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Der latente deutsche Gedanke Friedrich Wilhelm's IV. trägt mehr als seine Schwäche die Schuld an den Mißerfolgen unsrer Politik nach 1848. Der König hoffte, das Wünschenswerthe würde kommen, ohne daß er seine legitimistischen Traditionen zu verletzen brauchte. Wenn Preußen und der König garkeinen Wunsch nach irgend etwas gehabt hätten, was sie vor 1848 nicht besaßen, sei es auch nur nach einer historischen mention honorable, wie es die Reden von 1840 und 1842 vermuthen ließen; wenn der König keine Ziele und Neigungen gehabt hätte, für deren Verfolgung eine gewisse Popularität nützlich war: was hätte ihn dann abgehalten, nachdem das Ministerium Brandenburg festen Fuß gefaßt, den revolutionären Errungenschaften im Innern Preußens in ähnlicher Weise entgegenzutreten, wie dem badischen Aufstande und dem Widerstande einzelner preußischer Provinzialstädte? Der Verlauf dieser Erhebungen hatte auch denen, die es nicht wußten, gezeigt, daß die militärischen Kräfte zuverlässig waren; in Baden hatte sogar die Landwehr aus Districten, die für unsicher galten, ihre Schuldigkeit nach Kräften gethan. Die Möglichkeit einer militärischen Reaction, die Möglichkeit, wenn man einmal eine Verfassung octroyirte, das zu Grunde gelegte belgische Formular schärfer, als geschehn ist, im monarchischen Sinne zu amendiren, lag ohne Zweifel vor. Die Neigung, diese Möglichkeit auszunutzen, muß im Gemüthe des Königs zurückgetreten sein vor der Besorgniß, dasjenige Maß von Wohlwollen in nationaler und liberaler Richtung zu verlieren, auf dem die Hoffnung beruhte, daß Preußen ohne Krieg und in einer mit legitimistischen Vorstellungen verträglichen Weise das Vorgewicht in Deutschland zufallen würde.
Diese Hoffnung oder Erwartung, die bis in die »Neue Aera« hinein in Phrasen von dem deutschen Berufe Preußens und von moralischen Eroberungen einen schüchternen Ausdruck fand, beruhte auf dem doppelten Irrthum, der vom März 1848 bis zum Frühjahr des folgenden Jahres in Sanssouci wie in der Paulskirche bestimmend war: einer Unterschätzung der Lebenskraft der deutschen Dynastien und ihrer Staaten, und einer Ueberschätzung der Kräfte, die man unter dem Wort Barrikade zusammenfassen kann, so daß darunter alle die Barrikade vorbereitenden Momente, Agitation und Drohung mit dem Straßenkampfe, begriffen sind. Nicht in diesem selbst lag die Gefahr des Umsturzes, sondern in der Furcht davor. Die mehr oder weniger phäakischen Regirungen waren im März, ehe sie den Degen gezogen hatten, geschlagen, theils durch die Furcht vor dem Feinde, theils durch die innre Sympathie ihrer Beamten mit demselben. Immerhin wäre es für den König von Preußen an der Spitze der Fürsten leichter gewesen, durch Ausnutzung des Sieges der Truppen in Berlin ein deutsches Einheitsgebilde herzustellen, als es nachher der Paulskirche geworden ist; ob die Eigenthümlichkeit des Königs nicht eine solche Herstellung auch bei Festhalten dieses Sieges gehindert oder das hergestellte, wie Bodelschwingh im März fürchtete, wieder unsicher gemacht haben würde, ist allerdings schwer zu beurtheilen. In den Stimmungen seiner letzten Lebensjahre, wie sie auch aus den Aufzeichnungen Leopold's v. Gerlach und aus andern Quellen ersichtlich sind, steht die ursprüngliche Abneigung gegen constitutionelle Einrichtungen, die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit eines größern Maßes freier Bewegung der Königlichen Gewalt als das in der preußischen Verfassung gegebene wieder im Vordergrunde. Der Gedanke, die Verfassung durch einen »Königlichen Freibrief« zu ersetzen, war in der letzten Krankheit noch lebendig.
Die Frankfurter Versammlung, in demselben doppelten Irrthum befangen, behandelte die dynastischen Fragen als überwundnen Standpunkt, und mit der theoretischen Energie, welche dem Deutschen eigen ist, auch in Betreff Preußens und Oestreichs. Diejenigen Abgeordneten, welche in Frankfurt über die Stimmung der preußischen Provinzen und der deutsch-östreichischen Länder kundige Auskunft geben konnten, waren zum Theil interessirt bei der Verschweigung der Wahrheit; die Versammlung täuschte sich, ehrlich oder unehrlich, über die Thatsache, daß im Falle eines Widerspruchs zwischen einem Frankfurter Reichstagsbeschluß und einem preußischen Königsbefehl der erstere bei sieben Achtel der preußischen Bevölkerung leichter oder garnicht in's Gewicht fiel. Wer damals in unsern Ostprovinzen gelebt hat, wird heut noch die Erinnrung haben, daß die Frankfurter Verhandlungen bei allen den Elementen, in deren Hand die materielle Macht lag, bei allen denen, welche in Conflictsfällen Waffen zu führen oder zu befehlen hatten, nicht so ernsthaft aufgefaßt wurden, wie es nach der Würde der wissenschaftlichen und parlamentarischen Größen, die dort versammelt waren, hätte erwartet werden können. Und nicht nur in Preußen, sondern auch in den großen Mittelstaaten hätte damals ein monarchischer Befehl, der die Masse der Fäuste dem Fürsten zu Hülfe aufrief, falls er erfolgte, eine ausreichende Wirkung gehabt; nicht überall in dem Maße, wie es in Preußen der Fall war, aber doch in einem Maße, welches überall dem Bedürfniß materieller Polizeigewalt genügt haben würde, wenn die Fürsten den Muth gehabt hätten, Minister anzustellen, die ihre Sache fest und offen vertraten. Es war dies im Sommer 1848 in Preußen nicht der Fall gewesen; sobald aber im November der König sich entschloß, Minister zu ernennen, welche bereit waren, die Kronrechte ohne Rücksicht auf Parlamentsbeschlüsse zu vertreten, war der ganze Spuk verschwunden und nur noch die Gefahr vorhanden, daß der Rückschlag über das vernünftige Maß hinausgehn werde. In den übrigen norddeutschen Staaten kam es nicht einmal zu solchen Conflicten, wie sie das Ministerium Brandenburg in einzelnen Provinzialstädten zu bekämpfen hatte. Auch in Baiern und Würtemberg erwies sich das Königthum trotz antiköniglicher Minister schließlich stärker als die Revolution.
Als der König am 3. April 1849 die Kaiserkrone ablehnte, aber aus dem Beschlusse der Frankfurter Versammlung »ein Anrecht« entnahm, dessen Werth er zu schätzen wisse, war er dazu hauptsächlich bewogen durch den revolutionären oder doch parlamentarischen Ursprung des Anerbietens und durch den Mangel eines staatsrechtlichen Mandats des Frankfurter Parlaments bei mangelnder Zustimmung der Dynastien. Aber auch wenn alle diese Mängel nicht, oder doch in den Augen des Königs nicht, vorhanden gewesen wären, so würde unter ihm eine Fortbildung und Kräftigung der Reichs-Institutionen, wie sie unter Kaiser Wilhelm stattgefunden hat, kaum zu erwarten gewesen sein. Die Kriege, welche der Letztre geführt hat, würden nicht ausgeblieben sein, nur würden sie nach der Constituirung des Kaiserthums, als Folge derselben, und nicht vorher, das Kaiserthum vorbereitend und herstellend, zu führen gewesen sein. Ob Friedrich Wilhelm IV. zur rechtzeitigen Führung derselben hätte bewogen werden können, weiß ich nicht; es war das schon schwierig bei seinem Herrn Bruder, in dem die militärische Ader und das preußische Offiziersgefühl vorwiegend waren.
Wenn ich die damaligen preußischen Zustände, persönliche und sachliche, als nicht reif zur Uebernahme der Führung in Deutschland in Krieg und Frieden bezeichne, so will ich damit nicht gesagt haben, daß ich damals die Voraussicht davon mit derselben Klarheit gehabt habe, wie heut im Rückblick auf eine 40jährige seitdem verflossene Entwicklung. Meine damalige Befriedigung über die Ablehnung der Kaiserkrone durch den König lag nicht in der vorstehenden Beurtheilung seiner Person, eher in einer stärkern Empfänglichkeit für das Prestige der Preußischen Krone und ihres Trägers, noch mehr aber in dem instinctiven Mißtrauen gegen die Entwicklung seit den Barrikaden von 1848 und ihren parlamentarischen Consequenzen. Den letztern gegenüber war ich mit meinen politischen Freunden unter dem Eindruck, daß die leitenden Männer in Parlament und Presse das Programm »es muß alles ruinirt werden« zum Theil bewußt, zum größern Theile unbewußt förderten und ausführten, und daß die vorhandnen Minister nicht die Männer waren, welche die Bewegung leiten oder hemmen konnten. Mein Standpunkt dazu unterschied sich damals nicht wesentlich von dem noch heut in Kraft stehenden eines parlamentarischen Fractionsmitgliedes, begründet auf Anhänglichkeit an Freunde und Mißtrauen oder Feindschaft gegen Gegner. Die Ueberzeugung, daß der Gegner in Allem, was er vornimmt, im besten Falle beschränkt, wahrscheinlich aber böswillig und gewissenlos ist, und die Abneigung, mit den eignen Fractionsgenossen zu dissentiren und zu brechen, beherrscht noch heut das Fractionsleben; und damals waren die Ueberzeugungen, auf denen diese dem Staatsleben gefährlichen Erscheinungen beruhn, sehr viel lebhafter und ehrlicher, als sie heut sind. Die Gegner kannten sich damals wenig, sie haben seitdem 40 Jahre lang Gelegenheit gehabt, sich kennen zu lernen, da der Personalbestand der im Vordergrunde stehenden Parteimänner sich nur langsam und wenig zu ändern pflegt. Man hielt sich damals wirklich gegenseitig für entweder dumm oder schlecht, man hatte wirklich die Gefühle und Ueberzeugungen, die man heutzutage behufs Einwirkung auf die Wähler und auf den Monarchen zu haben vorgiebt, weil sie zu dem Programm gehören, auf welches hin man in einer bestimmten Fraction Dienst genommen hat, »eingesprungen« ist, indem man an deren Berechtigung geglaubt und ihren Führern vertraut hat. Das politische Streberthum hat heut mehr Antheil an dem Bestehn und Verhalten der Fractionen als vor 40 Jahren; die Ueberzeugungen waren damals aufrichtiger und ungeschulter, wenn auch die Leidenschaften, der Haß und die gegenseitige Mißgunst der Fractionen und ihrer Führer, die Neigung, die Landesinteressen den Fractionsinteressen zu opfern, heut vielleicht stärker entwickelt sind. En tout cas le diable n'y perd rien. Byzantinismus und verlogne Speculation auf Liebhabereien des Königs wurden wohl in kleinen höhern Kreisen betrieben, aber bei den parlamentarischen Fractionen war der Wettlauf um die Gunst des Hofes noch nicht im Gange; der Glaube an die Macht des Königthums war irrthümlicher Weise meist geringer als der an die eigne Bedeutung; man fürchtete nichts mehr, als für servil oder für ministeriell zu gelten. Die Einen strebten nach eigner Ueberzeugung das Königthum zu stärken und zu stützen, die Andern glaubten ihr und des Landes Wohl in Bekämpfung und Schwächung des Königs zu finden; es liegt darin ein Beweis, daß, wenn nicht die Macht, doch der Glaube an die Macht des preußischen Königthums damals schwächer war als heut zu Tage. Die Unterschätzung der Macht der Krone erlitt auch durch die Thatsache keine Aenderung, daß der persönliche Wille eines nicht sehr willensstarken Monarchen wie Friedrich Wilhelm's IV. hinreichte, der ganzen deutschen Bewegung durch Ablehnung der Kaiserkrone die Spitze abzubrechen, und daß die sporadischen Aufstände, die demnächst für die Durchführung nationaler Wünsche ausbrachen, von der Königlichen Gewalt mit Leichtigkeit unterdrückt wurden.
Die günstige Situation, welche für Preußen in der kurzen Zeit von der Niederlage des Fürsten Metternich in Wien bis zum Rückzuge der Truppen aus Berlin bestanden hatte, erneuerte sich, wenn auch in schwächern Umrissen, dank der Wahrnehmung, daß der König und sein Heer nach allen Mißgriffen noch stark genug waren, den Aufstand in Dresden niederzuwerfen und das Drei-Königsbündniß zu Stande zu bringen. Eine schnelle Ausnutzung der Lage im nationalen Sinne war vielleicht möglich, setzte aber klare und praktische Ziele und entschlossenes Handeln voraus. Beides fehlte. Die günstige Zeit ging verloren mit Erwägungen von Einzelheiten der künftigen Verfassung, unter denen eine der breitesten Stellen die Frage von dem Gesandschaftsrecht der deutschen Fürsten neben dem des Deutschen Reiches einnahm.Vgl. Bismarck's Äußerung in der Reichstagsrede vom 8. März 1878, Politische Reden VII 184 f. Ich habe damals in den mir zugänglichen Kreisen am Hofe und unter den Abgeordneten die Ansicht vertreten, daß das Gesandschaftsrecht nicht die Wichtigkeit habe, die man ihm beilegte, sondern der Frage von dem Einflusse der einzelnen Bundesfürsten im Reiche oder im Auslande untergeordnet sei. Wäre der Einfluß eines solchen auf die Politik gering, so würden seine Gesandschaften im Auslande den einheitlichen Eindruck des Reiches nicht abschwächen können; bliebe sein Einfluß auf Krieg und Frieden, auf die politische und finanzielle Leitung des Reiches oder auf die Entschließungen fremder Höfe stark genug, so gebe es kein Mittel, zu verhindern, daß fürstliche Correspondenzen oder irgend welche mehr oder weniger distinguirte Privatleute, bis in die Kategorie der internationalen Zahnärzte hinein, die Träger politischer Verhandlungen würden.
Mir schien es damals nützlicher, anstatt der theoretischen Erörterungen über Verfassungsparagraphen die vorhandne lebenskräftige preußische Militärmacht in den Vordergrund zu stellen, wie es gegen den Aufstand in Dresden geschehn war und in den übrigen außerpreußischen Staaten hätte geschehn können. Die Dresdner Vorgänge hatten gezeigt, daß in der sächsischen Truppe Disciplin und Treue unerschüttert waren, sobald die preußische Verstärkung die militärische Lage haltbar machte. Ebenso erwiesen sich bei den Kämpfen in Frankfurt die hessische, in Baden die mecklenburgische Truppe zuverlässig, sobald sie überzeugt waren, daß eine bewußte Leitung stattfand und einheitliche Befehle gegeben wurden, und sobald man ihnen nicht zumuthete, sich angreifen zu lassen und sich nicht zu wehren. Hätte man damals von Berlin aus die eigne Armee rechtzeitig und hinreichend verstärkt und mit ihr die Führung auf militärischem Gebiete ohne Hintergedanken übernommen, so weiß ich nicht, was zu Zweifeln an einem günstigen Erfolge hatte berechtigen können. Die Situation war nicht so klar in allen Rechts- und Gewissensfragen wie Anfangs März 1848, aber politisch immerhin nicht ungünstig.
Wenn ich von Hintergedanken spreche, so meine ich damit den Verzicht auf Beifall und Popularität bei verwandten Fürstenhäusern, bei Parlamenten, Historikern und in der Tagespresse. Als öffentliche Meinung imponirte damals die tägliche Strömung, die in der Presse und den Parlamenten am lautesten rauscht, aber nicht maßgebend ist für die Volksstimmung, von der es abhängt, ob die Masse den auf regelmäßigem Wege von oben ergehenden Anforderungen noch Folge leistet. Die geistige Potenz der obern Zehntausend in der Presse und auf der Tribüne ist von einer zu großen Mannigfaltigkeit sich kreuzender Bestrebungen und Kräfte getragen und geleitet, als daß die Regirungen aus ihr die Richtschnur für ihr Verhalten entnehmen könnten, so lange nicht die Evangelien der Redner und Schriftsteller vermöge des Glaubens, den sie bei den Massen finden, die materiellen Kräfte, die sich »hart im Raume«Vgl. Schiller, Wallenstein's Tod II 2: »Leicht bei einander wohnen die Gedanken | Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.« stoßen, zur Verfügung haben. Ist dies der Fall, so tritt vis major ein, mit der die Politik rechnen muß. So lange diese in der Regel nicht schnell eintretende Wirkung nicht vorliegt, so lange nur das Geschrei der rerum novarum cupidi in größern Centren, das Emotionsbedürfnis der Presse und des parlamentarischen Lebens den Lärm machen, tritt für den Realpolitiker die Betrachtung Coriolan's über populäre KundgebungenVgl. Shakespeare, Coriolan 1. Aufz. 1. Auftr. in Kraft, wenn auch in ihr die Druckerschwärze noch keine Erwähnung findet. Die leitenden Kreise in Preußen ließen sich aber damals durch den Lärm der großen und kleinen Parlamente betäuben, ohne deren Gewicht an dem Barometer zu messen, den ihnen die Haltung der Mannschaft in Reih und Glied oder der Einberufung gegenüber an die Hand gab. Zu der Täuschung über die realen Machtverhältnisse, die ich damals bei Hofe und bei dem Könige selbst habe constatiren können, haben die Sympathien der höhern Beamtenschichten theils für die liberale, theils für die nationale Seite der Bewegung viel beigetragen – ein Element, das ohne einen Impuls von oben wohl hemmend, aber nicht thatsächlich entscheidend in's Gewicht fallen konnte.
Gegenüber der Versuchung, die in der Situation lag, hatte der König ein Gefühl, welches ich dem Unbehagen vergleichen möchte, von dem ich, obwohl ein großer Liebhaber des Schwimmens, ergriffen wurde, wenn ich an einem kalten stürmischen Tage den ersten Schritt in das Wasser thun wollte. Seine Bedenken, ob die Dinge reif seien, wurden unter anderm genährt durch die geschichtlichen Erörterungen, die er mit Radowitz pflog, nicht nur über das sächsische und hanöversche Gesandschaftsrecht, sondern auch über die Vertheilung der Sitze im »Reichstage« zwischen Regirenden und Mediatisirten, zwischen Landesherrn und Personalisten, recipirten und nicht recipirten Grafen unter den verschiednen Kategorien der Reichstagsmasse, wobei die Specialität des Freien Standesherrn von Grote-Schauen zu untersuchen war.
Den militärischen Vorgängen stand ich damals weniger nahe als später, glaube aber nicht zu irren, wenn ich annehme, daß für die Truppenbewegungen zur Unterdrückung der Aufstände in der Pfalz und in Baden mehr Cadres und Stämme verwendet wurden, als rathsam und als erforderlich gewesen wäre, wenn man feldmäßig mobile Truppen hätte marschiren lassen. Thatsache ist, daß mir der Kriegsminister zur Zeit der Olmützer Begegnung als einen der zwingenden Gründe für den Frieden oder doch Aufschub des Krieges die Unmöglichkeit angab, den großen Theil der Armee rechtzeitig oder überhaupt zu mobilisiren, dessen Stämme sich in Baden oder sonst außerhalb ihrer Stand- und Mobilmachungs-Bezirke unvollzählig befanden. Wenn wir im Frühjahr 1849 die Möglichkeit einer kriegerischen Lösung im Auge behalten und unsre Mobilmachungsfähigkeit durch Verwendung keiner andern als kriegsbereiter Truppen intact erhalten hätten, so wäre die militärische Kraft, über welche Friedrich Wilhelm IV. verfügte, ausreichend gewesen, nicht nur jede aufständische Bewegung in und außer Preußen niederzuschlagen, sondern die aufgestellten Streitkräfte hätten zugleich das Mittel gewährt, uns 1850 auf die Lösung der damaligen Hauptfragen in unverdächtiger Weise vorzubereiten, falls sie sich zu einer militärischen Machtfrage zuspitzten. Es fehlte dem geistreichen Könige nicht an politischer Voraussicht, aber an Entschluß, und sein im Princip starker Glaube an die eigne Machtvollkommenheit hielt in concreten Fällen wohl gegen politische Rathgeber Stand, aber nicht gegen finanzministerielle Bedenken.
Ich hatte schon damals das Vertrauen, daß die militärische Kraft Preußens genügen werde, um alle Aufstände zu überwältigen, und daß die Ergebnisse der Ueberwältigung zu Gunsten der Monarchie und der nationalen Sache um so erheblicher sein würden, je größer der zu überwindende Widerstand gewesen wäre, und vollständig befriedigend, wenn alle Kräfte, von denen Widerstand zu erwarten war, in einem und demselben Feldzuge überwunden werden konnten. Während der Aufstände in Baden und der Pfalz war es eine Zeit lang zweifelhaft, wohin ein Theil der bairischen Armee gravitiren würde. Ich erinnre mich, daß ich dem bairischen Gesandten, Grafen Lerchenfeld, als er grade in diesen kritischen Tagen von mir Abschied nahm, um nach München zu reisen, sagte: »Gott gebe, daß auch Ihre Armee, so weit sie unsicher ist, offen abfällt; dann wird der Kampf groß, aber ein entscheidender werden, der das Geschwür heilt. Machen Sie mit dem unsichern Theil Ihrer Truppen Frieden, so bleibt das Geschwür unterköthig.« Lerchenfeld, besorgt und bestürzt, nannte mich leichtsinnig. Ich schloß das Gespräch mit den Worten: »Seien Sie sicher, wir reißen Ihre und unsre Sache durch; je toller je besser.« Er glaubte mir nicht, aber meine Zuversicht ermuthigte ihn doch, und ich glaube noch heut, daß die Chancen für eine wünschenswerthe Lösung der damaligen Krisis noch besser geworden wären, wenn vorher die badische Revolution durch den damals befürchteten Abfall auch eines Theils der bairischen und würtembergischen Truppen verstärkt worden wäre. Freilich würden sie auch dann vielleicht unbenutzt geblieben sein.
Ich lasse unentschieden, ob an der Halbheit und Schüchternheit der damals den ernsten Gefahren gegenüber ergriffnen Maßregeln nur finanzielle Minister-Aengstlichkeiten oder dynastische Gewissensbedenken und Unentschlossenheit an höchster Stelle Schuld waren, oder ob in amtlichen Kreisen eine ähnliche Sorge mitwirkte wie die, welche in den Märztagen bei Bodelschwingh und Andern die richtige Lösung verhinderte, nämlich die Befürchtung, daß der König in dem Maße, in dem er sich wieder mächtig und sorgenfrei fühlen würde, auch eine absolutistische Richtung einschlagen könnte. Ich erinnre mich, diese Besorgniß bei höhern Beamten und in liberalen Hofkreisen wahrgenommen zu haben.
Unbeantwortet ist die Frage geblieben, ob der Einfluß des Generals von Radowitz aus katholisirenden Gründen in einer auf den König wirksamen Gestalt verwendet worden ist, um das evangelische Preußen an der Wahrnehmung der günstigen Gelegenheit zu hindern und den König über dieselbe hinweg zu täuschen. Ich weiß heut noch nicht, ob er ein katholisirender Gegner Preußens war oder nur bestrebt, seine Stellung bei dem Könige zu halten.Der General von Gerlach hat im August 1850 niedergeschrieben (Denkwürdigkeiten I 514):
Die Verehrung des Königs für Radowitz, beruht auf zwei Dingen: 1) seinem scheinbar scharf logisch-mathematischen Raisonnement, bei dem seine gedankenlose Indifferenz es ihm möglich macht, jeden Widerspruch mit dem Könige zu vermeiden. Nun sieht der König in dieser seinem Ideengange ganz entgegengesetzten Denkart die Probe für das Exempel, was er sich zusammengerechnet, und hält sich so seiner Sache gewiß. 2) Der König hält seine Minister und auch mich für Rindvieh, schon darum, weil jene mit ihm currente und praktische Geschäfte abmachen müssen, welche nie seinen Ideen entsprechen. Er traut sich nicht die Fähigkeit zu, diese Minister sich folgsam zu machen, auch nicht die, andre zu finden, er giebt also diesen Weg auf und glaubt, in Radowitz einen gefunden zu haben, von Deutschland aus Preußen zu restauriren, wie das Radowitz in ›Deutschland und Friedrich Wilhelm IV.‹ geradezu eingesteht.«
Die nähere Berührung, in welche ich in Erfurt mit dem Grafen Brandenburg trat, ließ mich erkennen, daß sein preußischer Patriotismus vorwiegend von den Erinnrungen an 1812 und 1813 zehrte und schon deshalb von deutschem Nationalgefühl durchsetzt war. Entscheidend blieb indeß das dynastische und borussische Gefühl und der Gedanke einer Machtvergrößrung Preußens. Er hatte von dem Könige, der schon damals auf seine Weise an meiner politischen Erziehung arbeitete, den Auftrag erhalten, meinen etwaigen Einfluß in der Fraction der äußersten Rechten für die Erfurter Politik zu gewinnen, und versuchte das, indem er mir auf einem einsamen Spaziergange zwischen der Stadt und dem Steigerwalde sagte: »Was kann bei der ganzen Sache Preußen für Gefahr laufen? Wir nehmen ruhig an, was uns an Verstärkung geboten wird, ›Viel oder Wenig‹, unter einstweiligem Verzichte auf das, was uns nicht geboten wird. Ob wir uns die Verfassungsbestimmungen, die der König mit in den Kauf zu nehmen hat, auf die Dauer gefallen lassen können, das kann nur die Erfahrung lehren. Geht es nicht, ›so ziehn wir den Degen und jagen die Kerls zum Teufel‹.« Ich kann nicht leugnen, daß dieser militärische Schluß seiner Auseinandersetzung mir einen sehr gewinnenden Eindruck machte, hatte aber meine Zweifel, ob die Allerhöchste Entschließung im entscheidenden Augenblicke nicht mehr von andern Einflüssen abhängen würde als von diesem ritterlichen Generale. Sein tragisches Ende hat meine Zweifel bestätigt.Nach Sybel, Die Begründung des Deutschen Reichs. München, R. Oldenbourg. II 3. f. ist die Erzählung, Brandenburg sei an »gebrochenem Herzen« über die ihm in Warschau zu Theil gewordene übermüthige Behandlung und die ihm aufgezwungene friedliche Politik gestorben, gegenüber den aktenmäßigen Feststellungen als legendär zu bezeichnen.
Auch Herr von Manteuffel war von dem Könige zu dem Versuche veranlaßt worden, die preußische äußerste Rechte für Unterstützung der Regirungspolitik zu gewinnen und in diesem Sinne eine Verständigung zwischen uns und der Gagern'schen Partei anzubahnen. Er that das in der Weise, daß er Gagern und mich allein zu Tisch einlud und uns beide, während wir noch bei der Flasche saßen, allein ließ, ohne uns eine vermittelnde oder einleitende Andeutung zu hinterlassen. Gagern wiederholte mir, nur minder genau und verständlich, was uns als Programm seiner Partei und etwas abgemindert als Regirungsvorlage bekannt war. Er sprach, ohne mich anzublicken, schräg weg gegen den Himmel sehend. Auf meine Aeußrung, wir royalistische Preußen befürchteten in erster Linie, daß mit dieser Verfassung die monarchische Gewalt nicht stark genug bleiben werde, versank er nach der langen und declamatorischen Darlegung in ein geringschätziges Schweigen, was den Eindruck machte, den man mit Roma locuta est übersetzen kann. Als Manteuffel wieder eintrat, hatten wir mehre Minuten schweigend gesessen, ich, weil ich Gagern's Erwidrung erwartete, er, weil er in der Erinnrung an seine Frankfurter Stellung es unter seiner Würde hielt, mit einem preußischen Landjunker anders als maßgebend zu verhandeln. Er war eben mehr zum parlamentarischen Redner und Präsidenten als zum politischen Geschäftsmann veranlagt und hatte sich in das Bewußtsein eines Jupiter tonans hineingelebt. Nachdem er sich entfernt hatte, fragte Manteuffel mich, was er gesagt habe. »Er hat mir eine Rede gehalten, als ob ich eine Volksversammlung wäre,« antwortete ich.
Es ist merkwürdig, daß in den beiden Familien, welche damals in Deutschland und in Preußen den nationalen Liberalismus vertraten, Gagern und Auerswald, je drei Brüder vorhanden waren, unter denen je ein General, daß diese beiden Generale die praktischeren Politiker unter ihren Brüdern waren und beide in Folge der revolutionären Bewegungen ermordet wurden, deren Entwicklung jeder von ihnen in seinem Wirkungskreise in gutem patriotischen Glauben gefördert hatte. Der General von Auerswald, der am 18. September 1848 bei Frankfurt ermordet wurde, wie man sagt, weil er für Radowitz gehalten wurde, hatte sich zur Zeit des Ersten Vereinigten Landtags gerühmt, daß er als Oberst eines Kavallerie-Regiments hunderte von Meilen zu Pferde zurückgelegt habe, um oppositionelle Wahlen der Bauern zu fördern.General Friedrich von Gagern wurde bekanntlich am 20. April 1648 von den Kugeln badischer Freischärler bei Kandern getödtet, als er von einer erfolglosen Unterredung mit Hecker zu seiner Truppe zurückritt.
Im November 1850 wurde ich gleichzeitig als Landwehr-Offizier zu meinem Regimente und als Abgeordneter zu der bevorstehenden Kammersession einberufen.Nach einer Randbemerkung im Manuskripte beabsichtigte Fürst Bismarck an dieser Stelle ein Erlebniß einzuschalten, dessen er wiederholt in seinen Tischgesprächen gedacht hat. Ich gebe die Erzählung, wie sie mir im Gedächtniß haftet. Als Bismarck sich mit der Einberufungsordre in der Tasche auf dem Wege nach Berlin befand, stieg ein pommerscher Schulze, des Namens Stranzke, zu ihm in den Postwagen. Das Gespräch lenkte sich selbstverständlich bald auf die politischen Ereignisse. Als Stranzke von der Einberufungsordre hörte, fragte er ganz naiv: »Wo steiht de Franzos?« und war sichtlich enttäuscht, als ihm Herr v. Bismarck mittheilte, daß es diesmal nicht gegen die Franzosen, sondern gegen die Oestreicher gehn werde. »Das sollte mir doch leid thun, wenn mir auf die ›weißen Collets‹ schießen sollten,« meinte er, »und nicht auf die Hundsfötter von Franzosen,« So lebendig war in ihm die Erinnerung an die Leidenszeit Preußens nach der Niederlage von Jena und an die preußisch-östreichische Waffenbrüderschaft von 1813/14. Auf dem Wege über Berlin zu dem Marschquartier des Regiments meldete ich mich bei dem Kriegsminister von Stockhausen,Vgl. Brief vom 16. Nov. 1850 an Frau v. Bismarck. Danach traf Bismarck am 14. Nov. Abends 10 Uhr in Berlin, von Reinfeld kommend, ein, und suchte noch in der Nacht Stockhausen auf, traf ihn aber nicht. Vermuthlich fand die Unterredung am nächsten Tage statt. Auch Manteuffel hatte schon am Abend des 14. Nov. Bismarck ersucht, nicht nach Stendal zu reisen, »da die Kammermenschen hier nöthig gebraucht würden« der mir persönlich befreundet und für kleine persönliche Dienste dankbar war. Nachdem ich den Widerstand des alten Portiers überwunden hatte und vorgelassen war, gab ich meiner durch die Einberufung und den Ton der Oestreicher etwas erregten kriegerischen Stimmung Ausdruck. Der Minister, ein alter, schneidiger Soldat, dessen moralischer und physischer Tapferkeit ich sicher war, sagte mir in der Hauptsache Folgendes:
»Wir müssen für den Augenblick den Bruch nach Möglichkeit vermeiden. Wir haben keine Macht, welche hinreichte, die Oestreicher, auch wenn sie ohne sächsische Unterstützung bei uns einbrechen, aufzuhalten. Wir müssen ihnen Berlin preisgeben und in zwei Centren außerhalb der Hauptstadt, etwa in Danzig und in Westfalen, mobilisiren; vorwärts Berlin können wir erst in 14 Tagen etwa 70 000 Mann haben, und auch die würden nicht reichen gegen die Streitkräfte, die Oestreich jetzt schon gegen uns in Bereitschaft hat.« Es sei, fuhr er fort, vor Allem nöthig, wenn wir schlagen wollten, Zeit zu gewinnen, und deshalb zu wünschen, daß die bevorstehenden Verhandlungen im Abgeordnetenhause nicht den Bruch beschleunigten durch Erörtrungen und Beschlüsse, wie man sich deren nach den herrschenden Stimmen in der Presse versehn müsse. Er bäte mich daher, in Berlin zu bleiben und auf die bereits anwesenden und nächstens eintreffenden befreundeten Abgeordneten vertraulich im Sinne der Mäßigung einzuwirken. Er klagte über die Verzettlung der Stämme, die in ihrer Friedensformation ausgerückt und verwendet wären und sich nun fern von ihren Ersatzbezirken und Zeughäusern befänden, theils im Inlande, zum großen Theil aber im Südwesten Deutschlands, also in Oertlichkeiten, wo eine schleunige Mobilmachung auf Kriegsfuß sich schwer ausführen lasse.Vgl. die Reichstagsrede Bismarck's vom 24. Januar 1882, Politische Reden IX 234; diese Mittheilungen geben den Schlüssel zum richtigen Verständniß der Rede vom 3. December 1850.
Die badischen Truppen hatte man damals auf wenig gangbaren Wegen mit Benutzung des braunschweigischen Weserdistricts nach Preußen kommen lassen – ein Beweis von der Aengstlichkeit, mit welcher man damals die Gebietsgrenzen der Bundesfürsten respectirte, während sonstige Attribute ihrer Landeshoheit in den Verfassungsentwürfen für das Reich und den Dreikönigsbund mit Leichtigkeit ignorirt oder abgeschafft wurden: man ging in den Entwürfen bis nahe an die Mediatisirung, aber man wagte nicht, ein Marschquartier außerhalb der vertragsmäßig vorhandnen Etappenstraßen zu beanspruchen. Erst bei Ausbruch des dänischen Krieges 1864 wurde in Schwartau mit dieser schüchternen Tradition gebrochen und der niedergelassene oldenburgische Schlagbaum von den preußischen Truppen beseitigt.
Die Erwägungen eines fachkundigen und ehrliebenden Generals, wie Stockhausen, konnte ich einer Kritik nicht unterziehn und vermag das auch heut noch nicht. Die Schuld an unsrer militärischen Gebundenheit, die er mir schilderte, lag nicht an ihm, sondern an der Planlosigkeit, mit der unsre Politik auf militärischem Gebiete sowohl wie auf diplomatischem in und seit den Märztagen mit einer Mischung von Leichtfertigkeit und Knauserei geleitet worden war. Auf militärischem namentlich war sie von der Art, daß man nach den getroffnen Maßregeln voraussetzen muß, daß eine kriegerische oder auch nur militärische Lösung der schwebenden Fragen in letzter Instanz in Berlin überhaupt nicht in Erwägung gezogen wurde. Man war zu sehr mit öffentlicher Meinung, Reden, Zeitungen und Verfassungsmacherei präoccupirt, um auf dem Gebiete der auswärtigen, selbst nur der außerpreußischen deutschen Politik zu festen Absichten und praktischen Zielen gelangen zu können. Stockhausen war nicht im Stande, die Unterlassungssünden und die Planlosigkeit unsrer Politik durch plötzliche militärische Leistungen wieder gut zu machen, und gerieth so in eine Situation, die selbst der politische Leiter des Ministeriums, Graf Brandenburg, nicht für möglich gehalten hatte. Denn derselbe erlag der Enttäuschung, welche sein hohes patriotisches Ehrgefühl in den letzten Tagen seines Lebens erlitten hatte.S. o. S. 85 erste Anm. Es ist Unrecht, Stockhausen der Kleinmütigkeit anzuklagen, und ich habe Grund zu glauben, daß auch König Wilhelm I. zu der Zeit, da ich sein Minister wurde, meine Auffassung bezüglich der militärischen Situation im November 1850 theilte.Im Jahre 1850 war er für den Krieg; vgl. Brief Bismarck's vom 16. Nov. 1850, Bismarck's Briefe an seine Braut und Gattin S. 213. Wie dem auch sei, mir fehlte damals jede Unterlage zu einer Kritik, die ich als conservativer Abgeordneter einem Minister auf militärischem Gebiete, als Landwehr-Lieutenant dem General gegenüber hätte ausüben können.
Stockhausen übernahm es, mein in der Lausitz liegendes Regiment zu benachrichtigen, daß er dem Lieutenant von Bismarck befohlen habe, in Berlin zu bleiben.Vgl. Brief vom 16. Nov. a. a. O.: »Meine Stelle in der Schwadron wird besetzt werden, und ich erhalte, wenn es wider Erwarten doch noch losgehn sollte, anderweite Verwendung.« Ich begab mich zunächst zu meinem Landtagscollegen Justizrath Geppert, der damals an der Spitze zwar nicht meiner Fraction, aber doch derjenigen Zahlreichen stand, welche man das rechte Centrum hätte nennen können, und die zur Unterstützung der Regirung geneigt waren, aber die energische Wahrnehmung der nationalen Aufgabe Preußens nicht nur prinzipiell, sondern auch durch sofortige militärische Bethätigung für angezeigt hielten. Ich stieß bei ihm in erster Linie auf parlamentarische Ansichten, die mit dem Programme des Kriegsministers nicht übereinstimmten, mußte mich also bemühn, ihn von einer Auffassung abzubringen, die ich selbst vor meiner Unterredung mit Stockhausen in der Hauptsache getheilt hatte, und die man als natürliches Erzeugniß eines verletzten nationalen oder preußisch-militärischen Ehrgefühls bezeichnen kann. Ich erinnre mich, daß unsre Besprechungen von langer Dauer waren und wiederholt werden mußten. Ihre Wirkung auf die Fractionen der Rechten läßt sich aus der Adreßdebatte entnehmen. Ich selbst habe am 3. December meine damalige Ueberzeugung in einer Rede ausgesprochen, der die nachstehenden Sätze entnommen sind:
»Das preußische Volk hat sich, wie uns Allen bekannt ist, auf den Ruf seines Königs einmüthig erhoben, es hat sich in vertraunsvollem Gehorsam erhoben, es hat sich erhoben, um gleich seinen Vätern die Schlachten der Könige von Preußen zu schlagen, ehe es wußte, und, meine Herrn, merken Sie das wohl, ehe es wußte, was in diesen Schlachten erkämpft werden sollte; das wußte vielleicht Niemand, der zur Landwehr abging.
Ich hatte gehofft, daß ich dieses Gefühl der Einmüthigkeit und des Vertrauns wiederfinden würde in den Kreisen der Landesvertretung, in den engern Kreisen, in denen die Zügel der Regirung auslaufen. Ein kurzer Aufenthalt in Berlin, ein flüchtiger Blick in das hiesige Treiben hat mir gezeigt, daß ich mich geirrt habe. Der Adreßentwurf nennt diese Zeit eine große; ich habe hier nichts Großes gefunden als persönliche Ehrsucht, nichts Großes als Mißtrauen, nichts Großes als Parteihaß. Das sind drei Größen, die in meinem Urtheile diese Zeit zu einer kleinlichen stempeln und dem Vaterlandsfreunde einen trüben Blick in unsre Zukunft gewähren. Der Mangel an Einigkeit in den Kreisen, die ich andeutete, wird in dem Adreßentwurfe locker verdeckt durch große Worte, bei denen sich Jeder das Seine denkt. Von dem Vertraun, das das Land beseelt, von dem hingebenden Vertraun, gegründet auf die Anhänglichkeit an Seine Majestät den König, gegründet auf die Erfahrung, daß das Land mit dem Ministerium, welches ihm zwei Jahre lang vorsteht, gut gefahren ist, habe ich in der Adresse und in ihren Amendements nichts gespürt. Ich hätte dies um so nöthiger gefunden, als es mir Bedürfniß schien, daß der Eindruck, den die einmüthige Erhebung des Landes in Europa gemacht hat, gehoben und gekräftigt werde durch die Einheit derer, die nicht der Wehrkraft angehören, in dem Augenblicke, wo uns unsre Nachbarn in Waffen gegenüberstehn, wo wir in Waffen nach unsern Grenzen eilen, in einem Augenblicke, wo ein Geist des Vertrauens selbst in solchen herrscht, denen er sonst nicht angebracht schien; in einem Augenblicke, wo jede Frage der Adresse, welche die auswärtige Politik berührt, Krieg oder Frieden in ihrem Schoße birgt; und, meine Herrn, welchen Krieg? Keinen Feldzug einzelner Regimenter nach Schleswig oder Baden, keine militärische Promenade durch unruhige Provinzen, sondern einen Krieg in großem Maßstabe gegen zwei unter den drei großen Continentalmächten, während die dritte beutelustig an unsern Grenzen rüstet und sehr wohl weiß, daß im Dome zu Köln das Kleinod zu finden ist, welches geeignet wäre, die französische Revolution zu schließen und die dortigen Machthaber zu befestigen, nämlich die französische Kaiserkrone . . .
Es ist leicht für einen Staatsmann, sei es in dem Cabinete oder in der Kammer, mit dem populären Winde in die Kriegstrompete zu stoßen und sich dabei an seinem Kaminfeuer zu wärmen oder von dieser Tribüne donnernde Reden zu halten und es dem Musketier, der auf dem Schnee verblutet, zu überlassen, ob sein System Sieg und Ruhm erwirbt oder nicht. Es ist nichts leichter als das, aber wehe dem Staatsmann, der sich in dieser Zeit nicht nach einem Grunde zum Kriege umsieht, der auch nach dem Kriege noch stichhaltig ist . . .
Die preußische Ehre besteht nach meiner Ueberzeugung nicht darin, daß Preußen überall in Deutschland den Don Quixote spiele für gekränkte Kammer-Celebritäten, welche ihre locale Verfassung für gefährdet halten. Ich suche die preußische Ehre darin, daß Preußen vor Allem sich von jeder schmachvollen Verbindung mit der Demokratie entfernt halte, daß Preußen in der vorliegenden wie in allen andern Fragen nicht zugebe, daß in Deutschland etwas geschehe ohne Preußens Einwilligung, daß dasjenige, was Preußen und Oestreich nach gemeinschaftlicher unabhängiger Erwägung für vernünftig und politisch richtig halten, durch die beiden gleichberechtigten Schutzmächte Deutschlands gemeinschaftlich ausgeführt werde . . .
Die Hauptfrage, die Krieg und Frieden birgt, die Gestaltung Deutschlands, die Regelung der Verhältnisse zwischen Preußen und Oestreich und der Verhältnisse von Preußen und Oestreich zu den kleinern Staaten, soll in wenigen Tagen der Gegenstand der freien Conferenzen werden, kann also jetzt nicht Gegenstand eines Krieges sein. Wer den Krieg durchaus will, den vertröste ich darauf, daß er in den freien Conferenzen jederzeit zu finden ist: in vier oder sechs Wochen, wenn man ihn haben will. Ich bin weit davon entfernt, in einem so wichtigen Augenblicke, wie dieser ist, die Handlungsweise der Regirung durch Rathgeben hemmen zu wollen. Wenn ich dem Ministerium gegenüber einen Wunsch aussprechen wollte, so wäre es der, daß wir nicht eher entwaffnen, als bis die freien Conferenzen ein positives Resultat gegeben haben; dann bleibt es noch immer Zeit, einen Krieg zu führen, wenn wir ihn wirklich mit Ehren nicht vermeiden können oder nicht vermeiden wollen.
Wie in der Union die deutsche Einheit gesucht werden soll, vermag ich nicht zu verstehn; es ist eine sonderbare Einheit, die von Hause aus verlangt, im Interesse dieses Sonderbundes einstweilen unsre deutschen Landsleute im Süden zu erschießen und zu erstechen; die die deutsche Ehre darin findet, daß der Schwerpunkt aller deutschen Fragen nothwendig nach Warschau und Paris fällt. Denken Sie sich zwei Theile Deutschlands einander in Waffen gegenüber, deren Machtverschiedenheit nicht in dem Grade bedeutend ist, daß nicht eine Parteinahme auf einer Seite auch von einer geringern Macht als Rußland und Frankreich ein entscheidendes Gewicht in die Wagschale legen könnte, und ich begreife nicht, mit welchem Recht Jemand, der ein solches Verhältniß selbst herbeiführen will, sich darüber beklagen darf, daß der Schwerpunkt der Entscheidung unter solchen Umständen nach dem Auslande fällt.«
Mein leitender Gedanke bei meiner Rede war, im Sinne der Ueberzeugung des Kriegsministers für den Aufschub des Krieges zu wirken, bis wir gerüstet sein würden. In seiner Klarheit konnte ich aber den Gedanken nicht öffentlich aussprechen, ich konnte ihn nur andeuten. Es wäre kein übermäßiger Anspruch an die Geschicklichkeit unsrer Diplomatie gewesen, von ihr zu verlangen, daß sie den Krieg nach Bedürfnis verschieben, verhüten oder zum Ausbruch bringen solle.
Zu jener Zeit, November 1850, war die russische Auffassung der revolutionären Bewegung in Deutschland schon eine viel ruhigere als bei dem ersten Ausbruche im März 1848. Ich war befreundet mit dem russischen Militär-Attaché Grafen Benckendorf und erhielt 1850 im vertrauten Gespräche mit ihm den Eindruck, daß die deutsche einschließlich der polnischen Bewegung im Petersburger Cabinete nicht mehr in demselben Maße wie bei ihrem Ausbruche in Petersburg beunruhigte und als eine militärische Gefahr im Kriegsfalle aufgefaßt wurde. Im März 1848 erschien den Russen die Entwicklung der Revolution in Deutschland und Polen noch als etwas Unberechenbares und Gefährliches. Der erste russische Diplomat, der in Petersburg durch seine Berichte eine andre Ansicht vertrat, war der damalige Geschäftsträger in Frankfurt am Main, spätre Gesandte in Berlin, Baron von Budberg. Seine Berichte über die Verhandlungen und die Bedeutung der Paulskirche waren von Hause aus satirisch gefärbt, und die Geringschätzung, mit welcher dieser junge Diplomat von den Reden der deutschen Professoren und von der Machtstellung der Nationalversammlung in seinen Berichten sprach, hatte den Kaiser Nicolaus dergestalt befriedigt, daß Budberg's Carrière dadurch gemacht und er sehr schnell zum Gesandten und Botschafter befördert wurde. Er hatte in ihnen vom antideutschen Standpunkte eine analoge politische Schätzung zum Ausdruck gebracht, wie sie in den altpreußischen Kreisen in Berlin, in denen er früher gelebt hatte, in landsmannschaftlicher und besorgter Weise herrschend war, und man kann sagen, daß die Auffassung, als deren erster Erfinder er in Petersburg Carrière machte, dem Berliner »Casino« entsprungen war. Seitdem hatte man in Rußland nicht nur die militärische Stellung an der Weichsel wesentlich verstärkt, sondern auch einen geringern Eindruck von der damaligen militärischen Leistungsfähigkeit der Revolution sowohl wie der deutschen Regirungen gewonnen, und die Sprache, welche ich im November 1850 bei dem mir befreundeten russischen Gesandten Baron Meyendorff und seinen Landsleuten hörte, war eine im russischen Sinne vollkommen zuversichtliche, von einer persönlich wohlwollenden, aber für mich verletzenden Theilnahme für die Zukunft des befreundeten Preußens durchsetzt. Sie machte mir den Eindruck, daß man Oestreich für den stärkern und zuverlässigern Theil und Rußland selbst für stark genug hielt, um die Entscheidung zwischen beiden in die Hand zu nehmen.
Mit den Mitteln und Gewohnheiten des auswärtigen Dienstes noch nicht so vertraut wie später, war ich doch als Laie nicht zweifelhaft, daß der Krieg, wenn er für uns überhaupt geboten oder annehmbar erschien, auch nach Olmütz in den Dresdner Verhandlungen jederzeit gefunden und durch Abbruch derselben herbeigeführt werden konnte. Stockhausen hatte mir gelegentlich sechs Wochen als die Frist bezeichnet, deren er bedürfte, um fechten zu können, und es wäre nach meiner Ansicht nicht schwer gewesen, das Doppelte derselben durch geschickte Leitung der Verhandlungen in Dresden zu gewinnen, wenn bei uns die momentane Unfertigkeit der militärischen Rüstungen der einzige Grund gewesen wäre, uns eine kriegerische Lösung zu versagen. Wenn die Dresdner Verhandlungen nicht dazu benutzt worden sind, im preußischen Sinne entweder ein höheres Resultat oder einen berechtigt erscheinenden Anlaß zum Kriege zu gewinnen, so ist mir niemals klar geworden, ob die auffällige Beschränkung unsrer Ziele in Dresden von dem Könige oder von Herrn von Manteuffel, dem neuen auswärtigen Minister, ausgegangen ist. Ich habe damals nur den Eindruck gehabt, daß letztrer nach seinem Vorleben als Landrath, Regirungs-Präsident und Director im Ministerium des Innern sich in der Sicherheit seines Auftretens durch die renommirenden vornehmen Verkehrsformen des Fürsten Schwarzenberg genirt fühlte. Schon die häusliche Erscheinung Beider in Dresden – Fürst Schwarzenberg mit Livreen, Silbergeschirr und Champagner im ersten Stock, der preußische Minister mit Kanzleidienern und Wassergläsern eine Treppe höher – war geeignet, auf das Selbstgefühl der betheiligten Vertreter beider Großmächte und auf ihre Einschätzung durch die übrigen deutschen Vertreter nachtheilig für uns zu wirken. Die alte preußische Einfachheit, die Friedrich der Große seinem Vertreter in London mit der Redensart empfahl: »Sage Er, wenn Er zu Fuß geht, daß 100 000 Mann hinter ihm gehn,« bezeugt eine Renommage, die man dem geistreichen Könige nur in einer der Anwandlungen von übertriebener Sparsamkeit zutraun kann.Vgl. Bismarck's Aeußerung, Politische Reden II (2. Aufl.) 144. 384; V 160. 168. Heut hat jeder 100 000 Mann, nur wir hatten sie, wie es scheint, zur Dresdner Zeit nicht verfügbar. Der Grundirrthum der damaligen preußischen Politik war der, daß man glaubte, Erfolge, die nur durch Kampf oder durch Bereitschaft dazu gewonnen werden konnten, würden sich durch publicistische, parlamentarische und diplomatische Heucheleien in der Gestalt erreichen lassen, daß sie als unsrer tugendhaften Bescheidenheit zum Lohn oratorischer Bethätigung unsrer »deutschen Gesinnung« aufgezwungen erschienen. Man nannte das später »moralische« Eroberungen; es war die Hoffnung, daß Andre für uns thun würden, was wir selbst nicht wagten.