie bitter, »und gewissermaßen habe ich auch keinen Vater gehabt.«
»Du hast vielleicht recht,« sagte er ausweichend. »Aber du hattest ja Onkel Franz,« versuchte er abzulenken.
Sie sah ihn an mit einem Ausdruck, der ihm das Blut in die Wangen trieb.
»Das ist richtig,« erwiderte sie. »Auf Onkel Franz kann man sich verlassen. Er hätte mein Freund sein sollen – nur mein Freund – statt dessen war er mir Vater und Mutter, Freund und Bruder zugleich! Er ist nicht der Mann, der die Verantwortung von sich wegschiebt. – Aber es war ein Unrecht gegen ihn, es war ein Unrecht gegen uns beide. Wo blieb seine Jugend bei all dem?«
Kajas Vater sah verlegen auf die Seite. »Ich verstehe nicht, warum du von all diesem jetzt sprichst,« sagte er. »Daran hast du doch früher nie gedacht.«
Sie beugte sich so weit vor, daß ihr Gesicht das seinige beinahe berührte.
»Nein,« sagte sie, »aber seit ich zu einem Wesen, für das ich die Verantwortung übernehmen muß, in einem gewissen Verhältnis stehe, fange ich an, zu begreifen, was ihr an mir versäumt habt. Von meiner armen Mutter will ich nicht sprechen, sie war ja krank, aber du! Du! – Du warst doch mein Vater!«
Er stand unruhig auf.
»Ich glaube nicht, daß es gut für dich ist, wenn du von diesen Dingen jetzt sprichst.«
Aber sie hörte nicht auf ihn, sondern fuhr fort:
»Hättest du mich nicht in dieses Verhältnis zu Onkel Franz gebracht, dann wäre jetzt alles anders;« und sie sagte dies mit einer so tiefen Anklage in der Stimme, daß er nicht anders konnte, als sie herausfühlen.
»Ich habe oft daran gedacht,« fuhr sie fort, »ob du eigentlich nicht selbst an Mutters Zustand schuld seiest.«
»Aber Kaja!« Er war ganz bleich geworden und trocknete sich nun den Schweiß von der Stirne.
»Ja wohl,« sagte sie, »ich habe gedacht, wenn ein Mann sich mit seinem Geschäft verheiratet, anstatt mit seiner Frau, dann ist es kein Wunder, wenn die Frau verrückt wird.«
Er wand sich unter dem inquisitorischen Blick, der ihn nicht einen Augenblick losließ.
»Du weißt nicht, was du sagst,« murmelte er ausweichend.
»Doch, ich weiß es recht gut,« sagte sie. »Wenn ich wieder gesund bin, will ich Mutter besuchen und lange mit ihr sprechen, dann werde ich sehen, ob ich ungerecht geurteilt habe. Weißt du, daß ich schon einmal auf dem Weg zu ihr war?«
»Du?« rief er entsetzt.
»Ja, ich. Warum wundert dich das so sehr? Es müßte dich eher verwundern, daß ich seit meinem neunten Jahr niemals gebeten habe, sie besuchen zu dürfen, und daß du – mich nie dazu aufgefordert hast.«
Er schüttelte den Kopf.
»Du mußt nicht hingehen,« sagte er, »sie ist unheilbar.«
»Ich gehe aber trotzdem, sobald ich kann,« erwiderte sie. »Bis jetzt habe ich nicht verstanden, daß ich ihr etwas schulde, aber die letzte Zeit hat es mir klar gemacht, und ich werde es nicht wieder vergessen.«
Er wollte etwas erwidern, unterließ es aber. Statt dessen zündete er sich eine Zigarre an und schnitt ihr durch ein hartnäckiges Schweigen jede Möglichkeit zu einem ferneren Gedankenaustausch ab.
Am Abend begleitete sie ihn zum Bahnhof, und da sprachen sie wie zwei Fremde von den gleichgültigsten Dingen miteinander. Als der Zug abgefahren war und Kaja allein nach Hause kam, fühlte sie eine größere Leere als je vorher.
Obgleich die Spielzeit des Theaters längst aufgehört hatte, war von Peter Dam, außer einem paar nichtssagender Billete, keinerlei Nachricht eingetroffen; auch hatte er Kaja nicht ein einzigesmal besucht.
Da wurde sie plötzlich von einer heftigen Sehnsucht nach Onkel Franz ergriffen, und zwar mit solcher Gewalt, daß sie sich keinen Augenblick bedachte, sondern sogleich auf die Post ging und schrieb:
»Kannst Du Deine Ferien heuer nicht hier zubringen? Ich brauche notwendig jemanden, mit dem ich mich aussprechen kann. Es ist ein Zimmer hier im Hause neben dem meinigen frei. Kletterrosen wachsen an der Mauer empor, und hoher Klee steht vor dem Hause; er ist so hoch, daß man bis an die Knie darin waten könnte, und Du liebst ja den Klee so sehr!
Komm' also, wenn Du kannst!
Kaja.«
Sie verstand selbst nicht, welches Vertrauensvotum sie ihm erwies, als sie diesen Brief absandte – aber er verstand es, und er täuschte ihr Vertrauen nie.
*
Sobald die Schulen geschlossen waren, kam Onkel Franz, und als sei es das Natürlichste von der Welt, glitt er wieder hinein in ihr Dasein. Er packte seine Koffer aus, schlug sein Bücherbrett auf und füllte das Zimmerchen, das er gemietet hatte, mit lauter Bildern von Kaja. Wenn sie in seiner Stube saß, war es ihr, als sei sie wieder ein Kind, und das glückliche Sicherheitsgefühl des Kindes überkam sie aufs neue.
»Aber wo ist das Erinnerungsbuch?« fragte sie eines Tages, als sie die Bücher auf seinem Tische musterte.
»Das habe ich verbrannt,« antwortete er kurz.
»Verbrannt!« rief sie. »Ach, wie schade! Wie konntest du es nur tun?« – Beinahe instinktmäßig fühlte sie, daß er es um des einen kurzen Gedichtes willen getan hatte, das für ihr Schicksal so bestimmend gewesen war, und doch wiederholte sie mechanisch: »Wie konntest du es nur tun?«
Einen Augenblick wartete sie auf eine Antwort, aber er schwieg. Und da eines des anderen Schweigen stets zu achten pflegte, sprach sie von nun an nie wieder über das Buch, nur ein paar Tage später, als er ihr eben aus Shelleys Gedichten vorgelesen hatte, sagte sie:
»Sag mir einmal, Onkel Franz, hast du wirklich nie selbst Gedichte gemacht?«
»Warum?«
»Weil du sie so gut lesen kannst.«
»Das ist etwas ganz Anderes, als selbst welche machen. Ich könnte mich eher auf den Kopf stellen, als zwei Zeilen reimen.«
»Wie merkwürdig! Ich glaubte, alle Menschen könnten Gedichte machen – ich meine, zu gewissen Zeiten ihres Lebens,« fügte sie zögernd hinzu.
»Sieh', sieh'! Du hast vielleicht Erfahrung darin.«
»Ja, du wirst doch nicht glauben,« sagte sie mit einem schelmischen Lächeln, »daß ich nicht auch Verse mache – zu gewissen Zeiten.«
»Du? Wann sollen sie gedruckt werden?«
»Ach, solche Gedichte meine ich nicht, das weißt du wohl. In meinem ganzen Leben mache ich gewiß nicht so viele, daß man auch nur hundert Seiten damit füllen könnte, aber dafür sind sie auch zu gut, um gedruckt zu werden. Ja, verstehe mich recht, ich meine, nicht für andere zu gut, sondern für mich selbst. Ich schreibe nie etwas nieder, was ich nicht zuvor gesungen habe. Und dann sind immer ein paar Tropfen von meinem Herzblut drin – und ich mag es nicht, wenn fremde Leute in meinem Herzen herumwühlen.«
Er lachte über ihre komische Art, sich auszudrücken, gleichzeitig aber neigte er sich vor und sagte: »Meine Hand ist nicht fremd, weißt du.«
Sie verstand ihn sogleich.
»Du bekommst sie nicht zu lesen, erstens sind die meisten gar nicht geschrieben – aber abends will ich sie dir vorsingen.«
Und so geschah es. Am Vormittage saßen sie unter dem alten Kastanienbaum – sie nähte, und er las vor – und am Abend sang sie ihm nach alten, bekannten Melodien ihre eigenen bebenden Worte, während er ihr, seinen weichen, breitrandigen Hut tief in die Stirne gedrückt, zuhörte. Aber beim Sonnenuntergang gingen sie auf dem Kleefeld zwischen roten Bachnelken und gelben Dotterblumen spazieren, und da war es Kaja, die am meisten sprach. Sie redete von dem Kinde – ihre ganze Seele war ein Danklied für das Kind. Sie erwartete nicht, Mutter zu werden, sie war es schon; sie lebte und atmete mit dem kleinen Herzen, das sie unter dem ihrigen schlagen fühlte, und dieses Gefühl war ihr heilig. Sie sprach davon, wenn das Kind sie zum ersten Male anlächeln und wenn es seine ersten Schritte machen würde, und sie versicherte Onkel Franz, daß sie streng in ihren Ansprüchen sein werde, weil sie so stark in ihrer Liebe sei. Ihr Kind müsse ein wahres Wunder an Gehorsam werden.
Onkel Franz ging auf alles ein, und sie brauchte nie Angst zu haben, mißverstanden zu werden. Er wachte über jede ihrer wechselnden Stimmungen, er versuchte die feinsten Schattierungen ihres Seelenlebens zu verstehen, und er wurde dessen nie müde. Manchmal war es ihr geradezu, als halte er ihr Herz in seinen Händen und fühle jeden einzelnen von dessen hastigen Schlägen.
Am Ende des Monats erschien eines Tages Peter Dam. Er war in ausgezeichneter Laune und sprach sehr laut.
Morgens kam er an und abends fuhr er wieder weg.
»Du hast wohl nichts dagegen, daß ich einen kleinen Ausflug nach Bornholm mit einem meiner Freunde mache?« sagte er. »Du hast ja Onkel Franz.«
»Ja,« sagte sie, und ein glückliches Lächeln zog über ihr Gesicht. »Ich habe ja Onkel Franz.«
Er war so dankbar über ihre Nachgiebigkeit, daß er zum ersten Male mit ihr von dem Kinde zu sprechen begann. Aber da verstummte sie plötzlich.
In strahlender Laune reiste Peter Dam an demselben Abend ab.
Onkel Franz atmete erleichtert auf, als Peter Dam abgereist war, aber Kaja war lange gedrückt und schweigsam. Obgleich sie ihn nicht einen Augenblick vermißte, hatte sie ihn doch mit einem Gefühl der Bitterkeit abziehen sehen, sie fühlte es gleichsam als einen Verrat, nicht an ihr, sondern an dem Kinde. Es war ja doch sein Kind! Sie war empört, daß er so gleichgültig daran denken konnte.
Peter Dam blieb die ganzen Ferien hindurch auf Bornholm, und so kam es, daß Onkel Franz in einem geistigen Sinn der Vater des Kindes wurde. Mit Onkel Franz sprach Kaja in ihrer warmen, stillen Art von dem Kinde, mit der Stimme, die so geheimnisvoll war, und mit dem Blick, der so merkwürdig nach innen gerichtet sein konnte.
Onkel Franz zeigte sie auch die kleine Wiege mit den feinen blauseidenen Vorhängen, die sie mit so stiller Ehrerbietung zurückschob. Keinem anderen auf der Welt hatte sie die Wiege gezeigt, als nur Onkel Franz.
Nie konnte er wieder vergessen, wie sie ihm zuflüsterte: »Komm' und sieh'!« und dann leise auf den Zehen vor ihm her die Treppe hinaufschlich.
Und er selbst hatte sich ertappt, daß er es ebenso machte.
Sie hielt vor der Tür der kleinen Bodenkammer an und schloß sie auf – so vorsichtig, o so vorsichtig! Sie schob ihn vor sich hinein und machte hastig die Tür wieder zu.
Mitten in dem Raume stand die Wiege – ein kleines Königreich, das auf seinen Besitzer wartete. Und daneben stand sie selbst mit gefalteten Händen, den Kopf auf die Seite geneigt und dem Ausdrucke heiliger Andacht in dem jungen Gesicht. An den Schläfen kräuselte sich ihr rotgoldenes Haar, und das Blut kam und ging in den zarten Wangen.
Noch nie glaubte er sie so geliebt zu haben, wie in diesem Augenblicke, wo das Tiefste und Weiblichste in ihrer Natur ihr ein so ganz eigenes Gepräge verlieh. Aber dann wurde er aufs neue von jenen sonderbaren Vorspiegelungen ergriffen, wie in der Woche vor Kajas Hochzeit, wo er geglaubt hatte, es sei sein und ihr Heim, an dem er baute. Ebenso meinte er jetzt, es sei sein und ihr Kind, das sie erwarteten. Ohne es sich bewußt zu sein, strich er mit der Hand über die Wiege, und es lag so viel Zärtlichkeit in dieser Bewegung, daß Kaja unwillkürlich seine Hand ergriff und sie küßte.
Dann öffnete sie leise die Tür und schlich wieder auf den Zehen die Treppe hinunter.
*
Sie gingen zusammen durch das Kleefeld – durch den üppigen, dichten Klee, den hohen, duftenden Klee, der die Luft ringsum mit wonnigem Duft erfüllte. Weiterhin war das Gras gemäht, und große Heuhaufen luden zum Niedersitzen ein. Sie gingen an dem Eingang zum Wald vorüber und auf den Wiesengrund. Die alte Händlerin verneigte sich vor ihnen:
»Nun ist die gnädige Frau vergnügt, daß der Herr gekommen ist,« sagte sie und sah Onkel Franz mit ihrem breitesten Lächeln an.
Kaja nickte nur und ging weiter, aber das Blut schoß ihr in die Wangen. Zum ersten Male fühlte sie die Schmach einer vernachlässigten Gattin.
Hätte denn nicht Peter Dam der sein sollen, der sich in dieser Zeit für sie opferte? – War es nicht ganz sinnlos, daß Onkel Franz es war, der die Erwartung dieser Tage und Wochen mit ihr teilte! – Sie stieß einen so tiefen und bitteren Seufzer aus, daß Onkel Franz stehen blieb und ihren Arm durch den seinigen zog; wie gewöhnlich nahm er dem Schmerze den Stachel.
»Es war sehr nett von dir, daß du mich hier haben wolltest,« sagte er. »Ich habe von deiner Geburt an so viel mit dir geteilt, daß ich mir gar nicht denken könnte, daß ich nicht auch das mit dir teilen dürfte. Außerdem weißt du ja, daß ich meine Ferien am liebsten in der Stille auf dem Lande verbringe. Dein Mann dagegen braucht Erfrischung, die Erfrischung, die ein kleiner Ausflug mit guten Freunden bringt.«
Sie war ihm innig dankbar für seine große Rücksicht.
»Ja,« sagte sie leise, »die Menschen sind eben sehr verschieden.«
Sie wollte nicht sagen, daß an diesem Tage schon drei Wochen vergangen waren, seit sie zum letztenmal Nachricht von Peter Dam bekommen hatte, und auch damals waren es nur zwei Zeilen auf einer Postkarte gewesen. Zwar vermißte sie seine Briefe nicht, aber deren Ausbleiben empfand sie doch als eine Kränkung.
Sie selbst hatte ihm dreimal geschrieben, jedesmal kürzer und jedesmal kühler.
»Wollen wir nicht hier ein wenig ausruhen?« sagte er und zog sie auf einen Baumstumpf, der, merkwürdig versteckt, an dem Rande eines Bächleins stand, das mitten durch die Wiese lief. Der Bach rieselte und plätscherte zwischen den Steinen, und zu dessen beiden Seiten standen alle Wiesenblumen und hörten ihm zu.
Die beiden Menschenkinder aber saßen lauschend daneben. Eins versenkte sich in die Gedanken des anderen mit dem tiefverwandten Gefühle, das sie von jeher gehabt hatten, und mit dem scharfen Verständnis, das die Liebe entwickelt.
Wie es einem Menschen, der eine wunderbare Musik hört, vorkommen kann, als ob sich darin die ganze Poesie seines Lebens in Tönen vereinige, so schien diese sich für die beiden in dem plätschernden Liede des Bächleins zu vereinigen. Sie dachten wohl beide daran, wie das Leben die Gebilde ihrer Träume zerrissen, ja – sie umgeblasen hatte wie Kartenhäuser. Sie dachten wohl daran, wie sie hier hätten beisammen sitzen können, als zwei glückselige Menschen, wenn das eine von ihnen sich nicht auf ein Akkordieren mit sich selbst eingelassen hätte.
Aber sie sprachen nicht davon – sie vermieden instinktmäßig alles, was zu einer Aussprache zwischen ihnen hätte führen können.
»Onkel Franz,« sagte sie nur, »hier wird es einsam werden, wenn du abgereist bist.«
Er antwortete nicht sogleich; er dachte daran, daß nur noch zwei Tage übrig waren, und es war ihm, als krampfe sich ihm das Herz zusammen; er wußte nicht, wie er sich selbst oder sie trösten solle.
»Sonntags komme ich heraus,« sagte er dann – »wenn ich darf.«
»Dann werde ich mich jeden Tag nach dem Sonntag sehnen,« sagte sie, ihm beide Hände reichend.
Er fühlte, daß er sie nicht ansehen durfte, während sie dies sagte, deshalb bückte er sich und befreite einen Käfer, der sich in einem Spinnengewebe verfangen hatte.
»Ja,« sagte er ablenkend, »du brauchst jemanden, mit dem du dich aussprechen kannst, und du weißt, daß dein alter Onkel Franz treu ist – auf ihn kannst du dich verlassen.«
Sie wußte sogleich, warum er »alter« sagte; um jeden Preis wollte er das vertrauliche Verhältnis zwischen ihnen aufrecht erhalten. Nie würde er Worte zu ihr sprechen, die sie nicht anhören durfte! Er würde schon aushalten, denn er war so durch und durch wahr, daß er es konnte. Und plötzlich begriff sie, daß eines Mannes Liebe so stark sein kann, daß sie dessen Pfad während eines ganzen Lebens rein erhält.
Mit ihrem aufmerksamen Blick schaute sie gerade aus, und da wurde dieser auf einmal warm und strahlend. Leise begann sie zu singen, ein kleines Lied von den lieblichen kleinen Wiesenblumen, das er sie selbst einst gelehrt hatte.
»Kannst du es auch noch?« fragte sie.
*
An einem der letzten Augusttage reiste Onkel Franz heim, und Kaja blieb allein zurück.
Als er fort war, überfiel sie ihre alte Angst aufs neue, aber sie nahm eine andere Form an. Die Angst um das Kind wurde zu einer Angst um Onkel Franz.
Sie wurde nun von demselben Entsetzen ergriffen, wie einst, wenn sie vor seiner Türe stand und ihr eigenes Herz zum Zerspringen klopfen hörte in wahnsinniger Angst, daß sie ihn tot drinnen finden werde. Sie wagte abends kaum, ihre Augen zu schließen, denn dann sah sie ihn sogleich tot vor sich oder begleitete ihn zu Grabe. Sie hörte dann Glocken läuten und sah sich selbst langsam – ach, so langsam – hinter dem Sarge hergehen. Und ihr war, als übermanne sie das erdrückende Einsamkeitsgefühl, so daß sie keinen Fuß rühren könne. Wenn sie dann erwachte, flüsterte sie wohl in die Dunkelheit hinein: »Armes Kind! Armes kleines Kind! Was soll aus dir werden, wenn er stirbt!«
Dann begann sie Briefe an ihn zu schreiben; sie schrieb nun von dem Kinde gerade so, wie sie miteinander darüber gesprochen hatten. Und er antwortete ihr in derselben Weise.
Er erzählte ihr, daß er auf die neue Ausgabe von Andersens Märchen subskribiert habe; das werde etwas für das Kind sein.
Und sie beschrieb ihm, wie sie, wenn sie heim komme, das kleine Boudoir neben dem Wohnzimmer zum Kinderzimmer einrichten wolle, so daß sie immer die Wiege sehen könne. Denn niemand anders dürfe etwas an dem Kinde tun, nur sie allein. Tag und Nacht wolle sie es warten. Und sie scherzte darüber, ob selbst er Zutritt bei dem kaiserlichen Prinzen erlangen werde, oder ob er draußen stehen müsse und singen: »O, du lieber Augustin« – – Ach, es war ihr, als beruhige sie schon der Anblick seiner Handschrift, so daß die quälende Angst sie verließ.
Peter Dam fragte in einem Briefe an, wann sie nach Hause zu kommen gedenke. Er selbst sei den ganzen Tag von Proben in Anspruch genommen, schrieb er.
Sie antwortete, daß sie bis nach der Geburt des Kindes auf dem Lande bleiben und erst im Oktober in die Stadt zurückkehren werde.
Mit umgehender Post erhielt sie Antwort. Peter Dam meinte, das sei ein recht vernünftiger Entschluß, der seine volle Billigung habe.
Sie las zwischen den Zeilen, wie befriedigt er über ihr Ausbleiben war, und das berührte sie schmerzlich. Im Grunde ihres Herzens hatte sie schon lange starke Zweifel an seiner Treue gehegt, aber in dieser Zeit hätte sie es sich am liebsten selbst verborgen – sie wollte dem Zweifel nicht Raum geben; ihre ganze Natur lehnte sich dagegen auf.
Da las sie eines Abends in den Zeitungen, daß Peter Dam und die Schauspielerin Fräulein S..., die ihre Ferien auf Bornholm zugebracht hätten, nun in die Stadt zurückgekehrt seien – und wie eine glühende Woge stieg der Zorn in ihr auf. Aber ihr nächstes Gefühl war Scham über sich selbst. Wie war es möglich gewesen, daß sie sich – wenn auch nur während einer ganz kurzen Zeit ihres Lebens – von der rein äußerlichen Schönheit eines Mannes so hatte einnehmen lassen, daß sie ganz vergessen hatte, zu fragen, wie es mit seinem Innern bestellt sei. Und wie hatte sie Peter Dam wählen können, wenn daneben ein Mann war wie Onkel Franz? Warum hatte sie sich nicht gerettet, als sie vor dem Altar stand und zum ersten Male ihre eigenen Gefühle begriff? Und wie hatte sie sich einbilden können, daß sie ihn wirklich liebe? Wie hatte sie ihren ganzen Willen in diese Liebe hineinzwingen und ihre Augen der Leere ihres Zusammenlebens verschließen können? Bis zu dem Tage, wo er sie am tiefsten verletzt hatte, nämlich in ihren Gefühlen für das Kind, hatte sie ja glauben wollen, daß sie ihn liebe. Mit schneidender Klarheit stand es nun vor ihr, von dem Augenblicke an in der Kirche, wo es ihr zum ersten Male klar geworden war, daß Onkel Franz etwas anderes und mehr für sie hätte sein können, als was er bisher gewesen war. Sie senkte den Kopf, und heiße Tränen fielen in ihren Schoß. An ihm, ja an ihm hatte sie sich versündigt, und so war auch das, was sie jetzt traf, nichts als Gerechtigkeit. Lange saß sie unbeweglich mit fest zusammengepreßten Händen. Langsam und mit unendlicher Bitterkeit tauchten die Linien vor ihrer Seele auf:
Und das Leben schrieb
Mit Farben gut,
So rot wie Blut!
Und keines blieb
Der Blätter mehr
Weiß und leer!