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Man wird es natürlich finden, daß ich mein letztes Nachtlager behielt, und ebenso, daß ich eine ganze Stunde an der Tapetentür lauschte. Doch vergebens; ich hörte nicht das geringste von dem Unerklärlichen.
Schließlich vertrieben Schlaf und Kälte mich von meinem Lauschposten ins Bett.
Nach einer ununterbrochenen und erquickenden Ruhe erwachte ich erst bei Tagesanbruch. Ich kleidete mich an und ging zum Fenster. – Es war Tauwetter. Graue Regenwolken trieben eilend und niedrig über den Wald hin – den dunklen Wald, der kürzlich zur Weihnacht geschmückt im prächtigsten Silberbrokat des Winters dagestanden hatte.
So – dachte ich – legt die junge Frau ihren Brautstaat und prangenden Kopfschmuck ab und begnügt sich bescheiden mit Alltagskleidern und dem eigenen Haar. Der Südwestwind heulte in den undichten Fensterrahmen und schwenkte das Schilfdach im Burggraben mit unaufhörlichem Sausen und Rasseln.
Ich wurde wehmütig gestimmt; es war, als ob die niedrig hängenden Wolken mein Gemüt niederdrückten und meine Brust einschnürten. Ich dachte mit Schwermut an meine edle Nachbarin, den letzten verwelkenden Sproß eines ehmals mächtigen und blühenden Stammes. Bald ist auch sie verschwunden aus den Hallen ihrer Vorfahren, die bereits von einem fremden und üppig heranblühenden Geschlecht bewohnt werden.
Unwillkürlich seufzte ich mit dem blinden Sänger der Hellenen:
»Das Geschlecht der Menschen ist wie Laub,
der Wind wirbelt es in den Staub;
diese Wälder vergehn,
andre läßt Frühjahr erstehn.«
Es war mir damals völlig unerklärlich, warum meine »Tauwetterlaune«, wie der Hardesvogt sie nannte, sich nicht den ganzen geschlagenen Tag vertreiben ließ. Ich nahm an allem teil, aber nur halb, und es passierte mir mehrmals, wenn jemand von der Gesellschaft oder ich selbst meine Gedanken vermißte, daß ich sie dann oben bei der Komtesse oder in ihrem Zimmer fand.
Wir hatten vieles vor: wir musizierten, spielten Billard, Karten, Federball; und zum Schluß warfen wir uns mit Schneebällen. Kurz gesagt: wir unterhielten uns auf alle mögliche Weise; aber ich war und blieb gebunden – ich wußte nicht, wovon.
Diese ganze Torheit sollte mit Tanz enden.
Einige Damen – an denen Mangel war – wurden dazu geholt. Kurz ehe der Ball beginnen sollte, fiel einem der Herren Alice ein.
»Sie ist unvergleichlich im Gesang«, sagte er, »und wenn sie nur halb so gut tanzt –«
»– Sie tanzt überhaupt nicht«, fiel die älteste Jungfer Hansen ein, »jedenfalls haben wir sie nie tanzen sehen; eingeladen ist sie zwei-, dreimal gewesen, hat sich aber immer entschuldigt.«
»Wollen wir es nicht noch einmal versuchen?« sagte der Hardesvogt, »wer kann wissen – wenn zum Beispiel – der Rektor sie einlüde? Er hat sich heute abend so äußerst behaglich mit ihr unterhalten, und es sah so aus, als ob sie das Thema noch nicht erschöpft hätten – schreiben Sie ihr ein Billet.« – Ich tat es.
Die Antwort kam mündlich und sofort: Sie würde die Ehre haben.
Ich befand mich gerade in einem freundschaftlichen Streit mit ein paar andern Tänzern, wer den ersten Tanz anführen sollte, als Alice eintrat.
Amor und alle Grazien! Es war sie und doch nicht sie; ich sah und sah: es war nicht jene dunkelgekleidete, dunkle, kalte, beinahe steife Französin, es war Therpsichore selbst, leicht wie ein Zephir und mild wie der Morgenstern. Ein schneeweißes Ballkleid umschloß in dichten Falten den reizendsten Körper und nur bis zu den Knöcheln reichend ließ es die niedlichsten Füße, die auf altgriechische Art mit rosenroten Seidenbändern umwunden waren, dem Beschauer frei. Ein himmelblauer Schleier verhüllte den Busen und eine einzige Lilie – ein Werk der Kunst – schmückte die dunkelbraunen Haarflechten auf ihrem Scheitel.
Doch das Antlitz vor allem! Welche seltsame Verwandlung war mit ihm geschehen! Wo war der große Mund geblieben?
Wie sie mir mit einigen Dankesworten entgegenlächelte, da ich vortrat, um sie zu begrüßen und aufzufordern, hätte ich ihn gern noch größer wünschen können, um noch mehr von den schönsten Zähnen zu sehen, die jemals zwischen zwei Purpurlippen hervorgeleuchtet haben. Und die Augen! Auch diese öffneten mir nun zum erstenmal ihren dunkelblauen Himmel und zeigten mir mit einem Strahl, welcher Geist dahinter wohnte. Was ist Schönheit anders, als das Hindurchleuchten einer schönen Seele? Jeder einzelne Teil des Gesichts kann schön sein, das ganze regelmäßig: doch fehlt der Glanz des Geistes, hat sie keinen größeren Wert als Pygmalions Galathea, bevor die Götter seine Gebete erhörten und ihr einen schenkten; es weckt Bewunderung, aber keine Liebe.
Es war gut, daß die Musik in diesem Augenblick anhob; denn meine Überraschung war so heftig, doch gleichzeitig so süß, daß ich den Tanz, mich selbst und alles andere um mich her vergessen haben würde.
Junger Leser! Schöne Leserin! Nun wißt ihr bereits, was ich damals dennoch nicht bemerkte: daß der Gott der Liebe mich mit seinem sichersten Pfeil getroffen hatte.
Wie konnte ich mir auch denken, daß die, die mir beim ersten Zusammentreffen so gleichgültig war, mir danach plötzlich so teuer werden sollte? Ich hatte mir immer vorgestellt, daß die Liebe notwendigerweise auf den ersten Blick beginnen müsse. Oder war sie wirklich gleich da? Lag sie bisher im Schlaf und wurde sie nur geweckt, wie wenn wir träumen und erst beim Erwachen wissen, daß wir geträumt haben?
Ich merkte nicht, wie es um mich stand, ehe Alice fort war.
Gegen Mitternacht verließ sie den Ball, um sich zu ihrer einsamen Freundin zu begeben. Da war es für mich, als ob die Lichte schläfrig brannten, die Musik matter erklang und der Tanz schwerer ging, als ob sie das halbe Leben, Licht und Freude mit sich fortgenommen hätte. Ich konnte mich selbst nicht länger über den Zustand meines Herzens täuschen. –
Diese wichtige Entdeckung sollte mich auf der Gesellschaft in die Einsamkeit vertrieben haben, hätte ich nicht gefürchtet, mich selbst zu verraten – ich, der, solange sie dem Balle beiwohnte, nicht den Boden verlassen hatte.
Aber noch entsinne ich mich genau, wie schwer mir der Zwang zu stehen kam: anstatt daß ich wie vorher mit Leidenschaft getanzt hatte, tanzte ich jetzt mit Leiden; meine vorige ungebetene Heiterkeit war einer mühseligen und unglücklichen Witzhascherei gewichen.
In den Atempausen ging ich von Zimmer zu Zimmer, besah die Spielenden, ohne zu wissen, was sie spielten, mischte mich in ihr Gespräch, ohne zu wissen, was es betraf. Ohne weitere Beschreibung: ich führte mich auf wie ein Verliebter.
Solange getanzt wurde, ging es noch gerade. Aber da weniger Damen als Hüte da waren und unter den ersten ein paar schlechte Tänzerinnen, mit denen man, wie es in der Dorfsprache heißt, Frondienst tun mußte, schlugen die letzteren eine Veränderung vor – Weihnachtsspiele.
Nun war ich noch schlimmer gestellt. Ich mußte Pfand auf Pfand geben: bald waren alle meine Taschen geleert. Und als nun die Pfänder eingelöst werden sollten! Wie tief war nicht der Brunnen! Wie hart der breite Stein! Wie schwer der polnische Kirchgang. Ich hing, ich beichtete wahrhaftig wie ein Sünder, und alle die Küsse, die ich bekam und gab, schmeckten teils wie Essig und teils wie Wasser.
Aber auf dem Mokierstuhle erwartete mich doch die härteste Prüfung.
Der arme Tertius sollte mir die Bemerkungen der Gesellschaft verkünden, was er auch mit gewissenhafter Genauigkeit und dem größten Ernst tat. Ich fürchtete mich und saß wie auf Nadeln.
Verschiedene dunkle Andeutungen hatte ich mit gekünstelter Ruhe hinuntergeschluckt: doch eine störte sie völlig:
»Und einige« – schloß er – »wundern sich darüber, daß der Herr Rektor so seltsam geworden ist, seitdem seine Dame fortgegangen ist.«
»Der soll sitzen!« rief ich und sprang vom Stuhl auf.
Die Männer lachten, die Frauenzimmer grinsten.
Der Schuldige war nicht zu finden. Tertius gab die jüngste Jungfer Hansen an; aber sie lehnte durchaus die Beschuldigung ab.
»Wenn Sie es nicht waren, so war es Ihre Schwester!« sagte er.
Sie leugnete ebenso hartnäckig. Das Ende war, daß er selbst sitzen mußte, und ich keine Genugtuung erhielt.
Das Spiel hat seine Unterhaltsamkeit verloren – man gähnte – man sprach vom Bett. Ich sehnte mich danach, um ungestört an sie denken zu können, die in so seltsamer Weise die bisher uneinnehmbare Festung meines Herzens eingenommen hatte.
Ich ging den ganzen Abend durch, von ihrem glänzenden Auftreten bis zum letzten lieblichen Gruß, mit dem sie verschwand. Ich wiederholte jedes ihrer Worte. Ich tanzte alle unsere Tänze wieder; und erst jetzt verstand ich, worin ihre Meisterschaft auch hinsichtlich dieser Fertigkeit bestand: nicht allein in der Schönheit, sondern auch in der Leichtigkeit aller ihrer Bewegungen. Ohne die geringste Anstrengung führte sie die damals gebräuchlichen Armtouren aus; Arme und Füße bewegten sich wie durch eine verborgene Maschinerie in unerschütterlichem Takt, während der schöne Körper zwischen den anderen Tanzenden schwebte, ebenso wie der Schwan aufrecht und ruhig zwischen den wogenden Wellen dahinsegelt.
Ich ließ meine Einbildungskraft mir aufs neue ihre Mienen, Lächeln, und Blick einprägen, als wir einander trafen, als wir miteinander sprachen, ob sie nicht mehr als bloße Artigkeit enthielten: es schien so – aber – hier ergriff mich plötzlich der Gedanke: wie war sie gegen die andern jungen Leute: – hm, das wußte ich nicht!
Nur das hatte ich doch bemerkt, daß der Bruder des Konrektors sie mehrere Male betrachtet hatte, jedoch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit, und daß sie ebenso ihn von der Seite forschend betrachtet hatte. Er war allerdings ein Mann von Jahren, jedoch von jüngerem, noch männlichem und kräftigem Aussehen. Sein Haar und sein Backenbart spielten mehr ins Graue als ins Schwarze, entstellte jedoch nicht die Schönheit seines sonnenverbrannten Gesichts, das von einem Paar heiterer hellblauer Augen belebt wurde. Seine Gestalt war athletisch und seine Haltung wie die eines Kriegers. –
Doch hierüber beruhigte ich mich bald, um so leichter, als ich ihn aus Herzens Grunde schnarchen hörte. Er und der Bruder – die Unzertrennlichen – hatten nämlich mein früheres Bett bekommen und ich ein anderes in derselben schwarzen Stube, da die zuletzt gekommenen Damen den Aufenthaltsraum auf das äußerste eingeschränkt hatten.
Ich erwachte erst ziemlich spät an dem kurzen Wintertag auf. Ich sah nach dem andern Bett hinüber – es war leer. Ich drehte mich zum Fenster: die Sonne schien herein. Ich stand auf.
Als ich angekleidet war, um hinunterzugehen und die Hand bereits auf dem Drücker hatte, ertönte ein taktmäßiges Knirschen in dem großen Saal – ob sie das war? dachte ich, schlich mich an die wohlbekannte Tür und lauschte so vorsichtig daran, daß ich mit dem einen Auge hineinsehen konnte.
Es war sie! Sie war im Morgenkleid; aber ein Umschlagetuch bedeckte Hals und Busen – nicht einmal der Tag durfte sie sehen.
Sie war damit beschäftigt, in einer Kommode ihren hübsch zusammengelegten Ballstaat zu verwahren, und als sie damit fertig war, zog sie eine andere Schublade heraus, nahm etwas in die Hand, das ich nicht sehen konnte, doch wovon eine große Litze von Seide oder Haar herabhing. Lange betrachtete sie es mit tiefer Wehmut, seufzte, drückte es mit beiden Händen an die Brust, küßte es und wandte die tränenvollen Augen dahin, wo die Sterblichen Trost für den Schmerz hier unten suchen. Darauf legte sie das Hervorgeholte wieder fort, trocknete ihre Augen und verließ den Saal mit ruhigem Gesicht und leichtem Gang.
Was konnte es sein? Ein Bild! Vermutlich; aber von wem? Einem Liebhaber? – Es fiel mir schwer aufs Herz – vielleicht von einer Mutter? – das erleichterte wieder. Doch wer war sie selbst da? Eine Emigrantin? Von hohem Stande – allzu hoch! Das verriet ja ihre vollkommene Bildung. –
»Gewißheit!« sagte ich fest entschlossen zu mir selbst und vertauschte meine Einsamkeit mit dem munteren Lärm der Gesellschaft.