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Eine Kaiserin war seine erste Liebe. Er zählte zehn, die Kaiserin sechshundert Jahre.
Sein Vater Don Esteban Ferragut, würdiger Notar in Valencia, schwärmte leidenschaftlich für die Dinge der Vergangenheit, und wiewohl er unweit der Kathedrale wohnte, mischte er sich an Sonn- und Festtagen keineswegs unter die Gläubigen, die zu dem prunkvollen, vom Kardinal-Erzbischof zelebrierten Hochamt strömten, sondern ging mit Frau und Sohn zu der kleinen Johanniterkirche, wohin sich an Werktagen selten jemand verirrte.
Beim Anblick der alten, zinnengekrönten Mauern überkam Don Esteban, der in seiner Jugend mit Vorliebe Walter Scott gelesen hatte, eine zärtliche Rührung, wie sie jene empfinden, die in heimatliche Gefilde zurückkehren. Das Mittelalter war die Zeit, in der er hätte leben mögen. Und sobald der kleine, rundliche und kurzsichtige Notar seinen Fuß auf die Jahrhunderte alten Fliesen setzte, fühlte er in seinem Innern die Seele eines zu spät geborenen Helden erwachen. Die anderen Kirchen mit ihrem Goldgefunkel, ihren Alabasterbogen und Jaspissäulen dünkten ihn Denkmäler vulgärer Geschmacklosigkeit. Diese aber hatten die Johanniter erbaut, die gemeinsam mit den Tempelrittern den König Don Jaime bei der Eroberung von Valencia unterstützten.
Beim Durchschreiten des gedeckten Ganges, der von der Straße zu dem inneren Patio führt, grüßte die Familie devot die von den Brüdern des kriegerischen Ordens hierhergebrachte »Virgen de la Reconquista Jungfrau der Wiedereroberung.«, eine bunte, plump aus Stein gearbeitete Statue mit verblaßten Goldtönen, die auf einem romanischen Stuhl saß. Das grüne Blattwerk etlicher griesgrämiger Orangenbäume verdeckte teilweise die Mauern, die geschwärzten Holzschnitzereien und die großen, zugemauerten Fenster der Kirche, auf deren vorspringenden Stützpfeilern verwitterte Drachenungeheuer thronten.
Sehr wenig entsprach diesem romantischen Äußern das einzige Schiff. Der Barockgeschmack des 17. Jahrhunderts hatte das gotische Gewölbe unter Rundbogen verborgen und die Wände mit Gips überzogen. Glücklicherweise waren jedoch die mittelalterlichen Altarblätter, die Wappen und Grabmäler der Johanniter mit ihren gotischen Inschriften dieser mitleidslosen Restauration entgangen, und das genügte, die Begeisterung des Notars wach zu erhalten.
Hinzu kam noch die Qualität der Gläubigen in diesem Kirchlein. Wenige, aber erlesene – und immer dieselben. Manche, matt und gichtisch, wurden von einem alten Diener oder auch von ihrer Gattin in bescheidener Mantilla zu einem Sitz geführt; andere hörten die Messe stehend an, den hageren Kopf mit dem Raubvogelprofil herausgereckt, die Hände, die je nach der Jahreszeit in schwarzen Zwirn- oder schwarzen Wollhandschuhen steckten, auf der Brust gefaltet. Ferragut kannte alle, kannte ihre Namen schon aus den provençalischen Liedern des Mosén Febrer, der die aus Aragonien, Kalabrien, Südfrankreich, England und dem fernen Deutschland zur Belagerung Valencias herbeigeeilten Streiter besingt.
Nach Schluß der Messe grüßten sich diese erlauchten Persönlichkeiten mit einem leichten Kopfneigen: »Guten Morgen.« Für sie ging erst jetzt die Sonne auf, die Stunden vorher zählten nicht. Und der Notar erwiderte mit sanfter Stimme: »Guten Morgen, Herr Marquis … Guten Morgen, Herr Baron.« Weiter gingen seine Beziehungen zu ihnen nicht, aber er empfand für sie die Sympathie, wie sie Stammgäste eines Lokals, die sich jahrelang mit freundlichen Augen ansehen, ohne mehr als einen höflichen Gruß zu tauschen, füreinander hegen.
Sein Sohn Ulysses langweilte sich in der dunklen, halbleeren Kirche. Die Sonnenstrahlen, in deren schräg von oben kommendem Gold Staub und Mücken tanzten, ließen ihn mit Sehnsucht an die grünen Felder der Huerta und die weißen Flecken ihrer Gehöfte denken, an die schwarzen Federbüsche über den Dampfern des Hafens und die dreifache Reihe blauer, schaumgekrönter Hügel, die mit rhythmischem Rauschen am braunen Strand zergingen.
Wenn das Gefunkel der gestickten Ornate am Hochaltar erlosch und ein anderer Priester, schwarz und weiß, auf der Kanzel erschien, wandte Ulysses den Blick zu einer Seitenkapelle. Die Predigt bedeutete für ihn eine halbe Stunde Traumversunkenheit, die seine Phantasie mit bunten Bildern füllte. Das erste, was seine Augen in der Kapelle der heiligen Barbara suchten, war eine hoch über dem Boden in die Mauer eingefügte schmucklose Lade aus bemaltem Holz mit der Inschrift: » Aqui yace doña Constanza Augusta, Emperatriz de Grecia Hier ruht Doña Constanza Augusta, Kaiserin von Griechenland..«
Das Wort Griechenland wirkte auf die Seele des Kleinen mit magischer Gewalt. Auch sein Pate, der Rechtsanwalt Labarta, Poeta laureatus, konnte es nicht aussprechen, ohne daß seine Augen aufleuchteten. Und bisweilen gesellte sich zu dem geheimnisvollen Zauber dieses Namens ein anderer, noch interessanter, noch beunruhigender: Byzanz! Wie kam es, daß die Reste dieser hohen Dame, einer Herrscherin über ferne Märchenländer, in der düsteren Kapelle von Valencia ausruhten? In einer ähnlichen Truhe, wie sie auf dem Dachboden des Notars zur Aufbewahrung aller möglichen alten Sachen dienten? …
Eines Tages erfuhr er nach der Messe von Don Esteban ihre Geschichte. Sie war die Tochter Friedrichs II. von Schwaben, dieses Hohenstaufen, der seine sizilianische Krone höher schätzte als die deutsche Kaiserkrone. In seinen Palästen von Palermo, inmitten feenhafter, orientalischer Gärten, hatte er, umgeben von Dichtern, von jüdischen, mohammedanischen und christlichen Gelehrten, von Odalisken, Alchimisten und wilden, sarazenischen Leibwächtern, die Existenz eines Heiden und Weisen geführt. Während er wie die juris consulti des alten Roms Gesetze verfaßte, schrieb er gleichzeitig die ersten Verse auf italienisch. Sein ganzes Leben war ein ununterbrochener Kampf gegen die Päpste, die einen Bannfluch nach dem anderen gegen ihn schleuderten. Um Frieden zu haben, nahm er das Kreuz und machte sich auf, Jerusalem zu erobern. Doch Saladin, ein anderer Philosoph derselben Art, einigte sich schnell mit seinem christlichen Amtsbruder. Der Besitz einer kleinen, von Ödland umgebenen Stadt mit einem leeren Grab lohnte nicht, daß sich die Männer seit Jahrhunderten töteten, und so händigte der sarazenische Monarch ihm huldreich Jerusalem aus, was den Papst bewog, Friedrich von neuem in den Bann zu tun, weil er die heiligen Stätten ohne Blutvergießen erobert hatte.
»Ein großer Mann!« murmelte Don Esteban voll Bewunderung, aber mit ängstlicher Stimme; war er sich doch wohl bewußt, daß seine Begeisterung für jene ferne Zeit ihn zwang, einem Feind der Kirche diese Anerkennung zu zollen.
Als Gemahl für seine vierzehnjährige Tochter Constanza – eine Frucht seines Harems, in dem sich sarazenische Schönheiten und italienische Marquisen begegneten – erkor Friedrich den Kaiser von Byzanz, Johann Dukas Vatatzes, obgleich er die Fünfzig schon überschritten hatte. Und lange Jahre lebte das arme, aus Gründen der Politik Vatatzes', dem Häretiker, vermählte Kind im Orient, mit all dem Pomp einer Basileia, eingehüllt in starre Gewänder, deren Stickereien Szenen aus den heiligen Büchern darstellten; an den Füßen purpurne Halbstiefel mit dem goldenen Adler, dem letzten Symbol der Majestät von Rom.
Zuerst residierte sie in Nizäa, dem Zufluchtsort der griechischen Kaiser, solange sich in Konstantinopel die lateinische Dynastie hielt, welche die Kreuzfahrer dort eingesetzt hatten. Als dann nach dem Tode Vatatzes' der kühne Michael Paläologos Konstantinopel wiedereroberte, bewarb sich dieser siegreiche Abenteurer um die Hand der kaiserlichen Witwe. Verschiedene Jahre widerstand sie seiner Werbung und erreichte endlich, daß ihr Bruder Manfred, der neue König von Sizilien, ihr die Rückkehr in ihr Vaterland ermöglichte. Friedrich II. war gestorben; Manfred kämpfte sowohl gegen die päpstlichen Truppen als auch gegen die Franzosen unter Karl von Anjou, dem der Papst die Krone Siziliens versprochen hatte, und die arme griechische Kaiserin kam gerade an, um den Tod ihres Bruders in der Schlacht von Benevent zu erfahren. Mit ihrer Schwägerin und deren Kindern mußte sie in die Burg Lucera dei Pagani flüchten, die Sarazenen – Friedrichs einzige Getreue – verteidigten.
Aber die kirchlichen Streiter stürmten die Feste. Manfreds Gemahlin wurde in ein Gefängnis gebracht, wo ihr Leben nach kurzer Zeit erlosch. Und das Dunkel verschluckte die letzten Sprossen der von Rom verfluchten Familie. Um die Basileia kreiste der Tod: dem tapferen Manfred folgte ihr Halbbruder, der beklagenswerte, liederreiche Enzio, und einige Jahre später starb ihr Neffe, der ritterliche Konradin, unter dem Beil des Henkers, weil er seine Rechte zu verteidigen suchte. Da jedoch das Haus Anjou von der Byzantinerin nichts zu befürchten hatte, überließ der Sieger sie ihrem Schicksal, einsam und schutzlos wie eine Shakespearesche Prinzessin.
Als Witwe des Kaisers Johann Vatatzes gehörten ihr drei bedeutende Städte Anatoliens mit einer Rente von dreitausend Goldbyzantinern, die aber niemals eintraf, und fast aus Barmherzigkeit nahm ein Schiff sie nach den duftenden Gestaden des Golfs von Valencia mit, wo ihre Nichte Constanza, Manfreds Tochter, mit dem Infanten Don Pedro von Aragonien vermählt war. Vergebens bot dieser ihr reiche Lehen an. Müde ihres Abenteurerlebens zog sie es vor, in das bescheidene Kloster der heiligen Barbara einzutreten. Vielleicht dachte sie in der kahlen Klosterzelle bisweilen zurück an die Goldmosaiken des Palastes am See von Nizäa, an das Purpurzelt in den üppigen Gärten, unter dem Vatatzes hatte sterben wollen, an die gigantischen Mauern von Konstantinopel und die Kuppeln der heiligen Sofia.
Ulysses bewunderte zwar die historischen Kenntnisse seines Vaters, bewies aber nichtsdestoweniger eine gewisse Undankbarkeit.
»Mein Pate kann mir das alles viel besser erklären«, lautete sein Urteil.
Blickte das Kind während der Messe nach der Kapelle der heiligen Barbara, so flohen seine Augen bald die düstere Lade, denn der Gedanke an den zu Staub gewordenen Körper flößte ihm Abscheu ein. Diese Doña Constanza existierte für ihn nicht. Ihn interessierte nur die andere, deren Bild in einiger Entfernung an derselben Wand hing. Doña Constanza hatte Lepra gehabt – eine Krankheit, die damals selbst Kaiserinnen nicht verschonte – und wurde durch Sancta Barbara geheilt. Dieses Wunder wollte das Gemälde verewigen, auf dem die Heilige in weitem Rock und geschlitzten Puffärmeln, der Tracht einer Dame des 15. Jahrhunderts, sich huldvoll herabbeugte zu der demütig vor ihr knienden Basileia, angetan wie eine valencianische Bäuerin, aber mit reichem Geschmeide. Umsonst versicherte Don Esteban, daß das Bild Jahrhunderte nach dem Tode der Kaiserin gemalt sei – die Phantasie des Knaben sprang verächtlich über diesen Einwand hinweg. So wie die Leinwand sie wiedergab, mußte Doña Constanza gewesen sein: blond, mit großen schwarzen Augen, schön und stattlich, wie es einer Frau ziemt, die gewohnt ist, einen Königsmantel zu tragen, und die nur Frömmigkeit bestimmen kann, sich in das Gewand einer Bäuerin zu kleiden.
Das Bild der Kaiserin füllte seine kindlichen Gedanken. Überfiel ihn in dem weiten Saal, der ihm als Schlafzimmer diente, nachts bisweilen Angst, so genügte die Erinnerung an die Herrscherin von Byzanz, um sofort alle Unruhe über die tausend seltsamen Geräusche des alten Hauses zu vergessen. »Doña Constanza! …« Das Kopfkissen umklammernd, als wäre es der Kopf der Basileia, schloß er die Lider und sah ihre schwarzen Augen mütterlich, zärtlich auf sich gerichtet.
In allen Frauen, mit denen er in Berührung kam, fand er etwas von jener anderen, die seit sechs Jahrhunderten hoch oben an einer Mauer schlief.
Wenn seine Mutter, die sanfte, blasse Doña Cristina, für einen Augenblick ihre Hausfrauenpflichten ließ, um ihm einen Kuß zu geben, so erinnerte ihn ihr Lächeln an die Kaiserin. Wenn ihn Visanteta, ein braunes, dunkeläugiges Mädchen aus der Huerta, zu Bett brachte oder ihn für den Schulgang weckte, so umschlang Ulysses sie manchmal mit brüskem Enthusiasmus, wie berauscht von dem kräftigen, keuschen Geruch, den die junge Magd ausströmte. »Visanteta! Oh, Visanteta! …« So mußten Kaiserinnen riechen, so weich mußte sich ihre Hand anfühlen.
Don Esteban erriet aus den Spielen und der Lektüre des Sohnes ein weniges von der Kraft seines imaginären Lebens.
»Ah, du Komödiant! … Ah, du Träumer! Du bist genau wie dein Pate.«
Und in des Notars Lächeln lag ebensosehr seine Geringschätzung für nutzlosen Idealismus wie sein Respekt vor den Künstlern – ein Respekt, nicht unähnlich der Verehrung, die die Araber der ihnen als Gabe Gottes erscheinenden Geistesgestörtheit entgegenbringen.
Doña Cristina ersehnte mit ganzer Seele, daß dieser Sohn, als einziges Kind verwöhnt und gehätschelt wie ein Erbprinz, Priester würde. Im Geiste sah sie ihn schon seine erste Messe lesen, sah ihn als Domherrn … als Prälat. Und vielleicht, vielleicht bewunderten andere Frauen, wenn sie selbst nicht mehr da sein würde, ihren Ulysses im roten Mantel eines Kardinal-Erzbischofs – vor ihm das goldene Kreuz, um ihn herum sein Stab von Chorhemden und Soutanen – und beneideten die Mutter, die diesen Kirchenfürsten zur Welt gebracht hatte.
Um das Gemüt ihres Kindes in diesem Sinne zu beeinflussen, war von ihr in einem der unbenutzten Salons des riesengroßen Hauses eine Miniaturkapelle eingerichtet worden. Hier fanden sich an den freien Nachmittagen Ulysses' kleine Schulkameraden pünktlich ein, zwiefach gelockt: einmal durch den Reiz, »Cura zu spielen«, und dann durch das leckere Vesperbrot, das Doña Cristina eigenhändig zubereitete, um den ganzen Klerus dieser Gemeinde zufriedenzustellen.
Die Feierlichkeit begann mit dem wütenden Läuten der an einer Tür des Salons aufgehängten Glocken. Bestürzt hoben im Erdgeschoß die Klienten des Notars den Kopf, denn bis in den letzten Winkel dieses sonst so schweigsamen alten Gebäudes dröhnte der fürchterliche Lärm und beunruhigte sogar die stille Straße, durch die nur dann und wann ein Wagen fuhr.
Während einige Jungen die Kerzen anzündeten und die schönen, mit Häkelspitzen besetzten Altardecken – eine Arbeit Doña Cristinas – ausbreiteten, legten Ulysses und seine Intimsten vor den Augen der Gläubigen die goldgestickten Meßgewänder an. Ah, die durch einen Türspalt spähende Mutter mußte sich beherrschen, um nicht hineinzueilen und ihren Ulysses zu küssen. Mit welcher Anmut ahmte er Gesten und Kniebeugen des Offizianten nach! … Soweit ließ sich alles gut an. Der Priester und seine beiden Messediener sangen aus voller Lunge vor der Kerzenpyramide, und der Chor der Gläubigen antwortete von der gegenüberliegenden Wand – doch allmählich mit dem Zittern der Ungeduld in der Stimme. Und plötzlich erhoben sich laute Proteste. Da war es, das Schisma, die Häresie! Die am Altar hatten lange genug als Kapläne amtiert … jetzt kam die Reihe, den blinkenden Ornat anzulegen, an die anderen, die Gemeinde! Umsonst jedoch pochten sie auf diese Abmachung: der Klerus, in dessen Haltung die ganze Majestät angeeigneter Rechte lag, ließ sich nicht ausziehen. Nun zerrten gottlose Hände an den heiligen Gewändern, profanierten sie, rissen sogar Löcher hinein. Schreie, Schläge, Handgemenge … Bilder und Kerzen polterten auf die Dielen … Skandal und Greuel, als wäre der Antichrist eben auf die Welt gekommen.
Ulysses' Klugheit machte dem Kampf ein Ende.
»Wollen wir auf dem Pòrche spielen?«
Der Pòrche war der ungeheure Dachboden. Alle stimmten begeistert zu. Schluß mit der Kirche! Und wie ein Vogelschwarm sausten sie die Treppe hinauf, über die mit bunten Fliesen belegten Stufen, deren Löcher stellenweise die darunterliegenden roten Ziegel zeigten. Die valencianischen Töpfer des 18. Jahrhunderts hatten die Fayencen mit christlichen und berberischen Galeeren, Federwild der nahen Albufera und Früchten aller Art geschmückt. Auch sah man Jäger in weißer Perücke galant einer Bäuerin Blumen anbieten; nicht zu vergessen kühne Reiter zwischen Häusern und Bäumen, die den Pferden kaum bis zum Knie reichten.
Mit dem wilden Ungestüm der schrecklichsten historischen Invasionen brach die polternde Schar in den Speicher. Nicht minder schnell huschten Katzen und Ratten in ihre Schlupflöcher, während die entsetzten Vögel wie Pfeile durch die Dachluken fortschwirrten.
Armer Notar! … Nie kehrte er mit leeren Händen zurück, wenn das Vertrauen der reichen Bauern, nach deren Ansicht er allein die ganze Rechtswissenschaft besaß, ihn nach außerhalb rief. Damals hatten die Antiquitätenhändler noch nicht das reiche Valencia entdeckt, wo sogar die Leute aus dem Volk sich jahrhundertelang in Seide kleideten; wo Möbel, Stoffe und Keramiken gesättigt zu sein schienen von dem Licht einer stets gleich leuchtenden Sonne, von dem Blau eines immer heiteren Himmels.
Don Esteban hielt sich als Mitglied verschiedener archäologischer Gesellschaften für verpflichtet, Antiquitäten zu sammeln. Und so füllte er sein Haus mit allem, dessen er auf seinen Fahrten habhaft werden konnte. Manches Stück brachten ihm seine Klienten, die seine Liebhabereien kannten, auch von selbst. Schon gab es auf den Wänden keinen freien Fleck mehr für neue Bilder; die großen Salons waren vollgepfropft mit Möbeln, und daher nahmen alle Neuerwerbungen ihren Weg zum Pòrche. Wenigstens vorläufig. Später, wenn er sich ins Privatleben zurückziehen würde, gedachte Don Esteban an der Küste, dicht neben dem Dorf, aus dem er stammte, eine mittelalterliche Burg zu bauen – so mittelalterlich wie eben möglich –, und dort sollte jedes einzelne Stück einen angemessenen Platz erhalten.
Mittlerweile wanderte vieles, was der Notar in den Räumen des ersten Stockwerks ließ, mysteriös, als wären ihm Beine gewachsen, zum Dachboden. Doña Cristina, die mit ihren Mädchen einen ewigen Kampf gegen den Staub und die Spinnweben eines immer mehr verfallenden Gebäudes focht, fühlte einen grimmigen Haß gegen alles, was sich Antiquität nannte.
Hier oben hatten die Jungen keinen Mangel an Verkleidungen für ihre Kämpfe zu befürchten. Sie brauchten ihre Hände nur in irgendeine dieser Truhen zu versenken, deren Holz beim Öffnen dumpf krachte, während die wie Spitzen durchbrochenen Eisenbeschläge sich langsam von den wackeligen Nägeln lösten. Und hurtig schlüpften die Kinder in ärmellose Mäntel aus karmesinroter, im Lauf der Jahre nachgedunkelter Seide und schwangen lange Schlachtschwerter oder Galadegen mit Perlmuttergriff; andere wählten Decken aus ehrwürdigem Brokat, mit Goldblumen durchwirkte Kleider von Bäuerinnen oder starre Reifröcke, die wie Papier knisterten.
Wenn sie es müde wurden, die Degen aneinanderklirren zu lassen und tödlich getroffen zu Boden zu sinken, schlug Ulysses mit anderen Anhängern energischer Aktionen das Spiel »Räuber und Gendarm« vor. Natürlich konnten Räuber nur schlecht gekleidet sein. So kramten sie in Haufen von Zeug mit verblaßten Farben – Packleinen, wie sie meinten –, auf dem man bei näherer Untersuchung jedoch Beine, Arme, Köpfe, auch Laub von metallischem Grün bemerkt haben würde. Es waren nach Kartons von Tizian und Rubens gewirkte Tapeten, die die Bauern zerschnitten hatten, um mit den Stücken ihre Ölzuber zu reinigen oder sie als Decken für ihre Maultiere zu benutzen, und die Don Esteban nur aus historischer Pietät verwahrte. Zu damaliger Zeit besaßen derartige Stofftapeten keinerlei Wert. Die Läden der Kleiderhändler Valencias bargen Dutzende von Stücken derselben Art, mit denen man am Fronleichnamsfeste die Zäune der unbebauten Terrains in den Prozessionsstraßen behängte.
Manchmal spielten die Kinder auf Veranlassung von Ulysses auch »Indianer und Konquistadoren«, was übrigens in ihren kindlichen Metzeleien keine besondere Veränderung hervorrief. Zwischen den von seinem Vater aufgehäuften Bücherbergen hatte der kleine Ulysses einen Band entdeckt, der, zweispaltig, mit zahlreichen Holzschnitten gedruckt, die Seereisen des Columbus, die Kriege des Fernando Cortez und die Taten Pizarros schilderte.
Dieses Buch übte einen tiefen Einfluß auf Ulysses' ganzes Leben aus. Später, zum Mann gereift, fand er gar häufig an der Wurzel seiner Wünsche und Handlungen Bilder wieder, die ihm aus dem alten Folianten zugeströmt waren. Von dem Text hatte er übrigens nur einige Stellen gelesen, aber die Bilder dünkten ihn wundervoller als alle Gemälde des Speichers.
Mit der Degenspitze zog er dann eine Linie auf dem Boden, gerade so, wie Pizarro auf der Insel del Gallo vor seinen entmutigten Gefährten, die im Begriff standen, den Eroberungsplan aufzugeben.
»Jeder gute Spanier überschreite diese Linie!«
Und die guten Spanier – ein Dutzend Jungen mit nachschleifenden Mänteln und Schwertern, deren Griff ihnen bis zum Mund ragte – scharten sich um ihren Führer, der die heroischen Gesten des Konquistadors nachahmte.
Dann erschallte das Kriegsgeschrei: »Sus, auf die Indianer!«
Man war übereingekommen, daß die mit Hahnenfedern geschmückten Indianer zu fliehen hatten. Aber diese flohen auf ganz unehrliche Manier, erkletterten Tische und Schränke, bauten Stuhlpyramiden und begannen, ihre Verfolger mit Büchern zu bombardieren. Ehrwürdige Bücher, deren Ledereinband feinste Goldverzierungen aufwies, majestätische Folianten aus hellem Pergament krachten auf den Boden, platzten auseinander. Und ein Regen von gedruckten oder handgeschriebenen Seiten und von vergilbten Holzstichen ergoß sich über die Dielen, als gäben die alten Bände, lebensmüde, Blut und Eingeweide her.
Der Tumult dieser Konquistakriege rief Doña Cristina auf den Platz. Ah! … in Zukunft verzichtete sie auf den Besuch dieser kleinen Teufel, die lärmende Abenteuer auf dem Speicher den mystischen Wonnen der verlassenen Kapelle vorzogen! Besonders die Indianer verdienten ihre Entrüstung. Um das Demütige ihrer Rolle wenigstens etwas auszugleichen, hatten sie mit ruchlosen Scheren heile Tapeten zu wallenden Gewändern zerschnitten, wobei sie Sorge trugen, daß der Kopf eines Helden oder einer Göttin auf ihre Brust zu liegen kam.
Seiner Gefährten beraubt, entdeckte Ulysses neue Zauber auf dem Dachboden. Das von dem Knistern im Gebälk und in den alten Möbeln, von dem huschenden Laufen unsichtbarer Tiere belebte Schweigen, der unerklärliche Fall eines Gemäldes oder eines Bücherstoßes ließen ihn köstliche Schauer von Furcht empfinden. Und trotz der durch die Luken hereinbrechenden Sonnenstrahlen glaubte er von dem ganzen Geheimnis der Nacht umgeben zu sein. Diese Einsamkeit, die er nach Laune bevölkern konnte, gefiel ihm – Menschen von Fleisch und Blut störten nur wie ungelegene Geräusche, die uns aus einem schönen Traum herausreißen. Der Speicher, ja, das war eine Welt, Jahrhunderte alt, gehörte ganz ihm und unterwarf sich all seinen Phantasien.
Er kauerte sich in einen deckellosen Koffer und ließ ihn hin und her schlingern, wobei sein Mund das Brüllen des Sturmes nachahmte. War es nicht eine Karavelle, eine Galione, ein Schiff aus den alten Büchern? Mit Löwen und Kruzifixen bemalte Segel, ein Kastell am Heck und eine geschnitzte Figur am Bug, die sich in die Wogen vergrub, um wassertriefend wieder aufzutauchen?
Durch Rucken und Schütteln landete der Koffer endlich an der steilen Küste einer Truhe, in dem dreieckigen Golf zweier Kommoden oder auch an dem weichen Strande einiger Stoffbündel. Und der Seefahrer, gefolgt von einer ebenso zahlreichen wie unwirklichen Mannschaft, sprang, das Schwert in der Hand, ans Ufer, erklomm einen Bücherberg – die Anden – und durchbohrte mit einer alten Lanze ein paar Folianten: seine Standarte war aufgepflanzt.
»Warum soll ich nicht auch Konquistador werden? …«
Wohl erinnerte er sich an gewisse Unterhaltungen zwischen seinem Vater und seinem Paten, wonach alles auf der Erdoberfläche jetzt bekannt zu sein schien. Trotzdem … etwas würde man schon für ihn zu entdecken übriggelassen haben!
War er dieser phantasievollen Spiele überdrüssig, so betrachtete er die auf dem Boden aufgestapelten Gemälde vergangener Epochen. Die Frauenbilder zog er vor: Damen – wie Velasquez sie malte – mit kurzem, lockigem Haar, eine Bandschleife an der einen Schläfe; dann die langen Gesichter des folgenden Jahrhunderts, mit Kirschenmund, zwei Schönheitspflästerchen auf den Wangen und einem Turm von weißgepudertem Haar.
Unter den Männern gab es einen Bischof, einen knabenhaften Bischof, dessen gebieterische Augen ihn herausfordernd anschauten. Diese Augen jagten ihm Furcht ein, so daß er beschloß, ein Ende mit ihnen zu machen. »Nimm!« Und zweimal durchstieß sein Degen die alte Leinwand … Am selben Abend erzählte der Notar dem zu Tisch geladenen Paten von einem Gemälde, das er vor längerer Zeit in der Umgebung Játivas erstanden hatte, einer Stadt, die Don Esteban großes Interesse einflößte, da die Borgias aus einem ihr benachbarten Dorf stammten. Und beide Herren waren der Meinung, daß dieser jugendliche Prälat nur Cäsar Borgia sein konnte, der mit sechzehn Jahren von seinem päpstlichen Vater zum Erzbischof von Valencia ernannt wurde. Sie nahmen sich vor, das Bild gelegentlich eingehend zu prüfen – und Ulysses fühlte, wie ihm die Bissen in der Kehle steckenblieben.
Aber noch größeres Vergnügen als die kühnen Seefahrten auf dem Dachboden bedeutete für ihn ein Besuch im Hause seines Paten. Der Rechtsanwalt Don Carmelo Labarta war in seinen Augen die Verkörperung eines Ideals – der ruhmgekrönten Poesie. Auch Don Esteban sprach von ihm voller Begeisterung, wenngleich er ein gewisses Mitleid nicht unterdrücken konnte.
»Ah, dieser Don Carmelo! … Der erste Jurist unserer Zeit! Scheffelweise könnte er das Geld verdienen, aber die Verse ziehen ihn mehr an als die Prozesse.«
Ulysses war erregt, wenn er das Arbeitszimmer seines Paten betrat. Über den langen Bücherreihen an den Wänden standen große Gipsbüsten mit hohen Stirnen und leeren Augen, die das ungeheure Nichts zu betrachten schienen. Und der Knabe wiederholte ihre Namen, von Homer bis Victor Hugo, mit einer Ehrfurcht, als sage er ein Kapitel der Heiligenlegende auf. Dann suchte sein Blick einen anderen Kopf, ebenso ehrwürdig, doch weniger weiß; einen Kopf mit blondem, graumeliertem Bart und kupferroter Nase. In den sanften Augen Don Carmelos lag all die Liebe des alternden Junggesellen, der das Bedürfnis empfindet, sich eine Familie zu schaffen. Er war es, der dem Kinde am Taufbecken diesen Namen gegeben hatte, den die Schulkameraden abwechselnd bewunderten und belachten. Und wie oft erzählte er dem kleinen Ulysses die Abenteuer des seefahrenden Königs von Ithaka – geduldig wie ein Großvater, der einem Enkel das Leben seines Namensheiligen berichtet.
Nicht weniger Respekt bezeugte der Knabe den großen Erinnerungen im Hause: Kränze mit goldenen Blättern, silberne Pokale, Marmorstatuen, auf Samt ruhende Plaketten – von Don Carmelo Labarta, dem unermüdlichen Streiter der schönen Wissenschaften, im Wettbewerb der Verse erobert.
Wurden Blumenspiele angekündigt, so lebten die Teilnehmer in ständiger Furcht, daß es Don Carmelo in den Sinn kommen könnte, sich einen der Preise holen zu wollen. Denn in der Tat verstand er mit staunenswerter Leichtigkeit, den Preis für die beste Ode – eine einfache Blume – davonzutragen; den goldenen Pokal für die schönste Liebesromanze; die dem gelehrtesten Geschichtswerk gewidmete Statue; die Marmorbüste – Sehnsucht der Prosaerzähler; ja, sogar die für philosophische Studien bestimmte Kunstbronze. Die übrigen Bewerber mußten sich mit den Resten begnügen. Zum Glück für sie beschränkte sich Don Carmelo auf die Literatur seiner engeren Heimat, und das einzige Gewand seiner Muse war der Vers in valencianischer Mundart. Außer Valencia und dessen vergangenen Herrlichkeiten erschien ihm nur Griechenland der Bewunderung wert.
Staunend hingen des kleinen Ulysses' Augen an dem Munde seines Paten, wenn dieser von seinen Triumphen, von den Fahrten nach Madrid und nach Südfrankreich zu seinem »Freunde Mistral« erzählte. Doch sobald es zwölf Uhr schlug, brach Labarta ab. Unpünktlichkeit in bezug auf die Tischzeit duldete er nicht.
»Doña Pepa! Wir haben einen Gast!«
Ein Vorhang hob sich. Ein mächtiger Busen erschien über einem grausam eingezwängten Leib. Und während ein blankes, strahlendes Gesicht, rund wie der Vollmond, Ulysses freundlich zulächelte, kam der Rest der Figur herein: vierzig fleischige, frische, üppige Jahre.
Der Notar Ferragut pflegte Doña Pepas, die den Dichter seit fünfzehn Jahren betreute, wie einer zur Familie gehörigen Person Erwähnung zu tun. Auch Doña Cristina lobte ihre fürsorgliche Pflege, aber niemals ließ sie den Wunsch laut werden, sie kennenzulernen.
»Was willst du?« entschuldigte ihr Gatte den großen Mann. »Er ist Künstler, und Künstler leben nie, wie der liebe Gott es vorschreibt; man darf sie in gewissen Sachen nicht ernst nehmen. Schade, solch ein hervorragender Jurist …«
Gern wäre Don Esteban der Führer dieses blinden Genies gewesen, dem eine von den Eltern geerbte bescheidene Rente zum Leben genügte. Doch umsonst verschaffte er ihm Prozesse, deren Wichtigkeit enorme Honorare in Aussicht stellte. Die dicken Aktenbündel bedeckten sich in Labartas Haus mit Staub, und Don Esteban mußte sich selbst um die Termine kümmern, die sein Freund längst vergessen hatte.
Ah, sein Sohn Ulysses würde ein anderer Mann werden! Er sah ihn schon mit dem großen juristischen Wissen seines Paten, verbunden indes mit der Aktivität und dem praktischen Sinn des Vaters. Mußte das Geld nicht wie eine Woge von Stempelpapier durch die Türen hereinfluten? … Überdies konnte Ulysses noch das Notariat beibehalten, dieses verstaubte Büro voll riesiger Regale, hinter deren grünen Gardinen die gelbgebundenen Register, Initialen und Nummern säuberlich auf ihren Rücken aufnotiert, schliefen. Don Esteban kannte zur Genüge den Wert seines Büros.
»Keine Orangenpflanzung«, liebte er in mitteilsamen Momenten zu sagen, »keine Reisfelder bringen so viel ein wie dieser Besitz. Hier sind weder Fröste, noch Sturm, noch Überschwemmungen zu fürchten.«
War der Dichter eingeladen, so bildete die Zukunft des Notariatsprinzen das Thema nach Tisch.
»Was möchtest du werden?« fragte Labarta sein Patenkind.
Mit stummer Bitte richteten sich die Augen der Mutter auf den Kleinen: »Sag Erzbischof, mein Liebstes.« Anders konnte ihr Sohn in der kirchlichen Karriere doch nicht debütieren!
Was den Notar anbetraf, so äußerte er, ohne den am meisten Beteiligten zu befragen, doch seiner Sache vollkommen sicher:
»Er wird ein eminenter Rechtsgelehrter, dem die Duros zurollen werden, als wären es Centavos. Bei den Universitätsfeierlichkeiten trägt er dann den Talar aus karmesinroter Seide, dazu das Barett, das Abzeichen der hohen Doktorwürde. Ehrfurchtsvoll hören die Studenten zu Füßen seines Katheders, und wer weiß, ob ihm eines Tages nicht die Regierung seines Landes winkt! …«
Ulysses unterbrach diese Bilder künftiger Größe.
»Kapitän will ich werden!«
Der Dichter stimmte zu. Er erlag der instinktiven Anziehungskraft, die Käppi und Säbel auf alle Friedlichen, auf alle Seßhaften ausüben. Beim Anblick einer Uniform bemächtigte sich seiner Seele die zärtliche Erregung eines Kindermädchens, dem ein Soldat den Hof macht.
»Gut! Sehr gut!« meinte Labarta. »Aber was für ein Kapitän? … Der Artillerie? Oder vom Generalstab?«
Schweigen.
»Nein, Schiffskapitän!«
Don Esteban schaute händeringend zur Decke. Nur zu gut wußte er, wer an dieser albernen Idee schuld war, wer seinem Sohn derartig ungereimtes Zeug in den Kopf gesetzt hatte.
Und er dachte an seinen Bruder, den Arzt, der ganz zurückgezogen im väterlichen Haus dort unten an der Küste lebte. Ein ausgezeichneter Mensch, aber ein wenig verrückt. Die Fischer nannten ihn den »Doktor«, der Dichter Labarta jedoch hatte ihn »Triton« getauft.