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Der Weihnachtstag

Endlich, endlich war der Weihnachtsmorgen da. Marianne leuchtete und Lotti wischte den letzten Strich aus, den allerletzten! Kaum waren die beiden imstande, sich anzuziehen vor Wonne. Und es gab doch noch so viel zu tun. Im Wohnzimmer brannte die Lampe; ringsum auf Tischen und Stühlen war eine prächtige Unordnung von Schuhen, Spielzeug und Kleidern, von Körben mit Äpfeln, Kuchen und allerlei andern Esswaren. Mama richtete Pakete für verschiedene Leute, die sie beschenken wollte. So bekam Theodor Hahn ein paar neue Stiefel, ein Märchenbuch und eine grosse Tüte voll Backwerk. Für Mischa Zritschek, der immer noch alles Schuhwerk der Familie Turnach sohlte und flickte, hatte Mama Taschentücher und ein Schreibzeug, für seine Mutter Wollenstoff und Kaffee bereit.

»Guten Morgen, Mama –! Mama, Weihnacht!« kamen die Kinder hereingesprungen und machten sich eilig auch an ihre Pakete. Das war die letzte schöne Arbeit! Marianne hatte für ihre Geschenke weisses Seidenpapier mit Rosabändchen; Lottis Sachen wurden in Blau gewickelt mit silberner Schnur; Hans aber brachte hellgrüne Bogen und steckte auf alle seine Päckchen kleine Stechpalmenzweige voll roter Beeren; er hatte die Zweige von Balbines Bruder, dem Gärtner, erhalten.

Jedes der Kinder war in einer Ecke beschäftigt und schrie laut auf, wenn ein anderes in die Nähe kam. Lotti legte sich immer mit der ganzen Länge auf ihre Herrlichkeiten, um sie zu verbergen.

Der kleine Werner erschien nun ebenfalls und lief mit seinen dicken grauen Springerlein von einem zum andern, dass man ihm auch schöne Pakete daraus mache, was die gute Marianne dann tat.

Gegen Mittag wurde es immer geheimnisvoller im Hause. Mama schloss die Wohnstube ab, und ins Schlafzimmer durfte man auch nicht mehr. Man ass droben in der blauen Stube; doch niemand hatte Zeit, lange am Tisch zu sitzen. Die Kinder wurden hinaufgeschickt auf den Boden, wo sie oft nach dem Essen spielten; aber heute hielten sie es nicht aus da droben.

»Geht hinunter zu Papa«, sagte Mama, »und fragt, ob er Zeit habe, mit euch spazieren zu gehen!«

»Ja, Mama, ja! und wenn wir heimkommen, ist Weihnacht da!«

Jedes Jahr machte Papa mit den Kindern vor der Bescherung einen weiten Spaziergang hinauf durch den Wald und dann hinunter in die Seeweid zu Frau Völklein. Es mochte noch so kalt sein, dieser Spaziergang wurde gemacht, und die Kinder sagten, er sei der allerschönste im ganzen Jahr.

Als die vier Kinder – Werner war diesmal auch dabei – mit Papa das Haus verliessen, kam Theodor Hahn mit glücklichem Gesicht über den Kornplatz, um sein Paket bei Frau Turnach zu holen.

»Aber noch nicht aufmachen, gelt?« mahnte ihn Marianne.

»Nein, erst am Abend!« versicherte Theodor. »Ich bekomme ein Christbäumchen!«

Unter der Türe der Apotheke standen Rudolf und Sylvia.

»Freut ihr euch auch so schrecklich?« rief ihnen Hans zu.

»Ja, furchtbar!« antwortete Sylvia, die mit dem ganzen Gesicht lachte. »Bei uns kommt das Christkind schon um fünf Uhr!«

Auf der Brücke liefen die Leute rasch und geschäftig aneinander vorbei, Frauen mit Körben, Männer und Knaben mit grünen Christbäumen auf den Schultern, neu lackierten Puppenwagen oder Schlitten. Jedesmal, wenn Lotti so etwas Ahnungsvolles erblickte, stampfte sie vor Vergnügen mit beiden Füssen.

»Die friert auch«, sagte ein Bäcker an der Kramgasse, der mit einem Blech voll frischgebackener Stollen aus dem Laden trat.

»Nein, ich freu mich bloss so!« rief Lotti.

Als man aus der Stadt heraus auf die Höhe kam, wurde es stiller. In dem tiefen Schnee sah man nur einzelne Fusstapfen. Es war das prächtigste Weihnachtswetter. Am Himmel zogen leichte weisse Wolken daher, aus denen der Schnee in feinen Flocken oder einzelnen Sternchen herniederflog. Dazwischen war wieder der blaue Himmel sichtbar, und die Sonne schien auf die beschneiten Abhänge. Die ganze Luft war wie silbern.

Am Waldeingange standen hohe Tannen, deren Äste sich senkten unter der Last des Schnees.

»Papa«, sagte Marianne, »wie das schön ist, durch den prächtigen Wald zu gehen und dabei an das andere Schöne zu denken, das am Abend kommt!«

Lotti war ein Stück voraus und sagte mit lauter Stimme ihr Weihnachtslied in die glitzernde Luft hinaus.

In den Tannen piepten die Meisen. Auf einem Aste sass ein Eichhörnchen und guckte neugierig zu den Kindern herunter. Werner, der so ein Schwanztier, wie er es nannte, noch nie gesehen, hatte seine helle Freude.

»Komm! Komm! ich schenk dir etwas!« rief er und streckte ein Anisspringerlein zu der Tanne hinauf.

Papa aber zog seine Uhr.

»Vorwärts, Kinder! In drei Stunden brennt schon der Christbaum!«

Da liessen die Kinder Meisen und Eichhorn und fingen auf einmal an so zu eilen, dass Papa kaum nachkam und Werner Trab laufen musste.

Die Seeweid lag einsam und verschneit. Aber als Frau Völklein die Turnachkinder die Treppe heraufstampfen hörte, kam sie aus ihrer Türe.

»Grüss Gott, grüss Gott, Kinderlein! So kalt und in dem tiefen Schnee! Ja, und das Wernermännchen auch –! Mit ganz rotem Näschen! Gewiss habt ihr nasse Füsse bekommen! Grite soll euch die warmen Schuhe bringen!«

Die Kinder zogen bereitwillig ihre Schnürstiefel aus. Sie wussten das vom vergangenen Jahr. Es war sehr lustig, in den viel zu weiten Hausschuhen herumzufahren wie in Kähnen. Dann aber setzte man sich an den Tisch zu einem warmen Tee und Bretzeln; es schmeckte prächtig nach dem langen Spaziergang. Der Tee bei Frau Völklein gehörte durchaus zu den Weihnachtsfreuden der Turnachkinder. Fritz war nicht da; aber er wurde eingeladen, sich an einem der Feiertage die Bescherung anzusehen. Die Bescherung –! Die Kinder standen vom Tische auf. Sie konnten heute nirgends lang ruhig bleiben; sie schifften in ihren Hausschuhen auf den Gang hinaus zum Fenster.

Unter weisser Decke lag der Garten, die Seemauer und der Landungssteg; das Schiff war aufs Ufer gezogen unter ein Bretterdach. Alles sah aus, als ob es schlafe in dem tiefen Schnee.

In der Küche sass Jakob bei seinem Abendbrot.

»Jakob, heut ist Weihnacht!« riefen die Kinder.

»Ja«, sagte er und steckte das letzte Stück Brot in den Mund.

»Hast du dich auch so schrecklich gefreut, als du ein Bub warst?«

»Ja, ja, schon. Christbäume waren zwar bei uns im Dorf nicht Brauch.«

»Aber du hast doch etwas bekommen? Was hast du bekommen?«

Jakob besann sich.

»Eine kleine Stadt hat's einmal gegeben zum Aufstellen. Und dann jedes Jahr ein paar Winterstrümpfe und einen grossen Birnenweggen.«

Jakob klappte sein Taschenmesser zusammen.

»Du, Jakob«, fing Lotti die Unterhaltung wieder an, »ich finde es schrecklich traurig, eine Kuh zu sein.«

»Lotti, du sagst doch Sachen!« riefen Hans und Marianne.

»Ja, ich meine es im Ernst. Jetzt stehen die Kühe im Stall und wissen gar nichts von Weihnacht. Und heut abend bekommen sie bloss Heu, wie wenn es ein gewöhnlicher Tag wäre.«

»Das ist auch am besten für sie«, versetzte Jakob. »Und dann – etwas haben die Kühe vielleicht doch. Sie hatten vor acht Tagen die Thomasnacht.«

»Die Thomasnacht?« fragten die Kinder. »Was ist in der Thomasnacht?«

Jakob zögerte ein wenig.

»Bei uns daheim sagen manche Leute, in der Thomasnacht können die Tiere sprechen.«

»Jakob«, rief Hans. »Das glaubst du aber doch nicht!«

»Nein, natürlich – eigentlich nicht. Aber für die Thomasnacht richt' ich den Stall doch immer besonders schön her – man weiss nicht – . Und ich möcht's den Kühen gönnen, wenn sie auch einmal im Jahr das Maul auftun dürften!«

»Ja, das wäre nett für sie«, rief Lotti. »Und es könnte doch wahr sein! Jakob, geh' in der Thomasnacht einmal in den Stall und hör zu!«

»Nein, das darf man nicht! Der Grossvater hat immer gesagt, er glaube, der heilige Thomas gehe dann durch die Ställe und höre, was die Tiere zu erzählen haben, und wenn sie klagen, dass man schlecht mit ihnen umgehe, so sage der heilige Thomas es nachher dem lieben Herrgott –«

»Und dann?« fragte Lotti.

Aber nun brachte Grite die Stiefel, die sie mit heissem Sand getrocknet hatte. Eilig und freudig schlüpften die Kinder hinein.

Als man unter den kahlen beschneiten Birnbäumen den Weg hinaufging, fing es an zu dunkeln. Droben an der Strasse brannten schon die Laternen. Werner marschierte tapfer neben Papa her und hüpfte von Zeit zu Zeit an ihm auf:

»Papa, ich schenk dir auch etwas!«

»Ja, wenn ich doch wüsste, was das ist!« sagte Papa.

»Tu raten, Papa!«

Dann fing der gute Papa an zu raten:

»Einen Schlafrock? Einen Zylinderhut? Eine Kutsche? – Aha, jetzt weiss ich: Einen Luftballon –?«

Und der kleine Bursche lachte jedesmal laut auf:

»Nein, Papa! Nein!« und kam auf diese Weise vorwärts, ohne etwas von Müdigkeit und Kälte zu fühlen.

Die drei Grossen gingen hinterdrein.

»Was ist denn?« rief Papa zurück, als er einen lauten Schrei hörte.

»Nichts, Papa!« antwortete Marianne. »Wir mussten bloss ein bisschen schreien, weil wir es fast nicht mehr aushalten!«

Zu Hause sass Grossmama schon in der blauen Stube. Onkel Alfred war auch da und ging auf und ab.

»Gelt, Onkel, man kann es fast nicht erwarten«, sagte Lotti. »Um sechs Uhr läutet's. Wie lang dauert das noch?«

»49 Minuten 37 und eine halbe Sekunde«, sagte der Onkel auf die Uhr schauend.

Dann aber setzte er sich ans Klavier und spielte schöne Akkorde. Es klang, als ob Weihnachtsglocken läuteten.

Endlich kam auch Mama mit dem Schwesterlein auf dem Arm und Papa.

Nun sollte Marianne mit ihrem Lied beginnen. Sie drückte die Hände einen Augenblick ineinander und spürte ihr Herz klopfen. Es war so feierlich, wie alle da still im Kreis sassen. Aber dann fing sie an:

»Du lieber, heil'ger, frommer Christ …«

und sprach die Verse gut und ohne Stocken.

Lotti auch. Nur einmal mahnte Mama leise:

»Nicht so schnell, Lotti!«

Als Hans das schöne Weihnachtsevangelium von den Hirten und dem Lobgesang der Engel aufgesagt hatte, stimmte Onkel Alfred am Klavier das liebe alte Lied an:

»O du fröhliche, o du selige,
Gnadenbringende Weihnachtszeit …«

Alle sangen mit. Papas und Onkel Alfreds Stimmen klangen wie Orgeltöne.

Dann aber vernahm man plötzlich einen andern Ton: Das helle Weihnachtsglöcklein läutete unten, so stark es vermochte.

»Mama, jetzt – jetzt –!«

Mama nickte lächelnd. »Ja, jetzt!« Die Kinder stürzten hinaus und die Treppe hinunter. Die Türe des Weihnachtszimmers war weit offen. Einen Augenblick blieben alle vier wie geblendet stehen. Strahlend stand der hohe Christbaum da mit seinen Lichtern, seinen farbigen Kugeln, goldenen Nüssen und dem funkelnden Flitter, der über den Ästen hing. So vertraut und doch so zauberhaft, so unbegreiflich schön!

Dann aber machte sich Werner von Mariannes Hand los.

»O, o, Kühe!« rief er in höchstem Jubel und lief in die Ecke, wo man auf einem niedrigen Tischchen seine Sachen aufgebaut hatte.

Und nun war der Bann gebrochen. Hans erblickte seinen Platz rechts vom Christbaum.

»O, o!« rief auch er und zog einen Schlitten heraus, einen festen Schlitten aus schönem glattem Holz, genau wie er sich ihn gewünscht hatte!

»Marianne, sieh wie lang! Da können wir zu dritt sitzen!« Doch Marianne hörte nicht; sie hatte schon ihre Schlittschuhe in der Hand, ein Paar prächtige Schlittschuhe, ganz wie die von Lily Rabus! Marianne wollte sich gleich hinsetzen, um sie an ihrem Fuss zu messen; aber ihre Augen überflogen den Tisch und erblickten neben allerlei Paketen einen Muff und Pelzkragen, und dahinter stand die Puppenstube neu hergerichtet, mit weissen Vorhängen und grünem Tischteppich, drei neuen Puppenkindern und einem Papa in brauner Hausjoppe mit einer Zeitung, und am Fenster war ein Blumentisch. Nein, diese Seligkeit –!

»Lotti, sieh doch!«

Lotti kniete indessen in lautem Entzücken vor einer Wiege, in der ein Wickelkind schlief, mit blonden Härchen und weissem Kittelchen.

»Es macht die Augen auf und zu! O, du Schatz!« rief sie und küsste die Puppe und sah dann hinten über der Wiege den Kramladen! Frisch gestrichen und lockend stand er da mit Quittenwürstchen und Schokoladeschinken, mit Glasbüchsen voll Zuckererbsen, mit kleinen Brotlaiben und einer Menge weisser Tüten. Das Wickelkind im Arm, machte sich Lotti jauchzend an den Laden.

Am lautesten aber ging es in Werners Ecke her. Er kreischte geradezu vor Wonne über seine Kühe und riss an Onkel Alfred, bis dieser sich zu ihm auf den Boden setzte, um die Tiere anzusehen.

»Die heisst – Dachs!« schrie Werner. »Und die ist die böse, die heisst Bär! Und das ist der Bless –«

Dann lief er hinter den Ofen und erklärte dort dem Pferd, dass es Platz machen müsse, weil jetzt Kühe kommen. Es war auch ein Heubündel da. Werner hatte so zu tun, dass er die Schachtel mit dem Dorf und das Bilderbuch noch gar nicht betrachten konnte.

Hans wusste ebenfalls nicht, wohin sich wenden. Da war ein Buch, das hiess »Das Wunderland der Pyramiden« und hatte eine Menge Bilder von Kriegern, Denkmälern, seltsamen Göttern und Felsengräbern. Das andere Buch trug den Titel »Sigismund Rüstig« –

»Marianne, das ist ja die prächtige Geschichte, aus der Papa uns schon erzählt hat!«

Aber im selben Augenblick rief Marianne: »Hans, Lotti! seht doch den Christbaum wieder an, wie schön er ist!«

Ja, wenn man nur alles zugleich hätte bewundern können!

Das Schwesterlein nahm sich am meisten Zeit für den Christbaum. Auf Mamas Arm guckte es mit weit offenen Augen unverwandt in die Lichter und fuhr mit den kleinen Fäusten auf und ab vor Erstaunen und Freude.

Balbine, Sophie und Ulrich waren auch hinzugetreten, und da sah man erst, dass Ulrich etwas in der Hand hielt, ein Geschenk für die Kinder, ein Schiff, das er an den Abenden und Sonntagen aus Holz geschnitzt hatte.

»Nein, so etwas Feines, Ulrich!« jubelten die Kinder.

Es war weiss, blau und rot gestrichen und hatte ein Segel und ein bewegliches Steuerruder. Das Ganze war so kunstvoll und sauber gemacht, dass auch die Grossen es bewunderten.

»Ulrich, Sie sind ja ein Schiffbauer erster Güte«, sagte Onkel Alfred. »Sie gehören auf eine Werft und nicht in die Garnkammer!«

Ulrich lachte verlegen. Er hatte auch einen Gabentisch und freute sich besonders über Lottis Pulswärmer. Aber vergnügt sah er immer wieder hinüber zu Hans, der das schöne Schiff auf seinen Tisch stellte, mitten unter die Herrlichkeiten, die noch gar nicht alle entdeckt waren. Da gab es ein Taschenmesser, warme Winterhandschuhe, ein Reisszeug, mit dunkelblauem Sammet ausgeschlagen, einen Rucksack mit allerlei nützlichen Nebentaschen. Es war fast zu viel. Hans zog Marianne mit Gewalt herüber, dass sie ihm helfe bewundern.

»Ja, Hans, prachtvoll! Reizend!« stimmte Marianne ein. »Aber komm, sieh meinen Malkasten an! Bitte, nur den! Es sind fünfzehn Farben und vier Pinsel!«

Hans besichtigte den Malkasten; als er aber gleich wieder zu seiner Bescherung hinüberlief, holte sich Marianne Balbine, damit sie helfe, das Kommödchen von Grossmama betrachten, und die hübsche Schürze, die Zopfbänder, die Gamaschen und das Buch, das »Roland und Elisabeth« hiess, und gewiss wunderschön zu lesen war.

Lotti hatte sich Ulrichs bemächtigt; er musste das Wickelkind besehen, die gefüllte Federschachtel, den kleinen Pumpbrunnen, den Baukasten und den Regenschirm mit einer Troddel wie der von Mama!

Der fröhliche Lärm wurde immer grösser, da nun Papa und Mama, Grossmama und Onkel Alfred auch an ihre Tische getreten waren und mit Ausrufen der Freude und Überraschung ihre Geschenke entgegennahmen. Die Kinder liefen von einem zum andern und standen gespannt dabei, wenn ihre kleinen Pakete aufgemacht wurden.

»Alles Blaue mit Silberschnur ist also von mir!« verkündete Lotti.

Mama wickelte das Rumpelstilzchen aus. Grossmama war entzückt über Hansens rosa Pappschachtel, in der Mariannes Blumenkarten lagen. Papa aber entdeckte Werners grossartiges Geschenk.

»Gelt, Papa, das hast du nicht erraten können!« triumphierte der Kleine, und ruhte nicht, bis der arme Papa ein Stück von dem dicken grauen Springerlein versuchte.

Dann machte Onkel Alfred mit vielen Umständen Mariannes und Lottis Päckchen auf und hob behutsam den Tintenwischer heraus.

»Reizend –!«

»Für die Tinte!« sagte Lotti und sah den Onkel stolz an.

»Tinte –!« wehrte dieser. »Nein, dafür ist dieses Kunstwerk zu kostbar! Höchstens meine Tränen wische ich damit ab –«

»Ach, Onkel, du weinst ja nie!« riefen Marianne und Lotti belustigt.

»Nie –! Wo ihr mir grade jetzt Tränen der Freude und Rührung entlockt!«

Und Onkel Alfred fuhr sich mit dem Tintenwischer über die Augen; dann aber befestigte er ihn an seinem Knopfloch und erklärte, er werde ihn als Verdienstorden tragen.

In dem Getümmel schoss auch noch Schnauzel hin und her, aufgeregt durch die Lichter, den Lärm und die Wurst, die er geschenkt bekommen hatte. Papa hatte ihm die Hälfte davon gegeben und die andere in die Höhe gehalten.

»Du begreifst, Schnauzel«, hatte er gesagt, »wenn du sie jetzt frissest, so hast du morgen nichts mehr.«

»Wau!« bellte Schnauzel und wedelte heftig mit dem kurzen Schwanze, was jedenfalls heissen sollte:

Ja, ich begreife; aber ich will sie doch gern heut noch! worauf Papa ihm das zweite Stück aushändigte, damit auch er an diesem Abend seine ganze Freude habe.

Die gute Mama und Sophie machten es möglich, dass man im Weihnachtszimmer zu Nacht essen konnte. Man liess sich's gut schmecken; aber das Beste war doch, dass man hinter sich alle die wunderschönen Sachen wusste. Ja, man durfte, was sonst verboten war, mitten vom Essen weglaufen, zur Puppenstube, zum Schlitten und Schiff, zum Wickelkind, zu den Kühen und zu den Körbchen mit Backwerk, die auf den Gabentischen standen und aus denen man sich ein paar recht feine Stücke zum Nachtisch aussuchte.

Schrecklich aber war es, als Mama anfing, vom Schlafengehen zu sprechen.

»Mama, wenn man doch die Betten da heraus zum Christbaum stellen könnte!« rief Lotti.

Zum Glück hielt das Gutnachtsagen und das Danken die Kinder noch ein Weilchen im Zimmer zurück. Man hatte für soviel zu danken!

Werner lief auf Papa zu.

»Papa, hast du dem Christkind gesagt, dass es mir die Kühe schenken soll?«

»Ja, Wernermann.«

»Dann geb ich dir für jede einen Kuss!«

Und der Kleine rannte eifrig hin und her zwischen Papa und seinen Kühen, damit es nur ja richtig werde mit den Küssen. Er wäre nie fertig geworden, wenn Sophie ihn nicht endlich gepackt hätte. Glücklich erwischte er aber noch den »Dachs« und behielt ihn fest im Arm bis in den Schlaf hinein. Lotti stellte ihr »Schatzkind« mit der Wiege neben ihr Bett. Hans legte sein »Land der Pyramiden« und den »Sigismund Rüstig« unter das Kopfkissen, damit er auch im Schlafe die beiden Bücher spüre, und Marianne hängte ihre Schlittschuhe an den Bettpfosten, wo man sie bei jeder Bewegung konnte klirren hören.

Nach der Spannung und der Freude des Tages schlummerten die Kinder bald ein. Aber in der Nacht, als es im Hause ganz still geworden, erwachte Marianne, und es überkam sie eine unbezwingliche Lust nach dem Weihnachtszimmer.

»Lotti«, flüsterte sie, »Lotti, ich muss hinübergehen und den Christbaum ansehen!«

»Ich auch«, sagte Lotti, und beide stiegen aus ihren Betten und schlüpften hinaus ins Wohnzimmer.

Es war nicht ganz dunkel. Das Laternenlicht vom Kornplatz fiel auf den Christbaum, von dem ein feiner Tannenduft ausströmte. Zwischen den Zweigen leuchteten die vergoldeten Nüsse und die kleinen weissen Zuckerherzen. Die feinen Silberfäden, die über den Ästen hingen, zitterten leise. Hoch oben an der Spitze des Christbaums aber glänzte der grosse Stern.

Marianne und Lotti hielten sich an der Hand.

»Marianne«, flüsterte Lotti. »Es ist ganz sicher, dass es ein Christkind gibt. Wer könnte sonst so etwas Wundervolles wie einen Christbaum ausdenken!«

»Kinder, Kinder!« rief jetzt auf einmal Mama aus ihrem Zimmer. »Meint ihr, ich hätte euch nicht gehört? Seid vernünftig und geht nun schnell in euere warmen Betten!«

Mamas Stimme tönte aber sehr freundlich und fröhlich. Gewiss war Mama einst als Kind auch hinausgehuscht ins Weihnachtszimmer, um zu sehen, wie schön und geheimnisvoll der Christbaum bei Nacht sei.


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