Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Bekümmert, als ginge er zu einem Begräbnis, machte sich Batiste an einem Donnerstag mit dem Rest seiner Ersparnisse auf den Weg nach Valencia, wo in dem ausgetrockneten Flussbett des Guadalaviar der Pferdemarkt abgehalten wurde.
Unglück über Unglück brach über die Barraca herein. Cristo, in was für ein Wespennest hatte er sich gesetzt!
Der kleine Pascualet lag in hohem Fieber. Zweimal täglich kam der Arzt, und Batiste dachte mit Grauen an die zwölf bis fünfzehn Duros, die ihn diese Besuche kosten würden.
Seinen Ältesten, Batistet, hatten die anderen Dungholer, alle gegen ihn verbündet, vor einigen Tagen übel zugerichtet. Noch war sein ganzer Kopf verbunden, und er wagte nicht, den Umkreis der Felder zu verlassen, da die Bande ihm überall auflauerte. Den beiden Jüngeren aber verbot Batiste den Schulbesuch, um sie vor weiteren Quälereien zu schützen.
Und Roseta? Mit traurigem Gesichtchen schlich sie im Hause umher. Nach dem Vorfall an der Quelle der Königin sprach die Huerta tagelang nur von Nelet und seiner Braut. Santo Díos, was für eine Braut! … Man musste die Kunden im Laden des Schlächters von Alboraya hören, wenn sie ihm tiefempört ihr Befremden äusserten, wie er, ein ehrbarer, gottesfürchtiger Mann – nur stimmte es bisweilen nicht mit dem Gewicht – einem Angestellten erlauben konnte, sich mit der Tochter des Todfeindes der Huerta, eines früheren Zuchthäuslers, einzulassen. Welch eine Schande für sein Geschäft!
Und solange setzte ihm die liebe Nachbarschaft zu, bis der wütende Schlächter Nelet kurzerhand hinauswarf, worauf der Grossvater ihn unverzüglich bei einem Meister in Valencia unterbrachte, mit der ausdrücklichen Bedingung, den jungen Burschen auch Sonntags nicht ausgehen zu lassen.
Tränen im Auge, marschierte Nelet zur Stadt, ohne seine Braut noch einmal gesehen zu haben. Und die arme Roseta verkroch sich in ihr Schlafzimmer, wo sie ungestraft vor sich hinschluchzen konnte, denn die Eltern durften von ihrer Herzensnot nichts merken. Die Mutter war durch so viele Widerwärtigkeiten mürrisch geworden, und der Vater hatte gedroht, sie windelweich zu prügeln, brächte sie ihn noch einmal ins Gerede der Leute.
Im Geheimen aber schmerzte ihn der Kummer seiner Tochter, die sich zwar Mühe gab, eine gleichgültige Miene zu zeigen, auch jeden Tag pünktlich zur Fabrik ging, doch blass, mit dunklen Rändern um die Augen, das Essen zu Hause kaum anrührte. Ihr leerer Blick verriet, dass ihre Gedanken anderswo weilten.
War mehr Unglück möglich? … Es kam noch ein Schlag. Nicht einmal die Tiere schienen gegen diese von Hass vergiftete Atmosphäre gefeit zu sein. Morrut, der, solange es knappes Futter gab, den Pflug unermüdlich durch den steinharten Boden gezogen, unzählige Fuhren alter Bretter, Gerümpel und Mist aus der Stadt geholt hatte, blieb jetzt, als dank der duftenden Weide hinter dem Hause seine vorstehenden Knochen verschwanden, eines Tages auf seiner Streu liegen und ging ohne erkennbare Ursache ein.
Das ganze Haus litt unter dem Tode des Tieres, das alle Mühseligkeiten der Familie redlich geteilt hatte. Und als der Abdecker kam, um diesen Veteranen der Arbeit nach dem Brühkessel zu fahren, riefen die Kinder ihrem Freund, der mit starren Beinen und herabbaumelndem Kopf auf dem Wagen lag, weinend ihr Adiós nach. Wie geduldig hatte er sich für ihre Spiele hergegeben! Wie vorsichtig trug er den Kleinsten, der sich an seine Mähne klammerte und mit den runden Beinchen gegen seine Flanken strampelte sachte, Schritt für Schritt, damit er nicht herunterfiele.
Am meisten bekümmerte Teresa der Tod des alten Morrut. Und vergebens wehrte sie sich gegen eine düstere Ahnung, die sich beklemmend auf ihre Brust legte. Madre de Díos, wenn nur der Tod nicht noch jemanden im Hause holen würde! …
Unter diesen traurigen Gedanken erreichte Batiste die Vorstadt und schritt über die Serranosbrücke. Auf dem Platz zwischen den beiden Parkanlagen, gegenüber den achteckigen, zinnengekrönten Türmen, machte er halt und strich mit der Hand über sein Gesicht. Und da Sauberkeit der Luxus der Armen ist, setzte er sich auf eine Steinbank, um zu warten, dass man ihn von den zwei Wochen alten Stoppeln befreite, spitzig und spröde wie Dornen. Denn im Schatten der hohen Platanen war der Friseursalon für die Landleute eingerichtet: zwei mit Seegras gepolsterte Lehnstühle; ein tragbares Öfchen, auf dem der Kessel mit heissem Wasser dampfte; Servietten von fragwürdiger Weisse sowie ein paar schartige Messer, die unbarmherzig die harte Haut der Kunden abkratzten.
Junge Anfänger, noch nicht würdig befunden, in der Stadt ihre Kunst auszuüben, legten hier ihre ersten Waffenproben ab. Mit einem Stück steinharter Kernseife rieben sie das Gesicht des Kunden so lange und so kräftig, bis sich ein dünner Schaum einstellte. Dann kam das Messer, und mit stoischer Ergebung ertrugen die Opfer den einen oder anderen Kratzer. Manchmal klirrten auch ein paar riesige Scheren über den runden Schädeln anmassender Bauernburschen, für die der Gipfel der Eleganz in einem langen, in die Stirn fallenden Haarbüschel und sonst nackt geschorenen Kopf bestand.
Der Meister selbst beteiligte sich nicht an der Arbeit, sondern diskutierte, kraft der Erfahrung eines im öffentlichen Leben stehenden Mannes, mit seinen Kunden über Politik.
Batiste hatte Glück. Mit einem nicht übergrossen Schnitt am linken Ohr kam er davon, bezahlte seinen halben Real und stieg die Böschung hinunter zum Fluss.
Es schlug elf Uhr; der Markt summte in voller Bewegung. Nur wenige, schmal? Wassergerinnsel schlängelten sich durch den staubigen, heissen Boden, der, weissleuchtend in der glühenden Sonne, eher einer afrikanischen Wüste glich als einem Flussbett.
Die von einer hellen Plane überdachten Karren der Bauern waren in der Mitte zu einer Wagenburg aufgefahren, während längs der Uferdämme die langen Reihen der zum Verkauf angebotenen Tiere standen: schwarze, auskeilende Maultiere mit roten Schabracken und glänzenden, nervös bebenden Flanken; schwere Lastpferde mit dem resignierten Blick zu ewiger Mühsal verdammter Sklaven; kleine, lebhafte Ponys, die unruhig hin- und hertrappelten und am Halfter zerrten.
An dem gegenüberliegenden Damm harrten die Schindluder, – ohrenlose, von Geschwüren bedeckte Esel; dürre Klepper, deren Knochen das Fell zu durchbohren schienen; blinde Maultiere mit Storchhälsen – den Magen vor Hunger zusammengezogen, grünes, fettes Fliegengeschmeiss an ihren Schrunden, auf einen Stierkampfunternehmer oder den Abdecker.
Neben den seichten Rinnsalen, an deren Rändern ein dürftiges Grün sprosste, trabten mit wehender Mähne kleine Trupps ungebrochener Fohlen, und durch die Rundbogen der Brücke sah man die Herden der Stiere, die gemächlich ihr Heu kauten oder schwerfällig, voll Sehnsucht nach ihren saftigen Wiesen, über diesen heissen Boden trotteten, sich aber jedes Mal in Kampfpositur setzten, wenn die auf dem Damm sitzenden Gassenjungen sie durch schrille Pfiffe reizten.
Das Marktgetriebe wurde immer lebhafter. Um jedes Pferd, das einen Liebhaber fand, bildeten sich Gruppen von Landleuten, die, in Hemdsärmeln, den Eschenholzstock in der Rechten, mit erregten Gesten das Tier beurteilten, während die mageren, bronzefarbenen Zigeuner im Schafpelz sich dicht an den Käufer drängten, als wollten sie ihn mit ihren schwarzen, fiebrig glänzenden Augen hypnotisieren.
»Sehen Sie sich die Stute doch mal richtig an. Dieser wunderbare Bau … Wie eine Señorita, was?«
Doch der für den Honigseim des Zigeuners unempfängliche Bauer schaute nachdenklich zu Boden und kratzte sich den Kopf.
»Schön, schön … aber mehr gebe ich doch nicht!« sagte er schliesslich mit der Energie des Dickkopfs.
Wurde ein Kauf perfekt, so musste er feierlich im Schatten eines Zeltdaches begossen werden, unter dem eine dicke Frau von Fliegen bedecktes Gebäck verkaufte oder aus dem halben Dutzend Flaschen auf ihrem Zinktischchen Liköre in klebrigen Gläsern servierte.
Batiste hatte bereits etliche Male die Reihen abgelaufen, ohne das Richtige gefunden zu haben. Endlich blieb er bei einem Schimmel stehen, der einige Schrammen an den Beinen aufwies und einen etwas müden Eindruck machte. Das Tier war zwar ein wenig mager, auch nicht glatt im Haar; dennoch schien es kräftig genug zu sein, um schwere Arbeit leisten zu können.
Kaum fuhr Batiste ihm mit der Hand über die Kruppe, so tauchte auch schon dienstbeflissen und unterwürfig ein Zigeuner neben ihm auf, der tat, als kennte er ihn schon sein ganzes Leben.
»Man merkt sofort, dass Sie was von Pferden verstehen … Ein Prachttier! Und so billig, dass wir uns über den Preis schnell einig werden … Monote! Lass ihn traben, damit der Herr sieht, wie er seine Beine wirft.«
Und Monote, ein kleiner schmutziger Zigeunerjunge, dem das Hemd hinten aus der Hose hing, nahm die Halfter und lief los mit dem Schimmel, den dieses oft wiederholte Manöver zu langweilen schien.
Schon bildete sich um Batiste und den Zigeuner ein Kreis von Neugierigen, die für und wider redeten. Als Monote das Pferd zurückbrachte, machte sich der Bauer daran, es eingehend zu untersuchen, öffnete ihm das Maul, um die gelben Zähne anzusehen, befühlte den ganzen Körper, prüfte die Hufe und besonders genau die Beine. Derweile übergoss ihn der Zigeuner mit lautem Wortschwall.
»Nur überall nachgesehen! Dafür ist er da! Aber ich sage Ihnen, der Gaul ist sauberer als ein Kirchenkelch. Hier wird niemand betrogen – alles echt! Ich mache keine Sachen wie diese elenden Rosskämme, die ihren Tieren Drogen eingeben. Den Schimmel kaufte ich erst in der vergangenen Woche und habe mir nicht mal die Mühe genommen, diese Kleinigkeiten an den Beinen in Ordnung zu bringen. Warum auch? Sie sehen ja, wie fein er trabt! Und im Geschirr? Ein Elefant zieht nicht soviel wie dieses Pferd!«
Batiste, mit seiner Untersuchung zufrieden, gab sich alle Mühe, enttäuscht auszusehen. Er hatte für den Zigeuner nur ein mürrisches Brummen oder wegwerfendes Achselzucken, doch seine früheren Erfahrungen als Fuhrunternehmer liessen ihn innerlich lachen über das Urteil einiger Gaffer, die dem Zigeuner rundweg erklärten, der Schimmel tauge nur noch für den Brühkessel.
Der entscheidende Moment kam.
»Wieviel?«
»Für Sie,« sagte der Zigeuner, ihm zärtlich die Schulter streichelnd, »für Sie, weil Sie mir sympathisch sind und ein Mann, der diesen Schatz richtig zu würdigen weiss, nur vierzig Duros.«
Batiste, auf alles gefasst, empfing den Schuss mit kaltem Blut.
Ein verschmitztes Lächeln in den Augen, entgegnete er:
»Gut! Und weil du es bist, will ich nur wenig herunterhandeln. Nimmst du fünfundzwanzig?«
Erschüttert breitete der Zigeuner beide Arme zum Himmel, wich dann einige Schritte zurück und warf seine Mütze auf den Boden.
»Heilige Mutter Gottes!« klang seine empörte Stimme. »Fünfundzwanzig Duros! Haben Sie sich das Pferd denn überhaupt angesehen? Nicht gestohlen könnte ich es für den Preis weggeben!«
Doch allen Einwänden und Beteuerungen setzte Batiste stets dieselben Worte entgegen:
»Fünfundzwanzig … nicht einen Ochavo mehr!«
Als der Zigeuner sein ganzes Register – und es war nicht klein – erschöpft hatte, nahm er seine Zuflucht zu dem letzten, dem höchsten Argument.
»Monote, lass den Schimmel traben … Ha! Señor, was für Gänge! Wie eine Marquise auf dem Spaziergang! Und Sie bieten mir fünfundzwanzig Duros?«
»Und nicht einen Ochavo mehr!«
»Monote, komm zurück. Ich habe genug.«
Mit gutgespielter Entrüstung drehte der Zigeuner Batiste den Rücken, als läge ihm nichts mehr an weiteren Verhandlungen. Aber als er sah, dass der Bauer sich wirklich zum Gehen wandte, verschwand im Nu seine Gleichgültigkeit.
»Sachte, Señor … Mit wem habe ich doch die Ehre? … Ah! Also sehen Sie, Señor Bautista, damit Sie sich überzeugen, wie hoch ich Sie schätze und wie sehr ich wünsche, dass dieses Juwel in Ihre Hände kommt, will ich tun, was ich sonst für niemanden in der Welt tun würde. Einverstanden mit fünfunddreissig Duros? … Ich schwöre bei allen Heiligen, dass ich dies Opfer nicht einmal für meinen Vater brächte.«
Noch lebhafter, noch dringender wurden seine Worte, als der Bauer, anstatt über diese Preisherabsetzung gerührt zu sein, nach langem Hin und Her zwei Duros mehr bot.
»Haben Sie so wenig Verständnis für diese Perle? Wo sind nur Ihre Augen? Los, Monote, lass ihn traben!«
Doch Monote konnte dieses Mal seine Lungen schonen, denn Batiste entfernte sich mit der Miene eines Mannes, der darauf verzichtet das Geschäft abzuschliessen. Langsam schlenderte er über den Markt, wobei er aber den Zigeuner nicht aus den Augen liess. Bei einem stattlichen Gaul mit glänzendem Haar hielt er an, trotzdem er wusste, dass ein Kauf für ihn ausgeschlossen war. Als seine Hand über die mächtige Kruppe strich, fühlte er einen leisen Hauch in seinem Ohr.
»Dreiunddreissig … Bei der Seligkeit Ihrer Kinder, sagen Sie nicht nein. Sie sehen, dass ich Ihnen bis zum Äussersten entgegenkomme!«
»Achtundzwanzig,« antwortete Batiste, ohne den Kopf zu drehen.
Nachdem er das schöne Tier genügend bewundert hatte, beobachtete er zum Zeitvertreib, mit welcher Gewandtheit eine alte Bäuerin um einen kleinen Esel feilschte. Dann näherte er sich langsam, wie zufällig, wieder dem Zigeuner, dabei die Augen angelegentlich nach der Brücke gerichtet, auf der wie bewegliche, buntfarbige Kuppeln die Sonnenschirme der Damen vorbeiglitten.
Es war schon Mittag. Der Sand glühte; nicht der leiseste Windhauch bewegte die Luft zwischen den beiden Uferdämmen. Senkrecht fielen die Sonnenstrahlen, trafen die Haut wie Pfeile und verbrannten die Lippen.
Der Zigeuner kam ihm entgegen.
»Dreissig! Aber Gott ist mein Zeuge, dass ich keinen Centavo dabei verdiene,« sagte er, Batiste das Ende der Halfter bietend. »Dreissig! … Kein Wort mehr, oder ich ersticke vor Ärger. Schlagen Sie ein!«
Der Bauer ergriff den Strick. Ein Händedruck schloss den Handel ab.
Vorsichtig holte er aus dem Gürtel das Säckchen mit den Ersparnissen: eine Banknote, einige Duros und, in Papier eingewickelt, eine Faustvoll kleiner Silbermünzen. Als die Rechnung stimmte, gingen beide zufrieden zum Zelt, um ein Gläschen zu trinken.
Unterstützt von dem diensteifrigen Monote, der für das Traben ein paar Centavos erhielt, bestieg Batiste den Schimmel und schlug den Heimweg ein.
Er war zufrieden mit seinem Kauf, und so oft sich unterwegs Leute aus der Huerta nach ihm umdrehten, regte sich in ihm der Stolz des Besitzers. Aber den Höhepunkt erreichte seine Befriedigung, als im »Vollen Gläschen«, wo er beim Vorüberreiten den Schimmel einen schlanken Trab gehen liess, Pimentó und seine Kumpane an die Tür eilten, um ihm mit erstaunten Augen nachzusehen. Diese Banditen! Allmählich würden sie ja wohl begreifen, dass er nicht klein beigab. Ach, wenn er nur mit all dem Elend zu Hause auch so leicht fertig werden könnte, wie mit dem Ersatz für den armen Morrut …
Sein Weizen wogte am Wege mit unruhigen Wellen wie ein grüner See; aus der Ferne wehte der Duft der blühenden Luzerne herüber. Wirklich, über seine Felder konnte er sich nicht beklagen. In der Barraca war es, wo das Unglück seiner wartete.
Als Batistet den Hufschlag hörte, stürmte er aus der Hütte. Ausser sich vor Entzücken über das neue Pferd, liess er seinem Vater kaum Zeit, abzusteigen. Gleich setzte er nach Maurenart die Fussspitze auf das Sprunggelenk des Schimmels und sass oben.
Inzwischen betrat Batiste die Küche, die mit ihren blanken Kacheln wie immer einen blitzsauberen Eindruck machte, aber von einer Atmosphäre der Traurigkeit erfüllt zu sein schien. In der Tür zum Krankenzimmer kam ihm seine Frau entgegen, deren rotgeschwollene Augen von den langen, an Pilíns Bett durchwachten Nächten erzählten.
Der Arzt hatte ihn während Batistes Abwesenheit wieder untersucht, ohne jedoch neue Verordnungen zu geben. Seine ernste Miene verriet wenig Gutes.
Es war jeden Tag das gleiche: unverändert hohes Fieber schüttelte den kleinen, abgezehrten Körper.
Als gewissenhafte Hausfrau erkundigte sich Teresa sofort nach dem Kauf, und sogar Roseta vergass für einen Augenblick ihren Kummer. Alle, Gross und Klein, gingen zum Stall, wo Teresa eingehend prüfte, ob das Pferd auch dreissig Duros wert sei, während die beiden kleinen Brüder den Bauch des Schimmels streichelten und Batistet quälten, sie auf die Kruppe zu heben.
Ganz entschieden gefiel er allen, dieser neue Ankömmling, der erstaunt an der fremden Krippe schnupperte, als wittere er dort eine vage Spur, einen schwachen Geruch von seinem toten Kameraden.
Nach Tisch spannte Batiste, der noch ein Stück Gemüseland bestellen wollte, das Pferd in den Pflug und zeigte seinem Ältesten voll Stolz, wie willig der Gaul ging und wie kräftig er sich ins Geschirr legte.
Es begann langsam zu dunkeln, und schon dachten sie daran, mit der Arbeit aufzuhören, als aus der Barraca verzweifelte Schreie ertönten.
Der Bauer liess Pferd und Pflug stehen. Er ahnte, was sich dort zutrug.
Der arme Pilín lag im Sterben. Mühsam hob sich die kleine Brust in schrecklichem Todesröcheln. Seine Lippen hatten eine violette Färbung angenommen, unter den halbgeschlossenen Lidern starrten die trüben, glasigen Augen hervor – erloschene Augen, die schon nichts mehr sahen – und auf dem braunen Gesichtchen lagen geheimnisvolle Schatten, als hätten es die Flügel des Todes verdunkelt. Nur die wirren, blonden Härchen leuchteten hell und goldig im Schein der Küchenlampe.
Während Roseta die Mutter festhielt, die, halb von Sinnen vor Schmerz, mit dem Kopf gegen die Wand stiess, verwandte Batiste keinen Blick von dem Körperchen seines Kindes, das so viel Qual erleiden musste, ehe es den letzten Seufzer aushauchen konnte. Und die Ruhe dieses Riesen, über dessen trockenen Augen die Lider krampfhaft zuckten, war ergreifender als das haltlose Stöhnen der Mutter.
Plötzlich bemerkte Batiste seinen ältesten Sohn im Zimmer. Zornrot, weil der Junge das Pferd allein gelassen hatte, befahl er ihm, schleunigst aufs Feld zurückzulaufen.
Einige Minuten später gellte draussen ein angstvoller Ruf:
»Vater! … Vater! Zu Hilfe!«
Batiste rannte seinem Sohn entgegen, der keuchend hervorbrachte:
»Das Pferd … der arme Schimmel … verblutet …«
Noch hundert Meter, und der Bauer sah, wie das auf der Seite liegende Pferd vergeblich Anstrengungen machte, hochzukommen. Es reckte den Hals und wieherte vor Schmerz, während aus einer tiefen Wunde neben dem Vorderbein eine dunkle Flüssigkeit herausströmte und die frische Ackerfurche tränkte.
Ein Stich …
Hölle und Tod! Leichenblass blickte der Bauer umher. Niemand! Bläulicher Dunst hing über der stillen Flur. Nur das Rauschen vom Röhricht und bisweilen ein Ruf von Hütte zu Hütte war vernehmbar. Auf den Pfaden ringsum keine Menschenseele …
»Vater,« sagte Batistet, »als ich vorhin zum Hause lief, sah ich auf dem Wege zur Taverne einige Männer in unserer Richtung kommen. Die müssen es gewesen sein.«
Mehr brauchte Batiste nicht zu wissen. Kam ein anderer in Frage ausser Pimentó? Nicht genug, dass der Hass der Huerta sein Kind gemordet hatte, jetzt tötete dieser Schurke auch noch sein Pferd, weil er wusste, wie unentbehrlich es für ihn war.
Batiste rannte zum Haus, kam wieder heraus mit der Flinte in der Hand und stürmte querfeldein.
Grauenerregend, der Anblick dieses Mannes, in dem die Bestie geweckt war! In seinen blutunterlaufenen Augen flimmerte Mordlust; sein ganzer Körper zitterte vor Wut. Wie ein wütender Eber stampfte er blindlings über die Felder, sprang über Gräben, brach durch das Röhricht – schnell, nur schnell zu Pimentós Barraca!
Dort stand jemand in der Tür. Mann oder Frau? … Er konnte es bei dem halben Licht der Dämmerung nicht erkennen. Aber er sah, dass die Gestalt hastig im Hause verschwand.
Batiste stand vor der verriegelten Tür.
»Pimentó! … Schuft! Komm heraus!«
Fremd klang diese zischende, vor Zorn halb erstickte Stimme an sein Ohr.
Drinnen regte sich nichts. Die Tür blieb geschlossen; geschlossen blieben auch die Fensterläden und die Luken des Kornspeichers im oberen Stockwerk.
Ob der Bandit ihn durch einen Spalt beobachtete, vielleicht mit seiner Flinte im Anschlag lag, um heimtückisch auf ihn zu feuern? War diesem Schurken nicht alles zuzutrauen? … Und instinktiv suchte Batiste Deckung hinter einem riesigen Feigenbaum, der das Haus überschattete.
»Heraus mit dir, du feiger Hund!«
Umsonst! Die Barraca blieb stumm, als wäre sie verlassen.
Einmal glaubte Batiste unterdrückte Stimmen zu hören, ein Geräusch, als würden zwei Personen miteinander handgemein … vielleicht Pepeta, die ihren Mann zurückhielt. Dann herrschte wieder Totenstille.
Diese Stille reizte ihn noch mehr. Er hatte das Empfinden, als machte das stumme Haus sich über ihn lustig. Seinen geschützten Platz hinter dem Stamm verlassend, stürzte er zur Tür und begann mit Kolbenschlägen gegen die Bohlen zu hämmern, dass das ganze Haus erdröhnte. Aufs Geratewohl fielen die Schläge, trafen bald das Holz, bald die Mauer, von der grosse Stücke Mörtel herabpolterten.
Er raste. Mit schäumendem Munde brüllte er seine Schmähungen, taumelte wie ein Betrunkener und wäre, vom Schlag gerührt, zu Boden gestürzt, wenn sich die rote Wolke vor seinen Augen nicht jählings gelichtet hätte. Die ungeheure Nervenspannung liess nach. Sein Toben machte einer tiefen Schwäche Platz. Mitten in einem wüsten Schimpfwort brach seine Stimme ab, wurde zu einem Seufzer.
Schritt für Schritt wich Batiste zurück bis zum Wege, wo er sich schwerfällig auf die Böschung setzte. Und plötzlich brach er in krampfhaftes Schluchzen aus … Die Tränen taten ihm wohl, erleichterten seine Brust, und geliebkost von den Schatten der Nacht, die ihn teilnahmsvoll in immer tieferes Dunkel hüllten, weinte er, weinte wie ein Kind leise vor sich hin …
Allmächtiger Vater! Was hatte er getan, dass er soviel erdulden musste? Warum wurde ein Mensch, der nur an seine Pflicht dachte, so grausam gequält? Mochten seine Feinde kommen – er besass keine Kraft mehr, sich zu wehren … Wäre es nicht überhaupt besser, seinem kleinen Pilín zu folgen?
Er hörte feine Glöckchen, die die Dunkelheit mit mysteriösem Klang belebten. Flogen die Engel durch die Huerta, um sein totes Kind aufwärts zu tragen zum Himmel? … Ach, wenn die anderen nicht gewesen wären, die seine Arme zu ihrem Lebensunterhalt brauchten! Welche Wohltat, diesen schweren Körper, den jetzt jede Bewegung schmerzte, zu verlassen …
Ganz nahe tönten die Glöckchen; unförmliche Massen schoben sich auf dem Wege vorbei. Etwas berührte ihn, und als er den Kopf hob, unterschied er eine hagere Gestalt, die sich zu ihm neigte – der mit seiner Herde heimkehrende Tomba. Der Stab des alten Schäfers fühlte die am Boden liegende Flinte. Mit der wunderbaren Hellsichtigkeit der Blinden erriet er alles, und langsam begann er zu sprechen, resigniert und abgeklärt wie ein Mensch, der alles Elend einer Welt kennt, die er bald verlassen wird.
»Fill meu! … Ich sagte es dir am ersten Tage, dass ein Fluch an diesem Boden hängt. Als ich an deiner Barraca vorbeikam, hörte ich lautes Jammern … dein Kind wird tot sein. Und du, mein Sohn, der du wähnst, dass du hier ruhig am Wege sitzst, weisst nicht, dass du in Wirklichkeit schon mit einem Fuss im Zuchthaus stehst. So, so werden die Männer zu Verbrechern, so werden glückliche Familienleben zerstört. Geh fort von hier, damit du nicht auch töten und bei der Zwangsarbeit enden wirst wie der arme Barret! Geh fort von hier, irgendwohin, wo du in Ruhe dein Brot verdienen kannst.«
Zögernd schritt er weiter.
Die Nacht verschluckte ihn, doch noch einmal erklang seine Stimme, ernst, prophetisch:
»Glaube mir, fill meu, ein Fluch ruht auf diesem Boden. Rette dich vor dem Unheil.«