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5. Alice.

Ich habe öfter bemerkt, sowohl bei mir als auch bei andern, daß ein einzelnes Ereignis, es sei groß, wichtig, traurig, ja fürchterlich, uns nicht annähernd so leicht aus der Fassung bringt – auch nicht einmal aus der Stimmung – wie mehrere verschiedene, von denen jedes einzeln ganz unbedeutend sein mag und die im ganzen von viel geringerem Gewicht sind als jenes. Man kann einem einzigen schweren Schlag widerstehen, unterliegt aber mehreren leichten.

So ging es mir hier: erst reute es mich, daß die Rätsel der Nacht eine so rasche und klare Auflösung gefunden hatten, dann ärgerte ich mich darüber, daß die erhaltenen Aufklärungen über die beiden interessanten Figuren in diesem Nachtstück sie noch rätselhafter als vorher gemacht hatten; und schließlich kränkte mich die Gleichgültigkeit, womit die Leute im Hause von ihnen sprachen. Diese sanken in meinem Urteil zu unbedeutenden Alltagsmenschen hinab; ihre Heiterkeit kam mir schal vor, ihr Witz fade und ihre Vergnügungen platt.

Ich wurde ganz verstimmt und spielte meinen L'hombre in einer Laune, ungefähr so, als wenn ich einen Aufsatz korrigiere, der von grammatikalischen Schnitzern wimmelt. Die Ankunft des Stadtmusikanten wirkte daher auf mich wie ein Reizmittel auf den Asthenischen; aber es war eben so sehr er selbst wie seine Musik. Beide standen in völliger Opposition zueinander.

Ich will mich deutlicher ausdrücken.

Er war ein Mann mit häßlichem, barschem Gesicht, einem rauhen und scharfkantigen Wesen, kurz angebunden, mürrisch in seinem ganzen Umgange. Und doch war die lieblichste aller Künste ihm alles und alles andre – nichts.

Musik war sein Stolz – ich möchte nicht sagen: seine Freude; denn nie sah er finsterer aus, als gerade bei der Aufführung seiner schönsten Stücke. Er liebte die Kunst (wie ein Tyrann seine Frau, sagte der Hardesvogt), aber keinen Menschen unter der Sonne; jeden, der nicht Musik verstand, verachtete er.

Wer ihn nun kannte und ihn so nahm, wie er war, den belustigte er auf zwiefache Weise: einmal durch seine Kunst und dann durch seine üble Laune. Der Hardesvogt kannte ihn: auf der Treppe stehend, die Violine unter dem Kinn, empfing er Apollos Priester – nicht mit Verbeugung oder mündlichem Gruß – sondern, indem er die Musik zu den Worten: »Sei willkommen!« in Heibergs »Einzug« spielte und variierte.

Diese sinnreiche Galanterie wurde sofort verstanden und aufgenommen; der Musikant nickte und sagte:

»Das ist die rechte Art zu sprechen.«

»Ja, gewiß!« versetzte der Schelm mit ernstem Pathos, »die Kunst kulminiert nicht, ehe sie nicht vollkommen die Sprechorgane des Mundes ersetzt.«

»Werft nun die Beten zusammen!« rief der Kammerrat, da unser Kapellmeister – wie ihn der Hardesvogt nannte – eintrat.

Der bedächtige Tertius übernahm diese Arbeit. Und nun ging es über die göttliche Kunst her: Instrumente wurden ausgepackt, geprüft, gestimmt. Notenpulte wurden aufgestellt, Noten herausgelegt. Und alles mit einem Eifer, einer Emsigkeit und einem Ernst, als ob es galt, für das Wohl der Welt zu schaffen.

Die Wirtin zeigte sich zweimal in der Tür des Konzertsaals und fragte, ob die Herren nicht Zeit fänden zu essen, erhielt aber nur kurze und unbestimmte Antworten.

Schließlich kam der Mann mit einer Hundepeitsche in der Hand und trieb uns zu Tisch.

Es war äußerst spaßig, Fiedler (den Kapellmeister) und den Hardesvogt anzusehen, während sie ihre gegenseitigen musikalischen Schätze musterten: Hände und Augen in dauernder Bewegung, abgerissene Ausrufe wie »gut, prächtig! das müssen wir haben! nett! extra!« und so weiter.

Aber zum Schluß kam Fiedler mit einer funkelnagelneuen Komposition, die er mit einer ordentlich bissigen Fratze dem Hardesvogt gerade unter die Nase hielt und die diesem ein A...h! entrang, das durch mehrere Takte ging und smorzando endete.

»Das ist was für ihn!« rief der Kammerrat.

»Das glaube ich schon«, sagte Fiedler, »das ist ein neues Quartett für vier Violinen.«

»Wie sollen wir das bekommen?« fragte jener in traurigem und fast weinendem Tone.

»Das werden wir schon«, versetzte der andre: »Sie und ich und der Assessor und der Herr Rektor. Er kann; das weiß ich.«

»Bravo!« schrie der Hardesvogt und verbeugte sich süß lächelnd vor mir, – »aber was liegt da?«

»Hm!« erwiderte Fiedler, »das können wir nicht gebrauchen – man hat es mir mit dem übrigen geschickt – eine große italienische Arie mit Begleitung von Violine, Violoncel, Fagott und Hoboe. Die Instrumente haben wir; aber wo ist das Solo?«

»Es wäre möglich, daß Alice das könnte«, nahm die eine Jungfer Hansen das Wort; »sie singt mehrere solcher gräßlich langen Dinger – ich will es ihr gern zeigen –«

»Tun Sie das, beste Jungfer!« rief der Hardesvogt. Aber Fiedler sagte mit verächtlicher Miene: »Pah! – Wollen wir das Quartett probieren?«

Es ging, doch nicht ohne etliche kleine Fehler, bei denen der Stadtmusikant knurrte oder auf den Boden stampfte.

Viele von der Gesellschaft, die Musik nicht verstanden oder liebten, schlichen sich nach und nach fort und begannen ein anderes Spiel – ich meine Karten oder Würfel. Und so blieben wir Kunstbeflissene mit einigen wenigen Zuhörern und Zuhörerinnen uns selbst und unserm Ohrenschmaus überlassen.

Es war Abend geworden. Wir waren bei einer Symphonie, als ich in einer Pause ein Frauenzimmer sehe, das ich vorher nicht bemerkt hatte.

Sie stand neben Jungfer Hansen gerade an der Tür und hörte mit niedergeschlagenen Augen zu. In der Hand hielt sie eine Rolle Papier – es mußte sie sein – Alice! Aber trotz meiner hochgespannten Neugier konnte ich ihr nur einen flüchtigen Blick schenken; denn die Musik riß mich mit sich. –

Die Symphonie war zu Ende. Sie trat vor, langsam, bescheiden, aber nicht schüchtern.

»Pah!« sagte ich bei mir selbst, da ich sie nun näher betrachtete, »hübsche Figur, aber kein besonderes Gesicht – so kalt, so leblos!«

Ihre Augen sah ich noch nicht, erst viel später; denn sie waren fast zur Hälfte von den Augenwimpern bedeckt, und sie richtete sie auf niemanden, sie glitt nur ganz flüchtig über die hin, mit denen sie sprach.

Sie trat zu uns, entfaltete die Rolle und sagte mit einer gezwungenen Aussprache, die ihre französische Herkunft verriet:

»Ich kenne den Soprano und abe ihn gesungen früher, mit Assistance von Ihnen, meine Erren! –«

Wer nun große Augen machte, das waren wir alle Erren, doch niemand größere als unser Kapellmeister; sein Gesicht wurde noch einmal so lang wie sonst. Er stierte sie an, als verstünde er nicht recht, was sie sagte.

»Wer führt an?« fragte sie mit einem flüchtigen Blick im Kreise. –

»Ich – ich!« erwiderte er rasch, wies ihr mit einer Verbeugung einen Platz vor seinem eigenen Notenständer an, holte die begleitenden Stimmen heraus und verteilte sie mit außergewöhnlicher Behendigkeit.

Ich erhielt keine – womit ich recht zufrieden war – und stellte mich unter die Zuhörer.

Sie sah sich um. Fiedler nickte seinen Mitspielenden zu und wies mit der Bogenspitze auf die Noten; sie nahm ihre in beide Hände – sie waren wirklich hübsch – stellte den rechten Fuß vor, – der war niedlich –, klappte dreimal mit dem Zeh und –

Als ich vergangenes Jahr Roat auftreten sah, als er da mit der Balancierstange – einer richtigen Schiffsraae – in den Händen dastand, sich mit dem Rücken gegen das Gestell hin und her wiegte, rasch auf das Tau trat und den Fuß zurückschnellen ließ, als zweifelte er an seiner Stärke – da fühlte ich eine Beklemmung, eine ängstliche Unruhe: »Will er? Darf er? Kann er? Wenn er selbst ängstlich wird, schwindelt – wenn das Tau reißt –«

Aber als dann die Musik einfiel, als er mit Kraft und Sicherheit über diese schmale Brücke zwischen Leben und Tod lief – da wurde meine Brust leichter, da fühlte ich, mit ihm hatte es keine Gefahr.

So fühlte ich auch hier eine gewisse Bedrücktheit, als ich das junge Mädchen mit einer so äußerst schwierigen Aufgabe vor sich unter so vielen scharfen Kennern sah. Aber sobald sie intonierte, und zwar mit der Sicherheit, Kraft und Fülle einer Virtuosa, als ihre Silberstimme mich wie ein elektrischer Schlag durchfuhr, da fühlte ich, und zwar mit einer Art süßen Schreckens, wie sicher sie ihrer Sache war.

Jetzt erst wagte ich, richtig den Mund zu betrachten, der so herrliche Töne aussandte. Aber er war nicht schön – man sollte überhaupt nie eine Sängerin sehen oder sie müßte maskiert sein; was haben die Augen mit ihr zu tun? Die meinen wandte ich auch ab und genoß nun ein Entzücken, das nicht früher unterbrochen wurde als der Gesang; die Instrumente hatte ich gar nicht gehört.

Mit einer leichten Verbeugung gab sie ihr Blatt dem erstaunten Kapellmeister zurück; mit niedergeschlagenen Augen und einem schwachen Lächeln nahm sie die von allen Seiten einströmenden Danksagungen entgegen und ging darauf zur Hausmutter, bei der sie sich setzte, als Zuhörerin auf eine neue Nummer wartend –

Als diese vorbei war, wurde sie aufgefordert, die Gesellschaft abermals durch ihr ausgezeichnetes Talent zu erfreuen, wozu sie sich ohne die geringste Ziererei bereit zeigte; aber unglücklicherweise hatten weder sie noch wir eine Begleitung außer dem Pianoforte.

Ich wagte ein da Capo der Arie vorzuschlagen, aber davon bat sie verschont zu bleiben:

»Ich nicht lieben da Capo,« erwiderte sie, »zweites Mal man macht nicht so gut – aber – ich mich nicht ausdrück auf dänisch –«

»Wollen Sie nicht französisch sprechen, Mademoiselle!« nahm ich das Wort in dieser Sprache; »ich glaube fast, Ihre Gedanken erraten zu können.«

Nun hörte ihre Verlegenheit und das Gezwungene in ihrem Wesen auf, das sicherlich allein seinen Grund in dem Zwange hatte, den ihr die Sprache auferlegte; mit französischer Lebhaftigkeit sagte sie:

»Man sollte niemals Wiederholungen verlangen, weder von Musikstücken, Spiel auf der Bühne oder Deklamation. So bald danach gelingt es nicht so gut wie das erstemal; kann nie mit derselben Wärme gegeben, auch nicht aufgenommen werden, und Künstler wie Zuhörer verlieren beide.«

»Ich kann Ihnen nur recht geben – wenn es auch meinem eigenen Vorteil widerstrebt –« erwiderte ich, »jedoch mit Einschränkung. Ihre Behauptung könnte sogar logisch bewiesen werden; denn lassen Sie uns nur sechzehn encores der Reihe nach vorstellen, da würde ja das vollendetste Meisterstück verlieren – wenigstens seine Frische; und verliert es das sechzehnte Mal, dann verliert es auch das fünfzehnte, und so weiter bis hinauf zum zweiten. Aber gibt es nicht trotzdem Ausnahmen? Kompositionen, die niemals verlieren? Die in hohem und noch höherem Alter stets die jugendliche Frische bewahren?«

»Bewahren?« wiederholte sie. »Ich würde eher sagen: erneuern, und diese Fähigkeit, sich erneuern zu können, ist gerade das Kennzeichen der Früchte, die es ertragen, aufbewahrt zu werden. Aber meine Meinung geht ja nur dahin, daß sie in Zwischenräumen genossen werden müssen. Ein naschhaftes Kind, das seine Begierde nicht beherrschen kann, übernimmt sich leicht an Süßigkeiten und ißt sich sie über; deshalb halten vernünftige Eltern es zurück, damit es wenig und lange genießen kann.«

Das letztere sagte sie mit einem heiteren Lächeln, das – doch nur auf einen Augenblick – ihr Gesicht veränderte und einen Schimmer von innerem Leben zeigte, das ihm sonst fehlte. –

Ich wurde in dieser Unterhaltung unterbrochen, da man mich zum Orchester rief, und als die Nummer vorbei war, vermißte ich Alice.

Sie war plötzlich zu ihrer Komtesse geholt worden.

Wie es junge Herren gern tun, begannen wir nun die Fortgegangene zu rezensieren; und sie hatte kein besseres Schicksal als ein neues Gedicht vor ästhetischen Kunstrichtern: alle finden sie Fehler, aber nicht alle dieselben; was der eine rühmt, tadelt der andre, und wollte der Verfasser in einer neuen Ausgabe jede Berichtigung und Ausstellung befolgen, würde es ihm mit seinem Buche gehen, wie es der Fabel nach jenem ältlichen Mann mit seinem Kopfe ging, aus dem eine junge Liebhaberin die grauen Haare und eine ältere die schwarzen auszog, so daß der folgsame arme Kerl zum Schluß gar keins behielt, sondern ganz kahl unter ihnen saß.

Aber viele scharfe Urteile sind nicht immer ein schlechtes Zeichen; sie zeigen, daß man Fehler sucht. In zwei Punkten waren jedoch alle einig: sie sang göttlich und sie hatte – einen großen Mund!

Das letzte mußte ich selbst – wenn auch ungern, zugeben. Aber in der Tat! Keiner hatte sie richtig gesehen.

Mitten im Abendessen kam sie wieder.

Die aufmerksame Wirtin überließ ihr ihren Stuhl neben mir mit der Äußerung, daß die beiden Französischen einander am besten unterhalten würden.

Dies traf zu; denn niemals früher hatte ich bei einem Frauenzimmer einen so feinen Anstand vereint mit einem so tiefen Gefühl gefunden; und doch wechselte sie mit eigentümlicher Leichtigkeit das Thema, so oft ich ein neues vorbrachte. Wie gern hätte ich sie selbst zu einem gemacht! Aber auf geradem Wege ging das ja nicht, und Umwege führten auch nicht zum Ziel, da sie beständig auswich oder sogar mit einem geschickten Sprung ganz zurückkehrte. –

Schade – dachte ich – daß der Mund, der so schön spricht, es nicht selbst ist!

Ich erfuhr nicht mehr, als ich schon vorher vermutet hatte: daß die Komtesse ihre Wohltäterin und einzige Freundin war.


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