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Gottlob, endlich Memel. Nanne war in Stolpmünde, nach welchem Seebad er aus der Bahn liebende Blicke warf. Und nun endlich in den russischen Wäldern!

»Äh, äh, auf Sie warten die Biester nur!« begrüßte ihn ein kurländischer Bekannter Baron Behr. »Ein Riesenelch hat mir im Traum erzählt, er will Ihre werte Bekanntschaft machen, äh, äh!« Er konnte dies aristokratische Äh – äh so wenig los werden, wie Graf Keyserling seine griesgrämige Elegik.

Man jagte viele Tage und pokulierte viele Nächte durch. Es kamen auch verschiedene russische Besitzer von »Seelen« und nahmen an den deutschen Belustigungen teil. Keyserling erging sich in Göttinger Erinnerungen und erkundigte sich nach Verbleib der Kommilitonen. Davon wußte Otto nur, daß Oldekopp hannoverscher Kriegsrat sei und Scharlach glücklich in Hildesheim büffele.

»Die Welt ist schlecht!« Nach welcher Spruchweisheit der Balte in seine Langeweile versank. Das Trinkgelage nahm einen bedeutenden Umfang an, denn nach Jagen bekommt man Durst, und eine große Ladung Rüdesheimer, die sich Behr verschrieben hatte, sollte nicht lange brach liegen. Das Ende war ein Schlachtfeld, auf dem Otto steif und fest als Überlebender thronte. Das letzte, was man von den Russen vernahm, war ihr lallender Chorus: »Wir können doch was vertragen, haben den Herrn Exzellenz auch auf Wotki gefordert, aber gegen diesen Deutschen kommt keiner auf. Solch ein Saufgenie ist zwischen Archangel und Jekaterinoslaw nicht zu finden. Das ist die deutsche

Ihre Wißbegier, wie er selber seine Leibeigenen behandele, und ob ein Muschik überhaupt ohne Knutevermahnung arbeite, hatte er ausgelacht: »Die deutschen Bauern in Südrußland haben sich losgekauft und prosperieren schon lange. Freie Bauern arbeiten immer besser als Leibeigene.«

»Nitschewo! Und was machen die Gutsbesitzer?«

»Die arbeiten auch.« Ein Höllengelächter belohnte diesen Witz. Und als die nordischen Bären brummend alle Viere von sich streckten, murmelten sie noch im Schlafrausch: »Die deutsche Gefahr.

Der Recke sah über die Walstatt hin. Diese russischen Schweine! All das bißchen Belecktheit ihrer Pelze haben sie von uns, sie selber konnten nicht mal die Knute erfinden, denn die ist tatarisch ... Nur der Deutsche kann kneipen, alle anderen kennen nur Nüchternheit oder Suff. Ein Göttinger Bild stieg vor ihm auf, ein letzter unsolenner Abschiedskommers auf seiner Bude. Er sah und hörte...

»Hier geht's ja hoch her, bin auch gern dabei!« begrüßte ein Verspäteter die ehrenfeste Leistung eines vertilgten Bierjungen mit heller Stimme.

»Holla, ›Schweinchen‹! Du siehst verdächtig solide aus!«

»Was hilft das schlechte Leben!« quiekte Schweinchen. »Ich sehe rosig in meine gottbegnadete Zukunft. Ein Philister gab Kredit auf meinen Alten, kaufte mir 'nen flotten Dunkelfuchs. Das schweinslederne Korpus juris stampf' ich unter die Hufe meiner Pferde, das ist das Los des Schönen auf der Erde. Zum Roßtäuscher langt's noch. Wenn alle Stricke reißen, werd' ich Bereiter.«

Der Studiosus Wehner warf affektiert seine Stulpnase auf. »Bis wir in dein Allerheiligstes schauen!« lachte Scharlach. »Er flieht schon jetzt profanen Umgang und labbert im Café Bruns warme Milch wie ein Kater, wenn er in Hannover bei seinem alten Herrn allen Spiritus abschwört. Es steigt der Kantus: Der Spritus im Keller brennt.«

»Und a – alles steht in Fla – a – ammen!« gröhlte der »Bulle« mit fürchterlicher Stimme. Sogar der gelehrte »Peter« sang falsch mit. Als angehender großer Philologe saß er wie die sieben Weisen Griechenlands und lächelte selig stupide mit vorspringender breiter Unterlippe, von der ein sanfter Speichel floh.

»Sieben verschollene Sprachen in sieben Speichelkanälen!« seufzte Otto tief bewegt, »O, diese gigantische Lippe, dies versteinerte Frühlingslächeln! Petrus, du bist der Fels, auf den wir nicht bauen.«

»So witzig bist du?« freute sich der unerschütterliche Weise. »Ich habe dich doch lieb.« Und er aß würdevoll die letzte Wurst auf.

Otto entledigte sich seiner Getreuen: »Du, ›Hamster‹, du ›Kazike‹, du, andalusischer Stier, ›Stadtbulle‹ geheißen, ihr seid entlassen mit Verdacht. Ich muß meinen Rausch verschlafen.«

»Lüg nicht, sonst kümmt's Tüfeli!« biederte der Bulle. »Dein Rausch! So was hab' ich noch nie gegessen.« Der »Jude« lallte: »Bruder, du bist ein edler Mensch. Und bin ich erst eine Blume der Ritterschaft, so kannst du mir – siehe Götz v. Berlichingen.« Das »Bild« vertraute dem schönen »Cerevesianer« an, er sei ein Bild ohne Gnade und habe bei Weibern Pech, worauf der magenkranke verdrießliche Lauenstein seinen Gram ausschüttete: »Wir Theologen bringen's nur zu einer Köchin.«

Die junge Garde ergab sich, die alte starb in Schönheit. »Kein Fett in der Suppe«, wimmerte der »dicke Herr«, als man ihn an die frische Luft geleitete. Über sein Glas zusammengeknickt, weissagte Keyserling: »Ich spucke Blut. Ade, du schöne Welt, ich muß dich lassen.« Alle Überlebenden stimmten das Katerlied an: Ach, schießt ihr schlecht! Ade, mein Land Tirol! ...

Otto erwachte aus dem Halbtraum. Das war fast 25 Jahre her, ein Lustrum, ein Menschenleben nach Durchschnitt jeder Mortalitätsstatistik. Und er kneipte hier im Norden, näher der Newa als dem Rhein, selbst schon ein »alter Herr«, dem die Haare ausfielen auf dem Haupt, das immer einen Gedanken trug. Was hatte er erreicht? Nichts. 25 Jahre – Herrgott, 25 Flaschen Champagner, die Wette mit Coffin! Die ist mit Glanz verloren. Er muß mich aber vom Selbermitbringen des Champagners übers Weltmeer entbinden, ich werde an Motley schreiben. Doch vielleicht ist er schon selber abmarschiert ins unbekannte Land, sein Name Coffin (Sarg) wäre passend dafür. Oder soll ich ihm vorschlagen, er soll die Wette prolongieren wie einen Wechsel? Noch zehn Jahre? Langt nicht. Fünfzehn Jahre? Vielleicht machen wir's dann ... Er ging festen Schrittes zu Bette.

*

Als er nach Berlin zurückkehrte, bedeutete ihm Manteuffel, es gehe dem König besser. »Anfang Oktober kommt der Zar. Da redet man wohl über Schleswig-Holstein. Meinen Sie, Napoleon wird sich einmischen?«

»Durchaus nicht. Wäre er Englands sicher – doch das ist schon recht eifersüchtig. Auch sollen ja Verhandlungen matrimonialer Natur zwischen uns und England schweben.« Manteuffel nickte. »Zudem wird er sich hüten, mit Deutschland gerade wegen der Frage zu brechen, die alle deutschen Kabinette gegen ihn vereinen würde. Das heißt die Weisheit dieses klugen Regenten verleumden.«

»Wenn wir mit Österreich Hand in Hand die Frage lösen –«

»Das wäre gerade ein Fehler. Denn Napoleon sucht Bruch mit Österreich, und man darf ihm keinen Vorwand geben. Die ganze Verantwortung muß diesmal auf den Bundestag abgeschoben werden. Wir müssen, ohne uns selbst allein zu engagieren oder uns mit Österreich einzulassen, die allgemeine Bundesexekution beantragen und veranlassen. Das kostet noch viel Arbeit, denn ich sehe schon Rechberg am Werke, wie er uns im Ausland als Friedensstörer und beim Bundestag als lauwarme Unzuverlässige denunziert. Wir müssen halt tragen und durchhalten.«

Manteuffel macht Hum und Ha, willigte aber ein: »Ich lasse Ihnen freie Hand. Übrigens drücken uns hier nähere Sorgen. Werden Sie den Thronfolger in Baden-Baden aufsuchen? Man kann nie wissen –« Beide schwiegen, dann warf der Minister hin: »Der Zar ist ein starker Raucher. Majestät müssen sehr vorsichtig sein für ihre Kopfnerven. Doch Sie wissen ja, wie es damit ist!« Mit der Laune eines verzogenen Kindes blieb der König immer hartnäckig beim Gegenteil dessen, was seine Umgebung riet.

Im vorigen Jahr hatte Otto versprochen, in Malwines schwesterlichen Armen zu liegen, d. h. Kröchlendorf zu besuchen, kam aber nicht dazu. Auch diesmal verkürzten ministerielle zigarrenlose Gespräche (ihm eine besondere Pein) seine freie Zeit, so daß er nur ein paar Weihnachtsgeschenke für Nanne mit ihr verabreden konnte. »Ich überliefere dich Gerson und anderen Verführern und kneife aus, damit ich nicht das Ensemble im Weißen Saal um eine Farbennuance bereichern muß. Auf dem Theaterzettel gehöre ich unter ›Volk, Edelleute, Häscher und Priester‹, mein Kostüm wirkt dekorativ, doch um Gottes willen möcht' ich keine Charge übernehmen weder als erster Bösewicht noch als Konfident. Es sind schon genug Mitspieler da, die gute Lungen haben und das Deklamieren aus dem Grunde verstehen. Ha, Verräter! Stirb, Verruchter! Mein Leben für den Zaren! Und wenn einer nur melden darf: ›die Pferde sind gesattelt‹, so kommt er sich ungeheuer wichtig vor. Nun ja, Statisterie ist die Hauptsache bei glatter Inszenierung.«

Seinen ganzen Galgenhumor brauchte er am 15. Oktober in Frankfurt. Das war ein trauriger »Königs-Geburtstag«. Sonst gab es vormittags feierlichen Gottesdienst in der reformierten Kirche am Kornmarkt, dazu erschien er mit dem ganzen Personal in Gala, mittags Diner in großem Stil mit sämtlichen preußischen Offizieren, abends Rundgang in den Garnisonkasernen und Beschenkung der Soldaten. Doch diesmal lastete schon eine Art Landestrauer, da man baldiges Ableben des »heißgeliebten« Monarchen vermutete. Otto fuhr nach Baden-Baden, er fand den Prinzen sehr ernst.

»Sie sind ja wohl unterrichtet? Am 6. ließ es sich der König nicht nehmen, den Zaren in dessen Salonwagen am Niederschlesischen Bahnhof zu begleiten, und die rauchgeschwängerte Luft nahm ihm die Besinnung. Ein Schlaganfall folgte. Gottlob ist das Schlimmste überstanden, ein Aderlaß, schon etwas verspätet, erhielt ihn am Leben.«

»So ist für den Gesundheitszustand vorerst nichts zu befürchten?«

»Wohl aber für den ... Gemütszustand.« Er schwieg bedeutungsvoll. »Ich übernehme die Stellvertretung. Wünschen Sie neuen Urlaub?«

»Meine Frau ist in Hohendorf, Ostpreußen, bei Alex Below. Wenn ich die Gnade haben könnte –«

»Gewiß. Der Weg dorthin führt über Berlin.« Der Prinz verbarg ein schwaches Lächeln. Wie oft muß die Frau als Grund herhalten für ganz andere Geschäfte! »Also reisen Sie mit mir!« –

In Berlin stand alles auf dem Kopfe. Die Königin und andere Einflußreiche am Hofe hätten am liebsten die Fiktion aufrechterhalten, der König sei noch regierungsfähig. Prinz Wilhelm forderte Otto zu einem Spaziergang in den Potsdamer neuen Anlagen auf, der Adjutant mußte weit zurückbleiben, um die Unterhaltung nicht zu hören.

»Die Gewissensfrage ist die: falls ich die Regierung antreten muß, bin ich verpflichtet, die Verfassung so anzunehmen, wie sie steht, oder darf ich eine Revision verlangen?«

» De jure schon. Nach dem Lehnrecht hat der Sohn, nicht der Bruder Verpflichtungen als bindend zu übernehmen. Doch ich rate Eure Königliche Hoheit ab. Wahrscheinlich würde die Majorität ablehnen, und wir wären dann in unsicherem Systemwechsel. Gibt es neuen Konflikt im Innern, so verliert Preußen nach außen jede Kraft. Wir würden uns auch beim ganzen Liberalismus, der doch nun mal im übrigen Deutschland mehr oder minder auch amtlich überwiegt, unmöglich machen.«

»Das hätte Sie früher wenig gerührt«, bemerkte der Prinz mit leichtem Unmut. »Damals war ich es, der Ihnen zu liberal dachte. Sie haben sich in Frankfurt merkwürdig gehäutet.«

»Der Mensch denkt und Gott lenkt. Bei weiterer Perspektive sieht man sowohl nahe als entfernte Dinge anders.«

»Das mag so sein. Mißverstehen Sie mich nur nicht! Sie wissen am besten, wie kindisch man mir unrecht tut, wenn man mich reaktionärer Tendenzen bezichtigt. Die sogenannte Kamarilla, Ihre Freunde Gerlach und Genossen, nennen ja meinen Hofhalt ein Brutnest des Liberalismus, was natürlich auch sehr weit übers Ziel hinausschießt. Was mich an der Verfassung so aigriert und mit Sorgen erfüllt, ist nur ein Punkt: daß sie mir nicht unumschränkte Befugnis für das Ressort läßt, dessen Ausgestaltung ich im Interesse des Vaterlandes unbedingt wünsche und will.«

»Ich weiß, die Armeereform. Dafür wird es sicher Mittel und Wege geben, wenn nur sonst die Räder glatt gehen. Um dies dem Landtag und der Nation genehm zu machen, bedürfen wir des gestärkten Ansehens nach außen. Alles andere ist von untergeordneter Bedeutung. Je kräftiger wir in Deutschland die Machtfrage stellen, desto leichter erlangen wir die halb widerwillige Mitwirkung der parlamentarischen Legislative, und nur durch geschlossenen Zusammenhalt im Innern bieten wir drohende Front nach außen.«

»Das leuchtet ein. Ich habe nur Bedenken, wo ich je Minister finde, die den unvermeidlichen Stein des Anstoßes, meine Heerreform, ins Rollen bringen.« Er sah Otto von der Seite an, doch der blickte ins Leere mit einem öden Gesicht. Dafür kam noch lange nicht die Zeit, übrigens lebte der König noch. Le roi est mort, vive le roi! würde sich aber auch hier vorerst bewahrheiten, die Dinge bleiben anfangs in ziemlich gleichem Geleise. Auch würde Prinzeß Augusta wohl schon »ihre« Minister in Bereitschaftspositur gestellt haben.

Er reiste nach Hohendorf und fand Frau und Kinder wohl. »Wie trägt es die Umgebung Seiner Majestät?« forschte Herr v. Below. »Allerhöchstes Patent vom 29. August übergibt also dem Prinzen die Regierungsgeschäfte auf drei Monate, welche Frist binnen des folgenden Jahres immer um je drei weitere Monate nach Bedarf verlängert werden soll. Wie nimmt es z.B. Edwin Manteuffel, der sich als Flügeladjutant eine so bevorzugte Stellung schuf?«

Otto zuckte die Achseln. »Ziemlich rabiat. Als ich von langer Unterredung mit Prinz Wilhelm zurückkam, regte dies den Herrn von Sanssouci so auf, daß seine Angst vor meiner Einmischung jeder Takt verließ. Er fragte mich geradezu in fast barschem Tone, warum ich nicht auf meinem Posten in Frankfurt sei. ›Ihre dortige Anwesenheit scheint mir bei unserer Situation gerade jetzt sehr nötig.‹ Ich gab ihm zu verstehen, daß er nicht auf der Höhe der Situation sei. Ich bin hier viel nötiger. Doch ich sagte das nur so, denn im Grunde machte ich, daß ich fortkam, und will auch sofort am Bundestag einheizen. Sonst schmeicheln die sich schon, wir könnten jetzt nicht kontinuierliche Politik treiben.« – –

Auf dem neuen Jahr lastete eine gewisse Langeweile. Ein Tag wie der andere. Erst um 10 Uhr trank Otto seinen Frühstückstee, diktierte dann vier Stunden Depeschen, den Nachmittag füllten Sitzungen und Besprechungen, abends immer Gesellschaft und die halbe Nacht Depeschenarbeit. Manchmal, wenn seine Nerven erschlafften, ließ er schon um vier Uhr morgens satteln und ritt weit hinaus, streifte und kletterte im Taunus. Mit Malet pachtete er ein Jagdrevier und ärgerte sich, wenn ein Ausflug zum Fischen verregnete.

Um diese Zeit trieb auch in Frankfurt ein Herr sein Unwesen, der auf Manteuffels geheimer Liste als treuer Helfershelfer stand, den aber Otto auf den ersten Blick als österreichische Kreatur erkannte. Es war dies ein Bankier Levinstein, der offenkundig als politischer Agent zwischen Berlin, Wien, Paris herumgondelte.

»Exzellenz werden darüber unterrichtet sein,« führte er sich bei dem preußischen Gesandten ein, »daß der Herr Minister Freiherr v. Manteuffel mir sein Vertrauen schenkt und mich mit mancherlei Aufträgen beehrte.« Otto nickte stumm und rauchte. Das erinnerte ihn an den Silberthal oder Siegelthal in Hannover. »Ich war letzthin in Paris und genoß die Auszeichnung, von Seiner Majestät dem Kaiser der Franzosen empfangen zu werden und wiederholt mit dieser erhabenen Person zu verkehren. Hehe, Euer Exzellenz müssen da die Ohren geklungen haben, Seine Majestät sprachen viel Liebes und Schönes von Ihnen, was ich als alter Bewunderer Euer Exzellenz mit Andacht hörte.«

»Freut mich. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ach, Exzellenz, unsere schwere Zeit bedarf der Männer. Solcher wie Sie. Ich fürchte, es ziehen neue Wolken herauf. Man kittet immer wieder am Frieden, doch werden sich auf die Dauer Konflikte herausbilden.«

»Mit Österreich, Herr Levinstein?«

»Da sei Gott vor! Aber Exzellenz haben Einfluß in Rußland. Ihre Kaiserliche Hoheit Großfürstin Helene will Ihnen so wohl und sprachen sich neulich enthusiasmiert in engerem Kreise über Sie aus.«

»Woher wissen Sie das?«

»Man hat so seine Beziehungen«, blähte sich der Bankier ein wenig. »Ich pflege immer prompt informiert zu sein.«

»Ich auch. Sie geben übermäßig hohe Trinkgelder an Bedienstete, verehrter Herr. Sie versuchten das auch früher bei meinem Kammerdiener Hildebrand, leider ohne Erfolg.«

»Aber, Exzellenz!« Der Abgeblitzte machte ein etwas schafiges Gesicht, faßte sich aber gleich wieder und meckerte lachend: »Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Ich möchte nur anregen, ob Hochdieselben nicht mit daran arbeiten möchten, den allgemeinen Geist der Versöhnung, die wir alle anstreben, auch in russischen Kreisen zu propagieren. Preußen und Österreich und unser gemeinsames deutsches Vaterland werden ja doch immer zusammenstehen.« Sein lauernder Blick erheiterte Otto nicht wenig. »Ich werde in nächster Zeit öfters Gelegenheit haben, Euer Exzellenz aufzusuchen. Meine Vertrauensstellung beim hohen Staatsministerium in Berlin ermächtigt mich dazu. Ich werde die Ehre haben, manchmal Aufträge an Ihre Adresse zu leiten, mit denen mich der Herr Premierminister privatim betraute.«

Otto erhob sich zum Zeichen der Verabschiedung. »Herr v. Manteuffel ist mein Vorgesetzter und ich werde pflichtschuldigst alles gern entgegennehmen, was Sie mir zutragen.«

»Ich danke Euer Hochwohlgeboren für die gütige Zusage.« Der kurzangebundene Ton, an den er nicht gewöhnt war, verletzte den geschmeidigen Herrn. Noch in der Tür erhielt er einen Abschiedspfeil gutmütigen Spottes:

»Wenn ich nur eins wüßte, Herr Levinstein, ich werde daraus nicht klug.«

»Und das wäre?« frug der Schlaue gespannt.

»Ob Sie ein preußischer oder österreichischer Unterhändler sind. Nichts für ungut.«

»Ich unterhalte mit beiden Höfen loyale und korrekte Beziehungen.« Levinstein verneigte sich steif und gekränkt. »Guten Morgen, Exzellenz.«

Otto hielt sich den fragwürdigen Schlaumeier möglichst vom Leibe, der ihm gleichwohl mehrmals das Haus einrannte. Seine Menschenkenntnis lehrte ihn, daß man am besten fährt, sich mit solchen Subjekten nicht einzulassen. Denn auf irgendwelche Weise fällt man da immer herein, und da ihre Rachsucht stets mit ihrem Eigennutz balanciert, so läuft man nicht mehr Gefahr dabei, ihnen den Laufpaß zu geben, als ihnen die schmierige Hand zu drücken.

*

»Das kann ich unmöglich dulden,« beschwerte sich Otto aufgeregt bei Sir Malet, »das Kabinett von St. James hat eine Eigentumsfrage dem Bundespräsidenten allein vorgelegt.«

»Ja, es handelt sich um einen Anspruch des Earl of Bentinck auf Güter in Oldenburg.«

»Dieser Formfehler beruht auf der Fiktion, als ob das diplomatische Korps nur mit dem Präsidenten zu verkehren hätte. Das ist flagrante Verletzung der Bundesrechte, und ich werde sofort an Lord Clarendon schreiben. Vorerst lege ich mein Veto ein.« Trotzdem ein anderer englischer Lord sich beklagte, der preußische Gesandte habe sich feindselig gegen England benommen, schrieb der britische Minister einen höflichen Dankbrief für die Aufklärung.

»Wie sollte ich wohl Feindseligkeit gegen England empfinden, da ich die Bentincks kenne und Sie, Sir Alex, mein Freund sind und ich außerdem lebhafter mit England sympathisiere als mit jeder anderen Nation!« Das war im Januar 1858, und im Februar zog die Prinzeß Royal als Kronprinzessin in Berlin ein. In welcher Weise man damals vorsichtig sein mußte, lehrte Ottos telegraphische Bitte an Manteuffel, seinen Bericht über die englische Quängelei nicht per Post an den preußischen Geschäftsträger in Karlsruhe, Graf Flemming, zu schicken und so natürlich zu Rechbergs Kenntnis zu bringen. »Das käme ungelegen,« erläuterte er dem Rat Kilchner, »ein persönlicher Handel mit Rechberg wäre dann unausbleiblich. Der steckt nämlich wieder dahinter.«

»Aber er kann sich doch nicht auf seine eigene Verletzung des Briefgeheimnisses berufen. Fremde Briefe postalisch öffnen, ist doch schimpflich.«

»Haben Sie 'ne Ahnung! Das wird ihn von Vorzeigung meiner Äußerungen nicht abhalten. Er wäre zynisch genug zu behaupten, man habe das Aktenstück nur deshalb per Post geschickt, damit er meine abfälligen Äußerungen erfahre. Das Schwarze Kabinett der Brieferbrechung ist eine k. k. Institution, mit der sich jeder abfinden soll.« Da mit Otto persönlich anzubinden eine kitzliche Sache schien, so verlief sie im Sande.

Im allgemeinen gestalteten sich die Beziehungen zu Rechberg freundlicher als zu Prokesch. Es trat eine gewisse Windstille und Waffenruhe ein. Als Otto zu Fastnacht seiner Dienerschaft ein Fest veranstaltete, ganz als pommersch-märkischer Gutsherrpatriarch, meinte Rechberg anerkennend: »Da schauen's, wie man über nordische Steifheit schwätzet! Das wär' bei uns kaum denkbar, und doch redt' man immer von unsere leutselige Urbanität gegen das niedere Volk. Der Bismarck versteht sich populär zu machen, alle Achtung. Die preuß'schen Soldaten hier nennen ihn Seine Exzellenz der Herr Leutnant, dieweil er bei ihnen in seiner Landwehruniform sich präsentiert und ihnen gut zuredet. Sie haben ihn alle sehr lieb. Ein höchst agiler Herr, das muß man ihm lassen, und gar ein charmanter Gesellschafter.«

Zuletzt gelang es Otto wirklich, die Bundesexekution durchzusetzen, vor deren Androhung Dänemark die Waffen streckte und Schleswig-Holstein seine alten Freiheiten zurückgab. Nach der letzten entscheidenden Sitzung gab es eine förmliche Ovation für den Vertreter Preußens, dessen Festigkeit und Klugheit dies dem Bundestag schmeichelhafte Ergebnis herbeiführte. »Meine herzliche Gratulation!« hörte er von geschworenen Gegnern wie Reinhard und den anderen Preußenfressern; Rechberg beglückwünschte ihn süßsauer: »Sie sind berechtigt, den Löwenanteil des ehrenvollen Erfolges zu beanspruchen.«

Preisend mit viel schönen Reden gingen so die deutschen Kleinstaaten um den heißen Brei herum, den sie Preußen einrühren wollten. Otto ließ sich durch kein scheinbares Entgegenkommen täuschen.

»Sehen Sie, lieber Freund, das gibt einmal einen großen Krach«, schüttelte er am großen Kamin im Arbeitskabinett mit den gelben Tapeten, wo zwei gepolsterte Bänke entlangliefen und der geräumige Sims die mitgenommene Rheinweinflasche und die Römer trug, dem guten Jakob Becker sein Herz aus. Das war ein herzlich schwacher Maler, genoß aber als Schwager eines ebenso mittelmäßigen kleinen Poeten, Müller von Königswinter, das Ansehen einer Künstlerfamilie, also einer beliebten Gesellschaftsstaffage der höheren Stände. Ob solche braven Künstler gut malen, tut nichts zur Sache, da die Laienkreise dies ja doch nie beurteilen können. Haben sie liebenswürdige Gattinnen und Töchter, sprechen sie gewählt über die Künste und bewegen sich mit entsprechenden Formen, dann sind sie enfant gaté. Wie interessant, einen so bedeutenden Künstler in unserer Mitte zu haben! Neulich hat die Offenbacher Zeitung ihm ein Loblied gesungen, er hat auch einen Orden vom Kurfürsten von Hessen, dessen Porträt er malte. Von solchen Lokalberühmtheiten hat jede deutsche Mittelstadt irgendeine, draußen in der Welt kennt man sie zwar nicht und will nichts von ihrem Können wissen, aber was geht das engere Kreise an! So schätzte der so kritische Schönhauser den als Menschen vortrefflichen Professor Becker sehr hoch und hielt das Porträt, das der gute Mann von ihm verfertigte und das feierlich im Empfangszimmer Johannas hing, für ein Meisterwerk.

»Preußen wird eines Tages die Majoritätsbeschlüsse nicht mehr anerkennen, die sie uns wie ein Netz über den Kopf warfen. Sie spinnen ein Leichenhemd für unsere Unabhängigkeit. Wer das Unkraut nicht ausjätet, kann sich nicht wundern, wenn es in Samen schießt und wächst.«

»Aber wie kann man es ausjäten? Es sind doch wohl böse Brennesseln dabei.«

»Indem man Fausthandschuhe anzieht. Wir werden einmal den Bruch vollziehen müssen, vielleicht zu ungelegener Stunde. Wie das im Leben so geht, werden wir dann das Karnickel sein mit dem Schein des Unrechts. Wie oft stellt sich der Provokateur nachher als der Überfallene dar!«

»Wird der Regierungswechsel in Preußen, denn so darf man's wohl nennen, Sie in Mitleidenschaft ziehen?«

»Möglich. Das Ministerium Manteuffel hat die Berliner Presse einstimmig gegen sich, und seine Absetzung könnte zu meiner Versetzung führen, irgendwohin.«

»O, das wäre schrecklich! Wie würden wir Sie vermissen!«

»Personaländerungen haben im Grunde wenig zu bedeuten. Zuletzt kreiselt doch alles wieder in den alten Radius hinein, und nichts wird so schwarz, wie man fürchtet, nichts so rosig, wie man hofft.« Sein Auge schien sich in die bläulichen Ringel des Zigarrendampfes zu vertiefen, die lange, weiße Asche zu bewundern, die seine Havanna als Kennzeichen feinen Krautes an der Spitze hervortrieb, oder über die knisternden Flammenscheite des Kamins hinzugleiten, die bald verkohlten, bald rotzüngelnd loderten. Aber sein inneres Auge sah ganz wo anders hin, visionär, in Empfängnis schauender Zukunftsgedanken. –

Seinen gläubigen, jungen Lehrling von der Kavallerie verlor er schon lange. Betrübt meldete er sich eines Tages: »Abkommandiert, d. h. zum Regiment zurückversetzt.«

»Verlust für mich, Gewinn für Sie. Ein gesundes, junges Blut fühlt sich unter Pferden und Säbeln wohler als unter verstaubten Akten. Na, seien Sie beim morgigen Ball noch mal Vortänzer und dann sagen Sie den teuren Bundeslämmern mit Blume und Band Johannas ewig Lebewohl. Die gute Jungfrau von Orleans hatte nicht solche Lämmer mit heimlichen Wolfszähnen, sonst wäre ihr das Scheiden auch leichter geworden!« Und nach dem Ball, als der Kammerdiener Engel verlegen zugab, es sei nur noch eine allerletzte Flasche Sekt da, rief der Gastgeber: »Her damit, sie muß alle werden auf das Wohl unseres scheidenden Kameraden!« Und er brachte dessen Gesundheit aus als ein Leutnant v. Bismarck, der einen im Rang Gleichstehenden freundschaftlich hochleben läßt.

Nicht die schmelzenden Melodien der Violinen, nicht die blendenden Busen und rauschenden Schleppen, nicht der Schaumwein des Jugendgenusses lebten in Erinnerung des Jünglings fort, als er sich empfahl und in der Morgenfrühe dem Bahnhof zuschritt, sondern das verehrte Gesicht des angestaunten Mannes mit dem unheimlichen Blauauge und dem unabänderlichen düstern Ernst der Stirn, ob der Mund noch so gütig lächelte.

Seinen Diener Hildebrand, der so viel mit ihm erlebte, verlor er auch. »Ik will mir verändern, Exzellenz. Was mein Bruder is, schreibt aus so 'ner amerikanischen Stadt, Chikago heißt sie, daß es ihm dort so gut geht.«

»Na, denn man tau! Aber vergiß die deutsche Heimat nicht!«

»Det sull'n Wort sein, gnädiger Herr. Mein Bruder hat auch alle Leut' immer von sei'm Herrn Leitnant vertellt, und wir beide wer'n immer drüben von uns' gnä'gen Herrn ein Licht aufstecken. Was die Jankiehs sind, so nennt sich die Bande, haben auch schon von Exzellenz gehört, und sie wer'n uns noch für Geld zeigen: Das sein die Hildebrands, die bei Herrn v. Bismarck waren.«

»Schon gut. Daß ihr mir auf Deutschland nichts kommen laßt!«

»Deutschland kenn' ich nich, aber Preußen, und wer was drüben gegen Preußen sagt, dem schlagen wir den Schädel ein.«

»Bravo!« Es ging ihm doch nahe, den Getreuen nicht mehr um sich zu haben. Aber so geht's im Leben. Tout passe. Oft vergißt der Große den Kleinen schwerer als der Kleine den Großen. Denn nur starkes Erinnerungsvermögen schafft Treue, aber nur ein starkes Hirn erinnert sich unaufhörlich und hält so alle Eindrücke beisammen. –

Otto fand heraus, daß Johann Bernhard Rechberg sich von Thun und gar von Prokesch erheblich unterschied, da er mit all seinen Schlichen nicht ohne Gutmütigkeit und sein Jähzorn nicht bloß erkünstelte Komödie war. In einer Sitzung ging es besonders scharf her. Rechberg würgte an seinem Grimm und blieb nach dem Exodus der übrigen Gesandten allein zurück, um mit seinem preußischen Widersacher ein ernstes Wörtchen unter vier Augen zu reden.

»Das wird ein schlimmes Ende nehmen, wenn Sie fortwährend Händel suchen. Eine solche Unverträglichkeit fand ich nie. Sie legen es darauf an, mich totzuärgern.«

»Das wäre zu viel. Aber krank geärgert hab' ich mich genug über Ihre präsidialen Diktaturstreiche.«

»Diese Antwort ist Ihrer würdig. Sie wollen mich wohl frozzeln, das lasse ich mir von Ihnen nicht bieten. Streiche machen dumme Jungen, nicht ich, aber schlechte Streiche machen böse Menschen, die überall Streit und Mißgunst säen.«

»Hören Sie, mein lieber Graf,« Otto maß ihn mit kaltem Blick von Kopf bis zu Füßen, »ob Ihr Groll bloß Diplomatie oder ernst gemeint ist, vermag ich nicht zu beurteilen, jedenfalls nimmt er recht persönliche Formen an.«

»Wie kann man Ihnen gegenüber anders als persönlich werden! Sie ergehen sich in Beleidigungen gegen meine Person.«

»Bitte, halt! Sollen wir etwa im Bockenheimer Wäldchen den Dualismus unserer Staaten auf Pistolen ausfechten?«

»Diese Erledigung wäre mir höchst angenehm«, schnarrte Rechberg mit erhöhter Stimme, schnaubend vor Wut. »Auf der Stelle! Fahren wir hinaus!«

Mit kühler Ruhe kam die Antwort: »Warum fahren? Der Garten des Bundespalais ist geräumig, vis-a-vis wohnen preußische Offiziere, österreichische sind leicht aufzutreiben. Da wir das Terrain der Diplomatie verlassen, so werden wir zehn Schritt von hier das »Terrain« zu einem Renkontre finden. Nur möchte ich, wenn Sie gestatten, die Ursache des Ehrenhandels niederschreiben. Ich darf meinen Souverän nicht als ein Miles Gloriosus erscheinen, der seine Staatsvertretung auf die Mensur spazierenführt. Sie werden, wenn ich bitten darf, meine Erklärung kontrasignieren.« Er setzte sich gelassen und schrieb. Rechberg rannte mit großen Schritten hinter ihm auf und ab. »Ich werde Herrn v. Oertzen, unsern Kollegen, als Zeugen beauftragen, das Nähere zu vereinbaren.«

Rechbergs Wutanfall wich einer vernünftigen Einsicht. »Wissens«, bekannte er zu dem Mecklenburger. »Wir Österreicher san rabiat, aber gute Kerle, und der Bismarck ihst auch rabiat, aber 'n guter Kerl. Machen Sie ihm meine Exküsen, wenn er manifestiert, daß er mir keinen persönlichen Affront zufügen wollte. Unter Kavalieren ist die Sache dann beigelegt. Wir wollen der Welt nicht solchen Spektakel vorsetzen. Ich will mich mäßigen, aber er soll's auch.«

Ein eigentümlicher Vorfall veränderte ein wenig das Verhältnis von Hund und Katze, wie der Preuße und Österreicher bisher zueinander standen.

»Ich bitte, mich einen Moment zu entschuldigen, ich muß Toilette wechseln«, empfing Rechberg seinen Besucher, der etwas Geschäftliches zu bereden hatte. »Da lesen Sie inzwischen die Depesche aus Wien, sie ist ja offiziell für Ihre Einsicht bestimmt. Ich soll in nächster Sitzung mein Votum für Ihren Antrag einlegen.«

Als er das Zimmer verließ und Otto das Schriftstück überflog, sah er sofort, daß Rechberg in der Eile einen falschen Griff tat und ihm einen Brief über den gleichen Gegenstand auslieferte, worin man den Präsidenten mit heimlicher Bearbeitung der übrigen Mitglieder zur Irreführung des Preußen betraute. Offenbar lag auf dem Arbeitstisch des Gesandten eine andere Depesche sehr verschiedenen Inhalts, die er Otto hatte zeigen sollen. Rechberg kam zurück, munter und vergnügt, und begegnete einem ernsten Blick seines Rivalen.

»Hier kam wohl ein Irrtum vor?«

»Wie das?« fragte Rechberg, noch ganz aufgeräumt.

»Lieber Kollege oder richtiger, lieber Graf, ich spreche jetzt als Privatmann, als Edelmann zum Edelmann unter Diskretion. Sie haben leider ein unliebsames Versehen gemacht.« Er hielt ihm das Blatt hin. Rechberg wurde rot und blaß. »Der preußische Gesandte wird vergessen, was er gelesen hat. Sie wollten mir den Brief nicht geben, also geben Sie ihn nicht, sein Inhalt blieb mir unbekannt.«

»Sie versprechen das? Auf Kavaliersparole?« fragte jener mit dumpfer Stimme.

»Mein Wort darauf. Ich habe die Ehre.« –

Rechberg sah ihm düster nach. Ob der grimme Preuße dazu fähig ist? Übermenschliche Zumutung! Wir Diplomaten sind alle Klatschweiber, und mein Fauxpas wird ihm schon Anlaß geben, mich bloßzustellen.

Als aber der Fall offiziell verhandelt wurde und aus allen Berichten, dem Benehmen in Berlin und verschiedenen ihm hinterbrachten Gesprächen mit anderen Bundesgesandten, wodurch er dem Mitwisser eine Falle stellen wollte, die unbedingte Worttreue Ottos hervorging, bekam Rechberg eine stille Hochachtung. Ein verflucht anständiger Mensch, der wie das Grab über eine unfreiwillige Blöße des Gegners schweigt!

Er ging plötzlich auf seinen Sachfeind zu und drückte ihm warm die Hand. »Wir sind nun mal verdammt, aufeinander loszuschlagen. Das ist meine Pflicht, und Sie tun die Ihre. Aber ich muß Ihnen ausdrücken, daß Sie mein persönliches Vertrauen in hohem Grade erwarben. Vielleicht stehen wir uns mal nicht als Widersacher gegenüber, die Lagen ändern sich, und da seien Sie sicher, daß Sie an mir stets einen guten Freund haben werden, der Ihnen gern zu Diensten ist.«

Otto schüttelte ihm die Hand und sagte etwas Verbindlich-Unverbindliches. Aber er hatte das Gefühl, als ob Rechbergs Angebot sich noch erfüllen könne. Wer weiß, am Ende trat er einst an Buols Stelle, und da hätte er wohl Gelegenheit, sich irgendwie zu revanchieren. Anständigkeit bezahlt sich immer. – –

»Ach, das ist die ›Freundin‹ der Frau v. Bismarck!« Der sächsische Militärbevollmächtigte v. Spiegel strich sich martialisch den Schnurrbart, indem er mitleidig auf einen kleinen verwachsenen Herrn herabschaute, der für Johanna die Notenhefte umblätterte. »Ein höherer Telegraphenbeamter, nicht? Ein Herr v. Obernitz?«

»Ja, eine schöne Seele, ein ausgezeichneter Mensch«, erwiderte der preußische Gesandte v. Balan, der soeben den Grafen Seckendorf in Stuttgart ersetzte und dem zu Ehren sein Frankfurter Kollege ein Festessen gab. »Den Spitznamen einer Hausfreundin gab man ihm weniger wegen seiner Körperschwäche als wegen seiner weiblichen Sanftmut und Freundlichkeit. Die mütterliche Güte unserer allverehrten Wirtin nimmt nicht wunder, aber unser gefürchteter Riese bemüht sich mit gleicher zarter Sorgfalt um den armen Krüppel. Sehen Sie ihn dort an, wie er am Klavier sitzt, versunken in das seelenvolle Spiel seiner Gattin! Ist das wirklich derselbe Mann, vor dessen Kampfzorn der halbe Bundestag zittert?«

Otto hatte gerade bei einem Stück Beethoven schwermütige Erinnerungen. Vorher erhielt er verführerische Einladung seiner schwedischen Jagdfreunde. Da stieg das Bild seines Kniephofer Weihers vor ihm auf, wo im Schilf die Enten sich duckten und er im Nachen fuhr, entkorkte Sektflasche zur Linken, die Büchse schußbereit zur Rechten, in der Hand den Hamlet, in dessen seelische Untiefen er sich herabsenkte. »Die Welt ist aus den Fugen. Schmach und Gram, daß ich zur Welt sie einzurichten kam!« Ach, das war gerade das Elend, daß er nicht dazu kam. Nun, heut hatte er keine Zeit mehr, Hamlet zu lesen, und auf schwedische Jagdfreuden mußte er verzichten, weil er zwischen Baden-Baden und Berlin hin und her pendeln mußte. Er fuhr aus seiner Träumerei auf und notierte sich, daß er morgen früh seinen Vorgesetzten Manteuffel auf der Bahn abholen müsse, um mit ihm zum Prinzen Wilhelm zu fahren ...

Er hatte in den sauren Apfel beißen und dem Thronfolger ohne Nennung der Namen beichten müssen, daß ein unheilschwangerer Plan im Werke sei, ihn um seine Regentenrechte zu bringen. »Seine Majestät soll seine Unterschrift zu einem Briefe an Euer Hoheit geben, daß er sich wieder ganz wohl fühle und die Zügel erneut an sich nehmen werde.«

»Das ist ja Wahnsinn. Mein Bruder ist völlig unfähig dazu.«

»Das wissen die Betreffenden sehr gut. Ihre Majestät die Königin soll fortwährend Kontrolle üben und die Unterschrift des Königs beschaffen, in dessen Namen dann gewisse Herren die Regierung ausüben würden.«

»Aber das ist ja Hochverrat! Und wie stellen Sie sich zu solchem Ansinnen?«

»Ich bezeichnete es als eine Art Haremsregierung.«

»Jawohl, der kranke Mann in der Türkei! So weit sind wir schon!« rief der Prinz entrüstet. »Dann nehme ich meinen Abschied auch aus meinen militärischen Ämtern.«

»Das würde den Wirrwarr nur verschlimmern. Es fragt sich doch, wie sich das Staatsministerium dazu stellt.«

»Manteuffel, der mir übel will ...«

»Ist auf sein Gut gereist«, ergänzte Otto mit feinem Lächeln.

»Natürlich, er hält' sich stille, um sich nicht zu kompromittieren. Was raten Sie?«

Ihn sofort telegraphisch herzitieren und so der Intrige ein Ende machen.«

»Soll geschehen.« Nach einer Pause fuhr der Prinz fort. »Mit Schleswig-Holstein machten Sie gute Arbeit.«

»Wie man's nimmt. Äußerliche Einigkeit. Österreich wird stets hinterm Rücken mit Dänemark liebäugeln und öffentlich großdeutsche Reden halten, und fällt dann der Erfolg nicht ganz so aus, wie die Deutschen wünschen, dann haben natürlich wir die patriotische Suppe verdorben als selbstsüchtige Sudelköche.«

»Wir müssen wohl mal Abrechnung halten«, murmelte der Fürst. »Nun, Dänemark fiel ja um, aber wer weiß, ob ihm nicht später wieder die böse Lust kommt. Hat es Rückendeckung an Frankreich?«

»Ich zweifle sehr. Wäre dem so, hätte man schon ein Loch in unserer Bundestagkompetenz entdeckt.«

»Sie sind auch unzufrieden mit dem Zollverein?«

»Mit seiner jetzigen Form, die wir kündigen sollten. Ich bin dafür, daß unsere Kammern und die Presse recht derb und grob den andern Regierungen zu Gemüte führen, daß sie sich um die Fleischtöpfe Ägyptens bringen, wenn sie durch kleinliche Rankunen uns den Spaß verleiden. Die öffentliche Meinung in Deutschland schmachtet nach einer Gelegenheit, bei der sie die Regierung scharf kritisieren kann. Sprechen wir recht viel von der Einheit, deren Sinnbild der Zollverband, so wird ganz Deutschland sich auf unsere Seite stellen.«

»Sehr beherzigenswert, in der Tat. Für so scharfe Maßregeln ist indessen Manteuffel nicht der Mann. Kommt er, so will ich ihm eine Alternative stellen. Unter so unsicheren Zuständen leidet der Staat.«

Manteuffel forschte auf der Fahrt, wie der Thronfolger ihm gesonnen sei. Otto antwortete ausweichend. Er hatte den Eindruck, daß man den Premier verabschieden, ihn aber vorher zur Einsetzung der Regentschaft benutzen wolle. Und so geschah es. Die Haupt- und Staatsaktion der Mitte Oktober proklamierten Übernahme der Staatsleitung durch das neue Oberhaupt hatte als zweiten Akt die Ernennung des mediatisierten Fürsten v. Hohenzollern-Sigmaringen zum Ministerpräsidenten. Die neue Ära hatte begonnen, doch viele brauchten das Wort in spöttischem Sinne. Es ließ sich nicht leugnen, daß auch verstaubte Revolutionsgrößen wie Graf Schwerin aus der Versenkung heraufgeholt wurden und das Ministerium etwas buntscheckig aussah. Alle Kleinstaatsregierungen schlugen ein Lamento über die Linksschwenkung Preußens auf. Vor allem schrien die Bundesgesandten Zetermordio und sahen schon die neue Revolution kommen. Sie machten Otto von allen Seiten Beileidsbesuche.

»Wir zittern davor, Sie zu verlieren«, jammerte Reinhard. »Sie allein waren die Stütze der Staatserhaltung. Diese neue Ära wird uns Barrikaden und Burschen wie Kinkel und d'Ester auf den Hals bringen. Dieser Schwerin! Ein Schreckensgespenst! Ein getigerter Roter!«

Otto lachte. »Sie bürden dem guten Mann zu viel auf. Ein harmloser Doktrinär. Ei ei, lieber Kollege, zu Anfang dieses gottgesegneten Jahres hielten Sie doch meine schleunige Abberufung für das wichtigste Fundament der deutschen Einheit. Ich kenne den Inhalt Ihrer Depeschen nach Stuttgart!«

Der Intrigant errötete. »Ein unseliges Mißverständnis!« Er drückte dem Gehaßten krampfhaft die Hand. »Wir alle werden auf ein Feld gedrängt werden. Graf Rechberg wird Himmel und Erde in Bewegung setzen, daß Sie uns erhalten bleiben.«

Montessuy war sehr unruhig. »Reden Sie mir nicht davon, teurer Freund! Ich bin zu niedergeschlagen. Ihre braven Deutschen haben eine Angst wie Küchlein vor dem Marder und werden Frankreich gerührt in die Arme sinken. Mir kann's recht sein, aber es tut mir leid um Sie.«

Auch Sir Malet schien in seinem Phlegma gestört. »Man hält dies neue Ministerium für Brandstifterei.« Der Russe Fonton bekreuzigte sich rechtgläubig: »Mein erhabener Herr, der Zar, hatte so schöne Reformpläne, doch Ihr Bündnis mit der Revolution wird ihn zurückschrecken und an jeder Reform hindern.«

»Aber, meine Herren! Sie sind alle zu sehr aus dem Häuschen. Weil sich ein Komet am Himmel zeigte, fürchten Sie Krieg und Pestilenz und halten das Siebengestirn unseres neuen Ministeriums für einen unberechenbaren Kometen. Aber die Astronomen können ja die Laufbahn eines solchen Wandelsterns genau bestimmen, und ich meinesteils halte diese neuen Lichter, die Ihnen solche Ängste einflößen, für ganz gewöhnliche Trabanten. Behalten Sie ruhig Blut, es wird sich alles machen.«

Sein Zuspruch besänftigte die erbosten Gemüter, doch tönte stets der Refrain: »Ja, wenn Sie uns hier erhalten blieben, dann hätten wir Garantie. Aber so! Ihr Nachfolger, der bewußte Freimaurer, soll es hier schwer haben, das verbürgen wir Ihnen.«

»Wir werden halt eine Feuerversicherungsgesellschaft gründen«, seufzte Rechberg elegisch. »Auch gegen fahrlässige Brandstiftung bedarf man einer Assekuranz. Wie wäre es denn mit einem Dreikaiserbündnis?«

Otto lachte nur dazu, er wußte, daß unter gegebenen Umständen weder Frankreich noch Rußland sich je wieder mit Österreich anfreunden würden. Auch schwärmte ja Alexander II. für liberale Ideen, wie einst Alexanders I. Anfängerbegeisterung, die nachher ins Gegenteil umschlägt und sich nicht mit dem Metier verträgt. So etwas gibt sich. Jedenfalls würde ein Herrscher, dem Aufhebung der Leibeigenschaft vorschwebte, gegen gemäßigten Liberalismus nichts einwenden. Napoleon aber durfte nicht seine Herkunft und Vergangenheit verleugnen, um als Hort der Reaktion aufzutreten. Außerdem erregte der liberale Wind in Berlin nur bei den deutschen Regierungen schlecht Wetter, nicht beim Volke, das in neuer Frühlingsahnung schwelgte. In dieser Hinsicht sah also Otto die Dinge gelassen an. Dagegen hatte er keinen Grund, seine eigene Stellung als gefestigt zu betrachten. Trotz seiner persönlichen Intimität mit dem Thronfolger unterschätzte er nicht die Wühler, die ihn wegdrängen wollten.

Viel Spaß hatte ihm ein Reisebesuch gemacht, den ihm, rein zufällig natürlich, sein lieber Jugendgespiele Harry Arnim abstattete, auf dessen allgemeine Begabung er sonst große Stücke hielt. Dieser interessante Mann witterte sowohl Morgenluft als Leichenduft. Er klopfte ein wenig an seinem »geliebten Freund« herum.

»Österreich soll ein neues Olmütz mit tatsächlichen Operationen planen, ich bin aus bester Quelle informiert«, sprach er gewichtig.

»Was Sie nicht sagen, Harry! Ich habe aus bester Quelle, daß doch alles Kaff ist. Laßt nur die Ohren nicht hängen, wenn die weiland Bamberger Diplomaten, die Erzpartikularisten, ihre Schreckschüsse loslassen! Die haben gar kein Geschütz, nur leere Böller, die Kanonade reicht nicht bis Berlin. ›tis a far cry to Lochawe‹« sagt ein schottisches Sprichwort.

»Ist's wirklich so weit? Klang Ihnen nicht das Trommelfell von dem vielen, was in Berlin über Frankfurt geredet wird?« »Über mich? Warum zerbrechen sich die Herrschaften meinen Kopf?«

Harry legte ihm zärtlich besorgt die Hand auf's Knie. »Ich spreche aus vollem Freundesherzen, Otto. Man sagt, Usedom habe Ihren Posten sicher.«

»Man sagt manches, was man wünscht«, erwiderte Otto bedeutungsvoll. »Ich weiß nichts, mein Lieber, und Sie auch nicht. Unmöglich ist nichts, nicht mal, daß der Himmel einfällt. Wenn es Erdbeben gibt, warum nicht mal ein Ätherbeben! Wir sind ja doch nur ein Spielball des Unberechenbaren.«

»Schuld an der allgemeinen Mißstimmung ist doch nur die Fraktion«, klopfte Harry wieder auf den Busch. »Wenn Ludwig Gerlach und seine Leute nicht so renitent wären und in alle Welt ihren Zorn über Manteuffels Sturz hinausschrien, würde der Fürst von Hohenzollern es besser haben.«

»Das ist schon wahr. Ich glaube aber, der Regent hat in seiner Weisheit gerade deshalb den Fürsten vorgeschoben, um sich vor hohler Parteiregierung zu sichern und nicht zu weit nach links zu rutschen. Das Ministerium muß nur nicht den Faden mit der Rechten abschneiden, nach keiner Richtung Fühlung verlieren und den inneren Frieden ausbauen. Dann kann es nach auswärts fester auftreten. Das ist meine Hauptsorge, die inneren Parteiverhältnisse liegen mir fern.«

»Ist's die Möglichkeit! Früher waren Sie doch ganz Parteimann. Die Konservativen nennen Sie schon einen Fahnenflüchtigen – Pardon für die Indiskretion!«

Otto klopfte ihm auf die Schulter. »Je indiskreter, desto besser. Daß ich für die Regentschaft eintrat, d. h. die Staatserhaltung, war der Parteihaltung nicht konservativ genug.«

»Aber, teuerster Freund, wenn ich mir einen Wink gestatten darf, mit den Konservativen haben Sie's verdorben und von den Liberalen nichts zu hoffen. Wie soll es dann mit Ihrer Laufbahn werden?«

»Ist mir Wurscht. Man wird natürlich den Stellenjägern gefällig sein,« er zwinkerte leicht nach Harry hin, was dieser Staatsmann aber nicht merkte, »und da mag schon vorkommen, daß man kurzer Hand über mich disponiert, d. h. mir eine solche Versetzung angedeihen läßt, daß ich anstandshalber demissioniere. Vielleicht gibt man mir auch den Abschied, ohne daß ich ihn zu fordern brauche. Freiwillig tue ich das erst, wenn das Ministerium Farbe bekennt.«

»Aber, mein Gott!« Harry stockte förmlich der Atem. »Mit solcher Gleichgültigkeit reden Sie von Ihrem Ausscheiden aus hoher öffentlicher Stellung?«

»Solange man nicht vom Leben scheidet, hat man immer die Stellung auf zwei Beinen. Nur die Toten kommen nicht wieder.« Dagegen kam Herr Levinstein immer wieder, denn ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe. Er fing an zudringlich zu werden mit geheimnisvollen Winken. »Der Herr v. Manteuffel sagt immer, der Levinstein ist zähe. Ja, hat er gesagt. Ich führe eine Idee aus, die ich mir in den Kopf setze, und komme meist zum Ziel.«

»Sehr interessant. Ich drücke Ihnen ... in Gedanken... die Bruderhand. Ich bin nämlich auch sehr zähe.«

»Hehe, Exzellenz Bismarck muß seinen Witz haben, das weiß tout le monde! Aber der Herr v. Manteuffel, hat er gesagt, stellt mir das Zeugnis aus, ich sei weder ehr- noch geldgierig. Ja, Gott sei gepriesen, das ist mein Stolz. Noch keiner hat aus Geschäften mit mir nicht Vorteil gehabt.« Er richtete einen tiefsinnigen Blick auf Otto.

»Das ehrt Sie. Da müssen Ihre Geschäfte sehr lukrativ sein ... für andere.«

»Jedenfalls biete ich Ihnen all meine Dienste an. Se werden so redlich nicht leicht anderswo bedient werden. Uneigennützig das bin ich.«

»Ich entdecke immer neue Tugenden in Ihnen, Herr Levinstein. Doch glaube ich kaum, daß ich Ihrer liebevollen Dienste bedarf.«

»Nu, man kann nicht wissen. Sie werden vielleicht abziehen in weite Ferne, und da könnt' ich in Ihrer Abwesenheit Ihre Geschäfte besorgen, prima. Zum Beispiel Vermögensverhältnisse als Bankier. Ach, in der Nähe – ich meine im trauten Vaterlande, wie ich als guter Deutscher hoffe – würden Sie segensreicher wirken als in dir Fremde. Ich wünsche Glück zu jeder Mission, die man Euer Exzellenz überträgt, aber das Vaterland, das teure Vaterland geht allem vor. Würde sich ganz Frankfurt doch hochbeglückt fühlen, wenn Euer Exzellenz weiter hier weilen würden! Nur die kleine Verstimmung mit Österreich, diesem großmächtigen Kaiserstaat, dessen echtdeutsche Gesinnung jedem deutschen Bürger ans Herz gewachsen – wäre die behoben, wer weiß, was sich machen ließe! Adieu, Exzellenz, empfehle mich zu Gnaden!« Er verduftete eilig, nachdem er so zart auf den Busch geklopft. Stil des Grafen Karl Buol. Verkappte Erpressung. Der Knabe Karl fängt an, fürchterlich zu werden.

Was half es, daß Otto eine Geschäftsordnung durchbrachte, die jede formale Willkür des Präsidiums eindämmte und die Finanzen des Bundeshaushalts ordnete, auch bezüglich Bundesbesatzung der Festung Rastatt Rechberg ein Schnippchen schlug! Die Bundeseinrichtungen bedrückten Preußen, während sie Österreich freie Bewegung ließen, und konnten lebensgefährlich werden, weil Preußen sich stets einer kompakten Majorität gegenüber befand und fast alle deutschen Fürsten nur einem Bundessystem mit österreichischer Spitze Vorschub leisteten.

»Ich begreife vollkommen«, bestätigte der ihm sehr vertraute russische Gesandte. »In einzelnen Rubriken mag eine Schwankung der Magnetnadel eintreten, doch sie richtet sich doch stetig nach gleichem Pol. Sie können das ungehörige Mißverhältnis der Rechte und Pflichten wohl abschwächen, doch nicht heilen.«

»So ist's. Mit der neuen Umdeutung der Bundesrechtstheorie würde jede Selbständigkeit preußischer Politik beseitigt. Auch ist die infame Presse an vielem schuld. Diese elenden Piepmeier wagen schon gar nicht mehr, preußischen Patriotismus mit sogenannter deutscher Gesinnung zu vereinigen. Die zwanziger Gulden aus Wien montieren die öffentliche Meinung, ›Subvention‹ und ›Rentabilität‹ sind der wahre Lebenszweck der Verleger und Lohnschreiber. Es gibt nur drei Sorten von deutschnationalen Zeitungen: die schon bestochen sind, die bald bestochen zu werden hoffen, die eine Bestechung durch zweideutige Leitartikel herbeizwingen. Da sind die Levinsteiner in ihrem Element. Jetzt graulen sie mich fort, ich bin der letzte Stein des Anstoßes.«

Johanna war tief niedergeschlagen. »Wir haben uns so schön hier eingerichtet, nun sind Mühe und Kosten weggeworfen«, klagte sie in fast keifendem Ton. »Vater sagte in Reinfeld, du würdest sofort den Abschied nehmen. Belows und alle Verwandten meinen es auch. Onkel Hans resigniert ja auch.«

»Oho, er wird resigniert. Der muß natürlich fallen, er machte sich zu tief verhaßt. Der Regent verabscheut ihn als Mann, wie die Prinzessin als Frau, das Rheinland wird jubilieren.«

»Wie du nur redest! Als ob du dich darüber freutest! Ja, unsere Freunde sagen alle, du seist gar nicht konservativ.«

»In ihrem Sinne gewiß nicht. Bei der Regentschaftsfrage habe ich sie erkannt. Der Staat ist ihnen nichts, die Partei alles. Lieber ein regierungsunfähiger König, wenn nur die Partei dabei fortregiert! Die Demokraten haben doch eigentlich recht: Und der König absolut, wenn er uns den Willen tut. Aber damit habe ich noch nicht das Tischtuch zwischen mir und ihnen zerschnitten. Als staatserhaltende Kraft bleiben sie mir wert und gegen neues Überwuchern der Demokratie lehne ich mich auf wie Anno dunnemals.«

»Aber was wird aus uns?«

»Nichts Schlechtes, solange wir ›wir‹ sind. So kleinmütig und verzagt? Sägt man mich ab, ziehe ich mich unter die Kanonen von Schönhausen zurück und beziehe die alte Gefechtsstellung, obschon mit einiger Erweiterung der Position. Wir haben zu leben. Ein hohes Gehalt mit einigem Anstand verzehren ist doch kein himmlischer Genuß.«

»Ein hohes Gehalt ist immer gut. Denke an die Kinder!«

»Ja, daß er sie und dich gesund erhält. Wer nur den lieben Gott läßt walten ... Vogue la galere, sagt der Ungläubige, wir aber, die wir einem gerechten Gott vertrauen, haben ein unzerbrechliches Steuer in jedem Fahrwasser. Und muß ich solo schwimmen, wie Gott mich geschaffen im Adamkostüm, sozusagen in politischen Schwimmblasen, so leuchten über uns immer noch Gottes Sterne.«

»Aber du wirst nicht unnachgiebig sein?«

»Durchaus nicht. Aber ich bin in erster Linie ein Gentleman. Und wenn ich finde, daß ich als Diplomat darauf verzichten muß, dann ist mir das liebliche Regime von Trüffeln und Großkreuzen unverdaulich. Zu guter Letzt ist eine vergoldete Fessel auch eine Fessel. Frisch-frei-fröhlicher Kampf auf eigene Faust ist das beste Faustrecht. So predigt mir das Blut meiner Ahnen, die alle Landjunker oder Soldaten waren. Der Teufel hole die ganze Diplomatie!«

»Aber nicht die, wie du sie verstehst.« Und Johanna hob einen mütterlich verständnisvollen Blick zu Otto empor.

Er gab ihr einen Kuß und schwieg. Dann sagte er ruhig: »Die Schauspieler sagen: Nach Neune ist alles vorbei. La commedia e finita. Nach dreißig Jahren, die mein robuster Korpus wohl noch aushält, wird mir wohl wurscht sein, ob ich meinen Kohl pflanze oder als Diplomatiker – »Federfuchser«, schimpfte der olle Blücher – mich mit Bagatellen herumschlug. Denn vor Gott ist das alles wurscht.«

Johanna ging weg und gewann eine große Heiterkeit. Sie begriff, daß es für Ottochen gleichgültig sei, ob er im Taxispalais die Bundestagssitzungen beherrsche. Damit würde er keinen Zoll größer oder kleiner. Ihr Gatte aber saß mit tiefer Zornfalte vor dem Kamin. Denn er wußte, daß ihm eines nicht wurscht war, sein Werk und seine große Liebe.

Vielleicht war sein Gottesglaube nicht der von Millionen Deutschen, dachtest du als Greis nach häßlicher Mammonsliebe! Mir ist viel vergeben, denn viel liebte ich Deutschland? vielleicht. Wer vermißt sich zu ermessen, was in geheimnisvollen Tiefen solcher Seele vorgeht! Von solchen, die Cromwell nicht kennen, wurde hier ein Vergleich gezogen, doch die Ähnlichkeit sitzt tiefer, als Oberflächliche ahnen. Denn alles auf Erden ist nur ein Gleichnis. Man mag sich auch das Urteil zutrauen, daß dieser Mensch der größte Feldherr und ein größerer Dichter als Goethe geworden wäre. Warum nicht? Alles Vergängliche und Unzulängliche wird zum Ereignis, ganz wie es den unerforschlichen Mächten gefällt. Cromwell, der Königsmörder, Bismarck, der Royalist, es sind die gleichen Menschen, nur ihrem besonderen Milieu angepaßt, sowie Cromwells Gnadenwahl und Friedrichs des Großen grimmige Selbstverantwortung (nicht »Atheismus«, so dumm war er nicht) auf gleichem Strauch gewachsen ...

Johanna kam zurück und küßte ihren Faust. Das Ewigweibliche hebt uns hinan ... und das Unbeschreibliche wird immer getan, wo Gottes Geist über den Wassern schwebt.


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