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Febrer betrachtete, über den Rand eines Bootes gelehnt, sein Bild, dessen Konturen mit der Bewegung der Wellen hin und her schwankten. In dem durchsichtigen Wasser konnte er den Meeresgrund erkennen. Auf dem weißen Sande lagen dunkle, mit seltsamer Vegetation bedeckte Felsblöcke, die sich von den Bergen gelöst hatten und in das Meer gerollt waren.
Die langen feinen Haare der Algen wogten auf und ab. Runde Früchte von weißlicher Farbe, ähnlich den indianischen Feigen, wuchsen in den Spalten der Felsen. Aus der Tiefe der grünen Fluten leuchteten perlmutterfarbige Blumen. Seesterne streckten ihre bunten Spitzen aus, und wie schwarze stachlige Tintenkleckse ballten sich Seeigel zusammen. Zwischen ihnen schössen unruhig Teufelspferdchen hin und her, und inmitten wirbelnder Blasen schimmerten überall silberne Flossen.
Es war beinahe Mittag. Jaime hatte die Segel eingezogen und hielt in einer Hand den Volanti, eine lange, mit einer Reihe von Angelhaken besetzte Schnur, die fast bis auf den Grund reichte.
Das Boot lag im Schatten des Vedrá, eines gewaltigen Felsens, der sich dreihundert Meter steil aus dem Wasser emporreckte. Hinter ihm leuchtete das Mittelmeer, auf dem die glühende Sonne goldene Reflexe malte. In Jaimes Rücken erstreckte sich die wildzerrissene Küste von Ibiza, deren rotes Gestein wie in Feuer getaucht erschien.
Jaime fuhr fast jeden Tag zum Fischen hierher, denn bei gutem Wetter war das Wasser in dem schmalen Kanal zwischen der Insel und dem Vedrá glatt wie ein Spiegel, aus dem die Spitzen der schwarzen Klippen harmlos emportauchten. Sobald sich aber ein starker Wind aufmachte, stürzten hohe Wellenberge mit wildem Brüllen in diesen engen Schlund, der zu einem tobenden Chaos von Wirbeln und Strömungen wurde.
Am Bug der Barke stand der alte Ventolera, ein tüchtiger Seemann, der auf den Schiffen aller möglichen Nationen gefahren war und Jaime seit seiner Ankunft auf der Insel begleitete. Trotz seiner achtzig Jahre segelte er noch jeden Tag, bei gutem und bei schlechtem Wetter, hinaus, um zu fischen.
Die Sonne und die salzige Luft hatten seine Gesichtshaut so tief gebräunt, daß sie aussah wie gegerbtes Leder. Die mageren Beine steckten in aufgekrempelten Hosen. Die vorn geöffnete Bluse ließ seine zottig behaarte Brust sehen. Auf dem Kopf saß eine schwarze, mit roter Troddel und breitem, rot und weiß kariertem Bande geschmückte Mütze, eine Erinnerung an seine letzte Fahrt nach Liverpool. Das Gesicht war umrahmt von einem schmalen Backenbart, und an den Ohren baumelten blanke kupferne Ringe.
An den ersten. Tagen vergaß Jaime oft, auf die Angelschnur in seiner Hand acht zu geben, so sehr war er versunken in den Anblick des riesigen Felsens. Durch die Klippen, die ihn wie eine Mauer umgaben, drängte sich das Meer in große unterirdische Grotten. Früher ein Zufluchtsort für die Piraten, dienten sie heute den Schmugglern noch manchmal als Versteck. Von Fels zu Fels springend, konnte man bis zu den Sevenbäumen gelangen, die am Fuße des Berges wuchsen, aber vergebens suchte man nach einer Möglichkeit, an den glatten, steilen Wänden emporzuklimmen. Näher zum Gipfel lagen sanfte, grün bewachsene Abhänge, auf denen Febrer rotbraune und weiße Tiere sich bewegen sah. Es waren die wilden Ziegen des Vedrá.
Einmal gab Jaime aus seiner Flinte zwei Schüsse ab, nur um das Vergnügen zu haben, die Ziegen auf ihrer wilden Flucht zu beobachten. Mit unglaublicher Gewandtheit sprangen und kletterten sie über Felsen, Abhänge und Klüfte zum Gipfel empor. Aber die Schüsse hatten auch andere Bewohner des Vedrá aufgeschreckt. Hunderte von Möwen erfüllten mit schrillem Schrei den stillen Kanal, und über dem Gipfel stiegen Falken auf, die dort oben in unerreichbarer Höhe horsteten.
Der Alte zeigte Febrer dunkle Öffnungen an den steilsten Wänden, zu denen nicht einmal die Ziegen gelangen konnten. Aber er wußte doch, was sich in ihnen verbarg. Es waren jahrhundertealte Bienenstöcke, denn zu einer gewissen Jahreszeit hatte er goldene Fäden gesehen, die aus diesen schwarzen Löchern herauskamen und sich an den Felsen abwärtsschlängelten. Von der Sonnenwärme geschmolzen, träufelte der an den Eingängen aufgespeicherte Honig nutzlos an dem Gestein herab.
Mit befriedigtem Brummen zog Ventolera seine Angelleine hoch.
»Das ist die achte«, sagte er, löste von einem der Haken eine Art dunkelgrauer Languste und warf sie zu den anderen in einen Binsenkorb, der neben ihm stand.
»Väterchen Ventolera, singst du heute nicht die Messe?«
»Wenn Sie erlauben, gern, Herr.«
Jaime kannte seine Vorliebe für die lateinischen Texte. Seit der Alte keine Seereisen mehr machte, war sein einziges Vergnügen, an jedem Sonntag in der Dorfkirche von San José oder San Antonio auf die Worte des Priesters die vorgeschriebenen Antworten zu singen. Aber allmählich hatte er die Gewohnheit angenommen, dieses Responsorium stets anzustimmen, wenn er guter Laune war.
»Also hören Sie!« sagte der Alte in einem Ton, als stände er im Begriff, seinem Zuhörer einen außerordentlichen Genuß zu bereiten.
Er nahm das Gebiß aus seinem Munde, verwahrte es im Gürtel, räusperte sich ein paarmal und begann mit zitteriger Fistelstimme zu singen. Jaime lachte über die Begeisterung, mit der Ventolera die Augen verdrehte und eine Hand aufs Herz legte, wobei er aber nicht vergaß, den Volanti festzuhalten. Während er zuhörte, beobachtete Febrer aufmerksam seine eigene Leine. Aber kein Zucken verriet, daß ein Fisch angebissen hatte. Der ganze Fang war für den Alten. Dies verdarb allmählich seine gute Stimmung, und der Singsang fing an, ihm lästig zu werden.
»Genug, Väterchen Ventolera, genug! Du verscheuchst alle Fische!«
»Das gefiel Ihnen, nicht wahr?« fragte dieser treuherzig. »Aber ich kenne auch noch andere schöne Sachen. Ich werde Ihnen jetzt die berühmte Ballade vom Kapitän Riquer singen, eine wahre Begebenheit, die mein Vater noch miterlebt hat.«
Jaime wehrte ab.
»Nein, nein, nichts vom Kapitän Riquer.« Er kannte diese Heldentat schon auswendig. Seit drei Monaten fischten sie gemeinsam, und fast jede Fahrt hatte mit diesem Vortrage geendigt.
»Es ist zwölf Uhr, Väterchen. Fahren wir zurück, sie beißen auch nicht mehr an.«
Der Alte schaute nach der Sonne, die jetzt über dem Gipfel des Vedrá stand. Es war noch nicht ganz Mittag, aber viel konnte nicht mehr fehlen. Dann betrachtete er das Meer.
»Der Herr hat recht, die Fische werden nicht mehr anbeißen. Für meinen Teil bin ich auch mit dem Fang zufrieden.«
Mit seinen dürren Armen hißte er das dreieckige Segel. Das Boot legte sich auf die Seite und begann, in immer schnellerer Fahrt das Wasser zu durchschneiden. Mit leisem Gluckern brachen sich die kleinen Wellen an seinem Bug. Sobald sie aus dem Kanal heraus waren, hielten sie sich direkt unter der Küste von Ibiza. Jaime führte das Steuer, während der Alte den Fischkorb zwischen seine Knie nahm und den Fang Stück für Stück mit Befriedigung betastete.
Sie umsegelten ein Vorgebirge, und vor ihnen lag ein anderer Teil der Küste. Auf einem niedrigen Berge, dessen rote Felsen stellenweise unter dunklem Gebüsch verschwanden, erhob sich ein kurzer, dicker Turm, mit keiner anderen Öffnung auf der Seeseite als einem Fenster, das wie ein großes, schwarzes Loch gähnte. Auf der Zinne des Turms war eine Schießscharte angebracht, die in alten Zeiten dazu gedient hatte, eine kleine Kanone aufzustellen. Landeinwärts fiel das Gelände sanft ab und war dicht mit Bäumen bepflanzt, aus denen ein Gehöft wie ein weißer Fleck hervorlugte.
In der Höhe des Turms angelangt, steuerte Jahne in eine kleine Bucht. Langsam fuhr der Kiel auf dem weichen Sande auf. Der Alte zog das Segel ein und machte das Boot an einem Felsen fest. Dann sprangen beide an Land.
»Werden wir heute nachmittag wieder ausfahren, Don Jahne?«
Febrer verneinte, verabredete sich aber für den nächsten Tag.
»Gut«, sagte Ventplera, »ich werde Ihnen morgen früh von hier den Introitus singen, damit Sie auch rechtzeitig aufwachen, denn beim Morgengrauen müssen wir schon am Vedrá sein.«
Er nahm den Fischkorb auf und ging landeinwärts.
»Väterchen Ventolera, gib doch im Vorbeigehen meinen Anteil Margalida und bestelle, daß man mir bald das Mittagessen bringt!« rief Jaime ihm nach.
Der Alte nickte mit dem Kopfe, und Jaime wandte sich zum Turme. Sein Weg führte zuerst am Strande entlang, in dessen feuchtem Sande seine Sandalen ihre Spuren zurückließen. Dann begann er den mit dichtem Tamariskengebüsch bewachsenen Abhang emporzusteigen. Das Geräusch seiner Schritte jagte die wilden Kaninchen in panische Flucht und schreckte smaragdgrüne Eidechsen auf, die sich faul auf dem steinigen Boden gesonnt hatten.
Das Rascheln im Gestrüpp übertönend, klang an Jaimes Ohr ein schwaches Tamburinschlagen und eine Stimme, die leise im Dialekte von Ibiza sang. Manchmal brach sie ab, um die ersten Verse zu wiederholen, bis es ihr gelang, eine Fortsetzung zu finden. Jede Strophe schloß mit einem langgezogenen, gutturalen Ton, in der Art, wie die Araber ihre Lieder beenden. Als Febrer den Gipfel erreicht hatte, sah er den Sänger, der, in den Anblick des Meeres versunken, auf einem Stein hinter dem Turme saß.
Das blau bemalte und mit vergoldeten Blumen und Arabesken verzierte Tamburin stützte er auf ein Bein. Der linke Arm, in dessen Hand sein Gesicht ruhte, lag auf dem Instrument. Seine rechte Hand hielt ein kurzes Stäbchen, mit dem er langsam auf dem Tamburin die Begleitung schlug. Ganz vertieft in seine Improvisationen verweilte er in dieser nachdenklichen Stellung.
Man nannte ihn den Cantó, weil er bei den Tänzen und Serenaden Lieder und Romanzen vortrug. Er hatte eine schlanke Figur, sehr schmale Schultern und konnte höchstens achtzehn Jahre alt sein. Manchmal wurde sein Gesang von einem trockenen Husten unterbrochen, dessen Erschütterung sein blasses Gesicht rötete. Seine Augen waren groß wie die Augen einer Frau. Stets ging er wie zum Fest gekleidet, Hosen aus blauem Samt, scharlachrote Schärpe und Krawatte, dazu ein Halstuch, dessen gestickte Kante auf die Brust herabfiel. Hinter jedem Ohr trug er eine Rose. Als Febrer diesen weiblichen Schmuck sah, die samtartigen Augen und den durchsichtigen Teint, verglich er den Burschen unwillkürlich mit einer dieser blutleeren Jungfrauen, die von der modernen Kunst so gern idealisiert werden. Aber auf der Schärpe dieser Jungfrau zeichneten sich beunruhigende Konturen ab, zweifellos ein Dolchmesser oder eine Pistole, die unzertrennlichen Begleiter jedes Atlòts auf Ibiza.
Sobald der Sänger Jahne bemerkte, erhob er sich, berührte mit der Hand leicht die Krempe seines Hutes und grüßte höflich:
»Bón dia tengui!«
Wie jedermann auf Mallorca hatte auch Febrer an die Wildheit der Bewohner von Ibiza geglaubt. Um so mehr überraschte ihn ihr höfliches Benehmen, wenn er ihnen begegnete. Häufig kam es vor, daß sie einander töteten, aber der Fremde wurde von ihnen mit derselben traditionellen Gewissenhaftigkeit respektiert, die der Araber dem Mann entgegenbringt, der um Gastfreundschaft unter seinem Zelte bittet.
Der Cantó schien beschämt zu sein, daß der Herr von Mallorca ihn auf seinem Grund und Boden traf, und murmelte einige Entschuldigungen. Er liebte es, das Meer von der Höhe herab zu betrachten, und saß gern im Schatten des Turms, wo ihn kein Freund störte, wenn er neue Verse für seine Romanzen suchte.
Jaime lächelte wohlwollend bei den zaghaften Worten des Sängers.
»So, du machst Verse! Sicher sind sie einer hübschen Atlòta gewidmet?«
Der junge Mann nickte bejahend.
»Und wie heißt das junge Mädchen?«
»Mandelblüte«, antwortete der Dichter.
»Mandelblüte? ein schöner Name!«
Durch Jaimes beifällige Worte ermutigt, erzählte der Cantó zutraulich weiter. Mandelblüte war Margalida, die Tochter Pèps von Can Mallorqui. Er hatte ihr diesen Namen gegeben, da sie ihn immer an die weißen und rosigen Blüten erinnerte, mit denen sich der Mandelbaum bedeckt, sobald die ersten lauen Winde vom Meer den Frühling ankündigen. Alle jungen Leute des Kirchspiels hatten diesen Namen aufgegriffen, und Margalida wurde seither nur Mandelblüte genannt. Mit einem kleinen Stolz bekannte der Sänger, daß er ein Talent hätte, hübsche Beinamen zu finden, die dann für immer haften blieben.
Febrer, der lächelnd zuhörte, fragte ihn, ob er auch arbeite. Der Atlòt verneinte. Seine Eltern erlaubten es nicht. Als er eines Tages zum Markt in die Stadt gefahren war, hatte ihn ein Arzt untersucht und dann den Eltern angeraten, ihm jede Anstrengung zu ersparen. Sehr zufrieden hiermit, verlebte er nun alle Tage im Freien. Im Schatten eines Baumes ruhend, hörte er die Vögel singen und beobachtete die jungen Mädchen. Wenn in seiner Seele dann neue Lieder erwachten, ging er zum Strand und versuchte, sie in Verse zu kleiden.
Jaime nickte ihm freundlich zu und forderte ihn auf, zu bleiben. Aber nach wenigen Schritten drehte er sich um, da das Tamburin nicht wieder ertönte. Der Sänger ging den Abhang hinunter. Er befürchtete wohl doch, den Herrn mit seiner Musik zu stören, und suchte sich einen anderen einsamen Ort.
Febrer betrat den Turm. Was von weitem das Erdgeschoß zu sein schien, war nichts als ein kompakter Unterbau. Erst über diesem befand sich das Fenster, und in gleicher Höhe mit ihm auch die Tür. Um jegliche Überraschung durch die Piraten zu vermeiden, hatten die Wächter in alten Zeiten den Turm mit einer Leiter bestiegen, die bei Einbruch der Nacht hereingezogen wurde. Jaime benutzte eine von Pèp angefertigte, roh gearbeitete Holztreppe. Der aus Sandstein erbaute Turm war unter dem Einfluß der Seewinde stark verwittert. Viele Quadersteine hatten sich aus ihren Fugen gelöst, und die Löcher machten den Eindruck verkappter Stufen.
Der Turm besaß nur ein einziges Gemach, einen kreisrunden Raum mit dem großen Fenster nach der offenen See. Die Mauer war so stark, daß Tür- und Fensteröffnungen wie kleine Tunnels erschienen. Pèp hatte die Wände sorgfältig mit dem blendendweißen Kalk von Ibiza verputzt, der sogar den elenden Hütten der ärmlichsten Weiler ein freundliches Ansehen gibt. Die Decke, in der sich eine Luke zur Plattform öffnete, war von dem Rauch der Fackeln geschwärzt, die früher hier gebrannt hatten.
Zusammengenagelte und durch eine Querleiste verstärkte Bretter dienten dazu, Tür und Fenster bei Nacht zu schließen. Man befand sich noch mitten im Sommer, und Febrer, voll Ungewißheit über sein weiteres Schicksal, oder vielmehr gleichgültig gegen seine Zukunft, verschob alle Arbeiten für eine endgültige Einrichtung auf später.
Trotz seines primitiven Zustandes liebte er seinen Zufluchtsort. Überall bemerkte er Spuren von Pèps gewandter Hand und Margalidas Fürsorge. Die Wand, die drei Stühle und der Tisch wurden von der Tochter seines früheren Pächters peinlich sauber gehalten. An eisernen Haken hingen sein Fischgerät, Flinte und Patronentasche. Muscheln mit Perlmutterglanz waren fächerartig angebracht. Zwei besonders große mit stachligen Schalen, deren Inneres rosafarbig leuchtete, schmückten den Tisch. Sie waren ein Geschenk von Ventolera. Beim Fenster lagen zusammengerollt Matratze, Kissen und Bettücher. Jeden Nachmittag kam Margalida oder ihre Mutter, um das einfache Lager zu bereiten, auf dem Jaime besser schlief als in dem Prunkbett seines Palastes.
Wenn der alte Ventolera ihn nicht bei Nacht und Nebel weckte, blieb Jaime länger liegen. Dann lauschte er dem sanften Rauschen der Wogen, dem ewigen Wiegenliede des Meeres. Die Sonne, die durch die Spalten hereindrang, zeichnete goldene Streifen auf die weiße Wand. Möwen flogen um den Turm, so nahe, daß er ihr leises Flügel schlagen hören konnte.
Abends ging er meistens früh zu Bett und hing häufig mit weit offenen Augen seinen Gedanken nach. Was machten wohl seine Freunde zu dieser Stunde? Wovon erzählte man sich in seinem Café? Wer würde heute abend im Kasino sein? ...
Aber am nächsten Morgen hatte er für diese Gedanken nur ein mitleidiges Lächeln. Der neue Tag brachte neue Schönheit. Er wunderte sich, daß ihm die Großstadt immer so verführerisch erschienen war ... Das einzige Leben, das Zufriedenheit auslöste, führte er hier auf Ibiza.
Jaime blickte umher. Sein jetziger Salon war ruhiger und intimer als alle Säle im Palaste seiner Ahnen. Alles gehörte ihm, und er brauchte nicht zu fürchten, mit Wucherern teilen zu müssen. Sogar Antiquitäten besaß er, die ihm niemand streitig machen konnte. Nahe der Tür standen zwei Vasen, durch die Netze der Fischer vom Meeresgrunde gehoben. Lange Zeit mußten sie dort unten gelegen haben, denn ihre Außenseite war ganz bedeckt mit Girlanden von versteinerten Muscheln. Mitten auf dem Tisch, zwischen den beiden Riesenmuscheln, hatte er ein anderes Geschenk vom alten Ventolera aufgestellt, den Kopf einer Frau, deren geflochtenes Haar eine Art Tiara krönte. Der graue, mit unzähligen harten Körnern gesprenkelte Ton der Büste zeugte von dem jahrhundertelangen Einfluß des salzigen Meerwassers. Aber Jaime erkannte durch diese Maske hindurch die Ruhe ihrer Gesichtszüge und die geheimnisvollen, mandelförmig geschnittenen Augen. Er sah sie, wie kein anderer sie sehen konnte. In langen Stunden stiller Betrachtung hatte er die reinen Linien dieses Antlitzes wiederhergestellt, wie sie vor Jahrtausenden gewesen waren.
»Schau sie an, es ist meine Braut«, sagte er eines Tages zu Margalida. »Ist sie nicht schön? Es muß eine Prinzessin von Tyrus oder auch von Askalon gewesen sein; darüber bin ich mir nicht klar. Aber sicher weiß ich, daß sie mich viertausend Jahre vor meiner Geburt geliebt und Jahrhunderte hindurch gesucht hat. Sie besaß Schiffe, Sklaven, Gewänder von Purpur und Paläste mit hängenden Gärten. Aber sie hat alles verlassen, um sich im Meere zu verbergen; hat Tausende von Jahren gewartet, daß sie eine Woge an diesen Strand trüge und der alte Ventolera sie mir ins Haus brächte ... Warum siehst du mich so an? Kleines Mädchen, von solchen Sachen verstehst du nichts!«
Margalidas Blicke verrieten in der Tat großes Erstaunen. Von ihrem Vater hatte sie Respekt und Ehrfurcht für den Herrn geerbt und war der Meinung, er könne nur von ernsthaften und vernünftigen Dingen sprechen. Aber was er ihr jetzt von seiner tausendjährigen Braut erzählte, stellte ihren Glauben auf eine harte Probe. Sie lächelte, betrachtete aber gleichzeitig mit abergläubischer Furcht die große Dame der Vergangenheit. Schließlich, wenn Don Jaime es sagte, mußte es doch wahr sein! Alles, was ihn betraf, war so ungewöhnlich! ...
Seit drei Monaten lebte Febrer auf der Insel. Seine Ankunft hatte Pèp Arabi in ungeheures Staunen versetzt. Der Herr von Can Mallorqui war noch immer damit beschäftigt, allen Verwandten und Freunden von seinen unglaublichen Abenteuern zu berichten. Wieder und wieder erzählte er von dem verwegenen Entschluß, mit den beiden Atlòts nach Mallorca zu segeln, von dem Aufenthalt in Palma und dem Besuche im Palast Febrer, diesem mit fabelhaften Schätzen angefüllten Märchenschloß.
Jaimes kurze Erklärungen überraschten ihn weniger.
»Pèp, ich bin ruiniert, du bist reich im Vergleich zu mir. Ich will den Turm bewohnen. Wie lange, weiß ich nicht, vielleicht für immer.«
Und dann sprach er von den Einzelheiten, wie er sein Leben führen wollte, während Pèp mit ungläubiger Miene lächelte. Ruiniert! ... Alle großen Herren sagten so; aber das, was sie nach ihrem sogenannten Ruin noch behielten, genügte, um vielen Armen für immer zu helfen. Ein Febrer und arm! Er schüttelte zweifelnd den Kopf.
Das Geld, das ihm Jaime für seine Verpflegung anbot, wies Pèp zurück. Hatte er nicht in Palma gesagt, daß er in diesem Jahre ein Stück Land bestellen wollte, das dem Herrn gehörte? Da mußte man ja ohnehin später abrechnen! Als er nun sah, daß Don Jaime darauf bestand, im Turm zu wohnen, gab sich Pèp die größte Mühe, das alte Gemäuer wohnlich zu gestalten.
Die Weltabgeschiedenheit, in der Febrer lebte, tat ihm wohl. Er schrieb keine Briefe und erhielt keine Zeitung. Wenn er lesen wollte, stand ihm nur das halbe Dutzend Bücher zur Verfügung, das er von Palma mitgebracht hatte. Das kleine Städtchen auf Ibiza mit seinen stillen, verschlafenen Straßen, erschien ihm wie eine ferne Großstadt.
Im ersten Monat dieses neuen Lebens wurde sein Frieden durch ein außerordentliches Ereignis gestört. Ein Brief war angekommen. Mit ungelenker Hand und eigenartiger Orthographie schrieb ihm Toni Clapès auf dem Geschäftsbogen eines Cafes. In Palma gab es nichts Neues. Pablo Valls wollte nicht selbst schreiben, weil er sich über Jaime geärgert hatte. Fortzugehen, ohne ihn zu benachrichtigen! Aber als guter Freund war er trotzdem die ganze Zeit eifrig bemüht, Ordnung in Jaimes Angelegenheiten zu bringen und wenn möglich, noch etwas zu retten. Im Verkehr mit Febrers zahllosen Gläubigern bewies er eine diabolische Geschicklichkeit. Nicht umsonst war er Chueta ... Toni wünschte noch viel Glück und versprach, demnächst wieder zu schreiben.
Seitdem waren zwei Monate verstrichen, ohne weitere Nachrichten zu bringen. Was kümmerten Jaime übrigens auch Neuigkeiten aus einer Welt, die für ihn begraben war? Er wußte nicht, was die Zukunft ihm bringen würde. Warum aber auch sich damit beschäftigen?
Hier war er und hier blieb er. Jagd und Fischfang genügten als Zerstreuung.
Trotzdem Jaime sich von den Eingeborenen fern hielt, die in ihm den Herrn, den Fremden sahen und ihn achtungsvoll, aber kühl behandelten, beobachtete er voller Interesse ihre einfachen, aber etwas wilden Sitten.
Jahrhundertelang mußten die Bewohner dieser Insel Angriffe von Piraten und Korsaren abwehren. Noch heute machten die Dorfkirchen den Eindruck von Befestigungen. Die ständigen Gefahren und unaufhörlichen Kämpfe hatten eine Bevölkerung geschaffen, die, an Blutvergießen gewöhnt, ihr Recht mit den Waffen in der Hand verteidigte.
Sobald ein Atlòt dem Knabenalter entwachsen war, erklärte ihm sein Vater feierlich in Anwesenheit der ganzen Familie:
»Von heute ab bist du ein Mann!«
Bei diesen Worten überreichte er ihm ein Dolchmesser, als Zeichen, daß er in Zukunft auf sich selbst angewiesen war und das Recht hatte, den Dolch auch zu gebrauchen. Der junge Bursche schloß sich nun den andern Atlòts an und nahm teil an ihrem fröhlichen Treiben. Sie brachten den Mädchen Serenaden, trafen sich mit ihnen zum Tanze und machten Ausflüge nach den benachbarten Kirchspielen, wenn das Fest des Schutzheiligen gefeiert wurde. Im Mittelpunkte aller Veranstaltungen aber standen die Festeigs, diese traditionelle Art der Bewerbung, die häufig den Grund zu blutigen Händeln bildete.
Die Männer töteten sich niemals wegen materieller Interessen. Sie waren von Natur aus genügsam, und der fruchtbare Boden sorgte reichlich für ihre Bedürfnisse. Nur Liebe und Eifersucht brachten sie dazu, haßentbrannt das Messer zu ziehen oder nach der Pistole zu greifen.
Die Festeigs dauerten Wochen und Monate. Die Atlòts kamen abends im Hause des jungen Mädchens zusammen, im Sommer auf der Veranda, im Winter in der Küche. Festlich geschmückt, saß die Atlòta unbeweglich in einer Ecke, solange die Bewerber unter sich die Reihenfolge ausmachten, in der sie nacheinander für kurze Minuten neben ihr Platz nehmen durften.
Wenn einer von ihnen im Eifer der Unterhaltung die vorgeschriebene Zeit überschritt, mahnten ihn seine Rivalen durch wütende Blicke, Husten, ja sogar durch Drohungen. Genügte das nicht, dann ergriff ihn der Stärkste beim Arm und zog ihn fort, damit ein anderer seinen Platz einnehmen konnte.
So folgten sich die Festeigs, bis das junge Mädchen, vollkommen unabhängig von dem Willen ihrer Eltern, ihre Wahl getroffen hatte.
In diesem kurzen Frühling ihres Lebens war die Frau auf Ibiza wirklich eine Königin. Mit der Heirat verzichtete sie für immer auf irgendwelche Herrschaft und Rechte, bebaute wie ihr Mann das Feld und wurde nicht höher eingeschätzt als ein nützliches Haustier.
Die abgewiesenen Freier zogen sich zurück, um einer anderen Atlòta den Hof zu machen. Waren sie aber ernstlich verliebt, so umspähten sie das Haus und lauerten dem Begünstigten auf, und es war ein Wunder, wenn er trotz Messer und Pistolen seiner Rivalen den Hochzeitstag erlebte.
Man liebte es überhaupt auf Ibiza, seinen Gefühlen durch die Pistole Ausdruck zu verleihen. Bei dem sonntäglichen Tanz schoß der Atlòt, um seinen Enthusiasmus kundzutun. Verließ er das Haus des jungen Mädchens, dem er den Hof machte, so gab er als Zeichen seiner Wertschätzung in der Tür einen Schuß ab und rief dann: »Bòna nit.« Wenn er sich jedoch gekränkt fühlte und der Familie eine Beleidigung antun wollte, so sagte er zuerst »gute Nacht« und schoß dann seine Pistole ab. Aber in diesem Falle mußte er unverzüglich die Flucht ergreifen, denn die Mitglieder der Familie antworteten auf seine Herausforderung ohne Zögern mit Kugeln.
Jaime genoß das Vergnügen, von einem bequemen Platze aus ein interessantes Schauspiel anzusehen. Trotzdem er diese Bauern und Fischer, auf die sich der kriegerische Geist ihrer Vorfahren vererbt hatte, nur aus der Entfernung beobachtete, machte sich der Einfluß ihrer Gewohnheiten allmählich bei ihm geltend.
Er besaß keine Feinde. Und dennoch trug er jetzt bei seinen Streifzügen auf der Insel einen Revolver in seinem Gürtel. Wer weiß, wozu es gut war! ...
Zuerst hatte er sich ebenso gekleidet wie in Palma. Aber ganz unmerklich gewöhnte er sich daran, keine Krawatte mehr anzulegen. Dann blieb der Kragen fort und endlich auch die Schuhe. Für die Jagd und im Boot waren Bluse, Samthose und Sandalen der Bauern bequemer. Auch trug er den allgemein auf der Insel gebräuchlichen weichen Filzhut.
Pèps Tochter sah mit Wohlgefallen diesen Hut. Die Bewohner der einzelnen Gemeinden von Ibiza unterschieden sich durch die Form der Krempe, unauffällige Abweichungen, die nur der Eingeborene erkannte. Don Jaimes Krempe gehörte in das Kirchspiel San José, und Margalida war ihm dankbar für die Ehre, die er damit ihrer Heimat erwies.
Harmlose kleine Margalida! Febrer machte es Freude, mit ihr zu plaudern und das Staunen in ihren großen Augen zu sehen, wenn er ihr von fernen Ländern erzählte oder auch mit ernster Miene Scherze sagte.
Bald mußte sie mit dem Essen kommen. Seit einer halben Stunde stieg eine dünne Rauchsäule aus dem Schornstein von Can Mallorqui. Jaime malte sich aus, wie Pèps Tochter am Herd stand oder eifrig in der Küche hin und her ging, von dem Blick der Mutter gefolgt, einer schweigsamen Bäuerin, die sich nicht erkühnte, bei der Zubereitung der für den Herrn bestimmten Gerichte zu helfen.
Jeden Augenblick konnte Margalida auf der Veranda erscheinen, das Körbchen am Arm und auf dem Kopf, als Schutz gegen die glühende Sonne, ihren großen Strohhut mit langen Bändern.
Endlich tauchte jemand zwischen den Bäumen auf und schlug den Weg zum Turm ein. Es war Margalida! Nein, sie war es nicht! Sollte es Pepet sein? Pepet, der sich seit einem Monat in der Stadt für das Seminar vorbereitete und daher schon jetzt das Kaplanchen genannt wurde?