Theodor Birt
Von Haß und Liebe
Theodor Birt

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Das Idyll von Capri

Ein Winter auf Capri! Wohl jedem, der ihn einmal erleben durfte! Im Winter fehlt dort die arge Unrast, es fehlen die Fremden. Großartige Stille, ein Leben der Verzauberung, als sollte man nie erwachen! Ist es ein Frevel, daß meine Phantasie da Lichtstrahlen fing, als könnte sie aus ihnen Geschichten weben? Das Meer um mich her, das im Wogengang seinen großen Atem zieht! das hübsche Inselvölkchen bei seinem Tagewerk, und ich selbst so müßig! Der Saumselige wird zum Traumseligen, zumal wenn der Muskatwein im Glase perlt. Von den Felsen aber starren sagenhaft dräuend die Ruinen der Römerzeit herein, und mein Traum, der anfangs schlummerhaft sanft dahingleitet, als gäbe es kein Erleben, wird plötzlich ein Traum der Schrecken. Ich will ihn gleichwohl erzählen. Möge der Leser sich nicht ängstigen, wenn er von Kaiser Tiberius hört.

Denn das Ereignis wird zum Bilde,
Nur Lebensbilder biet' ich dar,
Und in der Zeichnung scheint dir milde,
Was einst im Leben schrecklich war.

* * *

Noch stand der Vesuv gelassen und ruhig über Neapel, eine breite Bergpyramide mit nur einem Gipfel, ohne Rauch und Feueratem, ein Simulant des Friedens; üppige Wälder und Gärten an seinen Hängen; sorglos zu seinen Füßen Herkulanum, Stabiae und Retina, die blinkenden Städte, Herbergen des Reichtums; und das lustige Völkchen Pompejis lief noch in geschäftigem Müßiggang umher in seinen Gassen. Auf den Vesuv und auf Neapel aber schaute, 58 damals wie heut, der schmale Hafen Capris, der einzige der Insel. Die Steinhütten der Strandbewohner standen in langer Zeile an den Felsrücken gelehnt. Im Erdgeschoß Werkstätten und Schenken und die leeren Schuppen für die Barken in Winterszeit, im Oberstock die engen und kühlen Schlafräume. Farbige Tücher und Kissen lüften und sonnen sich auf den Söllern. Am Strand aber ist alles rege, und Lastträger und Sänftenträger, Ruderknecht und Backwerkverkäufer haben zu tun.

Denn der Frühling ist da. Die Fremden kommen aus den Städten herüber, um Capri zu sehen. Um die Schläfen der Insel rankten sich schon die junggrünen Rebentriebe. Die Feigenbäume bekleiden sich. Das Meer tobt nicht mehr und gibt dem Fischer gelassen seine Beute; es ist am Strand wie flaschengrün, in der Ferne wie feuchtgewordene blaue Seide. Die Delphine ziehen heiter ihre Reigen. Und nur die einsame Pinie auf hohem Kalkfelsengrat scheint dort oben keine Jugend zu spüren, die grämlich und zerbrochen mit zwei wettergekrümmten Armen auf das Meer weist, eine Standarte des Neptun.

Netze und Boote und die Woge selbst, die leise brandet, atmen kräftigen Strandgeruch, den Geruch nach Tang und Fischen. Ein Netz liegt über die Steine weithin gebreitet, so daß es fast die halbe Länge des Gestades umsäumt; und Knaben und Greise sitzen nieder und wetteifern stundenlang es auszubessern. Ein anderes Netz wird zum Fang von fünf starken Männern in die Barke getragen. Denn es ist klare Luft, und der Wind kommt von Norden.

59 Rechts sonnen sich die unbenutzten Barken und schillern grell in allen Farben; denn sie sind für die beginnende Sommerszeit frisch bemalt. Nur die größeren tragen Masten. Sie sind's, auf denen der Capreot sich bis nach Sizilien, ja bis zum fernen afrikanischen Cirta wagt, um beim Fischfang fern der Heimat lange Monate zu verbringen. Jetzt aber tun alle Boote, als hielten sie Mittagsschlaf, und liegen so schwerfällig und breitbäuchig da, als ob sie nicht schwimmen könnten und als trüge sie kaum der Ufersand. Da tönt der Ruf: »Nach Sorrentum, nach Sorrentum!« Soldaten kommen und wollen übersetzen. Mit Geschrei und Grimassen drängen die Schiffer sich um sie, preisen ihr Fahrzeug an und unterbieten sich. Die Soldaten werfen den Kopf zurück, spucken und lachen. Bald wird auf hölzernen Bohlen ein Kahn ins Wasser geschoben; er tanzt auf der glatten Woge leicht dahin, und das Lärmen ist für kurze Zeit verstummt.

Esel laufen ungezäumt und übermütig zwischen den Barken herum: ein lustiger Anblick! Hier wächst kein Gras, aber doch Freiheit, und Freund Langohr vergißt gern, wie bald der Lastballen seinen Rücken drücken wird, wenn er die Inselpfade zu den Villen der Vornehmen hinaufklettert. Und da sind der Nichtstuer noch mehr. Auch die Buben sind frei, da die Lehrstunde zu Ende; sie tollen sich, plätschern im Wasser, greifen zwischen den Steinen schiefwandelnde Krabben, oder sie laufen wie der Wind hinter dem Reifen den Steg entlang: kecke und weltkluge Jungen, aber so klein an Wuchs, daß sie durch ihren 60 Reifen treten könnten. Denn das Capreser Volk ist kein Geschlecht von Riesen, aber es ist wohlgebaut wie seine Götter.

Da sammelt sich plötzlich alles mit Lachen und Zuruf bei der Garküche. Denn der Mann im bunten Rock mit Affen und Pudel ist vor die Türe getreten, und die Kunststückchen der dressierten Tiere beginnen. Da waren wohl ein Dutzend Affen, die die Sturmhaube trugen und mit dem Römerschwert possierlich salutierten und schlugen. Die Satteldecke des Pudels trug die Aufschrift: Senatus populusque Romanus; der Unternehmer aber blies auf einer verbogenen Tube einen erschütternden, echt römischen Kriegsmarsch dazu. Die Jugend sah und hörte das mit großen Augen: denn für diese Insulaner, die Kinder des Friedens, war der Krieg nichts als eine Sage oder ein seltsam närrischer Mummenschanz.

Alexis, der junge Fischer, des alten Theognis jüngster Sohn, stand in der Tür seiner Kabine und achtete des Treibens wenig, das ihm nicht neu war, sondern genoß in ruhiger Muße die nachmittägliche Stunde, die Neapel jenseits des Golfes im strahlenden Lichte zeigte. Er stand und sah den stattlichen Schiffen zu, die tief im Wasser liegend mit Segel und Ruderschlag von drüben sich nahten, Anker warfen und ihre Ladung abgaben. Da waren Lastkähne voll Obst und seltener Gemüse, voll tonbäuchiger Amphoren und Schläuchen Weines; andere wieder führten Kulturpflanzen und nährendes Erdreich, ja ganze Zitronenbäume herüber, das Wurzelwerk sorglich in Erde eingetan.

61 Denn die Wein- und Ölgärten auf der Insel mehren sich; sie werden dem spröden Felsen aufgeimpft: weil des Augustus Erbe, der große Kaiser Roms, nun schon im sechsten Jahr auf dieser Insel wohnt. Das bringt Geld und Erwerbseifer unter die Insulaner, und sie bauen Terrasse über Terrasse und pflanzen in dem teuer erhandelten Erdreich Öl und Wein. Oft aber ist Mühe und Geld verschwendet, und der starke Winterregen fegt Gartenmauer, Erdsohle und Stauden in die Tiefe.

Die Schläuche aber voll lesbischen Weines, die Amphoren des Massikers und Falerners, das Obst und die Leckereien des Festlandes sind alle für des Kaisers Speisetische bestimmt. Da kommen dann in ihren Scharlachhemden die Negersklaven des Hofes und laden aus und schaffen die Herrlichkeiten zum Kamm des Gebirges, wo 900 Fuß senkrecht über dem Meere der Palast des Herrschers thront. Der Eingeborene sieht das Treiben mit Neugier und Befremden. Er neidet niemandem die Genüsse, die nicht die Gabe seiner Heimat sind.

Alexis stand noch immer in seiner niederen Tür wie in einem Rahmen und dehnte sich in Behagen an dem Pfosten, und indem sein Körper das Gewicht abgab, zeigte die jugendliche Gestalt ihren schönsten Umriß. Er war der kommenden Leidenschaft nicht gewärtig und sann auf nichts und begehrte nichts und war unbewußt wie eine Pflanze ganz im Genuß der eigenen werdenden Existenz, rieb sich mit streichender Hand lässig Antlitz und Hals und die entblößten Arme und schaute gleichmütig auf die Bietenden, die 62 da neu herzukamen und ein Boot verlangten. Er hatte für eine Inselumfahrt heute in der Frühstunde vier blanke Denare erhalten. Sein Vater hatte sie ihm mit einem »Laß sehen, mein Glücksjunge« eilfertig abgenommen. Er konnte jetzt rasten.

Zum Alexis trat, die Hände im Gürtel, langsam Simichus aus der Nachbarhütte. Simichus war um ein Jahr jünger, hager und braun von Angesicht und war in der täglichen Freundschaft des Alexis herangewachsen. Unter den schweren Augenbrauen lag sein scharf blickendes Auge in ernster, schwermütiger Glut. So grüßte er mit einem Blick den Freund und blieb schweigsam. Auf der Steinbank lag Tauwerk und Fischerhüte. Die schoben sie zur Seite, saßen nieder und lehnten sich aneinander in Kindergewohnheit.

In ihnen lebten Gedanken, die sie selbst nicht dachten. Sie suchten nach keinem Wort, harrten so Sommer für Sommer ihrer Zukunft, wie die Traube der Reife harrt, und atmeten die berauschende junge Gegenwart, die über das Meer in Frühlingslüften fächelte. Und doch waren die eng verwachsenen Seelen verschieden gerichtet, und die Zeit nahte, da sie sich trennen und lösen sollten. Denn während der Jüngere nach Knabenweise noch ganz an seinem Freunde hing, spähte des Alexis Seele unbewußt hinaus nach einem Glück, das nicht Freundschaft war, und er spürte ahnend die eigene Männlichkeit, die sich sehnt nach dem Zutrauen eines Weibes.

»Dein Vater ist fleißig, und sein Werk ist bald beendet,« sprach jetzt Alexis. »Und du läßt ihn arbeiten und hilfst ihm nicht?«

63 Des Simichus Vater stand gebückt in seiner Bark. Er hatte sie tief schwarz bemalt, und nun lag sie trauernd auf den Steinen zwischen ihren bunten Gespielinnen. Es blieb dem Alten nur übrig, die schmalen Ruder schwarz zu färben.

Simichus erwiderte: »Es ist Vaters Sache, und er hat Hilfe verschmäht. So trauert nun auch unser Schiff mit uns. Du weißt von den Piraten, die meine Schwester vom Strande entführt haben sollen, da sie allein im Hause war. Wir forschten nun neun Tage umsonst nach ihr. Auch den Kriegsschiffen vom Misener Hafen sind die dreisten Räuber entgangen. Nun fahren wir in Trauerfarben auf See so lange, bis irgendein Gott sie uns wiederbringt.«

Wer mag der Räuber gewesen sein? War es Korymbus, der Piratenhäuptling? Man wußte es nicht. Oder war es gar ein anderer gewesen, den man als Täter nicht zu denken wagte? ein Anderer und Gewaltigerer, der hier als Geier unter den Tauben horstete?

Aber der Sinn der Jugend verweilt bei der Trübsal nicht lange. Alexis' Auge flog über das Meer, und sie sprachen und riefen: »Sieh hin! Der Segler des Philadelphus kommt herüber! das schönste Schiff Neapels! Er ist noch weit, aber man erkennt alles auf Meilen.«

Es war ein Schiff, blendend in Weiß und Gold; am hochgebogenen Schnabel trug es die Venus im Abbild, die auf den Flügeln des Schwanes ritt. In die hochgestellten dreieckigen Segel waren Delphine gewebt, die auf gebogenem Rücken Knaben trugen. 64 Die Knaben sind Liebesgötter, und die Liebe ist es, die den Philadelphus von Neapel herführt.

»Was kümmern ihn aber die Töchter unsrer Insel?« grollten die zwei. »Schöne Mädchen sind in Neapel genug. Und er kommt hierher nicht zum erstenmal, zu solcher Zeit, da der Mittag längst vorüber.«

»Er wird auf das Schloß des Kaisers geladen sein und dort nächtigen. Den nüchternen Morgen zu Haus; den Abend bei Musik und Wein auf unsrer Insel! Wir werden es hören, wenn der Mond hoch ist; denn es schallt nachts, als tafelten die Götter, droben vom Kaiserhause zu uns herab, vom Felsen des Jupiter und des Tiber.«

»Tiber? Nenne den Namen nicht. Er ist unheimlich, und man soll ihn nicht aussprechen.«

Die Knaben sanken wie scheu in ihr Schweigen zurück und sahen nicht ohne Spannung dem herrlichen Schiffe zu, das sich aus den Wellen schon deutlicher löste, als regte eine Möwe die breiten Schwingen und tauchte aus der Tiefe. Aber die lachenden jonischen Melodien konnten sie nicht hören, die auf Deck ertönten, wo der junge Herr Philadelphus, der Alcibiades Neapels, seine Mannschaft in Wein begrub, indessen er selbst übermütig die Segel stellte und dem Steuermann zurief: »Das Steuer nicht gewechselt! Steif gerade Linie gehalten! haarscharf auf meiner Liebsten Haus, das dort hoch oben am Gebirge wie ein weißes Fähnchen hängt.«

Die Knaben hörten dies nicht. Wohl aber sahen sie jetzt vor sich aus einem Lastkahn, der vor kurzem gelandet, Weiber steigen, den Kopf mit schweren 65 Felssteinen belastet: sechs weibliche Gestalten, die grad' ausgerichtet, nicht um sich schauend und ganz nur die Stützen ihrer Last, hintereinander den Hafenpfad entlang zur Bergessteile schritten, bis zu der großen Treppe hin, die kühn und schroff vom Meere aus das westliche Gebirge in wohl an 1000 gehauenen Stufen erklimmt, eine Leiter, die Himmel und Meer verbindet. Die letzte der Frauen war Myrto, die an Alexis vorüberschritt, Myrto, des Weingärtners Simon älteste Tochter. Sie wohnte fernab im Hochgebirge; und seit droben das letzte Kelterfest des Winters gefeiert wurde, hatte sie Alexis nicht wieder gesehen; damals hatte sie seinen knabenhaften Gruß kaum erwidert und ihm flüchtig die Hand, aber kein Wort gegönnt. Es kränkte ihn nicht, und er blieb scheu und fromm in seinem Herzen; denn er wußte, daß ihr Leumund sagte, sie sei stolz und klug und bewahre sich selbst, das Elfenbein sei nicht fleckenloser als ihre Tugend, und sie habe noch keinem Knaben den Blick in ihr schwarzes Auge gegönnt.

Nun nahte sie ihm unerwartet, den Felsstein auf dem Haupt, der, kunstvoll behauen, ihr Gartentor auf der neuen Terrasse schmücken sollte: unter der Last ein gelbes Kopftuch, das zum ringförmigen Polster gedreht war und ihr Haar verbarg. Schwarze Strähnen fielen ihr in die Stirn. Den Zipfel des Kopftuchs, der sich gelöst, hielt sie mit den weißen Zähnen, und die Oberlippe zog sich gespannt, ein Zug der Anstrengung und des lieblichsten Stolzes zugleich. Gewohnt, Lasten auf dem Haupt zu tragen, hielt sie sich steil, wie ein dächerstützendes Steinbild des Phidias, das da zu 66 wandeln begonnen, wiegte sich frei und sicher in den Hüften und schob den Unterkörper kräftig vor, bloß nach dem Naturgesetz der Schwere und ohne Lüsternheit, und es war eine keusche Wonne dies zu sehen.

So schritt ihr Profil an Alexis vorüber. Er sah es, entzückt und doch befangen, und getraute sich nicht sie anzurufen, als um ihre Lippen ein Lächeln flog, ihre Brauen sich zogen und das große, tiefe, nachtdunkle Auge des Mädchens rasch seitlich blickend mit einem hellen Blitz ihn traf. Er errötete tief, sprang auf und rief sie aus der Ferne mit Namen an. Da stand Myrto für einen Augenblick, ließ das Tuch aus ihren starken Zähnen fallen und sprach freundlich mit leichtem Ton: »Mein Junge, ich muß voran, indessen du träge sitzest. Bist du mit deinem Werk zufrieden, dann darfst du hinaufkommen und mir erzählen. Frischen Käse und Honig hat die Mutter, und unser Wein verrinnt nicht.«

So sprach sie und war mit raschem Schritt vorüber. Hatte er recht gehört? und täuschte ihn sein Auge nicht? Es war Myrto, und sie hatte ihn in ihr Haus gerufen, sie hatte ihn angesehen, wie sie wohl keinen ansah. Ein seltsamer Schreck befiel ihn. Sehnsüchtiger Drang, ein plötzliches Unsagbares, das er nie gekannt und nicht begriff, schwoll in ihm auf. Ihm war, als müßte er in diesem Augenblick hinweg von hier, als hätte dieser Augenblick ihn mündig gesprochen. Wer war er? War er nicht wie bisher der Knabe Alexis, der Freund seines Simichus?

Simichus zog ihn auf die Bank zurück und sprach zu ihm; er hörte ihn nicht. Auch ruhte sein Auge 67 nicht mehr auf dem Meeresspiegel, und er gewahrte kaum, wie mit lauter Musik des Philadelphus Schiff näher und näher kam. Vielmehr erklomm sein Blick, dem Mädchen folgend, die steile Felsentreppe, die sie erstieg, und spähte ihr mit wachen, erregten Sinnen nach, als trüge sie einen Schatz mit sich, der ihm gehörte, und er dürfte ihn nicht aus dem Auge verlieren. Auch war kaum das Viertel einer Stunde verronnen, als er in raschem Sprunge ohne Gruß seinen Freund verließ, die Rohrpfeife aus der Kammer holte und ihr, erst schneller, dann in gemessenem Schritt nachwandelte. Myrto hörte, langsam ansteigend, hinter sich ein einfältiges Lied, das, mit starkem Odem geblasen, ihr inbrünstig und wie lockend aus der Tiefe folgte; der Seewind trug ihr die Klänge hinauf. Wenn sie stille stand, um zu rasten, lösten sich ihre Lippen, und sie ließ einen hellen Vogelruf erschallen. Dann jauchzte er leise. Sein Lied aber kam ihr niemals näher. Denn Alexis bedachte wohl, daß sie allein schreiten mußte, um achtsam aufzutreten und nicht in den Abgrund abzustürzen.

Simichus aber war scharfsichtig; er sah beiden in Bestürzung nach, und sein zärtliches junges Herz füllte sich mit Bitterkeit. Er hatte die Worte Myrtos wohl verstanden, hatte, an den Freund geschmiegt, gefühlt, wie fremde Unruhe seinen Leib durchbebte, und die Eifersucht kindischer Freundschaft bäumte sich in ihm auf, ein neidischer Haß gegen das Mädchen, das ihm mit der Allmacht des Weibes den täglichen Gespielen zu rauben drohte.

* * *

68 Inzwischen sammelte sich oben in der Gasse das Frauen- und Männervolk, das von der Arbeit kam.

Denn in drei Siedelungen wohnte von alters her dies Inselvolk. Über den Strandhäusern des Hafens, doch unter dem Sattel des Gebirgs, lag in halber Höhe das schmucke Hauptstädtchen »Kapria« (oder Katokapria), mit dem Heiligtum des Herkules. Hier wohnte der Präfekt, den der Kaiser eingesetzt; denn die Insel war, seit Augustus hier gewohnt, Privatbesitz der Kaiser. Fernab dagegen auf der gigantischen Westinsel in doppelter Gebirgshöhe streckte sich einsam und abgeschieden das Dorf, das nach seiner erhabenen Lage »Anokapria« hieß, an die hundert Steinhäuser, die würfelförmig, mit flachgewölbten Dächern, beieinander standen, von üppigen Gärten und Feldpflanzungen überragt bis da, wo das kalkige Hochgebirge des Sonnenfelsens kahl und unwegsam wird. Denn über dem Dorf ragte machtvoll der Sonnenfels oder »Mons Solarius«, ein Koloß mit hohen steinernen Achseln, das Haupt zwischen die Schultern gedrückt: so stand er da und krümmte seinen Riesenrücken im Sonnenschein. Schon zeigte die Nachmittagssonne ihre Kraft; die Felsen begannen zu glühen; die weißen Häuser hingen entschlummernd in seinen Falten und starrten reglos wie Eidechsen in das Licht. Die warme Luft zitterte. In den Bäumen sangen schrill die Zikaden, die unermüdlichen, und Mensch und Pflanze atmete die linde Jugendkraft des hesperischen Sommers.

Die Anwohner hießen hier oben die Anokaprioten, und daß unter ihnen die schönsten Frauen Italiens 69 zu finden seien, am Strande dagegen die schönsten Jünglinge, rühmten die Künstler Roms, die da Götter nach Menschen bilden. Aber auch andere wußten es zu rühmen und zu schätzen.

Die schönste unter den Weibern des Dorfes war aber unstreitig nicht Myrto, sondern die junge Anyte, die bei Freunden und Neidern jedoch nur Anassa hieß, Anassa, das ist die Herrscherin, weil sie bei den Festen herrschte unter den Schönen. Sie war ein Waisenkind und besaß als einzige Erbin am linken Ende des Ortes ein Häuschen mit reichem Garten, das hoch über dem Meer an den senkrechten Felsen gemauert war. Anassa war das Idealbild einer Griechin; wer also möchte sie beschreiben? Ihr Angesicht trug jene erstaunliche Regelmäßigkeit der Zeichnung, die der Sterbliche meist nur an kühlen Marmorbildern wahrnimmt. Wer aber solcher Marmorgestalt im Leben begegnet und diese normalsten Formen von rosigem jungem Leben durchglüht, wer sie sprechen und lachen sieht in süßer, atmender Wirklichkeit, der ist bestürzt und erregt, da er das Überirdische auf Erden und im Fleische sieht. Der Leichtsinn des Kindes aber lebte in diesem Mädchen, und das süßeste Lachen war heimisch auf diesen Pfirsichwangen.

Ihre Freundin und Vertraute war Herse, die die böse Narbe auf der Wange trug; sie wohnte bei ihr; beide nährten sich reichlich vom Ertrag des Gartens und konnten im Tauschhandel noch vieles abgeben. Die Gartenarbeit aber fiel Herse zu. Anassa saß jetzt eben, wie oft, am Steintisch der Oleanderlaube; der Fächer entfiel ihr; sie kämpfte mit ihrer Müdigkeit. 70 Hatte sie die letzte Nacht durchwacht? Das Kinn ruhte in den nackten Armen, und so zeigten die blauschwarzen Haare, mit schwerem Knoten leichtsinnig im Nacken gerafft, die melodisch länglich geschwungene Kopfform und strömten ihr nach vorn in voller Flut um die weißen Schläfen. Die Augen fielen ihr zu; die schöne Nase sank und sank tiefer, und man sah nur noch die mondhelle Stirn und die schwer müde zugeschlagenen Augenlider, und Brauen und Wimpern warfen tiefe Schatten in die Blendung.

Da eilte Herse herzu und weckte sie. »Anassa, schau auf das Meer! Das Schiff naht! er wird kommen!« Und beide stürzten an den Rand des Gartenlandes, stellten sich hoch auf die schwindelnde Mauer und hörten nicht auf, nach dem Schiff zu spähen.

Auf der Hauptgasse und über den Marktplatz gingen indes die anderen Mädchen des Dorfes Hand in Hand einher und sangen. Die Burschen kauerten auf den Steinrampen über dem Abgrund und aßen Pinienkerne und trockene Feigen. Jauchzend liefen die Dorfkinder auf den Rampen entlang, wußten nichts von Gefahr und Absturz, und niemand dachte daran, ihnen zu wehren. Vor dem Hause des Krämers jedoch saßen die alten Weiber beisammen auf der Treppe, drehten die hängende Spindel wirbelnd am Faden, hatten auf Burschen und Mädchen sorglich acht und warfen die Arme und Hände zum Himmel, wenn sie lobten und tadelten.

Bittis und Battis, die Alten, führten vor allen das Wort. Die Zähne hatten sie aus dem Munde verloren, aber die Worte nicht. Und Bittis fuhr auf:

71 »Anassa, Anassa! Warum geht sie nicht mit in den Reihen der Mädchen?«

Und Bittis drehte den dürren, gelben Hals rechtswärts und linkswärts, daß die Ohrringe aus falschem Gold wie die Blitze flogen. Battis aber raunte: »Anassa tut stolz, weil sie schön ist!« Und Bittis und Battis legten entsetzt die flachen Hände auf die noch flachere Brust; denn hier wie dort war ihnen nichts übrig geblieben, als Knochen und Leder.

»Jawohl, Anassa tut, als wäre sie eine geschnitzte Venus. So steht sie dort eben wieder auf dem Pfosten der Mauer, schaut über den Golf hin und regt sich nicht.«

»Sie glaubt wohl, Jupiter soll als Stier übers Meer schwimmen, sie zu entführen!«

Da lachten die zwei, daß es klang, wie wenn man trockene Bohnen in einem Blechtopf schüttelt.

»Man sagt, sie hat jetzt einen Spiegel aus Silber.«

»Von wem?«

»Das verhehlt sie. Seitdem aber weiß sie, daß sie schön ist, geht seitab von den Gespielen und hat auf Herd und Webstuhl nicht acht.«

»Schönheit ist wie eine Augenbinde. Sie macht den blind, der sie trägt.«

»Und nur Herse ist ihre Vertraute. Das ist das Schlimmste. Wer weiß es nicht, woher Herse die geschnittene Wange hat? Sie trieb falsche Liebe und ward ihrem Buhlen ungetreu. Da nahm er sein Messer und zeichnete sie und riß ihr die Wange auf. So geschieht es jeder, die es treibt wie sie. Beim gütigen Herkules, uns hat noch keiner gezeichnet!«

72 Und Bittis und Battis lachten wieder und fuhren sich mit dem Knöchel über die zähen Backen.

»Man sagt . . .«

»Was sagt man?«

»Der Kaiser hat die Anassa gesehen. Und sie hat den Kaiser gesehen. Und seitdem reitet sie der Dämon.«

»Das glaube der und jener! Der Kaiser läßt sich nicht sehen, von keinem von uns. Denn er lebt eingeschlossen in seinem Palast wie ein Gott im Tempel. Niemand, sage ich, kennt ihn von uns, seit nun sechs Jahren. Die Münzen zeigen sein Bild, die er in Rom prägen läßt. Aber das Münzgesicht ist jung, und er ist alt . . .«

»Man sagt, er streicht zuweilen zur Abendzeit ungekannt durch die Inselberge, mit einem Stern auf der Krone und mit einem Partherschwert . . .«

»Man sagt, man sagt! Wer kann es beweisen?«

»Wie ein Gespenst mit roten Augen geht er um, und wen er anblickt . . .«

»Wen er anblickt, der wird besessen und stirbt am dritten Tage . . .«

Und Bittis und Battis fuhren in die Höhe, spuckten sich dreimal in die Hände und setzten sich wieder.

Da scholl der Ruf: »Pompei, Pompei!« und ein zwergiger, bärtiger Mensch von dreißig Jahren brach aus dem Gezweige, mit hoher Fistelstimme und stechenden Augen. Es war der Verrückte des Dorfes, der sich Pompejus nannte und wähnte, vom großen Pompejus herzustammen. Kaum sah er das Volk der Weiber, als er in seine Kammer schlich und 73 verwandelt hervorkam. Er trug einen roten Mantel, eine Blechkrone mit Stern und ein Partherschwert; so beschlich er Bittis und Battis von hinten, und als sie ihn sahen, kreischten sie auf: »Tiber, Tiber!« riefen alle Götter der Hölle zur Hilfe, deckten die Augen mit den Händen und flohen in den Keller, wo er am tiefsten ist.

Der Verrückte war bald ins Gewahrsam gebracht. Die Dorf-Alten aber schüttelten die Bärte und führten Reden, wie sie sie täglich führten:

»Was schreckt sie der Kaiser? Für Weiber und Kinder ist die Gespensterfurcht. Uns aber ist der Kaiser ein guter Herr. Mag er denn unsichtbar uns Gutes tun. Man fabelt viel, und über seine Laster geht ein Geschrei durch alle Welt, von Gades bis zum Euphrat. Die Reichen soll er aus den großen Städten auf unsere Insel locken, um sie ins Meer zu stürzen und ihre Güter einzuziehen. Und freilich klebt Blut an den hohen Klippen seiner Burg, das keine Woge wegwischt. Wer aber weiß, ob, die er richtet, nicht des Gerichtes wert waren? Verbrecher leben viele draußen, und der Kaiser ist dafür in die Welt gesetzt, daß er strafe und richte. Uns Inselleuten aber hat er kein Haar gekrümmt. Wettspiele hat er uns eingesetzt mit reichen Ehrenpreisen. Ein Festmahl gibt er uns einmal in jedem Jahr. Den Wachtelfang hat er uns gelassen und hat denen gewehrt, die ihn uns stören wollten. Und liebte er uns nicht, so bliebe er eben nicht hier bei uns. Selbst in den sengenden Zeiten des Hundssternes ist er geblieben, und wir können sagen: unser Eiland ist die 74 Mitte des Weltalls, und Okzident und Orient regiert ein Kapriote.«

Darauf ein anderer mit gedämpfter Stimme: »Wer redet wie du, der hat gut laut reden. Ich sage euch: nicht Liebe zu uns hält ihn hier fest, sondern die Furcht; denn er weiß, daß kein Feind aus Rom hier unerspäht landen kann. Und was zwingt ihn denn, die gemeinsamen Straßen und Heiligtümer zu meiden? Eben wieder die Furcht. Geben die Götter nur, daß ich ihn niemals sehe! Und seine Wohltaten? Am Strand unten ist ein Schiffermädchen, des Simichus Schwester, von Piraten entführt. Seit wann aber landen hier Piraten? Wir wissen nur, daß sie verschwunden ist. Die Geschichte von Phorkys, dem Fischer, mag uns eine Lehre sein. Der Kaiser wohnte hier noch kaum ein Jahr, da fing Phorkys einen kostbaren Butt, der selten vom Pontus herschwimmt, und um dem Herrn die Gabe selbst darzubringen, mied er die wohlbewachten Zugänge des Palastes, klomm aus dem Meer auf nie betretener Stelle hinan und stand vor dem Kaiser. Der Herr erschrak und fragte nur: ›Wie bist du hierher gedrungen?‹ Phorkys wies stolz unter sich in das Meer hinunter; da erhielt er einen Stoß von hinten, daß er köpflings in die Tiefe fiel, und der Herrscher rief ihm nach: ›Unvorsichtiger, man geht hier den Weg, den man gekommen ist.‹«

Aber auch diese Erzählung fand Widerspruch: »Niemand war zugegen und keiner hat den Leichnam aufgefunden. Und andere meinen, Phorkys lebt und ist der Liebling des Herrn geworden und speist bei ihm 75 auf goldenen Kissen, und eben darum ist er so unsichtbar für uns, weil es der Herrscher selber ist!«

Damit hatte die fromme Märchenstimmung gesiegt, und der zuerst gesprochen, sagte nicht ohne Salbung das Schlußwort: »So ist's! Wen ein Gott liebt, der ist entrückt und ist wie zu den Seligen eingegangen!«

Die Straße wurde stiller. Aus den Zisternen holten die Mädchen in ihren schlanken Krügen das Wasser in die Häuser. Denn Quellwasser gab es hier nirgends. Die ruhmreichen Meister des Handwerks arbeiteten noch vor den Türen, der Kupferschmied, der Schneider und Schuster, und besserten an Zeugen und Gefäßen, die man herzubrachte. Friede und Heiterkeit war in allen Mienen, und keiner von diesen Glücklichen verstand es im Grunde, was es heiße, zu den Seligen einzugehen, da sie die Seligkeit selbst atmeten, die in den Meereslüften wie Balsam wehte, vom Himmel in linden Gluten floß und sie umgab im üppigen, jungen Wachstum ihrer Rebengärten. Nur der ist unselig, der ohne Tagewerk im Paradiese lebt und die Frucht ißt, die er nicht selbst gezogen.

Da wechselten plötzlich die Bilder. Den Ort entlang schritten jetzt sechs rüstige Frauen, die Steinlast auf dem Haupte; sie hatten die tausend Stufen der Inseltreppe vom Strande her erstiegen und gingen auf bloßem Fuß noch immer leicht und elastisch vorwärts. Myrto schloß als letzte den Zug, um mit dem Blick ihre Gehilfinnen zu bewachen. Denn sie dienten ihr. Das schlichte Haus, das am fernsten und höchsten lag, war ihr Ziel. Man rief ihr den Abendgruß, schaute ihr nach und redete nichts.

76 Bald erschien auch Alexis und eilte als flüchtiger Wanderer über die Gasse. Manche Hände streckten sich ihm entgegen von rechts und links, man fragte: wohin? und versuchte mit Geplauder ihn an den Türen festzuhalten. Er aber hörte nur mit halbem Ohr, antwortete abgebrochene Worte, und seine Blicke flogen seitwärts und verrieten wider Willen, wohin ihn sein Herz trieb. Da ließen sie ihn gehen, und es begann ein harmloses Scherzen:

»Er hat es eilig und steigt zum Abend auf unseren Berg wie ein Vogelsteller zum Wachtelfang. Fischer, bleib bei deinen Netzen! O du liebe Venus! und einer Winzerin stellt er nach! Fischer und Winzerin sind aber wie Wasser und Feuer. Die werden auf jedem rechtschaffenen Herd zusammengetan; aber dem Wasser wird schwüle dabei, und ohne Zischen geht es nicht ab.«

Und die Böseren neckten und meckerten: »Alexis, Alexis! Wer reist einem Heuschreck nach übers Meer? und wer klettert ins Bergwerk, um Sand zu graben? Wer aufs Gebirge steigt um eine Dirne. Alexis! Alexis!« Und der Ruf Alexis! flog von Mund zu Mund hinter ihm her; er errötete, sah sich nicht um und konnte seinem eigenen Namen nicht entfliehen.

Da hörte man rufen: »Welch Wunder! kommt und seht! ein großer Herr aus Neapolis!« Und Philadelphus erschien auf der Straße, strahlend und hochgewachsen, im lichtblauen Chiton, Goldschmuck am Arm, von zwei Pagen geleitet, die den breiten Sonnenschirm über ihm trugen.

77 Denn er war von seinem Prunkschiff kaum ans Land gesprungen, als er die enttäuschten Sänftenträger am Ufer stehen ließ, die bequeme Wandelstraße mied, die der Allmächtige der Insel für sich und seine »Freunde« erbaut, und leichten Fußes den Weg des Alexis einschlug. In Sprüngen erklomm er die Felsentreppe schwindelfrei; denn er liebte die Gymnastik, und sein schlank und herrlich gebauter Körper verrichtete spielend jede Bewegung. Seine Freunde hatten ihn gewarnt: »Meide den Verdacht! meide den Zorn des Kaisers!« Er kannte keine Sorgen, rieb sich das Auge und sagte lustig: »Mein rechtes Auge juckt mich! Das ist ein gutes Vorzeichen. Heut gibt's einen schönen Tag!« und ging nun durch das Volk, Geld streuend in kleiner Münze, daß die Kleinen des Dorfes ihn kreischend und mit Kopfsprüngen umschwärmten. Sein Blick aber irrte forschend und siegesgewiß von Haus zu Haus und von Garten zu Garten.

Anassa war zaghaft, da sie ihn nahen hörte, von ihrem hohen Stand in den Laubenschatten verschwunden. Sie lachte auch jetzt nicht. Herse aber stand wartend, und eine Rose fiel über die Mauer vor seine Füße, als er herantrat. Philadelphus klatschte in die Hände. »Sind hier Blumen zu kaufen? Ich brauche Kränze für das Abendfest!«

»Goldlack und Rosen und Liebesäpfel wachsen hier; was bietest du?« rief Herse, und ihr Kopf sah lachend über die Mauer. Es war ein dreistes Lachen, daß die Narbe sich auf der Wange häßlich verzog.

»So laß mich ein!« Und er trat, als gälte es einen 78 Kauf, mit seinen Pagen in die Flurhalle. Die Türe schloß sich. Er drang in den Garten.

Anassa saß bebend auf ihrem Platze. Ihr Auge grüßte ihn mit zärtlichem Schreck. Ihr Busen wogte. Sie kannte die Liebe, aber sie fürchtete sich. Sie fürchtete für sich und für ihn. Denn Bittis und Battis hatten recht: der Kaiser selbst hatte ein Auge auf Anassa geworfen. Nah ihrem Haus lag der Sonnentempel; vom Sonnentempel führte ein unterirdischer Gang zum nächsten der kaiserlichen Häuser. Durch ihn mußte sich Anassa jedesmal zu den Festen begeben, so oft es der Hofmeister des Tiber befahl. An solchen Festen hatte Philadelphus sie gesehen, hatte flüchtige Worte mit ihr gewechselt, und das junge Blut hatte sich entzündet; der Zwang der Leidenschaft zog sie zueinander. Sie war ihm, dem Verwöhnten, schön genug, und er fühlte mit Frohlocken, daß ihre Sinne ihm erlagen.

Sie bebte, aber sie widerstand nicht. Herse sang ein loses Lied fernab im Hause. Über der Steinbank zwischen Oleanderhecken, in den duftenden Blütenwölbungen der Jasmine, Granaten und Myrten schaukelte sich der leichtfertige Gott der Liebe und sah in Heiterkeit auf das schöne Paar hernieder. Das Volk aber draußen schwatzte und zischelte: »Das Rätsel ist gelöst. Der junge Herr, der die schweren Spangen trägt und das Geld streut, ist bei Anassa. Die Schwelle kann es plaudern. Er wird sie nach Neapel führen und in Seide hüllen.«

Bittis und Battis aber ließen das Kinn hängen; ihre Köpfe wackelten und sie raunten: »Und dann? 79 Wir wissen, was wir wissen. Den Kaiser sieht niemand, aber der Kaiser sieht alles. Und die weißen und schwarzen Tage wechseln im Leben. So will es der große Jupiter, der die weißen Tage und die schwarzen wie die Würfel mischt im Würfelspiel.«

Auf Alexis aber gab niemand mehr acht, der unterdessen Myrto vor ihrer Hütte gefunden hatte. Auch Myrtos Vater und Mutter, Simon und Anna, waren zugegen, und Alexis durfte sittsam herantreten und Myrto den Stein vom Haupte heben. So war sie entlastet, stemmte den Arm in die Hüfte, und ihr Busen hob sich, da sie tief ausruhend Atem holte. Aber die Mägde, die Steine getragen, harrten noch. Zwei derselben gehörten zum Haushalt des Vaters; den drei übrigen zahlte sie jetzt nicht ohne Scherz und gute Worte die Löhnung, jeder einen runden Denar für den Gang, und dingte sie wieder für morgen zu weiterem Dienste.

In der Rosenwand am Haus brüteten die Tauben und girrten und hofierten zwischen den Blumengestellen. Myrto aber langte in den großblättrigen Feigenbaum, brach zwei süße Feigen aus seiner Krone und teilte sich mit Alexis darein. Dann führte Anna, die Mutter, den Gast zu dem neuen Terrassenbau hinter der Hütte; in einem Jahr sollen dort Reben wachsen, starke Reben vom Vesuv; auch das Erdreich soll vom Vesuv kommen; das wird eine rote Traube geben, wie sie noch kein Fuß in Anokapria gekeltert hat!

Da kamen auch die Kinder gerannt, voran die zwei Buben, die Myrtos Brüder waren, und streckten die 80 schmutzigen Hände: denn auch die Erde Capris fleckt! Alexis war nicht träge, hob den Jüngsten auf den Rücken, balgte sich mit dem Älteren, und ein Rennen und Lachen begann, bis sie an Alexis emporkletterten, wie an einer Zeder. Da mußte auch Myrto lachen; ihr Auge hing, indes sie am Wassertrog kniend sich wusch, mit Wohlgefallen an jenem Bilde, und sie bemerkte deutlich, daß Alexis stärker und größer geworden, denn vor Jahresfrist. Auf seiner Oberlippe lag weicher Flaum, und sein Auge blitzte jetzt eben so heiter und kühn wie nie unter der breiten Haarwelle hervor, die ihm tief in die Stirne lag, bis wo sich die Augenbrauen trafen.

Dann rief die Mutter zum Nachtmahl; eine Schüssel mit Mehlbrei und Bohnen dampfte auf dem Fußboden für die Kleinen. Die Älteren nahmen Eier und Kürbis, Brot und Wein, auch eine Honigwabe gab Süßigkeit, indes der Abend aus dem Meer aufstieg, Kühle atmend, und die flimmernde Dunkelheit leise durch die offene Tür ihre ersten Schatten warf.

Auf der Steinplatte, die den Herd bedeutete, schimmerte die verglühende Flamme. Alexis und Myrto saßen beieinander. Man schwieg, und Alexis mußte seines Freundes Simichus flüchtig gedenken, dem er nicht einmal Valet geboten und der ihn heut zum erstenmal zur Abendstunde vergebens erwarten würde. Mußte er ihn nicht treulos finden? O hätte er, wie des Simichus Hand, so jetzt Myrtos Hand für eine Weile in der seinen halten dürfen! Wie neu war solche Freundschaft! Aber sein Blick erbat nichts. Sein junges Gemüt suchte nicht nach Worten; auch 81 gab er nicht einmal acht, wie lieblich und klug ihr Angesicht, wie schön ihr Arm, wie weich und jung ihre Wange war. Ihm war es Rausches genug, das Recht zu haben, ihr nahe zu sein. Der Unerfahrene fühlte, was er nie gefühlt: die Übermacht des Weibes.

»Die Zeit naht,« hub Myrto an, »daß du zum Strand heimkehren mußt. Weißt du uns nichts zu erzählen, Alexis?«

Und er begann: »Der Meerstier ist wieder gesehen worden. Habt ihr's noch nicht gehört? Der Meerstier, der große Fisch. Die Fischer, die heute früh von der See kamen, haben ihn schlafen sehen. Er hat wieder in der großen Grotte geschlafen, die nach ihm heißtSo erzählen die Fischer noch heute von der Grotta del bove marino.. Die Grotte hat tiefes Wasser, in ihrem Hintergrund aber steht aus dem Wasser ein flacher Fels, wie ein gemauertes Bett; das ersteigt der Riesenfisch einmal im Jahr und schläft dort tief, so daß man ihn belauschen kann; hört er Geräusch, so flieht er scheu davon; und noch niemand hat gewagt, ihn zu verwunden. Ihr könnt es glauben, es war ein alter König Capris, der hieß Telon; der ist der Meerstier! Er ist vor tausend Jahren in den Fisch verwandelt worden zur Strafe, weil er gottlos war und dem großen Meeresherrn Poseidon den Tempel am Strand verweigerte. Seitdem kommt er jährlich heimlich zu seiner Insel, um dort zu schlafen, und man sagt, wenn er in der Grotte erschienen, so fordert er sein Opfer, und einer von unserer Jugend müsse folgenden Tages ins Meer stürzen, um ihm 82 zum Fraß zu dienen. Alsdann ist das Glück erkauft, und er gibt günstige Seefahrt, guten Wind und volle Netze dem Schiffervolk bis zum nächsten Jahre. So ist es stets eingetroffen! Der Meerstier will morgen sein Opfer haben.«

Der Jüngling erzählte dies ernsthaft, aber ohne zu denken, daß es ihn treffen könne. Myrto hatte zwei Tonlämpchen am Gesims entzündet, die Speisereste beiseite getragen, säuberlich Wasser für die Hände gereicht, und als Alexis jetzt zu ihr aufschaute, gewahrte er, wie ihr Blick verschattet war und in schwesterlicher Besorgnis auf ihm ruhte. Sie vergaß den Blick abzuwenden. Er erstaunte, und das Herz wurde ihm, da er sie ansah, warm und selig. Wie kann in einem schwarzen Auge so viel Milde sein? so viel Flamme in der Nacht?

Vater Simon lachte: »Alexis erzählt uns windige Schiffermärchen! Wer glaubt daran?« Myrto aber brach ab, und indem sie ihm die Hand darreichte zum Abschiede, sagte sie mit leiser Stimme: »Das Meer will sein Opfer? Die Unsterblichen schützen dich!« Da war er schon draußen, warf noch zaudernd einen Blick auf die Hütte zurück und beeilte sich dann nach Haus zu kehren.

Er kam an das Gestade und vermeinte, hier seinen Simichus zu finden. Denn seit Jahren fanden sich die beiden Gesellen dort jeden Abend vor dem Schlafengehen und starrten auf den Golf hinaus, träumend von fernen Wunderländern und zukünftiger, gemeinsamer, abenteuernder Seefahrt, bis die Väter von rechts und von links sie in die Betten riefen. 83 Simichus war heut nicht zu finden. Er saß seitab am Ende des Strandes und härmte sich in kindischen Ungedanken, und mühte sich nach Kräften, sich unglücklich zu fühlen und den Alexis zu hassen und Myrto erst recht. Alexis aber stand tief einsam, und er vermißte den Freund nicht. Ja, er war ungetreu.

Er stand unter dem Südhimmel voll ewig wandelnder goldener Sterne am laulichen nachtenden Meer, das weithin vom Fackelschein erglänzte; denn die Fischer waren mit Fackeln hinaus zum Polypenfang. Die Schleier der Nacht wogten geheimnisvoll halb durchleuchtet aus der Tiefe und Höhe, aufwärts und abwärts; aus der Höhe aber sah er über sich ein besorgtes Auge strahlend und ernst auf sich ruhen, ein Auge, das er kannte! Da begann er eintönig und brünstig vor sich hin zu singen, wie wohl ein Edelwild schreit; es war ein Lied ohne Worte, das über die Wellen scholl, und die schlafenden Tritonen am Grund der See wachten auf und hörten es staunend; sie streckten die weißen Körper geräuschlos aus der Woge und lauschten mit großem Ohr, und ihre Bärte flossen wie Silber aus den Wellen.

Da rief der Vater; Alexis gehorchte, erklomm die Stiege der Kammer und legte sich zu ebener Erde ruhig nieder, den Arm unterm Haupte, über sich das treue Ziegenfell, das ihn zeitlebens zugedeckt und das älter als er war.

* * *

Der Mond war noch nicht aufgegangen, wohl aber warf der Leuchtturm, der hoch über der Klippe am Palast des Tiberius ragte, der Rivale des Mondes, 84 sein gewaltiges breites Licht sorgsam über das weite Mittelmeer ostwärts und südwärts gegen Kalabrien und Afrika: ein untrüglicher Wegweiser der Schifffahrt. Auf dem Turm aber stund der alte Kaiser Tiberius mit Thrasyll, seinem Sternendeuter, und die Unersättlichen pflogen, wie seit Jahrzehnten, in nächtlicher Weile stundenlange ziellose Gespräche über Schicksal und Vorbestimmung.

Denn Güte der Götter gab es nicht; das mechanische Gesetz der Mitleidenschaft knüpfte jedes Menschenlos an die wandelnden Himmelskörper, und alles, was geschah, stand unentrinnbar im Lauf der Planeten.

Tiberius trug auf dem Haupt den Lorbeerkranz; denn er fürchtete sich auf diesem Turm stets vor Gewitter und glaubte, daß Lorbeer den Blitz ablenke. Sie sprachen im Flüsterton und in Pausen mit ernsten, blassen Mienen und behorchten das Sternenlicht dort oben und den östlichen Horoskop ohne Hilfe geschliffenen Glases; aber das Auge der alten Männer war scharf wie das der Wildkatze. Dann prüften sie in Bücherrollen die Zeichnungen alter Sternendeuter, wo in magischen Dreiecken Gedrittschein eingetragen stand und Gegenschein und der Zodiakus mit Tierzeichen und Häusern und Himmelsachsen, und schritten gedankenvoll hin und her, ohne sich anzusehen.

Mars traf sich eben jetzt im Horoskop diametrisch mit dem Merkur zusammen, und die Stunde war übel. Der Kaiser klappte eine Wachstafel auf; sie enthielt eine Liste vornehmer Namen von 85 Männern und Frauen, deren Nativität zu prüfen und deren Todesstunde zu kennen wichtig war. Die Liste zeigte ihm, daß er, der Kaiser, älter als die Mehrzahl sei, und der 74jährige fing an, über sich selbst zu grübeln.

»Die Planeten in ihren Häusern wissen, wann ich sterben soll,« begann er düster. »Ich aber stelle an die Sterne die Frage nicht, und es schiert mich nicht, die Stunde zu kennen, nach der alle im Reich fragen. Denn sie hoffen auf meinen Tod, und die Schwächlinge verdienten, daß ich unsterblich wäre. Ein Anderes aber frage ich wieder und wieder: Warum zähle ich nicht zu den Glücklichen, Thrasyll? ich, der ich Glückliche beherrsche! Ich weiß, es liegt in der galligen Mischung des Bluts, und Empfängnis und Geburt standen bei mir unter unheilvollen Aspekten. Aber kann ich das Heil nicht zwingen, der ich alles zwinge? Eine Stunde reinen Glücks, die möchte ich kennen, ob sie mir einmal im Leben beschieden sei. Ich fordere sie mit Ungeduld. Denn Neid und Mißgunst, Haß und Rache, das war mein Dasein, bis daß ich auf diese Insel floh. Ich wähnte, hier sei ein Asyl des Verfolgten, und der Fluch der Sterne dringe nicht in diese Herberge ländlicher Zufriedenheit und werde hier auf der Schwelle straucheln. Aber der Haß, der mich groß gemacht, ist mir hierher gefolgt. Eine Stunde frißt die andere, ein Genuß würgt den andern, und die Vernichtung grüßt mich aus jedem Lachen der Wonne . . .«

Er brach ab, und Thrasyll sprach nüchtern: »Auch gibt es keine Tugend; und die, die du heute 86 vergöttert hast, verdient, daß du sie morgen zu den Toten wirfst.«

»Sprichst du von Anassa?«

»Dein Neapler Günstling Philadelphus ist ihr Buhle. Die Spione melden es. Er pflückte heute verbotene Früchte in ihren Gärten, und gibst du nicht acht, so hat er dir Anassa morgen nach seinem Neapel entführt.«

Der Kaiser wurde bleicher und sagte nichts. Aber von der Wand des Gewölbes fiel rasselnd der schwere Stuck herunter. Tiber hatte seinen Dolch in die Wand gestoßen. Das war ein übles Zeichen.

»Die Sterne schweigen,« hub Thrasyll von neuem an, »und von jener Glücksstunde, die du forderst und die du noch nie erlebt haben willst, erhabener Cäsar, wissen sie nichts. Aber es gibt andere Wunderkräfte, die dem, der an sie glaubt, hilfreich sind. Willst du dich herablassen und den Weg der Zauberweiber gehen? Du zuckst verächtlich die Achseln. Aber nicht nur die Zauberinnen hier zu Lande wissen davon, sondern die großen Magier in Persien selbst überliefern die Lehre von der Heilkraft der Wunderkräuter. Wer die Pflanze Aglaophotis findet, so lehren sie, dem gehorchen die Götter. Wer sich mit der Hiera Botane Brust und Stirne reibt, der entrinnt jeder Krankheit und jeder ist ihm Freund. Helianthes gibt den Königen im Perserland jenen Schimmer des Liebreizes, der alle Herzen besticht. Theobrotion aber ist ein Kraut, wunderbar vor allen, das die Perserkönige in ihrem Weine trinken, und nicht nur aller Körperschmerz, sondern jedwedes 87 Leid der Seele ist für sie aus den Adern hinweggespült und entschwunden. Willst du deine Verachtung überwinden, großer Cäsar? Willst du ohne Geleit einen Gang durch die Insel wagen? Wer an einem Tage, wo die Sonne im Zeichen der Zwillinge steht, bald nach Sonnenuntergang an einer Stelle, die auch kein Mondenlicht bescheint und wo kein Mensch zugegen, die Blume Theobrotion findet, die mit blauem Kelch an einsamer Stelle am Felsen blüht, wer sie mit der Linken schneidet, nachdem er in das Erdreich einen magischen Kreis gezogen, dem, heißt es, soll das reinste Glück erscheinen, das die Menschen kennen und das sich der Träumer vom Elysium erhofft. Die Konstellation trifft zu; der geeignete Tag wird da sein, sobald sechs Nächte vergangen sind; die Heilkräuter wachsen an einer Stelle, die ich dir weisen kann, und der Kaiser kann sie pflücken wie der gemeinste Schifferknecht, wenn ihn dabei nicht schwindelt! Denn das Glück fürchtet sich vor dem Cäsar nicht, wenn er es nur zu finden weiß.«

Tiberius gab kurz zurück: »Ich merke, du führst Ammengespräche, und ich werde für einen Säugling gehalten. Wohin ist es mit uns gekommen? Laß hören. Theobrotion bedeutet ›Götterspeise‹; und ich soll, um ein Gott zu werden, ein Kraut verdauen? eine Göttlichkeit, die aus dem Magen kommt! Wer aber sagt dir, alter Schwätzer, daß ich nicht Gott bin? Wenn ich an Götter glaubte, so wäre ich selbst der erste unter ihnen! Verbringe denn hier in Weisheit deine Nacht und halte mir die Knechte wach, daß sie 88 die hundertfältige Flamme des Leuchtturms hüten. Denn dazu hab' ich ihn erbaut; sein Licht ist mein Licht; ich will, daß mein Königsschloß im Meer Heil bedeute dem Seefahrer und daß mich die Segler bei Nacht betend aus der Ferne grüßen und anrufen wie ein gnadenreiches Gestirn. Einem Fixstern will ich gleichen, der beharrt in seinem Glanz und nicht untergeht.«

Er wandte sich, und des Weltbeherrschers Majestät klomm vorgebückt wie eine Katze die schmale Turmstiege hinab, »Theobrotion« vor sich murmelnd, bis wo er seine Pagen fand. Die hoben ihn auf den Tragsessel und trugen ihn hoch auf ihren Schultern wie ein Idol (zwei Trabanten mit Pfauenwedeln schritten hinter ihm) durch die Hallen und Korridore bis in den Festsaal; denn es gab jetzt allabendlich Fest in der Villa des Jupiter.

Gäste aus Rom, Athen, Ägypten waren zugegen; auch Philadelphus fehlte nicht. Die schönsten Speisen waren abgetragen; denn der Kaiser gestattete oft, daß das Gelage ohne ihn beginne. Als er im Saal erschien, sprang alles von den Polstern; die rennenden Diener standen festgebannt mit Kannen und Schalen, als würden sie zu Stein, und der Ruf erscholl wie erschreckt: »Ave Cäsar, ave Domine!« Das muntere Gelächter der vorigen Sekunde hing gleichsam noch stumm im Saal. Kaiser Tiberius witterte es und suchte gleichsam nach ihm. Sein Gesicht aber bewahrte stets den gleichen Ausdruck; es war der Ausdruck mißbrauchter Gnade und ermüdeter Gerechtigkeit.

89 Er ließ sich auf den Boden herab; der Liktor mit dem Beil trat neben ihn, und so stehend, mit steifem Nacken aufgerichtet und alle überragend, begrüßte er langsam die Geladenen, indem er jeden bei Namen nannte; und jeder Gast zitterte jedesmal, aufachtend, in welchem Ton er seinen Namen sprechen werde.

Dann verstummte Tiber, wie er stets verstummte, trank und trank, wie er stets trank; aber sein kaltes Hirn spürte es nicht. Und das stechende, große, graue Auge im weißen Gesichte ruhte leer und teilnahmslos auf dem Kreise, bis in ihm eine unheimliche Flamme aufleuchtete. Denn sein Blick traf auf die sorglos heitere Gestalt des schönen Philadelphus; sein Blick haftete an ihm und ließ nicht von ihm, als wollte er ihn umklammern. So umklammert hielt er ihn im Auge, als sich die Hinterwand auftat und ein Schauspiel begann.

Denn im Tanzschritt erschien auf einer Erhöhung leichtfüßig ein schmucker Mädchenreigen, tändelnd und verführerisch und ein Ergötzen auch für das verwöhnteste Männerherz. Von Gades und Antiochien waren diese Nymphen bezogen und gaben einen Tanz in reizenden Verschlingungen, bunt und keck, von langen Gewändern umflattert, die frei und lose keine Bewegung des Leibes verhehlten, in den Händen wehende Schleier, Reifen und Blumen. Junge halbnackte Panisken mischten sich geschmeidig in die heitere Wollust der Szene.

Philadelphus war in Spannung ganz bei dem Bilde und spürte den langen Blick des Kaisers nicht. 90 Denn er erwartete Anassa zu sehen. Da schritt ein alter Silenus herein und vertrieb die bunte Schar. Die Bühne war leer. Eine Pause entstand.

Anassa sollte erscheinen. Sie kam nicht. Der Silenus lief ab und zu, sie zu holen. Anassa weigerte sich. Sie hockte im Nebengemach auf einem Schemel, übergossen von mattgelben, golddurchwirkten Gewändern und Efeuranken mit dunklen Früchten, saß dort und weinte in wilder Scham. Anassa war eine andere geworden. Gedankenlos hatte sie bisher als Zierfigur der Feste gedient, und es hatte sie nicht gekränkt; aber sie liebte jetzt, und der echte Stolz der Liebe regte sich in ihr. Sie wollte sich nicht entwürdigen.

Die Pause wuchs und ward peinlich. Im totenstillen Saal konnte man ihr Schluchzen von fern vernehmen, als der gemessene Befehl des Imperators an sie erging, ihre Pflicht zu tun. Sie erschien. Cymbel und Harfe fiel ein, die Flöte schrillte.

Sie stand scheu und trocknete sich mit den wirren Haaren ihre Tränen. Der zottige feiste Silen aber umfaßte sie, ein gewiegter faunischer Tänzer die jüngste der Mänaden, riß sie mit grinsender Miene in den gierigen Tanz, und bald ihre Hüfte, bald ihre zarte Brust mit großer Hand umspannend, warf er sie im Taumel der Tarantella hin und her und aus einem Arm in den anderen und sprang dabei schwerfällig, mit keuchendem Atem, die Beine nach vorne werfend, und schlug den Boden mit den Hacken. Sie aber suchte ihm angstvoll zu entschweben und senkte die Augen weg in liebreizender Scham, nicht wissend, 91 wohin sie schauen sollte. So blieb sie ganz in Verwirrung, wehrlos wie die Taube, hochgerötet, mit fliegender Brust, und ihre Lippen standen offen und zuckten in Pein und Ratlosigkeit.

Philadelphus wußte wohl, daß es gefährlich war, seine Liebe zu verraten. Aber er wußte auch, der Kaiser begünstigte ihn und er hatte Nachsicht mit dem leichten Blut und den arglosen Keckheiten der neapolitanischen Jugend. Und das Ungewöhnliche geschah: Philadelphus hatte sein Lager verlassen. Im leichten seidenen Speisekleid, den silbernen Becher in der Hand, um das Haupt den Rosenkranz, so sprang er plötzlich in gymnastisch leichtem Schwung auf die Bühnenhöhe, faßte den Silen am Ohr, schlug ihn mit dem Becher, daß es schallte, und stieß ihn mit dem Fuß hinaus. Der Unhold kehrte nicht wieder.

Alles sah erschreckt auf Tiber. Dessen bleierne Miene verzog sich nicht; es war noch immer die Miene mißbrauchter Gnade. Philadelphus aber lag schon wieder auf seinem Platze, sah harmlos in des Kaisers starres Auge und rief: »Der Abscheuliche ist vertrieben, und unser erhabener Herr wird sagen, daß er mir dankbar ist. Anassa blieb hier. Anassa wird jetzt vor uns lachen und tanzen, und es wird die Schönheit selber sein!«

Da tanzte Anassa; sie tanzte und lachte; aber sie tat es für ihn. Es war ein mänadischer Tanz der Sehnsucht und der Leidenschaft.

Wie vom Zauberschlage verwandelt, wurden ihre Bewegungen frei und kühn; ihre zarte und schlanke Gestalt wuchs und hob sich; das entzückende Ebenmaß 92 des jungen Leibes entfaltete seinen Zauber, und im zagen Angesicht der Hebe stand drohend der sengende Blick der Venus. Um den nackten Hals trug sie das Fell der Hindin, in der Rechten die Schale der Lust. So angetan begann sie in treibenden Rhythmen ein Schreiten und Neigen und Schweben wie im Winde, ein Flüchten und Haschen und Suchen und Grüßen, bis ihr das Haupt zurückfiel, der Taumel sie faßte, bis im Rausch die Gestalt sich um sich selbst zu drehen begann und wie ein im Frühlingssturm gewirbeltes Rosenblatt ohne Erdenschwere über dem Boden zu flattern schien. Dann ruhte sie, und Triumph umspielte ihre jungen Lippen, und kindlicher Jubel lachte hell in ihren Mienen.

Tiberius sah, für wen dies Auge glühte, und sein eisiger Blick umklammerte sie und ihn. Da füllte sie die Schale, trank mit Hast und spritzte die Neige weit über die Tische hin, daß der Wein die Wange des Philadelphus traf.

»Anassa, meine Göttin!« scholl es laut von seinen Lippen.

Der Kaiser aber gebot, die Bühne zu schließen; die Zimbeln verstummten. Und alles war still. Es schien, daß die Lampen auf den Kandelabern erlöschen wollten. Der Wein floß schwer und schwerer aus den Krügen. Die heiteren Schildereien an den Wänden verdämmerten trüb. Auch Philadelphus hing mehr als sonst dem Schweigen nach, und nur bisweilen tönte sein sorgloses Lachen, oder er summte ein neapolitanisch leichtes Lied: 93

O Mädchen, du gleichst dem Kruge,
Dem Kruge mit Purpurlippen.
Den füllt bis zum Rand die Liebe.
Komm, Amor, kredenze mir!

Tiberius aber begann mit dem Ritter Priskus, dem Meister der Zeremonien, der ihm zur Linken lag, in kurz gestoßenen Worten ein Gespräch. »Ich will, daß du mir morgen ein anderes Schauspiel bereitest, ein Zauberspiel nur für mich allein, und zwar in jener schönsten Grotte der Insel, die bläulich schimmert und die die Sirenengrotte heißt. Ihr Wasser ist tief. Du sollst mir in mimischem Bilde die Hochzeit des Peleus und der Thetis zeigen, jene Hochzeit aus der Fabelwelt, aus der Achill, der Pelide, entsprossen und die unser lahmes Dichtervolk zu besingen pflegt. Ich will, daß Thetis, die Meergöttin, auf schwimmendem Lager ruhe. Der Held Peleus wird sich auf das Muschellager zu ihr gesellen. Die Grotte selbst sei der Thalamos. Das andre aber alles soll sein, wie es bei den Dichtern steht. Wähle dir zu dem Bilde das schönste Weib und den schönsten Mann, die du in dem Menschengehege dieses Eilandes findest. Du wirst nicht zweifeln, Priskus, und die Wahl ist leicht. Ich will sie zur Götterehe zusammengeben!«

Solches sagend strich sich Tiberius weich die Hände, lachte mit einem stimmlosen Lachen und hieß den Kreis auseinandergehen.

Fackelträger leuchteten jedem Gaste von Raum zu Raum. Als Philadelphus, um seinen Abschied zu nehmen, zum Kaiser trat (sie waren beide gleich hoch gewachsen), redete ihn Tiber, wie öfters, »mein 94 Liebling« an. Ein süßer Hauch üppiger Jugend wehte ihm aus dem Odem des Jünglings entgegen. »Es war Göttergunst, dich hier zu sehen; schön und verwegen, mein Liebling,« sagte er, »so war einst Phaëthon und so bist du!« Und er griff ihm hinten am Hals in das seidene Kleid, das weit geschnitten und lose war, so daß unter dem schwarzen Lockengeringel der blendende Nacken frei wurde, weidete an dem Schimmer der Haut, die keine Sonne gebräunt hatte, seinen Blick für kurze Zeit; dann prüfte er mit hartem Knöchel die Feste des Fleisches und murmelte: »So ist's. Ein Schwert würde Mitleid haben hindurchzufahren.« Danach küßte er ihn freundlich auf beide Wangen und hieß ihn schlafen gehen. »Ruhe nun aus,« sprach er, »du Sonne Neapels. Mich dünkt, der Leichtsinn und das Glück sind deine Freunde. Sage deinem Neapel, wenn du es wiedersiehst, daß ich es um dein Glück beneidet habe.«

Und der Muntere ging, sein Lieblingslied trällernd, davon. Priskus sah ihm nach und dachte: »Der Wolf hat ihn bei den Ohren, und er ahnt es nicht.«

Der greise Allmächtige aber trat auf das freie Dach seines Schlosses, von wo sein spähendes Auge am Tag bis Paestum und bis zum circejischen Vorgebirge reichte, starrte aus der Höhe, ein einsamer Mann, über das Meer hinaus in die grabstumme Nacht, und die leere Unendlichkeit stand gähnend über ihm. Er beugte sich über die Tiefe.

»Mein Leuchtturm streut sein Licht und steht aufrecht wie das Glück des Kaisers,« so sprach er vor sich hin. »Das Glück des Kaisers aber, wo ist es? 95 wo ist mein Glück? Mich fiebert danach. Hinter Palasttüren und goldnen Mauern wächst jenes alberne Heilkraut nicht, von dem Thrasyllus redet. Kein Elender lebt, der es mir bringt. Ich muß es suchen gehen zu seiner Zeit.«

Und er lachte ekel vor sich hin, sank müde zurück und lehnte schlaflos am Pfosten. Aus der Tiefe des Meers stieg die Kühle auf, und seine langen Nackenhaare flatterten im Wind. So kauerte er stundenlang lechzend, wie ein Dürstender mit trocknem Gaumen, bis der nahende Morgen ihn vom Dache trieb. Der Hirte der Welt hatte gewacht über seinem schlummernden Volke.

* * *

Der Morgen kam. Es war die sechste Stunde nach Mitternacht, als Myrto die Türe ihres Hauses öffnen wollte, um Wasser zu schöpfen und alsbald mit den Mägden zum Strand zu gehen. Sie zauderte den Türring zu fassen, und wie die Lazerte übers Gestein, so huschte ihr ein Morgengedanke über die Fläche ihrer Seele. War es Alexis? – Als sie aber die Türe bewegte, da fiel ein voller Kranz von Mohnblumen und Malven von oben ihr weich auf das Haar, strich ihr die Wange und blieb im Gleiten wie von selbst in ihren Händen hängen. Und ein frischer Tau, der ihr die Haut lieblich kühlte, fiel aus den Blüten, ein Anzeichen, daß der Kranz erst eben gewunden war. Myrto kannte die Zeichensprache der Liebe, sie flüsterte des Alexis Namen, und ihre Brauen zogen sich in Überraschung und halbem Zorne.

Alexis hatte schon früh vor dem Morgengrauen 96 wach gelegen; so lag er und sann in Traumgedanken, bis es ihn hinaus ins Freie trieb. Er gedachte Myrtos und ihres Blickes und überdachte, was er ihr schenken könnte.

Denn wie unter der Tageswärme die Knospe den Kelch auftut und nun der Duft aus ihrer Tiefe strömt, wie der milde Regen aus der Wolke fällt, wenn der West sie schüttelt, so schnell, kraftvoll und lind erwacht im Knaben die Liebe, wenn es Zeit ist.

Der Mond senkte sich eben zum Untergange, als er ins Hausgärtchen hinaufstieg, um ihr einen Kranz zu winden. Das Frührot erwachte noch nicht, als er schon zu ihr hinaufeilte in das Gebirge. Er fand die Türe nur angelehnt und hing das Gewinde heimlich im Innern des Hauses über den Pfosten, so daß es herunterfallen mußte, sobald sie die Türe bewegte. Denn die Häuser standen hier unverschlossen, und niemand fürchtete den nächtlichen Dieb. War er aber nicht selbst ein Dieb? Gab er nicht, um zu nehmen? Was würde sie sagen? würde sie ihm zürnen? ihm Freude zeigen? Alexis war noch zu rasch und jung, um Selbstgespräche zu halten. Aber sein innerstes Gefühl war wie ein Gedicht, das er zu dichten nicht imstande warDies Gedicht ist uns gleichwohl erhalten und lautet in der zärtlichen Sprache des Südens:
        Hanget, ihr Kränze, mir still hier über den Flügeln der Pforte,
            Dauert und nicht vorschnell welkt mir entblätternd dahin;
        Die ich mit Tränen euch netzte! So tauen der Liebenden Augen!
            Sondern, gewahret ihr sie, naht sie und öffnet die Tür,
        Da auf ihr Haupt hinträufet den Regen von mir, und die Zähren,
            Die ich geweinet um sie, trinke ihr schimmerndes Haar.
.

97 Myrto mußte den Kranz, da sie ihn nicht vernichten wollte, verbergen, und hing ihn im Schlafgemach an ihren Webstuhl, als ein Gegenstand herausfiel. Es war eine Ziernadel von schlichter Koralle, die Alexis auf seiner ersten Seefahrt im Herbst erhandelt und an den heiligen Götterfesten mit Stolz getragen hatte. Sie tat die Nadel schnell in ihre Lade und eilte mit ihrem Vater zum Tagewerk, das sie zum Strande hinabführte. Alexis aber fand sie am Strande nicht, da er hinausgefahren war, die Netze zu heben.

Nach wenigen Stunden aber hatte sich das Meer belebt. Kaiserliche Barken kamen gefahren. Die Boten des Präfekten eilten über die Landwege. Die Kramläden und Gerichtshallen wurden geschlossen, und das Gerücht lief durch diese kleine Welt: der Kaiser begeht heut ein Fest, und nach der Sirenengrotte fahren die Schaluppen. Auf geheimen Wegen ist der Kaiser schon in die Grotte gelangt.

Und die Neugierigen sprangen in die Boote, Alt und Jung, Männer und Weiber, und im lustigen Gewirre tummelte sich ein Korso von bunten Kähnen, die ihre grellen Farben im Wasser spiegelten und alle auf die Sirenengrotte hielten. Ein munterer Wind ging. Das flimmernde Meer sprühte Wonne. Ein Wettfahren entstand, mit Ho- und Heiaruf! Die Riemen ächzten am Pflock, die Ruder klatschten. Die dreieckigen Segel blähten sich, der hohe Bug sprang munter von Welle zu Welle und schnitt scharf durch die perlende, smaragdene Tiefe.

»Habt ihr schon Wunderbares gesehen? Tänzer und Tänzerinnen sind soeben hinausgeschafft. Dort 98 kommen auch Fahnentücher und Kränze! Es wird einen Schwimmtanz geben. Wer das Schauspiel mit ansehen könnte!« Aber in dem engen Mund der Grotte verschwanden alle Herrlichkeiten. Und die Vielen, die keinen Zugang hatten, wimmelten auf tanzender Flotille vor der Einfahrt wie Möven am Brutplatz oder wie ein Volk von Schwänen an der Futterstelle.

Der Felsenrand der Insel steht hier wohl bis achthundert Fuß steilrecht und unzugänglich aus dem Meere. Er wurzelt im Seegrund fest genug seit Jahrtausenden. Aber auch das Wasser spült hier an und nascht am Felsen ruhelos seit Jahrtausenden. Es hat den harten Fuß des Riesen unterspült und ihm die schönste der Grottenstuben abgewonnen; und die blaue Welle hebt sich schlüpfrig und leckt empor, wenn sie durch die enge Einfahrt ins Innere einschlägt. So kleidet sich hier der Hader der Elemente in Liebe und in Lieblichkeit. Der breite Fels prangt mit nackter Brust braungold und tief violett von oben bis unten, die Schultern überschüttet von Sonnenstrahlen, indessen die wogende See schmeichelnd seine Sohle küßt, und Höhe und Tiefe ist wie in eins geschmolzen von der heitern Glut des Sommertages.

Alexis war mit Simichus vom Fang heimgekehrt; anlandend traf er Myrto mit ihrem Vater. Vater Simon wünschte eifrig, zur Grotte zu fahren. Die Knaben erboten sich, und Myrto konnte nicht widerstreben.

Sie dachte nicht an Liebe; sie gestand sich nur, daß sie ihre Freude an Alexis gehabt und daß sie dies 99 unvorsichtig gezeigt hatte. Das war nun zu Ende. »Die jungen Männer sind täppisch und vorschnell,« dachte sie; »und sie sind sich alle gleich; zeigst du ihnen Zutrauen, so stürzen sie ungeschickt auf dich mit Liebeswerben; blickst du sie freundlich an, so springen sie mit beiden Füßen in deinen Garten. Morgen aber sind sie bei einer andern, die noch freundlicher blickt. Sie sind wie Öl und wie Schwefel, und jedes Weib kann sie entzünden!«

Alexis in seiner Einfalt sah sie sehnsüchtig fragend, flehend und dringend an. Ein Blick von ihr, ein einziger hätte als Dank genügt für seine Gabe. Sie mied mit entschiedener Ruhe sein Auge und dachte streng: »Es ist dem Burschen schon Antwort genug, wenn ich ihm die Gabe nicht zurückgebe; daraus mag er erkennen, daß ich ihm seine Kühnheit verzeihe.«

Alexis verstand sie nicht, und sein Gespräch wurde kleinlaut, sein Herz gedrückt. Aber auch Simichus saß im Kahne mit düsterm Angesicht und verbissener Miene, blickte, wenn Myrto ihn ansprach, finster zur Seite, und sah sie mit Haß an, so oft er sich unbeobachtet glaubte. Hier saß das Mädchen vor ihm, das ihm seinen Freund verwandelt hatte; und sie machte den Freund nicht selig, sondern bekümmert!

Myrto fuhr selten auf dem Meere; denn selbst auf so kleiner Insel engt und teilt sich das Leben. Das Treiben der Schiffer, die farbigen Wimpel, das Schreien und Grüßen von Gondel zu Gondel belustigte sie. Man jauchzte ihnen zu, und Myrto gab den Ruf zurück, daß das Echo der Felsen widerhallte. Der Strandpalast des Tiberius zog an ihnen vorüber. 100 Denn auch hier hatte der große Herr einen Prunkbau errichtet, der kühn in drei gewaltigen Stockwerken, 270 Fuß in Front, mitten in die Flut gemauert stand. Myrto frug, und Alexis mußte erklären, daß früher in jedem Frühling der Kaiser hierher kam, um in den Seebassins im Innern der Höfe des Bades zu genießenJetzt Bagni di Tiberio. Doch der Kaiser ist nunmehr hoch betagt, und er meidet die Salzflut.

So waren sie bis zur Grotte gelangt, und die Umgebung wirkte zerstreuend. Zwei Reihen bemannter kaiserlicher Schaluppen lagen trotzig vor dem Grotteneingang und wehrten jedem Neugierigen, sich zu nahen. In des Mädchens Seele aber wurde die Neugier reger und reger, und ihre Phantasie fing an zu raten. Ein Geheimnis, ein Rätsel, das sirenenhaft lockte, verbarg sich in der Höhle. Wer hineinschauen könnte! er würde in die Wunder Elysiums sehn! Und im Kahn, der sich wohlig hob und senkte, lagen die jungen Drei untätig hingestreckt und spähten zaubersüchtig nach jener Stätte des Wunders.

Alexis sprach: »Ich wüßte ein Abenteuer. Wer unter den Kaiserschiffen hindurch in die Grotte schwämme, der würde gewiß alles sehen, und er könnte uns alles erzählen.«

Das war ein Wort! Myrto schlug ungläubig die Hände zusammen. Simichus aber hatte es kaum gehört, als er emporfuhr, sich rasch entgürtete und über den Bootrand im Meer verschwand. Erschreckt riefen die andern ihm nach; er ließ sich nicht halten.

101 Den eigensinnigen Knaben in seiner verbitterten Seele lockte just ein Abenteuer, und das Unmögliche war ihm eben recht. Wenn es ihm gelänge und er das Geheimnis entdeckte, dann würde er doch dieser Myrto davon nichts erzählen! Und ging er gar unter, nun gut! man würde sich doch um ihn grämen müssen!

Seine Gestalt entfernte sich; er tauchte unter und wieder auf. Jetzt war er an der Grotte; aber die Kaiserlichen gewahrten ihn. Eine Eisenstange schlug nach ihm, und er versank. Alexis schrie auf, rief gellend des Simichus Namen und sprang in fliegender Hast ihm nach, dorthin, wo auch ihm die Eisenwaffe drohte. Die Barke trieb ohne Ruder.

Myrto, die starke, erschrak; eine Angst nicht um Simichus, eine Angst um Alexis überfiel sie. Ihr fiel die Fabel ein, die Alexis eben gestern von dem Seeungetüm, von dem Meerstier erzählt, der auf dem Felsenbett geschlafen und der heute, eben heute sein Opfer forderte. Ihre Augen verfolgten den Schwimmer in atemloser Spannung, dann sank sie über den Bootrand, griff mit beiden Händen in die blaue Flut, hob sie dann flach zum Himmel empor und hauchte unhörbar:

»Herrin Venus, Königin der Meere, dein ist er! Schütze ihn und laß ihn leben. Und ich will tun, was du gebeust.«

Aber die letzten Worte, die einem Gelöbnis glichen, hatte sie noch nicht gesprochen, da erhob sich ein Schwarm von Delphinen aus den Wellen und umkreiste mit gleißendem Rücken den Kahn; mitten unter 102 ihnen aber tauchte Alexis selbst empor, den Freund im Arme, das rote Gürteltuch schwenkend, das ihm von den Hüften geglitten. »Gerettet!« Die Göttin hatte geholfen, und der Meerstier hatte das Opfer nicht gewollt! Simichus wurde ohnmächtig in die Barke gehoben.

Da fiel alle Angst und Erregung des Augenblicks Myrto vom Herzen, und eine heitere Ruhe erfüllte sie. Simichus war von dem Schlage am Kopf getroffen, und das Blut rann aus der Wunde. Myrto besann sich nicht, löste ihr leinenes, weiches Brusttuch und wand es ihm fest um Schläfe und Stirn. Ihr Hals stand offen. So ließ sie sein blasses Haupt in ihrem Schoße ruhen, legte den Arm auf seine Schulter und neigte sich mildtätig über ihn, seinen Atem belauschend. »Er lebt und wird erwachen!« sagte sie mit Zuversicht und war ganz nur von der Pflege des Knaben hingenommen. Denn ihr Herz neigte sich ihm zu um seines Freundes willen.

Auch Alexis sorgte sich um Simichus, aber seine Gedanken hingen nur an ihr, an der Pflegerin. War es möglich? Er mußte in diesem Augenblick der Gabe, die er ihr am vorigen Tage gebracht, der geringen Ziernadel gedenken. Er wähnte, sie hätte sie etwa verborgen in ihrem Brusttuch getragen. Jetzt sah er, sie trug seine Nadel nicht! Er ruderte stehend, und mit jedem Ruderschlag sich neigend, sah er vor sich die Freundin und den Freund wie eine schöne Gruppe der Pietas. Der Zauberglanz der See schimmerte milde in Myrtos Auge. Er aber konnte den Anblick nicht ertragen, neidete dem Verwundeten 103 den zärtlichen Platz in ihrem Schoße und zürnte mit seinem Schicksal: »Warum lieg' ich nicht dort? und warum bin ich nicht selbst der Geschlagene?« Ein Zug von Delphinen umkreiste noch immer friedfertig die Barke. Myrto sah sie mit Bewunderung und Entzücken, Alexis aber hub voll Grimm die Ruder und schlug nach ihnen, und die freundlichen Boten der Venus entwichen.

Jetzt eben regte sich Simichus. Myrto strich ihm mit der Hand Haar und Wange und sagte fröhlich: »Er erwacht und kommt zu sich! Ein wackrer Jüngling ist dein Freund. Gestehe, Alexis: Simichus war tapferer als du!«

Aber sie kannte Simichus nicht. Der schlug kaum die großen Augen auf und begriff, wo er war und wer dies gesagt, als er emporschnellte, und Myrto fühlte einen heftigen Schmerz; er hatte sie voll Haß in die Hand gebissen, daß sie aufschrie, und stürzte mit Anstrengung von ihr hinweg, als wäre sie eine Schlange. Myrto versuchte zu scherzen: »Hast du ein Raubtier zum Freunde, Alexis?« Aber die Stimmung blieb unfrei und verworren, die Herzen näherten sich nicht, und auf dem berauschenden Gefilde der Liebesgöttin, das die Gondel in wonniger Welle geschaukelt, waren die Kinder, die sich liebten, umsonst gefahren!

Am Ufer folgte ein eiliger Abschied; denn Simichus bedurfte der Führung, um alsogleich in sein Haus zu kommen. Vater Simon und Myrto sprachen noch ein freundliches Dankeswort; Alexis hörte es kaum. Bald hernach stand er vor seiner Türe und sah, wie 104 ihre Gestalt leicht und ohne Steinlast dahinschwebte, die Treppe hinan ihrem Vater voraufflog und bald hoch oben am schwindelnden Felsen hing, gleich der rankenden weißen Rose, die flatternd am hohen Stirngebälk des Tempels hängt.

* * *

In das Geheimnis der Grotte aber war Myrto nicht gedrungen, und die Kinder hatten umsonst getaucht. Das schöne Schiff des Philadelphus lag noch immer mit schlaffem Segel am Molo. Seine Bootsleute standen müßig herum, scherzten mit den Strandschönen, würfelten, leerten die Krüge und harrten umsonst ihres jungen Gebieters.

Auch Herse droben in ihrem Haus erwartete die Freundin Anassa vergeblich. Die Diener im Sonnentempel hatten sie nicht gesehen; sie war aus den Palästen des Kaisers nicht heimgekehrt, weder nachts noch im Laufe des folgenden Tages. Das war noch nicht dagewesen.

Als aber der Tag zur Neige ging und das Meer von Kähnen leer war, erhob das Gerücht, das tausendzüngige, sich aus der Tiefe und begann huschend auf Flügeln der Nachteule – denn nichts ist geschwinder als das Gerücht – seinen Umlauf über den Inselrücken von Türe zu Türe, vom Strand hinauf bis zur fernsten Hütte Anokaprias, wo Herse und Bittis und Battis es hörten. Man wußte jetzt, was in der Sirenengrotte geschehen war, man wußte, daß man Anassa nie wieder sehen würde. Tag auf Tag verging, und jeder Tag bestätigte es: auch Anassa gehörte hinfort zu den Verschwundenen. Was erzählte man? wer sagte 105 es? wer bezeugte es? Hatten die jungen Soldknechte geplaudert, die an der geheimen Zauberhandlung, als Tritonen verkleidet, teilgenommen hatten? Ritter Priskus, der diese Feste leitete, hatte hierzu die Knechte gedungen, um sie gleich folgenden Tages von der Insel zu entfernen; sie wurden nach Afrika verschickt, um dort am Rande der Wüste Verschwiegenheit zu lernen und die Karawanenzüge des römischen Handels gegen die Berber schützen zu helfen.

Das Gerücht aber, ausschmückend und hinzudichtend, erzählte folgendes, und bald wurde es, wie auf Capri, so auch in Neapel und in Rom vernommen:

Auf den vier Ostgipfeln der Insel standen die vier Burgpaläste des Kaisers; im Westen bei Anokapria und nahe dem Sonnentempel lag der fünfte; der sechste war unten am Hafen ins Meer gebaut. Von diesem Wasserpalast aber, so sagte man, lief ein Stollen unterirdisch bis in den Hintergrund der Sirenengrotte, und durch diesen geheimen Gang hatte sich die Majestät, von niemandem gesehen, in die Höhle begeben.

Anassa und Philadelphus ahnten die Nähe des Gefürchteten nicht, als sie nacheinander und getrennt auf zwei glänzenden kaiserlichen Lustkähnen in der nämlichen Grotte anlangten. Priskus hatte ihnen nur dies verkündet, daß beide sich wie Peleus und Thetis kleiden und schmücken sollten; der Kaiser begünstige ihre Liebe; er wolle ihnen ein Brautgemach seltener Art bereiten, und sie sollten eine Hochzeit feiern gleich jenen Seligen.

Die Grotte stand über dem stillen, gleißenden Meer 106 wie eine umgestülpte blaue Riesenmuschel: ein Sirenengemach, dessen schwanker Estrich die Welle, dessen Unterkellerung der tiefe Seegrund selber war. Priskus aber hatte alles sinnreich vorbereitet: denn aus dem Wasser erhob sich eine offene, weit ausgespannte Riesenhand; die Hand war aus starkem Zedernholz gemeißelt und sah aus, als reckte ein Atlas und Gigant, der unter dem Wasser lag, seinen schweren Arm aus der Tiefe, um eine Last zu tragen oder um einen Griff zu tun. Dieselbe Hand trug aber auf ihrer Fläche ein Elfenbeinlager, das mit gelbseidenen, rosendurchwirkten Teppichen überstreut war und weich zur Ruhe lud. An den Seitenenden der Grotte waren auf Podien lebende Genien aufgestellt; die wehten mit Fächern und Schleiertüchern, und ein narkotischer Wohlgeruch zog durch die Wölbung. Von unten schlug aus dem Wasser magisches Licht und brach sich in der Höhe in den gezackten Nischen und Spalten. Unter den Wölbungen schaukelten sich Liebesknaben mit bunten Flügeln, in goldenem Schmuck, aus hängendem Gezweige, indessen aus den seitlichen Felskulissen rauschend und mit vibrierendem, orgiastischem Schall die Flöten ertönten.

Anassas Gondel nahte zuerst; sie grüßte lächelnd, erstieg das Lager in heller Anmut, aber mit einem Staunen im Blick und mit einem Ausdruck des Leidens, als litte sie unter ihrer eigenen Schönheit. Ein Chor von freundlichen Nereiden schwamm festlich herbei; die sangen plätschernd mit süßem Ton: »Heil Thetis, unserer Göttin, Heil unserer Erstgeborenen, der Liebenden!« Im meergrünen Peplos, Perlen des 107 Meeres im fließenden Haar, so saß Anassa mit gesenktem Blick am Rande des Lagers; sie harrte nicht lange. Auch Philadelphus fuhr ein. Jugendstrahlend wie ein Held und wie ein Glücklicher aus jener Zeit, da noch die Götter auf Erden wandelten, stand er hochragend im Schiff und breitete die Arme. Da schwammen junge Tritonen herzu, und Tritonen und Meeresweiber sangen mit Jauchzen: »Heil auch dir, Peleus! Deine Göttin ruft dich! Du gleichst dem Achill der Sage an Schöne und bist wert, Erzeuger des Achill zu sein!«

Indessen gewahrte Philadelphus die Geliebte und setzte sich zärtlich neben sie an ihre Knie. Da erschien noch ein Zug von hohen Gästen zur hochzeitlichen Feier. Auf dem Rücken von Delphinen und Seezentauren fuhren die hohen Götter des Olympos selbst heran, Juno und Minerva, Apoll und Bacchus und Venus vor allen, die holde Gönnerin dieses Tags, und jeder sprach Segen und brachte sinnreich seine Gabe. Da umschlang Peleus sein Weib, nahm aus des Bacchus Hand die goldene Schale, spritzte des purpurnen Weins in die Flut und rief lobpreisend: »Hymenäus! Unser Jupiter, der Kaiser, vermählt uns! Es blühe das Glück des Kaisers! Er höre diesen Ruf, wenn sein Genius unsichtbar uns nahe ist!«

Und sie tranken beide; ihre Herzen lachten; sie küßten sich auf den Mund, hielten sich inniger umfangen und vergaßen um sich alles. »Hymenäus!« scholl es in den Wölbungen wieder mit Sirenenklang; und die Schwimmenden in den Wogen küßten sich; es küßten sich schaukelnd oben in den Zweigen die Flügelknaben. 108 Auf dem dunklen Höhlengrunde aber ruhte des Tiberius hartes Auge auf denen, die sich Götter wähnten, und seine Kinnladen bewegten sich, als wollten sie, was er sah, zermahlen: so schrecklich phantasierte die Volkserzählung.

Da geschah das Entsetzliche. Das Lager aus Elfenbein begann sich unmerklich zu rühren, die Hand des Giganten im Wasser rührte sich auch und zog sich unheimlich langsam zurück. Ein Netz fiel über die Liebenden, und die Hand glitt langsam tiefer, sie sank und versank in die Flut, und Lager und Liebende waren mit ihr versunken. Der Griff des Giganten war gelungen. Das Meer schlug gurgelnd über ihrem Kusse zusammen. Sie spürten den Tod nicht, und die Welle, durchsichtig wie der azurne Äther, zeigte an ihrem Grunde das sich umschlingende Paar, die Körper silberweiß schwebend in blendender Verklärung. So ruhten sie: ihr schwarzes Haar war über seinen Nacken gefallen; aber sein offener Mund trank lächelnd die salzige Flut, die ihn erstickte. Thetis hatte den jungen Gatten hinabgezogen in ihr feuchtes Reich.

So erzählte das Gerücht vom Ende des Philadelphus und der Anassa. Das Grausigste aber schien dem Volke, daß in der Frühe des folgenden Tags das Paar am Wellengrund spurlos verschwunden war, und kein Taucher hatte die Leiber der Versunkenen gefunden. Die Gläubigen aber wußten die Erklärung: »Der Meerstier wollte sein Opfer; er hat es gefunden. Nun gibt uns der Böse ein gutes Jahr.«

Bittis und Battis reckten die Ohren, als sie dies alles hörten, fühlten ein wohltätiges Grauen, und 109 ihre gelben Augen blinzten selbstgerecht unter den zottigen Augenbrauen: sie hatten das alles vorausgesehen! Herse trauerte und weinte ehrliche Tränen der Freundschaft. Anassas leeres Gemach hielt sie verschlossen und tat ein Volk von Singvögeln hinein, die von den Dorfgenossen gefangen wurden und die man blendete, damit sie schöner singen sollten; und so scholl nun von den Geblendeten täglich der Gesang da, wo einst Anassa so hell gelacht hatte. Und Herse dachte: »Mir ward kein Gesang gegeben, und die blinden Vögel singen meinen Schmerz. Denn auch mir ist wie ihnen das Licht geraubt, seit mir die Freundin geraubt worden.«

* * *

Fünf Tage waren, seit Myrto mit Alexis auf dem Meer gefahren, vergangen. Das tägliche Leben ging weiter in gleichem Schritt, und auf den Dorfstraßen Anokaprias herrschte wieder die alte sorglose Munterkeit; denn das Schreckliche war für dies Volk wie ein böser Traum, den man sich heute mit Schauer erzählt, um ihn morgen vergessen zu haben.

Alexis und Simichus trafen sich wieder zur Abendzeit am Strande; denn die Gewohnheit siegte; und obschon sie über das, was sie widerstreitend bewegte, nicht zu sprechen wußten, fanden sich ihre Herzen doch wieder langsam zusammen und baten sich stillschweigend das Unrecht ab, das doch keiner dem andern vorwarf.

Aber seine Sorge um Myrto trug Alexis allein. Und doch: wie sollte er sie alleine tragen? Je mehr des Mädchens überlegene Ruhe ihn demütigte, um 110 so unbedingter herrschte sie in seinen Gedanken. Warum durfte er ihr nicht sagen, daß er sie liebte? Er liebte sie. Es war die Wahrheit. Konnte es sie kränken? Er, der den Wellen trotzte im Wintersturm, war kraftlos und willenlos vor einem Weibe. Sein Herz wurde dunkel, wie von Spinngeweb überzogen – bis es ihn nachts vom Lager trieb und er den Mut zu handeln wiederfand. Und an jedem Morgen fand dann Myrto über dem Pfosten den Kranz von Mohn und Malven, den sie schon kannte, und wieder fiel das eine und das andere Mal ein Geschenk aus dem Kranze. Denn er verstand kleine Schifflein aus Holz zu schnitzen, ein beliebter Zierrat der Schifferstuben; die gab er ihr.

Zu ihr hinauf zu gehen, wagte er nicht; denn sie hatte es ihn nicht geheißen. Aber er wollte sie darum fragen. Ein alter Sorrentiner Fischer, der bisweilen herüberkam und dem er vertraute, zeigte ihm die Kunst, Buchstaben in Holz zu schneiden. So lernte er schnell Myrtos Namen zu schreiben und legte nun in seine Kränze ein Täfelchen, darauf stand: »Myrto, darf ich kommen?« Denn er wußte, sie war klüger als er und hatte die Kunst des Lesens inne.

Dreimal hatte er so geschrieben; dreimal war sie mit ihren Mägden zum Strande herabgekommen, um dies und das von den anfahrenden Schiffern zu erhandeln. Jedesmal hatte sie ihn mit Freundlichkeit gegrüßt, war aber zu keinem Wort der Zwiesprache stehen geblieben, und auf seine Frage antwortete sie nichts. Als er zum viertenmal schrieb, kam sie nicht wieder. Warum? Sie war ein Weib und begann sich 111 vor seiner Ungeduld zu fürchten. Ihr Herz glich dem Apfel am Baum dicht vor der Reife. Du schüttelst, aber er fällt nicht und hängt wie mit Eigensinn am Zweige fest, der seine Heimat ist. Der Tag aber kommt, und er wird fallen, von der eigenen, süßen Schwere bezwungen, wenn die linde Reife ihn ganz und im Innersten durchdringt.

Alexis jedoch ertrug es nicht länger, denn sein Blut war entzündet. Ein Kriegsschiff vom Misenischen Hafen legte an. Er sprach mit dem Navarchen und verdingte sich ihm als Seesoldat. Das Schiff lief morgen nach Kreta. »Vielleicht fassen wir dort den Piraten, der des Simichus Schwester entführt; Korymbus ist sein Name.« So sprachen die Leute, die an eine Entführung glaubten. Dem Alexis genügte, daß der Bug des Schiffs in die Ferne wies.

Dann ging er einen letzten Weg der Frömmigkeit und stieg hinauf zum Nymphenquell, der Lieblingsstätte seiner Kindheit.

Denn hatte man die Felsentreppe nach Anokapria zur Hälfte erstiegen, so führte zur Linken ein Pfad seitab durch struppiges Gebüsch auf eine schmale Wiese, die tief einsam und im feuchten Grün prangend auf einer natürlichen Felsengalerie schwebte, über sich und unter sich Absturz. Ein Quell süßen Wassers, eine Kostbarkeit auf dieser wasserlosen Insel, brach aus verborgenem Spalt und befruchtete rieselnd und Kühle hauchend die lockere Erdsohle, und die Matte lag sammetweich und sprießte üppig in wilden Blumen; zwei Nußbäume breiteten ihr Schattendach; der Quell selbst aber war in Marmorstein gefaßt, und ein 112 Heiligtum der Nymphen mit einem Tafelbilde der Göttinnen stand schlicht daneben.

Es waren wohltätige Göttinnen. Wer immer nach klarem Geiste, nach reinem Herzen und hellem Mut Verlangen trug, der kam herauf und huldigte in der Stille den freundlichen Nymphen, und sie gaben Begeisterung und den Rausch für die gute Tat.

Alexis war nun seit Jahren nicht hier gewesen. Er saß am Quell nieder, spülte sich andächtig Wange und Brust, atmete tief den Duft der Wiese und sprach zu den Geistern des Orts, die ihn wohl verstanden:

»Helft mir, ihr Nymphen! Denn mein Sinn ist verworren. Ich fühle Schmerz und habe doch keine Wunde; ich schmecke Bitterkeit und habe doch kein böses Kraut gekostet; mein Mut ist voll Begehren, aber er begehrt, was ihn traurig macht. So nehmt mir diesen fremden Schmerz aus den Gliedern, o freundliche Göttinnen, und zürnet nicht, daß ich nicht euch, sondern der Sterblichen meine Kränze brachte, die mir nicht helfen will. Wie Held Jason will ich in die Fremde ziehen, dahin, wo das Meer am weitesten ist und wo die östlichen Stürme gehen. Wenn ich aber zu unserem Strande kehre und dieser Schmerz kehrt nicht mit mir heim, dann will ich euch zehnfältiges Opfer bringen in süßem Dank, ihr Guten!«

So betete der Einsame im verlassenen Herzen. Simichus aber hatte Alexis mit dem fremden Navarchen verhandeln sehen. Ihm konnte der Plan seines Freundes nicht entgehen, und in seiner Seele stürmte es. Auf seine vorwurfsvolle Frage: »Du willst übers Meer und willst von uns gehen?« hatte ihn Alexis 113 umarmt, hatte ihm alles gestanden und ernst gesagt: »Der Strand ist mir zu eng, und die Welt ist weit, und ein Gott ruft mich! Hat sich der Mond zwölfmal neu gefüllt und ich kehre zurück, dann hole ich meinen Simichus und wir fahren gemeinsam hinaus. Und kehre ich nicht, dann sei gewiß, mein Teurer, daß ich gestorben bin. ›Wer dem Leben die Stirne bot, den liebt der Tod; wer sacht geht und eben, den liebt das Leben‹ – so sagt das Sprichwort, an das wir beide glauben. Ich will dem Tod und dem Leben die Stirne bieten!«

So ließ er Simichus allein, den Angst und Zorn erfaßte. Er wußte nun gewiß, daß Myrto der Grund alles Kummers, daß sie auch der Grund dieses jähen Abschieds war, und er haßte sie doppelt. Aber die Liebe siegte. Es geschah ein schneller Riß in seinem Herzen, und opferfähig und rasch im Handeln, wie er war, eilte er augenblicks zum Hochgebirge den Stufenweg hinan. Er eilte zu Myrto.

Sie stand mit der Hacke in ihrem Garten und lockerte das Erdreich der Reben. »Bist du allein?« rief er sie an, und seine Augen sprühten Zorn.

»Ich bin allein. Was bringst du? Bleibe draußen, bissiger Freund des Alexis!«

»Unholde, so höre mich. Bericht bring' ich dir, daß Alexis unseren Strand verläßt, daß er in die Fremde fährt als Triërenknecht. Ich weiß es: nur, weil du ein böses Weib bist, weil du sein Eingeweide verzaubert hast und ihn in seiner Pein verläßt, nur darum wird er heimatlos und ein irrender Flüchtling. Die Triëre, die ihn angeworben, setzt schon Segel auf; 114 der Wind steht auf Ost; noch vor Mitternacht hat Alexis den Hafen verlassen. Jetzt eben ist er zum letztenmal hinauf zum Nymphenquell gegangen. Hörst du mich, Myrto? Ein Wort von dir könnte ihn halten! Die Wunde heilt nur, wer sie schlug. Aber dir geschieht schon recht, daß er davongeht, dreimal Verwünschte! Ich werde dich strafen und dir einen festen Fluch bereiten, daß nie ein anderer Knabe dir nachschauen soll, nie, niemals, solange ich lebe!«

Und er reckte die Hand drohend über die Gartenmauer und verschwand. Myrto aber ordnete sich nicht das Haar, nicht das Kleid, das sie zur Arbeit hoch aufgenommen. Achtlos, wie sie war, stürzte sie aus dem Garten durch die menschenvollen Gassen an den Rand des Gebirgs, da, wo es ins Meer stürzt und man den Hafen in der Tiefe erspäht. Da lag sie, die Triëre, hochgemastet, mit dreifachem Deck und hundert Rudern zum Seegefecht gerüstet und zur Abfahrt bereit. Sie sah es. Es war Wirklichkeit. Und mit fliegendem Haar und Gewand rannte sie weiter und weiter die Steile nieder zum Nymphenquell.

Alexis war noch dort. Er schnitt eben eine Locke und warf sie in den Wind, und große Tränen rannen ihm wider Willen auf die weichen gebräunten Wangen nieder. »Nur voran, junger Tor! es liegt jetzt alles hinter dir!« Und er wandte sich entschlossen und hochaufgerichtet zum Gehen, als er stürzende Schritte hörte, die Hecke knickte und eine Mädchengestalt vor ihm stand, die ihm den Weg verwehrte. Sie war es selbst.

»Alexis!« rief sie mit fliegendem Atem. »Myrto ist 115 hier. Sieh, ich bin gekommen! Gehe nicht, gehe nicht, Alexis, sondern bleibe am Strand deiner Heimat!«

Alexis aber konnte es nicht fassen, er drängte vorwärts, sah sie mit fremdem Blick an und sprach: »Warum soll ich bleiben?«

»Bleib', Alexis, um deiner greisen Mutter willen.«

»Die Mutter will mir wohl und hieß mich fahren.«

»Bleib' um des Simichus, um deines Freundes willen, der nun allein und ohne Führer ist.«

»Du nennst Simichus? Ich sah in sein Herz; auch er liebt mich und hieß mich fahren.«

»So hör' mich, Alexis, die ich hier stehe. Um meinetwillen, um meinetwillen allein, bleib hier, bleib hier an unserem Strande!«

Und sie umschlang ihn mit überwallender Leidenschaft und küßte ihm heiß den Mund. Es war geschehen. Er erbleichte und erschrak in Wonne.

»Und warum gabst du nicht Antwort, Myrto, da ich dir Gaben der Liebe sandte?«

»Ich durfte nicht, Alexis, und auch heute darf uns hier niemand sehen. Aber du bist stürmisch und vorschnell, und wenn dir ein Mädchen drei Tage nicht gehorcht, gehst du am vierten von dannen.«

»Komm auf den Rasen und sei nicht umsonst hier gewesen!«

Und er zog sie am Quell in das weiche Gras; sie saßen beieinander; er nahm ihre Hand, und sie ließ sie ihm. Man sagt: ein Kuß von Mädchenlippen ist wie eine Blume, darin der Stachel der Biene ist. Er fühlte ihn noch, den ersten Kuß ihrer Leidenschaft, und er fühlte den Stachel darin. Mit tiefem Staunen sah 116 er ihr ins Auge; es strahlte ihm entgegen, und ihre unergründliche Seele lag offen vor ihm.

Dann begann er: »Ein jeder Knabe, wenn das rechte Alter naht, so hat er sein Mädchen. So will ich dich, Myrto; es ist kein Unrecht darin, und du sollst nun die Meine sein.«

Sie versetzte in zärtlichem Ton: »Lerne Geduld, mein süßer Freund. Wir wollen uns fortan oftmals sehen, aber nicht hier und nicht heimlich; denn die Ehre eines Mädchens ist dahin, wird sie mit einem Jüngling jemals allein gefunden. Sondern oben im Elternhaus und bei den Götterfesten, da sehen wir uns. Denn ich bin jung, und die Herrin Venus hat mich noch nicht gerufen.«

»Und darum kamst du hierher?« stieß er hervor, und ihre Hand pressend zog er sie näher zu sich. »Fühlst du nicht, Myrto, wie um uns die Blumen blühen? Und weißt du nicht, daß ich auf unserem Eiland nur darum bleibe, weil du zu mir hierher gekommen?«

Da legte sie das Haupt flüchtig auf seine Schulter und ging nicht hinweg, obschon die Sonne sich senkte. Seinem Kuß aber entzog sie sich schnell, und Alexis fühlte noch brennend den Stich aus der Blume ihres Mundes und fürchtete sich wie ein Knabe vor der lieblichen Gefahr.

So lagen sie unter dem Sinken der Sonne und sahen lächelnd auf das Meer zu ihren Füßen und auf die grimme Triëre herab, die drunten wie ein Haifisch schwamm und ihrer Beute vergebens harrte. Der Duft des jungen Sommers schlug über sie. Da blühte in Fülle auf dem Rasen und am Gestein Zytisus und 117 Orchidee, Rosmarin, Thymus und Lavendula, hellrote Nelken neben goldenem Ginster, Asphodelos in farbigen Ruten und das hängende Mesembrianthemum, dessen Asterblüten sich mit dem Tageslicht langsam öffnen und schließen. Also vom Paradies umgeben schwebten die Kinder hoch über dem Meer wie auf Flügeln des Traumes; ihr Herz war wie der bunte Falter, der um sie her von Dolde zu Dolde schaukelte. Die Natur, die sie umblühte, blühte in ihnen, und die freundlichen Göttinnen des Quells, die jene Wiese nährten, nährten auch ihre jungen Seelen und erfüllten sie mit reinem Geblüt, mit Frieden und Klarheit und dem seligen Rausch der ewig lebendigen Gegenwart!

* * *

Indessen so durch Irrung zwei Glückliche sich zusammenfanden, war es auf der Jupitervilla des Kaisers still geworden. Aus den hohen Marmorsälen fiel kein Licht, keine Musik scholl aus den Galerien über die Insel. Die Gelage hatten aufgehört. Tiberius selbst wurde von seinen Freunden seit vier Tagen nicht gesehen. Seine Richtersprüche verstummten. Er kam auch nicht zum Leuchtturm hinauf, und alles schlich lautlos einher durch die Atrien und Korridore und sah sich verwundert an. Es hieß, er sei krank, und er war es. Aber er ließ keinen Arzt vor sich, auch nicht einmal den Leibarzt Charikles, und sagte mit stumpfer Verachtung: »Das Volk der Schulmeister ist dumm, und dumm sind die Ärzte; die Ärzte aber sind es noch mehr.«

So saß er starr und teilnahmslos im goldenen 118 Armstuhl, zwei Diener vor sich wie Schatten an den Wänden, den gelben Molosserhund im Purpur zu seinen Füßen. Hatte ihm die feuchte Höhlenluft der Sirenengrotte geschadet? Hatte gar das Schauspiel, das er dort sah, seine gereizten Pulse erschüttert? Ihn hatte gefröstelt. Die Nässe war von oben auf ihn getropft, und er hatte es nicht wahrgenommen. Ihn fieberte, aber die Gedanken bohrten unablässig in ihm. Ein Heilmittel gab's für Körper und Seele zugleich: es hieß Theobrotion, es hieß die Kost der Seligen! Wie ein Greis, der kindisch geworden, dachte er jetzt nur noch an das eine. Es wuchs auf der Insel, und es gehörte ja ihm zu eigen; denn diese ganze Insel gehörte ja ihm. Er würde das Kraut suchen, er würde es finden, und fände er es, es würde ihm Ruhe geben, ja, Seelenruhe . . .!

Der Schlaf floh seine Augen seit langem. Denn Schlaf und Tod sind Brüder, die sich zärtlich lieben. Er aber hatte den Tod nur zu oft mißbraucht, und der Schlaf rächte nun seinen Bruder an ihm.

Im kranken Geist sah er Anassa und Philadelphus noch immer vor sich versinken; sie versanken schmerzlos und selig im blauen Schlunde, und er beneidete sie. Sein Neid, der ständig rege, verfolgte noch seine eigenen Opfer. Seine Seele war voll Schwären der Sünde; sie brachen auf; kein Purpur verdeckte sie, und er ertrug es nicht. Sein Stolz zerbrach in ihm; seine Allmacht krümmte sich in Ohnmacht. »Wohlan! einem alten Weibe will ich gleichen! Ich will es wagen, mich zu demütigen, und einem Zauberkraut nachgehen wie ein Dieb. Thrasyll glaubt daran; denn auch er 119 ist ein Weib; er hat mir die Stelle deutlich angezeigt. Wenn es ein anderer vor mir schnitte! wenn ein anderer den Frieden fände, meinen Frieden! Ein Elixier! Ich muß dieses Leben verdauen lernen!«

Die Nachmittagssonne stand noch heiß am Himmel, als aus dem stillgewordenen Palast eine Gestalt schlich, unscheinbar, grau und bartlos, mit verfallenen Zügen; weiße Haare flatterten im Nacken. Die Gestalt ging künstlich gebückt, um nicht erkannt zu sein. Denn dieser Nacken stand sonst steif und gerade; es war der Körper, der in den Kriegen gegen Germanen und Perser an der Weser und am Tigris wetterfest, zäh und unzerstörbar geworden. Er trug Soldatenmantel, Soldatenstiefel, aber den Hut des Schiffers, der ihm das Gesicht tief verschattete. So ging er ruhelos wie ein Verfolgter in der Hitze die schattenlosen Saumwege hinab und hinan. Niemand kannte ihn; aber die ihm begegneten, schauten sich um, spuckten aus und glaubten, sie hätten ein Gespenst gesehen.

Er mied die belebte Stadt Kapria; aber er mied auch die Bergeshöhen, auf denen die Kaiserburgen lagen – denn er wollte von den Schranzen der Majestät nicht gesehen werden – und stieg in Hast zur klippenreichen Südküste hinauf, die nach Afrika schaut, wo der Pfad schwindelnd steil wird und die Steine, die er trat, ihm tückisch unter dem Fuß hinwegrollten. Sein Fuß ermüdete früh, denn er war seit Jahren nur die Sänfte oder die Mosaikfußböden seiner Paläste gewohnt. So schlich er an den Felsenwundern der Küste vorüber.

Hier stand am Ufer ein natürlicher hohler 120 Felsenbogen, der riesenhaft aus der Tiefe wuchs; die Titanen mußten ihn so getürmt haben; wer aber hindurchschritt, der stürzte in die Brandung. Höher hinauf ragte eine gehauene Felsensäule, wie ein versteinerter Gigant, rotglühend in die Lüfte; man nannte sie den Polyphemus, und in Wahrheit glich sie dem ungelenken Zyklopen des Märchens; so stand sie und starrte unablässig dreist und ohne Auge ins Meer hinaus; aber das Meer lag tief unter dem Riesen, und die lachende Galatea der Woge verspottete den Polyphem hier schon seit Jahrtausenden.

Die wenigen Menschen, die dem Wanderer begegneten, waren ihm ausgewichen. Denn er selbst ging herrisch vorwärts und verstand es nicht, aus dem Weg zu treten. Aber ein unwirscher junger Bursch kam ihm jetzt entgegen, der die Holzaxt im Gürtel trug. Der Pfad war eng und schwindelnd. Beide blieben stehn, maßen sich herausfordernd mit den Blicken und wichen nicht zur Seite. Der eine trotzte auf seine Jugend, der andere trotzte auf seine Allmacht. Der Kaiser, der sich gebieterisch steif emporgereckt, sah auf seinen Schatten am Boden. Aber der Schatten des Kaisers war nicht größer als der des Tagelöhners. Da knickte er zusammen und schob sich eilends längs der Felswand an seinem Gegner vorüber. Der lachte herausfordernd hinter ihm her. »Ein Weib und eine Memme bin ich geworden!« murmelte Tiber mit gekniffenem Munde. Und er mied fortan vorsichtig jede Begegnung.

In der Nähe zog durch das Inseltal eine Prozession singender Leute zur Mithrasgrotte; er mußte den Hut 121 ziehen, wenn man ihn sah; allein er verbarg sich wie ein Verbrecher, bis der fromme Zug vorüber war. An den Hängen sah er eine Schnecken sammelnde Frau; jetzt einen Winzer, der sich kühn am Seil den Felsen hinabließ, um über der gähnenden Tiefe Gras zu schneiden und die Möweneier aus den Spalten zu nehmen; ein anderer kam daher, der einen Sack voll gefangener Wachteln trug, und wieder ein anderer, der sich am Strand Seewasser in die Amphore geschöpft; denn sein Weib brauchte Salz im Haus. Sonst blieb der Pfad einsam. Die Sonne senkte sich; der Kaiser fürchtete sich zu verirren.

Schon sah er über sich jenen Palastberg ragen, der nach den Bastionen, die er trug, der Kastellberg heißtCastiglione; schon näherte er sich den gewaltigen Hängen des Mons Solarius. Falken und Raben schreckten auf und fuhren kreischend über das Meer. Müdigkeit, Unsicherheit, Angst und Scham befiel ihn. Er war zwei Wegstunden gewandert.

Über einen Abhang hing vorgeneigt ein Fruchtbaum, der an der Klippe wurzelte. Ein Tagewerker stand kühn in seiner Krone, um nichts als das tote Reisig auszubrechen. So wagt hier der Mensch sein Leben selbst um den geringsten Vorteil! Dem Tiber schien es ungefährlich ihn anzurufen. Er nannte kurz und herrisch sein Ziel und fragte nach dem Wege. Der Winzer kletterte aus seinem Baume und gab dienstbereit die Auskunft. Tiberius hörte ihn stumm, wandte sich wortlos und gab weder Dank zurück noch Abendgruß. Da rief ihm der andere nach: »Einem 122 Fremdling den Weg zu weisen ist ebenso leicht, wie ein Feuer am anderen zu entzünden. Man gibt ohne zu verlieren. Aber ein Wort des Dankes kostet nicht mehr! Den Alten da aber treibt wohl sein arges Gewissen, und er sehe zu, daß ihn kein Abgrund am Fuß in die Tiefe zieht!«

Tiberius hörte es und floh weiter. Jetzt erlosch die Sonne aufflammend in der Meeresflut; der Mond aber verbarg heute sein Licht; es war so, wie der Sternkundige es vorausgesagt. Es dunkelte schnell. Der erschöpfte Greis erreichte noch rechtzeitig den Ort, der ihm bestimmt war, und je näher er kam, je erbärmlicher erschien er sich in seinem zerrütteten Stolze.

Es war in der Nähe der tausendstufigen Felsentreppe, die vom Sonnengebirge hinab zum Strande führt. Er trat auf eine Felsenstirn, die wie ein Konsol vorstand und unter der ein grün bewachsener Abhang lag. Duftwogen stiegen aus der Tiefe zu ihm auf; denn der Nymphenquell rieselte dort unten, und keine Stätte war reicher an Heilkräutern und wilder, würziger Gebirgsflora. Hierher hatte ihn Thrasyll gewiesen. Tiberius begann im Halblicht sich über die Spalten des Gesteins zu bücken. Er suchte. Blaue Dolden gewahrte er hier und dort. Er hielt das Sichelmesser in der Linken bereit. Denn der Ritus befahl: nur mit der Linken durfte er schneiden, und er durfte es nur in tiefer Einsamkeit. Er horchte. War nicht Geräusch? Er horchte länger. Ein freundlicher Ton, ein Gelächter und Singen schien von unten zu tönen. Er beugte sich vor, und er hörte Gespräche.

Alexis sprach: »Bleibe noch, Myrto, Holdselige. 123 Siehe, der Abend kommt, die Sterne beginnen zu glühen; die Nacht wird herrlich; die weite Welt schmiegt sich in blauen Schatten zu unseren Füßen, der schöne Golf und der Vesuv und die großen Städte drüben an der Küste. Mir aber fällt die Erzählung ein vom Griphus, dem armen Fischerknaben, der einen Goldschatz in seinem Netze fand und König wurde. Der Fischer bin ich heute. Hier oben ist mein Felsenthron, dort unten mein Königreich und du bist die Königin, die mit mir fortan darin herrschen soll.«

Myrto aber versetzte: »Und möchtest du wirklich König sein? möchtest wie jener Cäsar sein, der in seinem Steinhaus nie glücklich war? Seit vier Tagen, sagt man, liegt er dort krank in Todesangst. Andere wieder sagen: er stirbt schon jahrelang, aber der Tod will ihn nicht; denn der Tod selbst hat Angst vor ihm.«

Und Alexis: »So ist also der Kaiser der arme Mann, und ich muß ihn beklagen! Er kann nicht wissen, was es ist, frei im Morgenwind auf den Fischfang gehen; er weiß nicht, was es ist, abends unter dem Felsen eine Freundin haben!«

Und Myrto hub an: »Laß uns gehen. Denn riechst du den starken Blumenduft nicht? Ich weiß es von Anna, meiner Mutter: an dieser Stelle wächst ein Zauberkraut, es heißt Theobrotion; das steht jetzt eben recht in Blüte, und es duftet nur, wenn die Nacht kommt. Es wächst hier um uns her in Fülle; wer aber unglücklich ist, der kommt und pflückt es, und er kann glücklich werden.«

»So müßte man das Kraut schneiden und es dem armen Kaiser bringen,« rief Alexis. »Vielleicht hülfe 124 es ihm, und er würde sterben können oder auch wieder froh und gesund werden wie wir!«

Myrto aber tadelte: »Du redest schier immer wie ein Tor. Wer das Heilkraut will, der muß es sich selber holen. Glaubst du aber, daß der Kaiser, der nur in Sänften fährt, selbst hierher kommen wird, allein kommen wird und zu solcher Stunde? Und käme er selbst, es hülfe ihm nichts. Denn nur dem, der ohne Blutschuld ist, hilft der Zauber. So aber ist sein Leumund: kein Laster soll es geben, das nicht an ihm haftet. Auch seine Freunde haben vor ihm ein Grauen, und ich nenne seinen Namen nicht, damit mich die Götter schützen!«

Da war ein fallendes Geräusch. Tiberius war vorgetreten. War es das Wort, das er gehört, war es der betäubende Duft der Kräuter, den der Nachtwind hertrug, war es die tiefe Ermüdung, die ihn lähmte: ein jäher Schwindel hatte dies kühle Hirn befallen, er griff umsonst nach einem Halt und stürzte ohnmächtig nieder in die Tiefe.

Die Kinder fuhren auf. Ihr erstes Gefühl war: sie waren belauscht! – ihr zweites: der Mann ist abgestürzt, und wir müssen helfen. Sie spürten, daß er am Leben war; denn er war weich und nicht tief gefallen. So nahmen sie kräftig den schweren Körper und begannen ihn mühsam hinanzutragen, bis nach dem Willen freundlicher Götter Hilfe kam. Zwei alte Strandweiber kamen eben, ihrer Waren ledig, mit ihrer leeren Tragbahre vorüber. Die entlehnten sie, gelangten so glücklich mit ihrer Last ins Dorf hinaus und legten den Geborgenen auf saubere Binsenmatten 125 im niederen Hause des Vaters Simon. Noch standen Leute neugierig auf der Gasse; Alexis rief ihnen zu: »ein Abgestürzter!« und man faßte keinen Verdacht und fragte nicht weiter, wo Myrto den Alexis getroffen.

Nur der Mann, der auf der Matte lag, war Mitwisser ihres süßen Geheimnisses. Wer war es? Ob er plaudern würde?

Das Bewußtsein war dem Tiberius wiedergekehrt, aber die Sprache versagte ihm; er nahm alles um sich wahr, aber konnte sich nicht regen vor Erstarrung. Er, unter dessen Szepter Asien und Afrika und Europa zitterte, lag hier wehrlos zu Füßen der Armut, und er dachte: »Sie konnten mich töten! Hätten sie mich nur leise weiter hinabgestoßen, ich läge jetzt zerschellt, den Raben ein Fraß!«

Myrto kühlte seine Schläfe mit Wasser und stützte mit weichen Decken sein Haupt; Alexis aber sprach leise und scheu: »Wer es nur ist? Er weiß um unser Geheimnis! Hätten wir ihn dort liegen lassen am Nymphenquell, er hätte vielleicht sich schon selbst geholfen, und er würde nie erfahren, wen er belauscht hat.«

»Rede nicht unfromm, Alexis,« gab Myrto zurück. »Wer von der Klippe stürzt, ist unserer Liebe empfohlen, und er ist heilig für jedermann. Das ist altes Gesetz auf unserer Insel. Und hast du nicht gefühlt, da wir ihn trugen? Sein Untergewand ist aus feinster Wolle, und wundervolle Steine trägt er am Gürtel. Auch sind seine Hände weiß und fein, und die Bildung seines Angesichts scheint vornehm, als wäre er ein 126 Herr über viele. O helft ihm, gute Götter, zum Leben und zum Frieden. Denn in seinen Zügen ist Bitterkeit, und es scheint ein Mann des Kummers!«

Da ging ein Lächeln über die harten Züge des Kaisers, ein sanftbeglücktes Lächeln, das noch nie auf ihm gespielt. Die beiden aber sahen es nicht. Myrto brach ab: »Gehe nun, Alexis. Denn du kannst in unserem Haus nicht rasten, und den Kranken hütet die Mutter mit mir.« Alexis stieß einen Jauchzer aus, so wie es die Fischer tun, wenn sie von Barke zu Barke sich jubelnd grüßen. So grüßte er sie, im Jubel der ersten Liebe, und wandte sich gehorsam zum Gehen.

Da regte sich der Kranke und bat um Wasser. Alexis brachte es. Und der Kranke zog von seinen gewaltigen Adleraugen die Lider unheimlich langsam zurück, sah beide durchbohrend und doch freundlich an und begann zu reden: »Wie heißet ihr?«

Sie nannten ihre Namen, auch der Eltern Namen, aber sie wagten keine Gegenfrage zu tun. Und Tiber fuhr gebietend fort: »Du läßt deinen Freund nicht fortgehen, Myrto. Denn ich bedarf seiner. Ihr wißt, daß ich euer Geheimnis weiß; denn eure Liebe ist noch jung, und sie liebt das Geheimnis. So wollen wir einen Pakt schließen. Ich werde von eurer Liebe schweigen zu jedermann; ihr aber haltet auch mich verborgen und fragt nicht, wer ich sei, und plaudert von mir zu niemandem. Habt ihr mich gehört?«

Er erhob den Kopf, und es wetterte drohend in seinem Auge.

»So laßt mich noch eine Weile bei euch rasten; denn 127 es tut mir wohl. Aber bevor der Morgen kommt, soll mich Alexis im Schatten des Dunkels zum Sonnentempel führen, der nicht weit von hier. Meine Glieder werden mich tragen. Die Priester des Tempels aber kennen mich, und ich weiß, daß sie für mich sorgen werden.«

So sprach er. Denn niemand sollte den Kaiser ohnmächtig gesehen haben, und er wollte so unbekannt verschwinden, wie er erschienen war. Aber auch ein anderes erreichte er so: daß man im Palast durch die Priesterschaft rechtzeitig und in der Frühe von seinem Verbleib erfuhr; damit nicht Boten über die ganze Insel liefen, um nach dem Kaiser Roms mit Geschrei zu suchen.

Ihn hungerte plötzlich, und er bat: »Mich hungert. Wollt ihr einen Fremdling speisen, den ihr nie wiederseht?« Da kam Myrto geschäftig mit Speisen und Wein in irdenem Geschirr. Alexis füllte den roten Bacchus Kapris in die Schale, aus der hier alle tranken, und das Mädchen sagte dazu: »Er ist zweijährig und gut, und wir haben ihn selbst gekeltert.«

Der Kaiser sah besorgt auf ihre Fußknöchel, die kelternd in den Trauben gestanden, aber er trank und es schmeckte ihm. An Fleisch gebrach es; aber Pistazien und süßen Honig reichte sie ihm, Ziegenkäse und grobes, trockenes Brot. Der Kaiser brach das Brot mit zitternden Händen und mußte wieder lächeln. Er aß und trank und dankte ohne Wort, aber er dankte, und ein wohliges Friedegefühl zog ihm behaglich durch Leib und Seele. Theobrotion! Hatte Myrto das Zauberkraut in diesen Trank getan?

128 Seine Schwäche schien ihm Wonne, seine Ohnmacht Erlösung. Ihm deuchte es Glück ohnegleichen, die Hilfe der Menschen zu fühlen, wo er nicht befehlen konnte, und Gnade zu nehmen statt Gnade zu geben: die Gnade von Kindern, die mit zarter Rücksicht über ihm walteten. Die dürftigen Lampen verzehrten ihr Öl am Gesims. Aber dies Halbdunkel war Friede; die Enge des Raums war Geborgenheit; die Luft, die das Gemach füllte, schien ihm einen Erdgeruch von Natur und Kraft zu atmen. Die Geberde der Reinheit und Keuschheit lag auf den Angesichtern der jungen beiden, und er fühlte den gesunden Frohsinn der Armut, der in dieser Hütte heimisch war. Alexis stand mit der Freundin Hand in Hand zu seinen Füßen, und da er nichts Besseres wußte, so holte er die Rohrpfeife aus dem Gewand und blies schüchtern und irrend eine schlichte Weise. Es klang wie ein süßer Lockruf seliger Kindheit. So vermeinte der Gewaltige, der hier am Boden lag, indem er selbstvergessen die Augen schloß, von linden Wolken sacht gehoben und weich gewiegt in tiefer Nacht hoch oben im Kreise der Sterne dahin zu schweben und den lautlosen Gesang zu hören, der in den unendlichen Sphären klingt: für einen Augenblick ein Unsterblicher! Er war in dem Himmel, an den er nicht glaubte.

Die Türe ging auf, und die jüngsten Geschwister, zwei Buben, zwei Mädchen, mit lachenden dunklen Gesichtern, stürzten herein. Hinterher kam Anna, die Mutter. Myrto glättete den Mädchen die Haare, gab jedem der vier eine Frucht, küßte sie alle und sagte: »Geht leise, leise, ihr Kinder, legt euch artig zur Ruh 129 und schlaft fleißig bis zum Morgen. Denn wenn ihr nicht artig seid, da kommt Mormo, die böse Hexe, und holt euch. Denn Mormo holt jeden Bösen bei Nacht. Die Mutter aber wird mit euch beten. So betet denn auch für diesen Fremden hier, der krank und voll Kummer ist. Denn die Bitte, die wir für andere tun, erhören unsere Götter, und sie lieben die Lippe eines Kindes.«

Den Fremdling in seiner Schwäche berührte auch dies Wort lieblich, und er grübelte: würde gar dieser Traum nie zu Ende gehen? Die Zeit verstrich.

»Der Schlaf, der launische Despot, will auch uns bezwingen,« sagte er endlich. »Er kommt, wenn wir ihn nicht gerufen. Es gilt Abschied zu nehmen, ihr jungen Toren. So sagt mir noch dies von euch: daß ihr euch liebt, des war ich Zeuge, und daß ihr wohlgemut eure Tage dahin lebt, das steht in euren Mienen. Was aber hofft ihr? und was soll euch die Zukunft bringen? Und wähnt ihr, daß das Unglück euch hier in euren Hütten nie finden wird?«

Und mit schneller Zunge und sprühenden Eifers hub Myrto an; denn ihr Herz war voll, und eine Winzerin ist behender im Reden als ein Fischerknabe:

»Wir lieben uns, jawohl, du grämlicher Frager! Ist er's nicht wert? Sieh ihn nur an. Er ist der stärkste und schönste von allen Burschen am Strande drunten. Oder willst du's bestreiten? Er ist kühn und erprobt, und seine Brust ist fest wie aus Eichenholz und als ob kein Dolch hindurchdränge. Aber er zählt erst achtzehn Frühlinge, und ich bin sechzehn; da wollen wir noch zwei Jahresläufe über das Land 130 ziehen lassen, weil auch der Baum wartet, bis er trägt. So scheint es der Mutter recht, und der Vater will stets, was die Mutter. Zwei Jahre mag Alexis noch die Netze ziehen und auch Seefahrten tun bis nach Afrika und zur Sarderinsel und mir Wunder erzählen, wenn er heimkommt. Dann bringe ich der lieben Frau Venus Tauben und Früchte in ihren Tempel, daß sie mir acht gibt, und daß ihm die wilde See draußen nichts anhaben kann. Und bleibt er heil und raubt mir auch kein böser Zauber seine Treue, da zieht Alexis mit dem Willen der Götter im dritten Jahr zu mir ins Elternhaus; denn draußen auf das Meer lass' ich ihn nicht länger fahren. Auch ist mein Vater schwächlich auf den Füßen und die Brüder noch zu jung, um zuzugreifen. Da kann er dem Haus und Gelände vorstehen als der rechte Mann. Und weiter hoff' ich nichts, als daß uns zu hoffen immer noch etwas übrig bleibt!«

»Und wähnt ihr, daß ihr nie traurig auf eurem Berge lebt? Denn auch ihr Glücklichen hier oben habt in den Adern Menschenblut, Menschenblut, den trüben Saft, der ruhelos aus den Pulsen des allerersten armseligen Sterblichen in uns Spätgeborenen weiterrinnt und nicht enden will. So alt dies Blut, so alt ist die Hoffnung und so alt ist die Enttäuschung, und unser Leben ist nichts als ein qualvoll langer Sturz aus dem Götterschoß der Kindheit durch die trüben Sphären der alternden Zeit hinab in die Hölle des Acheron und in das ewige Nichts.«

Da umschlangen sich die Kinder, und Myrto wuchs und wurde größer, und sie sprach wie vom Geist 131 befallen; denn sie hatte die natürliche Beredsamkeit ihres Volkes:

»Du hast den Wurm im Herzen, fremder Mann, und ich beklage dich. Auch weiß ich Antwort. Was ich aber vor dir rede, das rede nicht ich; sondern ein Weiser lebt hoch oben in der Bergesklause, ein Sonnendiener. Zu dem steig' hinauf, wenn du Lehre brauchst. Der sagte mir's: Das Unglück trifft uns alle, die wir Menschen sind, wie der Rost das Korn trifft und die Fäulnis die Traube. Und wehe dem, den das Unglück nicht traurig macht; kein Glück würde ihn froh machen! So wie ich unsere Eltern im Leide sah, da der Sturm Hütte und Garten zu Boden riß, und in noch größerem Leide, als der Erstling der Söhne starb und wir seine Asche sammelten, so sind wir bereit und gerüstet zu trauern, wenn es ein Gott verhängt. Denn unsere Seele liegt dem Schicksal offen, wie die See dem Wind. Wie sollten wir hier aber nicht glücklich sein? Hat uns die Herrin Venus nicht dies Sonnenland geöffnet und zu unseren ersten Ahnen gesagt: wohnet allhier und helfet einander und genießet der Stunde, frei wie der Falk, der im Felsen wohnt, arbeitsam wie die Biene, die sich nährt vom Wiesenhang, bedürfnislos wie der nackte Fels, den die Woge küßt, den die Sonne in Farben kleidet und der keinen Schimmer Floras braucht, um sich zu schmücken? Wächst uns hier nicht die Frucht zur Freude am Baum, die uns sättigt bis zum nächsten Herbste? und die Traube reift, daß wir opfern können, und die Blume blüht uns zum Kranze, und das Meer spart das flossige Wild in seinem Schoße nicht, um 132 uns zu nähren? Sollten wir hier nicht glücklich sein, da jeder Odem Labsal und Wonne ist und die Jünglinge herrlich zu Männern reifen und die Mütter gesegnet sind mit junger, lachender Menschenfrucht, und der, der sich zum Sterben legt, sagt: Lebet weiter, ihr anderen und liebet euch! Ich gebe nun Platz denen, die nach mir kommen, damit des Glückes auf diesem Felsen in Ewigkeit kein Ende sei!

»So sprach zu mir der Weise und setzte hinzu: des Menschen Glück zerstört nur der Götter Neid oder der Neid des Kaisers. Aber die Götter sind fromm und schaden uns ungern; denn nur die Hochmütigen und Allmächtigen, die am Glück des Armen zehren, die trifft ihr Neid, und sie senden ihnen das Laster ins Haus, um sie zu strafen. Neidischer aber als die Götter ist der Kaiser, der Kaiser Roms, der auf unserer Insel wohnt wie ein Einsiedlerkrebs in fremder Muschel. Er hält unsere freien Berge umklammert, daß sie seine Burgen tragen müssen, und er lebt hier als wie ein Gott. Aber die Erinyen der Hölle sind seine Hausgenossen. Er kennt die Güte nicht, sondern nur den Haß. Sein Haß, der ist's allein, der uns vernichten könnte. Aber er wird uns nicht bedrohen. Denn, Gottlob, nur die Himmlischen droben sind allwissend, und der blinde Cäsar sieht es nicht, wie nah um ihn Menschen leben, die seines Neides würdig sind.«

Und der Strom ihrer Rede ging in ein triumphierendes Lachen aus, ein Lachen der eigenen inneren Seligkeit und des stolzen Mitleids mit dem, der sie töten konnte – als sie plötzlich verstummte. Der fremde Mann am Boden fuhr röchelnd auf; sein 133 Gesicht war aschfahl geworden. Seine Augenbrauen hoben sich drohend, in seinen Geieraugen glomm Haß und Wut, Schaum stand vor seinem Munde, und er streckte die gespreizten, weißen, knöchernen Hände aus, als wollte er greifen und würgen. Dann sank er ohnmächtig zurück; die Hand griff mit Krampf in den Mantel, der ihn deckte, und seine Züge verzerrten sich gräßlich.

Alexis sah Myrto erschrocken an. Wer war der Unheimliche, der ihr Gast geworden? Beide verließen geängstet den Bewußtlosen, legten noch einmal die Hände ineinander und trennten sich. Sie ging zur Mutter ins Schlafgemach; Alexis legte sich draußen auf die Schwelle der Haustür unter den hohen Sternenhimmel und entschlief dort bald sorgenlos.

Kaum aber war die siebente Stunde der Nacht vorüber, als ein Geräusch ihn weckte. Der Fremde öffnete die Tür, um herauszutreten. Alexis sprang hurtig von der Schwelle, denn er begriff die Absicht des Alten, bot ihm die Schulter zur Stütze und führte ihn, ohne eine Weisung abzuwarten, langsam und in Sorgsamkeit durch die langen, stillen, tief schlummernden Gassen des Dorfes und den Seitenweg zu jenem Tempel weiter, der dem Dienste des Sonnengottes geweiht war.

Just eben erhob sich am Osthimmel über dem fernen Vesuv das erste rosige Licht des ungeborenen Tages. Die Hand des Fremden löste sich von seiner Schulter. Während aber Alexis im Säulenvorhof vor dem Bilde des Sonnengottes fromm niederkniete, die Hand des Heiligen mit der Lippe berührend, war der 134 Unbekannte in der Zelle des Tempelhüters wortlos und spurlos für immer verschwunden. Er hatte in unheimlicher Stummheit während des nächtlichen Ganges kein Wort gesprochen, der Jüngling hatte auch nicht gewagt ihn anzublicken und hatte den Griff der Tatze des Seltsamen immer stärker und lastender auf seiner Achsel gefühlt.

Alexis erhob sich vor dem Götterbilde, wartete nicht weiter, sah sich nicht um, forschte nach nichts und eilte die wohlbekannte Felsenstiege hinab zum tiefen Strande, um mit seinem Simichus in der goldenen Frühstunde die Netze zu heben.

Die Diener des Tempels aber trugen den Herrn der Welt noch zur selben Stunde zum nächsten der unbewohnten Kaiserpaläste, und erst am Abend kehrte Tiber von dort auf seine Villa Jovis zurück, um mit Thrasyll, dem Sternendeuter, wie seit Jahren, auf jenem Turm zu stehen, der das Licht seines Herrn über die Meere warf. Nicht einmal zum Thrasyll sprach er ein Wort über sein nächtliches Abenteuer.

Von jetzt an begann Tiberius, die Sterne nach seiner Sterbestunde zu fragen. Aber Thrasyll hieß die Sterne schweigen, die Antwort blieb aus, und die Sehnsucht des Müden blieb ungestillt.

* * *

Vier Jahre vergingen. In dem Haus des Simon auf Anokapria hatte das Glück sich verjüngt. Weinbau und Ölbau gaben reichen Ertrag; die neuerbaute Terrasse bewährte sich. Myrto hatte oftmals der Göttin Tauben und Früchte dargebracht, und Alexis ruhte fröhlich von seiner letzten Seefahrt aus. Die 135 Heirat folgte. Und alljährlich, wenn der Tag wiederkehrte, an dem der Kaiser unbekannt in das Haus getragen war, fand man in der Frühe die reichsten Gaben auf die Schwelle gestellt, bald kostbare Decken, bald schönes bronzenes Hausgerät, dazu jedesmal eine Urne voll baren Goldes. Alexis ertappte den Überbringer; es war ein Bote vom Sonnentempel. Ein Zurückweisen der Geschenke war nicht möglich; denn der Bote drohte mit dem Zorn des Kaisers. Was hatte der Kaiser mit ihnen zu tun? Eine Ahnung stieg in ihnen auf; aber sie fragten nicht und wollten es nicht wissen.

Sie waren Philemon und Baucis gewesen, und Jupiter war bei ihnen eingekehrt. Nun sandte Jupiter seine Gnadenspenden! War es der Dank für jene Stunde des Friedens, die einzige, die er bei ihnen gefunden? oder wollte er versuchen, ob nicht der Reichtum doch noch imstande wäre, dem Unglück diese Hütte zu öffnen? Sie vergruben abergläubisch den Schatz und legten die stolzen Gewänder in die Truhe, die sie nie öffneten.

Nachdem aber das vierte Jahr vorüber war, hörten die Gaben auf, und ihre Sorge verschwand. Denn die Natur selbst regte sich und tat zum Schrecken der Welt ein gewaltiges Wunder. Der Berg Vesuvius, der seit wohl einem Jahrtausend drüben über Herkulanum und Stabiae friedlich gelegen, begann zum erstenmal seine vulkanische Kraft zu erproben. Zwar spaltete sich sein breiter Gipfel noch nicht, und kein Feuerregen brach aus seinem verschütteten Schlunde; aber tief unterirdisch regten sich seine bedrohlichen 136 Gewalten; die Schmiedehämmer des Vulkan pochten und dröhnten in seinen Höhlen. Der weite Golf von Neapel, ein Riesenbecher voll von Meeresblau, begann von Grund aus zu schüttern, als rüttelte die Hand des Orkus an seinem Fuße, und um alle Ränder des Bechers ging das Erdbeben; die Küsten schwankten; auch das Inselland Kapris taumelte wie ein Schiff auf bewegter See, und der Leuchtturm droben am Kaiserschloß brach ab an seinem Fuße, stürzte schallend in den Abgrund und löschte sein Licht im Meer. Das war der Fixstern des großen Tiberius. Sein Licht war gefallen. Kein Schiffer von Ägypten und Syrerland, der nachts hier am Kap der Minerva vorüberfuhr, hub hinfort mehr huldigend die Hände und rief seinen Namen an.

Drei Tage nach dem Einsturz war auch der Kaiser tot.

Und das Gefolge des Herrschers stob auseinander; die Paläste leerten sich; des Tiberius Geschlecht verging. Jahrzehnte zogen durch die verödeten Hallen; Rom selbst sank und sank, bis aus Jahrhunderten Jahrtausende wurden. Über das große Festland drüben ging die laute Weltgeschichte mit Getose ihren Gang, und Völker und Fürstengeschlechter wurden unter ihr Rad geworfen. Capri lag still seitab im Meer, aber die allmächtige Zeit hatte auch der stillen Insel nicht vergessen. Wie den dürren Kranz vom Haupt einer Statue, so riß der Sturm der Zeit die Kaiserburgen von ihren Bergesgipfeln. Die hohläugigen Säle knickten ein; die Gemälde zerstäubten, die Marmorbilder sanken in Schutt. Der Efeu spann 137 das Gemäuer in sein ewiges Leben ein und sprengte die Gewölbe. Aus den Bruchsteinen und Ziegeln der Ruinen baute sich der späte Contadino achtlos seine Hütten und Gartenmauern. Und die Eule der Vergessenheit nistet seitdem in den kargen Trümmern.

Aber Alexis und Myrto leben noch heut! Die Winzer und Fischer Capris, sie sind geblieben. In die Falten des blauen Gebirges schmiegen sie ihre Hütten noch heute, und der harte Fels ernährt sie liebreich. Die unvergängliche Gegenwart pulsiert wie einst in diesem Geschlechte. Noch rauscht der Nymphenquell, noch blühen immergrüne Rosen und Myrten, noch streichen die Barken mit springendem Bug durch die Brandung; noch spinnen die Weiber am Weg, und Bittis und Battis führen das Wort noch heute; noch glüht die griechische Jugend in schwarzen Augen, und Anassa mit ihren Sammetwangen lockt den verwöhnten Fremden aus den Städten noch heut' herbei.

Die Insel aber schwebt sonnenlichttrunken auf dem farbenprangenden göttlichen Meer in unvergänglich erhabener Schönheit und atmet nichts als Feier der Wonne und seligste Vergessenheit. Sie hat sich den fernen Tiberiustraum aus der Stirne gestrichen wie einen bösen Nachtgedanken, und der Name des Düsteren huscht nur bisweilen über das Gedächtnis der Gegenwart, wie eine Spinne ungesehen über die besonnte Mauer huscht. 138

 


 


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