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IV.

Als Febrer aus seiner Betäubung erwachte, fand er sich in einem hochbeinigen Holzbette, vielleicht dem Margalidas wieder.

Mit Hilfe Pèps und seines Sohnes, die ihn auf beiden Seiten stützten, war es ihm gelungen, sich bis zum Gehöft zu schleppen. Zwei weiche zitternde Hände hatten seinen schwankenden Kopf gehalten. Aber diese Bilder waren verschwommen, in Nebel gehüllt, wie die konfusen Erinnerungen an Taten und Worte am Tage nach einem Rausche.

Von tödlicher Schwäche erfaßt, hatte sein Kopf einen Halt auf Peps Schulter gesucht. Seine Kräfte ließen ständig nach, als entwiche das Leben mit dem ununterbrochen auf Brust und Rücken herabrieselnden Blut. Hinter ihm ertönten schwere Seufzer und abgerissene Worte, die alle himmlischen Mächte um Schutz anflehten. Das wilde Pochen in seinen Schläfen kündigte eine neue Ohnmacht an. Trotzdem machte er übermenschliche Anstrengungen, um seine ganze Energie auf die Beine zu konzentrieren. Mit der qualvollen Angst im Herzen, jeden Augenblick auf dem Wege sterbend zusammenzubrechen, kam er Schritt für Schritt vorwärts. Endlos dehnte sich der Weg nach Can Mallorqui! Wie lange dauerte diese unerhörte Marter! Stunden ... Tage ...

Als hilfsbereite Arme ihn auf das Bett legten und entkleideten, hatte er das erlösende Gefühl wohltuender Ruhe. Nie wieder sich aus diesen weichen Kissen erheben! So ausgestreckt liegenbleiben bis ans Ende der Tage!

Blut! ... Überall Blut! Auf Rock und Weste, die wie nasse Lumpen am Fuß des Bettes niederfielen. Die schneeweißen Bettücher waren davon durchtränkt. Das Wasser in dem Eimer, das Pèp zum Waschen der Wunde benutzte, färbte sich rot und mußte immer wieder gewechselt werden. Jeder leise Ruck, mit dem er Jaimes Wäsche allmählich löste, ließ den Körper des Verwundeten erschauern.

Die Frauen brachen in Wehrufe aus. Margalidas Mutter verlor alle Fassung, faltete die Hände und betete verzweifelt:

»Heilige Himmelskönigin, laß ihn nicht sterben!«

Febrer, dem das Ausruhen seine Kaltblütigkeit wiedergegeben hatte, war über dieses Jammern erstaunt. Er fühlte sich wohl. Warum regten sich die Frauen derartig auf?

Margalida öffnete Truhen und Fächer, um Leinwand und Binden zu suchen, ohne sich durch die aufgeregten Rufe ihres Vaters beirren zu lassen.

Der gute Pèp, der, fahle Blässe auf seinem braunen Gesicht, den Verwundeten behandelte, gab unaufhörlich Befehle.

»Binden, mehr Binden! Ruhe, ihr Frauen! Laßt doch das ewige Stöhnen! Kommt lieber her und helft mir, den Herrn auf die Seite zu legen, damit ich den Rücken untersuchen kann.«

In seiner Jugend hatte der friedfertige Pèp oft schlimme Sachen miterlebt und verstand sich daher auf die Behandlung von Wunden. Als der Oberkörper ganz von Blut gereinigt war, sah man zwei Löcher, das eine in der Brust und das andere im Rücken.

»Gut«, sagte er, »die Kugel hat den Körper durchbohrt. Man braucht sie nicht mehr herauszuziehen, und das ist schon ein großer Vorteil.«

Vergebens versuchte er, mit seinen ungeschickten Bauernhänden Charpiepfropfen möglichst behutsam in diese blutenden, von zerrissenem Fleisch umgebenen Löcher zu stecken, aus denen das Blut unaufhörlich hervorquoll. Margalida runzelte die Stirn und schob, den Blick des Verwundeten vermeidend, Pèp beiseite.

»Laß mich, Vater, ich glaube, ich verstehe das besser.«

Und Jaime hatte auf seinem wunden Fleisch das Gefühl kühlender Frische, als die weichen Finger des jungen Mädchens ihn mit sorgsamer Zartheit berührten.

Der Optimismus, der ihn beseelte, als er beim Turme niederfiel, brach wieder durch. Schon jetzt fühlte er sich so viel besser, daß von einer schweren Verwundung sicher nicht die Rede sein konnte. Er lächelte den Frauen zu, um sie zu beruhigen. Aber als er versuchte, das erste Wort auszusprechen, empfand er eine unendliche Schwäche.

Pèp machte ihm ein Zeichen, still zu sein, und sagte ernst:

»Ruhig, Don Jaime, Sie dürfen sich nicht bewegen. Der Arzt wird gleich hier sein. Ich habe Pepet auf mein bestes Pferd gesetzt, um ihn von San José zu holen.«

Als er sah, daß Jaime mit weitgeöffneten Augen ihn weiter freundlich anlächelte, versuchte Pèp, den Verwundeten etwas abzulenken.

»Ich schlief ganz fest«, begann er zu erzählen. »Erst die Rufe meiner Frau, die mich schüttelte und heftig am Arm zog, und die lauten Schreie der Atlòts weckten mich. In der Richtung des Turmes fielen Schüsse. Ich steckte sofort die Laterne an, meine Frau nahm die Küchenlampe, und dann stürzten wir mit den Kindern die Anhöhe zum Turm hinauf. Zuerst trafen wir auf den Ferrer, der im Sterben lag. Sein ganzer Kopf war blutüberströmt. Er schrie und krümmte sich wie ein Besessener. In dieser Stunde wird er wohl schon ausgelitten haben. Möge der Allmächtige ihm barmherzig sein! Kaum hatte Pepet den am Boden liegenden Vèrro gesehen, als er ein großes Messer aus dem Gürtel riß und wie ein wütender, boshafter Affe auf ihn losstürzte, um ihm den Garaus zu machen. Ich habe mir Mühe geben müssen, den Bengel zurückzuhalten. Woher hat er nur diese Waffe? Ein schönes Spielzeug für einen Seminaristen. Der Junge ist wirklich ein kleiner Teufel.

Dann erst haben wir den Herrn entdeckt, der in der Nähe der Treppe auf dem Gesicht lag. Ach, Don Jaime, der Schreck, den wir alle ausstanden! Wir glaubten im ersten Augenblick, Sie wären tot. In solchen Momenten weiß man erst, wie lieb man jemanden hat.«

Und seine feuchten Augen ruhten auf Jaime mit dem Ausdruck grenzenloser Hingebung.

Dieser weiche Blick war das letzte, was Febrer sah. Seine Lider senkten sich, und er fiel in einen traumlosen Halbschlaf, in das weiche Grau des Nichts, als wären seine Gedanken noch eher als sein Körper eingeschlafen.

Als er die Augen öffnete, wurde das Zimmer nicht mehr von der Lampe erhellt, die jetzt mit schwarzem, erloschenem Docht an ihrem alten Platze hing. Ein fahles Licht drang durch das Schlafzimmerfensterchen herein, das Morgengrauen. Jaime hatte plötzlich ein Gefühl der Kälte. Die Decken wurden von seinem Körper fortgezogen, und geschickte Hände lösten den Verband. Das noch vor wenigen Stunden unempfindliche Fleisch schmerzte bei der leisesten Berührung.

Der Verwundete folgte mit verschleiertem Blick den Händen, die ihn marterten. Er sah ein paar schwarze Ärmel, dann eine Krawatte, einen Kragen und ein Gesicht mit grauem Schnurrbart, das er häufig unterwegs gesehen hatte, doch jetzt mit keinem Namen zusammenbringen konnte. Erst ganz allmählich erinnerte er sich. Es mußte der Arzt von San José sein, dem er zu Pferde oder auf einem Wägelchen oft begegnet war. Der alte Praktiker trug Sandalen wie die Bauern und unterschied sich von ihnen nur durch die Krawatte und den gebügelten Kragen, beides Zeichen von Überlegenheit, auf die er sorgsam achtete.

Als Jaime nicht mehr die Finger spürte, die ihn so arg gequält hatten, fiel er vor Erschöpfung wieder in Halbschlaf. Mit geschlossenen Augen hörte er aber Bruchstücke der Unterhaltung in der benachbarten Küche. Eine unbekannte Stimme, wohl die des Arztes, sagte: »Ein Glück, daß die Kugel nicht im Körper blieb! Allerdings ist die Lunge durchbohrt.« – Hier unterbrach sie ein Chor von bestürzten Ausrufen. Dann fuhr die Stimme fort: »Deswegen braucht man nicht gleich an das Schlimmste zu denken. Eine Verletzung der Lunge verharscht sehr leicht. Das einzige, was wir zu befürchten haben, ist eine traumatische Lungenentzündung.«

Mehr hörte der Verwundete nicht. Wieder tauchte er in das Nebelmeer der Betäubung, dieses ungeheure, glatte, drückende Meer, in dem Visionen und Empfindungen spurlos untergehen.

Von diesem Augenblick an verlor Febrer das Gefühl für Zeit und Wirklichkeit. Gewiß, er lebte. Aber sein Leben war anormal, eine lange Aufeinanderfolge von Schlaf und Bewußtlosigkeit, durch kurze lichte Momente unterbrochen. Er öffnete die Augen, und es war Nacht. Das Fenster gähnte schwarz, und der Schatten der Kerzenflamme tanzte unruhig auf der Wand. Er öffnete sie wieder, wie ihm schien, nach einigen Sekunden, und schon war es Tag. Ein Sonnenstrahl zeichnete einen goldenen Kreis zu Füßen des Bettes. So folgten sich mit phantastischer Schnelligkeit Tag und Nacht, als hätte der Lauf der Zeit sich für immer geändert.

In einem klaren Moment begegnete er den Augen des Kaplanchens. Der Junge, im Glauben, daß es Don Jaime besser ginge, fing an zu erzählen, doch mit gedämpfter Stimme, um den Vater, von dem strengstes Stillschweigen angeordnet war, nicht zu erzürnen.

»Der Ferrer ist begraben und verfault schon in der Erde. Was für eine sichere Hand Sie haben, Don Jaime! Ihre Schüsse saßen sämtlich im Kopf.«

Dann berichtete er alles, was sich mittlerweile zugetragen hatte.

»Aus der Stadt ist der Richter mit seinem quastenverzierten Stock hier gewesen, begleitet von einem Gendarmerieoffizier und zwei Herren mit Papieren und Tintenfässern. Eine große bewaffnete Eskorte in Dreimastern umgab sie. Nach kurzer Rast in Can Mallorqui stiegen sie zum Turm, wo sie alles in Augenschein nahmen und aufs genaueste untersuchten. Ich mußte mich auf der Stelle, wo Sie zusammengebrochen waren, ausstrecken und dieselbe Lage einnehmen, in der wir Sie gefunden haben. Dann erst durften einige fromme Nachbarn den Leichnam des Ferrer zum Kirchhof von San Jose forttragen. Der Richter wollte noch einige Fragen an Sie richten, aber Sie schliefen. Ab und zu machten Sie die Augen auf und sahen alle mit wirren Blicken an, fielen aber sofort wieder in Schlaf. Erinnern Sie sich an gar nichts mehr, Don Jaime? Wenn Sie gesund sind, will der Richter nochmals mit Ihnen sprechen. Aber seien Sie ganz ruhig, alle ehrenhaften Leute, auch die Justiz, sind auf unserer Seite. Da der Ferrer keine nahen Verwandten besitzt, die Rache nehmen könnten, verheimlichte niemand, daß er zweimal nachts zum Turm gegangen ist, um Sie zu überfallen. Selbstverteidigung, Don Jaime! Auf ganz Ibiza wird nur von diesem Ereignis gesprochen. Man hat sogar Briefe nach Mallorca geschickt, damit die Zeitungen von Palma alles veröffentlichen. Wahrscheinlich wissen Ihre Freunde dort schon Bescheid.

Nur der Cantó ist wegen seiner Drohungen und Lügen verhaftet worden. Er behauptete, er wäre es gewesen, der Sie nachts herausgefordert hätte, und versuchte, den Vèrro als unschuldiges Opfer hinzustellen. Aber der Richter hat schon genug von seinen Flausen und Flunkereien und wird ihn wahrscheinlich bald in Freiheit setzen. Dieses lächerliche Huhn, und einen Mann töten! Das ist zum Lachen!«

Manchmal sah Febrer, wenn er die Augen öffnete, die zusammengekauerte Gestalt von Pèps Frau unbeweglich am Fußende des Bettes sitzen. Sobald sie seinen gläsernen Blick bemerkte, lief sie zu einem mit Fläschchen bedeckten Tisch. Ihre Liebe äußerte sich durch den ständigen Wunsch, ihm sämtliche verordnete Arzneien der Reihe nach einzugeben.

Erblickte Jaime aber das Gesicht Margalidas, so überkam ihn ein Wohlgefühl, das ihm half, eine kurze Zeit wachzubleiben. Ihre schönen, durch Angst und Nachtwachen mit blauen Ringen umgebenen Augen schienen ihn um Gnade anzuflehen. »Alles meinetwegen!« sagte sie mit gepreßter Stimme.

Sie näherte sich ihm zögernd, aber ohne zu erröten, als hätten die ungewöhnlichen Umstände ihr früheres Zurückschrecken besiegt, strich die Decke glatt, gab ihm zu trinken und hielt mit mütterlicher Hand seinen Kopf, während sie mit der anderen sein Kissen ordnete. Mit dem Finger am Mund legte sie ihm Stillschweigen auf, wenn er sprechen wollte.

Einmal ergriff Febrer ihre Hand und küßte sie lange und innig. Margalida wagte nicht, sie zurückzuziehen, hob nur den Kopf, um die Tränen in ihren Augen zu verbergen, und seufzte leise: »Ich bin schuld an allem!«

Aber die Anstrengung war zuviel für Jaime gewesen. Sein Blick wurde trüb. Er fiel in einen unruhigen Schlaf. Schweres Alpdrücken quälte ihn und entriß ihm dumpfes Stöhnen und laute Angstschreie. Das Delirium war eingetreten. Häufig erwachte er für eine Sekunde und fand sich aufrecht im Bett, von kräftigen Armen festgehalten. Doch sofort tauchte er wieder unter in die grauenhafte Schattenwelt. In diesen flüchtigen lichten Momenten erkannte er um sich herum die sorgenvollen Gesichter der Familie von Can Mallorqui. Dann wieder begegnete er den Augen des Arztes, und einmal glaubte er den Backenbart und die hellen Augen seines Freundes Pablo Valls vor sich zu haben.

Sein durch das Fieber zerrüttetes Gehirn schien sich ständig zu drehen, und diese kreisende Bewegung erweckte in seinem verwirrten Gedächtnis ein Bild, das ihn früher oft beschäftigt hatte. Er sah ein Rad, ein enormes Rad, ungeheuer groß wie die Erdkugel, sich im Weltall drehen. Die Felge dieses Rades bildeten Millionen und Millionen aneinandergeschweißter Menschen, die ihre Glieder bewegten, um sich von ihrer Freiheit zu überzeugen, deren, Körper aber unlösbar aneinandergeschlossen waren. Besonders die Speichen fesselten Febrers Aufmerksamkeit wegen ihrer verschiedenen Form. Einige bestanden aus Schwertern, deren blutige Klingen Lorbeergirlanden umschlangen; andere aus Zeptern, mit Kaiser- und Königskronen geschmückt; wieder andere waren gebildet aus Stäben der Justiz, Rollen von aufeinandergesetzten goldenen Münzen, reich mit edlen Steinen verzierten Krummstäben, dem Symbol des göttlichen Hirtenamtes, seit die Menschen sich in Herden vereinigt hatten, um mit zum Himmel erhobenem Gesicht furchtsam zu blöken. Die Radnabe war ein großer, wie poliertes Elfenbein weißleuchtender Totenschädel, der unbeweglich blieb, während sich alles um ihn drehte. Seine schwarzen Höhlungen schienen boshaft diese ganze Bewegung zu verspotten.

Unaufhörlich drehte sich das Rad. Millionen von Menschen, die seine ständige Bewegung mitmachen mußten, schrien und gestikulierten, begeistert über die Geschwindigkeit. Kaum sah Jaime sie zum höchsten Punkt emporsteigen, als sie auch schon mit dem Kopf voran abwärtssausten. Sie aber bildeten sich ein, vorwärtszukommen, und glaubten, bei jeder Drehung stets Neues zu sehen und zu bewundern. Weil sie die Unbeweglichkeit des Zentrums, um das sie sich drehten, vergaßen, befanden sie sich im guten Glauben, daß ihre Bewegung sie ständig weiter vorwärts führte. Wie wir eilen! Wo werden wir wohl haltmachen?

Febrer belächelte mitleidig die Einfalt, mit der sie sich blähten, voller Stolz auf die Geschwindigkeit ihres Fortschrittes, während sie immer wieder zu denselben Punkten zurückkehrten, voller Hochmut über die Eile einer Aufwärtsbewegung, der unfehlbar jedesmal die Drehung abwärts folgte.

Eine unwiderstehliche Macht stieß Jaime vorwärts. Der ungeheure Totenschädel grinste spöttisch:

»Auch du! Warum willst du dich gegen dein Schicksal sträuben?«

Und schon befand er sich auch auf dem Rade, mit dieser ganzen gläubigen Menschheit vermischt, aber ohne den Trost ihrer Illusion zu haben. Seine Reisebegleiter schmähten ihn, weil er die Vorwärtsbewegung leugnete, und hielten ihn für wahnsinnig, als er das, was für alle sichtbar war, in Zweifel stellte.

Plötzlich zerbarst das Rad. Der schwarze Raum füllte sich mit den zuckenden Flammen der Explosion und den Verzweiflungsschreien der vielen Millionen Wesen, die erbarmungslos in das unergründliche Geheimnis der Ewigkeit gestürzt wurden. Jaime fiel und fiel, Jahre, Jahrhunderte, bis sein Rücken die weichen Kissen seines Lagers fühlte. Er öffnete die Augen.

Margalida stand neben dem Bett und sah ihn mit angstverzerrtem Gesicht an. Das arme Mädchen ergriff mit zitternder Hand seinen Arm und sagte:

»Don Jaime! Um Gottes willen, Don Jaime! Sie haben wie ein Wahnsinniger geschrien und wollten sich aus dem Bett stürzen. Dabei sprachen Sie immer von einem Rad und einem Totenkopf. Was bedeutet das alles, Don Jaime?«

Und wie eine Mutter ihr Kind, hüllte sie ihn sorgsam in seine Decken. Bevor Febrer wieder das Bewußtsein verlor und von neuem die glühenden Türen des Deliriums durchschritt, sah er noch die feuchten Augen Margalidas über sich gebeugt und fühlte, wie ihre Lippen zart und weich seinen Mund berührten.

»Schlafen Sie, Don Jaime. Sie müssen schlafen.«

In ihren Worten lag ein Ton zärtlicher Vertrautheit, als ob Jaime jetzt ein anderer für sie wäre und das Unglück sie einander näher gebracht hätte.

Das Fieber stieß den Kranken in phantastische Welten zurück, wo jede Wirklichkeit aufhörte. Er sah sich in seinem Turm, der aber nicht mehr aus Stein, sondern aus Schädeln erbaut war. Der Hügel, die Felsen der Küste und die weißen Schaumkronen der unter der Meeresoberfläche liegenden Klippen bestanden aus Knochen. So weit sein Blick reichte, gewahrte er Bäume und Berge, Schiffe und ferne Inseln, verknöchert, blendendweiß wie eine Polarlandschaft. Beflügelte Schädel, den Cherubs auf den religiösen Gemälden ähnlich, schwebten im Raum und stießen mit heruntergefallener Kinnlade rauhe Hymnen aus zu Ehren der großen Gottheit, deren Knochenkopf in den Wolken verschwand. Jahne fühlte, wie unsichtbare Nägel sein Fleisch stückweise abrissen. Als er dann als weißes Skelett dastand, raunte eine Stimme von fern eine grauenhafte Weise in seine verschwundenen Ohren:

»Der Augenblick der wahren Größe ist gekommen. Du hörst auf, Mensch zu sein, um dich in einen Toten zu verwandeln. Der Sklave ist in das große Geheimnis eingedrungen und zum Halbgott geworden.«

Die Toten befehlen. Welchen abergläubischen Respekt, mit knechtischer Angst verbunden, empfanden die Menschen vor denen, die das Leben verließen! Der Mächtige entblößte sein Haupt, wenn der Leichenzug des Bettlers an ihm vorbeikam.

Für Jaimes leere Augenhöhlen gab es weder Entfernung noch Hindernisse. Überall erblickte er Tote. In den Gerichtshöfen sah er hinter den schwarzgekleideten Richtern, die mit achtunggebietender Miene das Elend, die Klagen und die Torheiten ihrer Mitmenschen anhörten, in Togen gehüllte Skelette stehen, die die Hände der Richter führten und ihnen die Urteilssprüche diktierten. Die Toten richten.

Er sah große Säle mit im Halbkreis angeordneten Bänken und darauf Hunderte von Männern, die redeten, eiferten und gestikulierten bei der geräuschvollen Arbeit, Gesetze zu machen. Aber hinter ihnen verbargen sich die wirklichen Gesetzgeber, die Toten, die Abgeordneten im Schweißtuch, deren Anwesenheit diese Männer nicht ahnten, die mit großsprecherischer Eitelkeit glaubten, aus eigener Eingebung zu reden. Die Toten sind die Gesetzgeber! Bei Streit und Zweifel genügte es, wenn jemand daran erinnerte, wie sie in früheren Zeiten gedacht und gehandelt hatten, und alle Meinungsverschiedenheiten verschwanden. Die Toten waren die einzige, ewige und unwandelbare Wirklichkeit, die Menschen von Fleisch und Blut nur eine vorübergehende Erscheinung, ein nichts bedeutendes, von eitlem Hochmut erfülltes Bläschen.

Zu den Füßen der großen Denkmäler, der Gemälde in den Museen und der Bücherreihen in den Bibliotheken sah er das stumme Lächeln der Totenschädel, das den Menschen zu sagen schien:

»Bewundert uns! Dieses ist unser Werk, und was ihr auch immer tun werdet, stets müßt ihr unseren Bahnen folgen.«

Sogar die Liebe war dieser Sklaverei verfallen. Die Frau glaubte an das Spontane ihrer Scham und ihrer Erregung, ahmte aber nur, ohne es zu wissen, ihre Vorfahren nach, die je nach der Epoche Verführerinnen mit heuchlerischer Bescheidenheit oder freimütige Messalinen gewesen waren.

Dieses Heer von Toten, diese unzählbaren Millionen bedrückten Febrer. Nirgends fand er einen Platz, wohin er seinen Fuß setzen konnte, denn reihenweise standen sie übereinander. Unerträglich lasteten sie auf seiner Brust und erstickten ihn. Er ging unter in diesem weißen, knirschenden Knochenmeer. In seiner Verzweiflung ergriff er eine Hand, die von weither aus dem Dunkel zu kommen schien, eine Hand von Fleisch und Blut. Er hielt sich an ihr fest, zog sie zu sich heran. Ein bleicher Fleck tauchte auf, kam näher und nahm die Form eines menschlichen Gesichtes an. Und er erkannte Pablo Valls, der sich über ihn beugte und die Lippen bewegte, als murmelte er zärtliche Worte, die Jaime nicht verstehen konnte.

Nach dieser rapiden Vision fiel der Kranke noch einmal in seine Bewußtlosigkeit zurück. Der Durst, dieser schreckliche Durst ließ nach. Er hatte klare muntere Gebirgsbäche und schweigsam dahinfließende breite Ströme gesehen, aber sich vergebens bemüht, sie zu erreichen, da seine Beine in schmerzhafter Unbeweglichkeit verharrten. Jetzt erschien ihm ein leuchtender, schäumender Wasserfall, und es gelang ihm, sich ihm zu nahem. Bei jedem Schritte fühlte er mehr und mehr auf seinem Gesichte die Wohltat der erfrischenden Feuchtigkeit.

Mitten in dem Getöse der Kaskade vernahm er leise Stimmen. Jemand sagte: »Das Fieber ist gebrochen« und eine andere Stimme antwortete fröhlich: »Gott sei Dank, er ist gerettet.« Der Kranke erkannte sie. Es war die Stimme von Pablo Valls. Seltsam, daß der Kapitän immer wieder auftauchte.

Von der Kühle des Wassers angezogen, ging Febrer näher und setzte sich unter den rauschenden Fall. Er empfand wollüstige Schauer, als der erquickende Wasserstrahl auf seinen Rücken stürzte. Seine Glieder streckten sich, und die Brust wurde ihm leicht, denn der Druck, der ihn bis vor kurzem gequält hatte, wich langsam. Die Nebel in seinem Gehirn zerteilten sich. Allmählich verwandelten sich die Schreckensszenen in friedliche Träume. Er sah einen rosigen Himmel und hörte ferne Musik. Die Atmosphäre war erfüllt von einer geheimnisvollen, lächelnden, übernatürlichen Kraft, die alles, was mit ihr in Berührung kam, verschönte. Es war die wiederkehrende Gesundheit.

Das unaufhörlich herabstürzende Wasser, das im Fall einen leichten Bogen beschrieb, ließ die früheren Vorstellungen neu aufleben. Wieder sah er das ungeheure Rad, das Bild der Menschheit. Durch das kühle Wasser gestärkt, glaubte er, sich jetzt besser über alles klar werden zu können.

Rückte das Rad wirklich nicht von der Stelle? Der Zweifel, der den Anfang neuer Wahrheiten bedeutet, ließ ihn mit größerer Aufmerksamkeit zuschauen. Hatten ihn seine Augen getäuscht? War er vielleicht im Irrtum und glaubten die jubelnden Millionen auf dem Rade mit Recht, bei jeder Drehung einen neuen Fortschritt erzielt zu haben? Welche Grausamkeit, wenn das Leben sich durch Hunderttausende von Jahren in dieser trügerischen Bewegung abwickeln sollte, die in Wirklichkeit eine Unbeweglichkeit verbarg! Wo wäre dann der Zweck der ganzen Schöpfung? Hatte die Menschheit kein anderes Ziel, als sich selbst zu täuschen?

Plötzlich verschwand das Rad, und vor Jaime tauchte ein hiesiger, bläulicher Globus mit Meeren und Kontinenten auf. Es war die Erde. Auch sie rotierte mit trostloser Monotonie. Aber diese Drehung bedeutete nichts im Vergleich zu der Weiterbewegung, durch die die Erde auf eine ewige Reise in den unendlichen Raum fortgerissen wurde, ohne jemals denselben Punkt zu berühren.

Nicht das verfluchte Rad war das wahre Bild des Lebens, sondern die Erde. Innerhalb eines bestimmten Zeitraumes drehte sie sich um sich selbst. Die Tage und die Jahreszeiten wiederholten sich, wie in der Geschichte der Menschheit die Größe und der Verfall. Aber es gab noch etwas Höheres: die Fortbewegung der Erde in die Unendlichkeit. Und ihr entsprach die Entwicklung der Menschheit, der Fortschritt, der sie vorwärts riß, immer vorwärts! Die Theorie der ewigen Wiederholung war falsch. Die äußere Form konnte ähnlich sein, die Seele war verschieden.

Nein, fort mit dem Rad! Fort mit der Unbeweglichkeit! Die Toten konnten nicht befehlen. Die Fortbewegung der Erde war zu schnell, als daß sie sich an ihrer Oberfläche halten konnten. Es mochte ihnen viele Jahre, sogar Jahrhunderte gelingen, aber einmal kam der Moment, in dem sie sich lösen mußten, um in dem Nichts unterzugehen.

Ein letzter Zweifel stieg in ihm auf. Die Fortbewegung der Erde war auch nur ein ewiges Kreisen um die Sonne. Aber stand denn die Sonne still? Nein! Mit ihrem ganzen Planetensystem bewegte sie sich weiter im unendlichen Raum.

Wie dem Apostel Paulus auf dem Wege nach Damaskus fielen ihm die Schuppen von den Augen. Er sah ein neues Licht. Der Mensch war frei. Er konnte sich dem Griff der Toten entziehen, sein Leben seinen Wünschen entsprechend formen und die Sklavenkette zerreißen, die ihn an diese unsichtbaren Despoten schmiedete.

Er hörte auf zu träumen und versenkte sich in das Nichts mit der stummen, tiefen Freude des Arbeiters, der von einem nutzbringenden Tagewerke ausruht.

Als er nach langer Zeit erwachte, sah er in die Augen von Pablo Valls, der seine Hände ergriffen hatte und ihn zärtlich anblickte.

Jaime konnte nicht mehr zweifeln. Was er sah, war Wirklichkeit. Er nahm den von Don Pablo untrennbaren Geruch des englischen, leicht mit Opium parfümierten Tabaks wahr.

»Endlich, mein lieber Junge!« rief Don Pablot aus. »Jetzt geht es vorwärts, nicht wahr? Du hast kein Fieber mehr, und damit ist die Gefahr überstanden. Die Wunden heilen ausgezeichnet. Sie müssen jucken wie tausend Teufel, als ob man dir Wespen unter den Verband gesetzt hätte. Das ist immer so, wenn sich neues Fleisch bildet.«

Und da der Kapitän die vielen Fragen erriet, die in Jaimes erstaunten Augen lagen, fuhr er fort:

»Sprich nicht, das ermüdet dich nur. Wie lange Zeit ich schon hier bin? Fast zwei Wochen. Ich las in den Zeitungen von Palma, was dir zugestoßen war, und bin sofort hierhergekommen. Dein Freund, der Chueta, bleibt sich immer gleich. Aber eine böse Zeit haben wir mit dir durchgemacht. Du hattest eine schwere Lungenentzündung, mein Sohn. Wenn du die Augen aufmachtest, erkanntest du mich nicht. Fast immer lagst du im Delirium. Gut, daß das alles vorbei ist. Wir haben uns auch redliche Mühe mit dir gegeben ... Schau her, wer hier ist!«

Bei diesen Worten trat er vom Bett zurück, damit Jaime Margalida sehen konnte, die sich hinter dem Kapitän versteckt hatte. Jetzt, wo Jaime sie mit fieberfreien Augen ansah, war sie wieder scheu und zurückhaltend.

»Mandelblüte ...!«

Jaimes liebevoller Blick ließ sie erröten. Sie befürchtete, er könnte sich erinnern, was in den kritischen Momenten geschehen war, als man an seinem Wiederaufkommen zweifelte und stündlich das Schlimmste erwartete.

»Jetzt verhältst du dich aber ruhig«, fuhr Valls fort. »Ich bleibe hier, bis wir zusammen nach Palma zurückkehren können. Ich weiß alles ... ich werde alles regeln. Du kennst mich doch, ja? Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Der Chueta zwinkerte mit einem Auge und lächelte verschmitzt, überzeugt, daß er die Wünsche seines Freundes erraten hatte.

Braver Kapitän! Seit er in Can Mallorqui angekommen war, folgten alle seinen Anordnungen. Jeder bewunderte ihn und war ihm wegen seiner immer guten Laune herzlich zugetan.

Margalida errötete schamhaft bei seinen Anspielungen, aber sie hing an ihm, weil sie wußte, daß er für Jaime jedes Opfer bringen konnte. Sie erinnerte sich der Nacht, als man glaubte, daß es mit dem Kranken zu Ende ginge. Valls hatte wie ein Kind geweint, während er gleichzeitig Verwünschungen zwischen den Zähnen murmelte.

Das Kaplanchen betete den Herrn von Mallorca an, denn Don Pablo war in stürmisches Lachen ausgebrochen über Pèps Idee, aus Pepet einen Geistlichen machen zu wollen.

Pèp und seine Frau endlich folgten dem Kapitän wie gehorsame, unterwürfige Hunde.

Bisweilen sprachen Pablo und der Kranke von den vergangenen Ereignissen. Valls war ein Mann von schnellen Entschlüssen.

»Du weißt, daß ich keine Müdigkeit kenne, wenn es sich um einen Freund handelt. Nach meiner Landung auf Ibiza ging ich sofort zum Richter. Die ganze Sache wird für dich keine Folgen haben. Du warst im Recht und hast Verteidigung ausgeübt. Nur noch einige kleine Formalitäten mußt du über dich ergehen lassen, sobald du dazu imstande bist. Was deine Gesundheit anbelangt, so bin ich völlig zufrieden. Was bleibt noch übrig? ... Ach ja, noch etwas! Aber keine Sorge, auch das werde ich baldigst in Ordnung bringen.«

Er lächelte und drückte die Hände Febrers, der keine Frage stellte, aus Furcht, eine Enttäuschung zu erleben.

Als Margalida einmal das Schlafzimmer betrat, ergriff Don Pablo sie am Arm und führte sie zum Bett.

»Schau sie gut an«, rief er mit komischem Ernst. »Sie ist es doch, die du lieb hast, nicht wahr? Hat man sie dir auch mittlerweile nicht vertauscht? Nein? Dann gib ihr bitte die Hand, du Dummkopf. Was soll das bedeuten, daß du sie so erstaunt ansiehst?«

Mit beiden Händen ergriff Febrer Margalidas Hand.

»Also ist es doch wahr?«

Er suchte ihren Blick, aber Margalida hielt die Augenlider gesenkt. Nur die zitternden Nasenflügel verrieten ihre Erregung.

»Umarmt euch bitte«, sagte Valls und drängte das junge Mädchen sanft zum Kranken.

Doch Margalida machte sich los und flüchtete verwirrt aus dem Zimmer.

»Gut«, meinte der Kapitän, »sie hat ja recht. Ihr küßt euch lieber, wenn ich nicht zugegen bin.«

Valls war mit dieser Heirat einverstanden, die er für viel vernünftiger hielt als die einst geplante Verbindung mit seiner Nichte, bei der doch nur die Millionenmitgift ausschlaggebend gewesen wäre. Margalida würde eine hervorragende Frau werden. Hierin war der Kapitän Kenner. Jaime brauchte sie nur von der Insel wegzunehmen und, im Vertrauen auf die Anpassungsfähigkeit, die das weibliche Geschlecht für alles Gute hat, an andere Sitten und Kleidung zu gewöhnen, um aus dem früheren Bauernmädchen eine entzückende Dame zu machen.

»Auch deine Zukunft habe ich schon sichergestellt, mein kleiner Inquisitor. Du weißt, daß dein Freund, der Chueta, immer erreicht, was er sich vornimmt. Es ist dir genug übriggeblieben, um auf Mallorca bescheiden zu leben. Bitte, schüttele nicht mit dem Kopf. Ich weiß, daß du dich beschäftigen willst, um so mehr, da du daran denkst, eine Familie zu gründen. Gut, du wirst arbeiten. Wir beide werden zusammen ein Geschäft gründen. Ich habe schon an verschiedene ausgezeichnete Sachen gedacht.«

In allen Angelegenheiten der Familie von Can Mallorqui entschied der Kapitän mit der Autorität des Herrn. Pèp und seine Frau wagten nicht, sich gegen ihn aufzulehnen. Wie hätte man auch mit jemandem diskutieren können, der in allem so Bescheid wußte 1 Da Don Pablo die Heirat Margalidas mit Don Jaime wünschte und für ihr Glück bürgte, gab Pep seine Zustimmung. Der Gedanke an die Trennung von ihrer Tochter bereitete den beiden Alten großen Kummer. Aber es war besser so, denn alle verwandtschaftlichen Bande würden nie den alteingewurzelten Respekt vor ihrem früheren Herrn überwinden können.

Das Kaplanchen wäre aus lauter Dankbarkeit am liebsten vor Valls niedergekniet.

»Und dabei wagt man in Palma zu sagen, daß die Chuetas schlechte Menschen wären! ... So kann man auch nur auf Mallorca urteilen! Was für ungerechte und hochmütige Leute! Der Kapitän ist ein Heiliger. Ihm habe ich es zu danken, daß ich nicht mehr ins Seminar zurück muß. Ich werde Landwirt, und Can Mallorqui wird mir gehören.«

Auch das Dolchmesser war ihm auf Don Pablos Zureden von seinem Vater wieder ausgehändigt worden. Sofort nach der Heirat Margalidas wollte er sich im Kirchspiel eine Braut suchen. Mit dem tapferen Begleiter im Gürtel war er gegen alles gewappnet. Die Vèrros durften auf der Insel nicht aussterben, er fühlte das Heldenblut des Großvaters in seinen Adern.

An einem sonnigen Vormittage ging Febrer, auf Valls und Margalida gestützt, mit dem unsicheren Schritt des Rekonvaleszenten zum ersten Male auf die Veranda. In einen bequemen Armstuhl gelehnt, betrachtete er mit frohem Blick die friedliche Landschaft. Auf der Spitze des Vorgebirges reckte sich der Piratenturm. Wie hatte er in seinen Mauern geträumt und geduldet! ... Lieber, alter Turm! Dort, allein und von der Welt verlassen, war in seinem Herzen die Liebe aufgekeimt, die den Rest seines bis dahin inhaltlosen Lebens mit Freude und Wärme füllen sollte.

Noch schwach von dem langen Krankenlager, atmete er mit Behagen die Morgenluft ein, die durch einen leichten Wind vom Meere gekühlt wurde.

Margalida richtete einen liebevollen Blick auf Jaime und kehrte ins Haus zurück, um sein Frühstück zu bereiten.

Lange Zeit saßen die beiden Männer schweigend nebeneinander. Valls hatte seine Pfeife hervorgezogen, sie mit englischem Tabak gefüllt und hüllte sich in duftende Rauchwolken.

Febrer, dessen Blick auf Himmel und Bergen, Feldern und Meer ausruhte, sprach mit leiser Stimme vor sich hin.

Das Leben war schön. Er bestätigte es mit der Überzeugung des Menschen, der knapp dem Tode entgangen ist. Und wie der Vogel und das Insekt im Schoße der Natur, konnte der Mensch sich frei bewegen. Für alle gab es Platz auf der Erde. Warum unbeweglich in den Ketten verharren, die von anderen geschmiedet waren, um über das Schicksal derer, die nach ihnen kamen, zu verfügen?

Valls lächelte ihm spöttisch zu. Oft hatte er Jaime zugehört, wenn er im Delirium von den Toten sprach und dabei die Arme heftig bewegte, als wollte er sie, die Angst und Schrecken brachten, abwehren. Aufmerksamer lauschte er jetzt den Erklärungen, die ihm Febrer gab, und als er erfuhr, wie schwer der blinde Respekt vor der Vergangenheit und die ehrfürchtige Unterwerfung unter den Einfluß der Toten auf dem Leben seines Freundes gelastet hatten, verschwand der spöttische Ausdruck auf seinem Gesicht und er versank in nachdenkliches Grübeln.

»Glaubst du, daß die Toten befehlen, Pablo?« fragte Jaime endlich.

Der Kapitän zuckte die Achseln. Für ihn gab es auf der Welt keine absolute Wahrheit. Vielleicht befand sich das Reich der Toten schon im Verfall. Zweifelsohne hatten sie in früheren Zeiten despotisch geherrscht. Heute übten sie ihre Macht nur noch in gewissen Ländern aus, während ihre Herrschaft in anderen vollkommen zertrümmert war. Auf Mallorca regierten sie jedenfalls noch mit starker Hand, wie er, der Chueta, bestätigen konnte.

Febrer fühlte eine tiefe Erbitterung, als er ah seine Irrungen und die Beklemmungen, die er nur ihnen verdankte, zurückdachte. Verfluchte Toten I Die Menschheit konnte nicht frei und glücklich sein, bevor man ihnen nicht ein Ende gemacht hatte.

»Pablo, töten wir die Toten!«

Der Kapitän sah seinen Freund einen Augenblick bestürzt an. Aber als er seine klaren Augen gewahrte, beruhigte er sich und sagte lächelnd:

»Für meinen Teil: fort mit den Toten!«

Dann lehnte er sich zurück, stieß eine Rauchwolke aus und fuhr mit ernstem Gesicht fort:

»Du hast recht, töten wir die Toten! Zertreten wir die alten Vorurteile, diese nutzlosen Hindernisse, die unsern Lebensweg nur erschweren. Folgen wir den weisen Lehren von Moses, Buddha, Jesus, Mohammed und anderen Führern der Menschheit: nützlich und logisch ist es, nur seinen eigenen Gedanken und Empfindungen gemäß zu leben.«

Jahne blickte rückwärts, als ob seine Augen im Innern des Hauses die anmutige Gestalt Margalidas entdecken wollten.

»Könntest du dich heute mit meiner Nichte ohne Angst und ohne Gewissensbisse verheiraten?« fragte Don Pablo.

Febrer zögerte eine Weile, bevor er antwortete:

»Heute ja, denn ich würde den Skrupeln, die mich damals so gequält haben, keine Beachtung mehr schenken. Aber etwas hätte dieser Verbindung doch gefehlt; etwas, das über dem Willen und der Macht des Menschen steht; etwas, das nicht mit Gold erworben werden kann und doch die Welt regiert; etwas, das die bescheidene Margalida mit sich brachte, ohne es zu wissen ...«

Für Febrer begann ein neues Leben. Die Not seiner Seele war vorüber.

Nicht die Toten befehlen. Das Leben befiehlt und im Leben die Liebe.


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