Ida Bindschedler
Die Leuenhofer
Ida Bindschedler

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Die Gespenster.

Jedes Jahr gab es im Leuenhof eine Zeit, wo man von Gespenstern redete. Das war unter den früheren Leuenhofer Schülern gewesen, den jetzigen wieder und vererbte sich immer auf den neuen Jahrgang. Schon Ende November fing es allemal an, wenn’s am Abend so bald dunkel wurde. Nur hatte man mit all den Weihnachtsgedanken nicht recht Zeit für gruselige Geschichten.

Jetzt war’s nach Neujahr und nicht wie sonst kaltes, klares Schlittenwetter; es kam eine Reihe feuchter, nebliger Tage, und richtig ging es wieder los mit dem grauen Mönch.

Wenn man vom Klassenzimmer heraustrat, kam man im Leuenhof nicht wie in anderen Schulhäusern auf einen hellen, breiten Gang, worin nichts zu sehen und zu denken war. Der Weg zur Haustüre führte durch einen Teil des auch bei Tag etwas dunklen Kreuzganges, dessen Bogen gegen den Hof hinausgingen. Man kam an allerlei Verschlägen und Türen vorbei; vorn beim Ausgang hatte Frau Beyel, die das Schulzimmer besorgte und heizte, ihre Stube und Küche.

In der Mitte des Ganges aber war eine lange Steinplatte eingemauert.

»Da unter dem Stein ist er begraben, der graue Mönch«, flüsterten die Mädchen geheimnisvoll, wenn sie nach vier Uhr in der Dämmerung durch den Gang gingen.

Ja, und er habe keine Ruhe, weil er im Leben etwas Böses getan habe, wusste man weiter. Da komme er manchmal hervor – als Gespenst, wenn es dunkel werde und gehe langsam durch den Kreuzgang, wie wenn er etwas suche, und dann auf einmal sehe man ihn nicht mehr und höre nur noch ein leises Wimmern –

»So!« –

Sara liess einen unheimlichen Klageton vernehmen.

»Wie grässlich«, sagten ein paar der Mädchen und schüttelten sich; denn jetzt war es gerade am Eindunkeln.

»Hast du ihn schon gehört so machen?« fragte Eva und aus ihrem Ton klang ziemlicher Zweifel.

»Nein, ich nicht. Aber der Grossmutter ihrer Magd ihre Schwester hat da in der Stube von der Frau Beyel gewohnt. Sie weiss überhaupt eine Masse Geistergeschichten, die Kathrine. Und der alte Seiler Jakob am Graben. Und die Frau Schüpfler oben bei uns.«

»Ach was –!« entgegnete Eva und warf den Kopf zurück. »Der Vater hat gesagt, wer nicht daran glaube, der sehe nie Gespenster.« – aber dann hörte sie doch zu, wie die anderen alle nun nacheinander oder auch im Eifer zu zweit und dritt ihre Geschichten zum besten gaben und sich dabei eng aneinander drängten vor Gruseln und Neugierde.

Also das war einmal sicher wahr: Der Vetter von Frau Schüpfler habe es oft und oft erzählt, das von dem feurigen Mann. Er sei einmal in einem alten, ganz einsamen Wirtshaus über Nacht gewesen. Da habe er auf einmal, wie er am Einschlafen gewesen sei, einen Lichtschein an der Wand gesehen. Zuerst schwach, dann aber sei es wie eine glühende Hand gewesen und nach und nach –

»Uh – hör doch auf!« rief Alwine und hielt sich die Ohren zu.

»Fahr doch weiter!« riefen die anderen ... Und nach und nach sei es noch ein Arm geworden und dann eine ganze feurige Gestalt. Der Vetter habe das Gesicht unter die Decke gesteckt, und wie er wieder sich getraut habe, herauszugucken, da sei das Gespenst verschwunden gewesen. Am anderen Morgen habe der Vetter es dem Wirt erzählt. Der habe gesagt, er rede nicht gern von der Sache. Es übernachteten viele in der Kammer und sähen nichts; aber es sei schon wahr; es geiste da. Es heisse, in alter Zeit sei einmal ein Mann in dem Haus verbrannt. –

Und dann kam Hedwig Bühler brav mit der Geschichte von dem Ross ohne Kopf. Es war eine Milchfrau gewesen, die das erlebt hatte. Einmal sei sie einen anderen Weg heimgefahren durch den Wald; der Mond sei gerade aufgegangen; auf einmal sei ihr Schimmel stillgestanden und habe beide Vorderfüsse eingestemmt und seltsam geschnauft, und mit allem Zureden sei er nicht vorwärts zu bringen gewesen. Da sei die Milchfrau abgestiegen und habe den Schimmel am Zügel genommen und auf einmal habe sie ganz nah vor sich ein grosses, schwarzes Ross gesehen, ohne Kopf. Quer über den Weg sei es gestanden. Da habe sie schnell mit lauter Stimme gesagt:

»Alle guten Geister
Loben Gott, den Meister!«

Da sei das schwarze Ross verschwunden. Aber ihrer Lebtag sei die Milchfrau nicht mehr jenen Weg gefahren. –

»Gestorben wär ich vor Angst, wenn ich das Ross gesehen hätte! Dann noch ohne Kopf –!« sagte Marie Hug schaudernd.

»Ja, und erst das Gespensterschiff!« kam nun Netti zu Wort. »Wärt ihr nur dabei gewesen, wo der alte Bezold im Spital davon erzählt hat. Im Winter in der Nacht, wenn es recht stürme auf dem Meer draussen, fahre es auf einmal daher in einem weissen Schein, hart an den Fischerschiffen vorbei. Und die Fischer haben eine grosse Angst davor; denn wer das Schiff sieht, der muss noch im gleichen Jahr sterben.« –

Die Mädchen standen still. es wurde immer interessanter – Geisterrosse gab es und Geisterschiffe!

Und immer wusste ein anderes wieder etwas.

Es kam noch eine Wiesenfrau an die Reihe mit hohlen Augen und ein ganz kleines, dürres Gespenstlein, das manchmal in der Ecke auf dem Küchenherde sass, wenn man hereinkam. Und endlich rückte das Anneli, das sonst nicht viel redete, sondern lieber zuhörte, noch mit dem Humpump heraus. Der Humpump, das war etwas ganz besonders Kurioses und Unheimliches. Sein Rock war wie ein grauer Sack, und seine Arme hingen bis an die Erde. Die Hände konnte er auf den Boden auflegen. Greulich! Sein Gesicht war ganz weiss, und ein Maul hatte er bis zu den Ohren mit spitzigen Wolfszähnen.

Im Dorf von der Grossmutter von meinem Grossvater sei er früher manchmal herumgegangen; so grad, bevor man Licht angezündet habe in den Häusern und habe durchs Fenster in die Stube geschaut. Und wo er hineingeschaut habe, da habe es bald nachher Streit gegeben im Haus. Nur wenn sich die Leute um den Tisch herum ganz schnell an den Händen genommen, habe es nichts gemacht.

Als die Mädchen beim Marktplatz anlangten, waren sie glücklich so weit, dass sie sich wahrhaftig fürchteten, durch die doch so wohlbekannten Gassen heimzugehen.

»Der Humpump, der grässliche Humpump, der kommt mir gewiss im Traume vor«, sagte Alwine Gehring und zog an Eva, bis sie mit ihr den Weg durch das einsame Reitergässchen nahm. –

Am hellen Vormittag in der Schulpause kamen ihnen die gestrigen Geschichten lange nicht mehr so fürchterlich vor, und als Herr Schwarzbeck, der davon hörte, sie auslachte und sie närrische Mädchen nannte, kamen sie sich selber ganz dumm vor. Aber am Abend – das Singen am Donnerstag dauerte bis fünf Uhr –, als sie über den Stein vom grauen Mönch schritten, war es halt doch wieder unheimlich.

Gehörig geneckt wurden sie von den Buben, als die hörten, von was jetzt immer gesprochen wurde. Keiner von ihnen wollte an das schwarze Ross, an den feurigen Mann oder an das Küchengeistlein glauben.

Nur Martin Imbach, der noch ein rechter Märchenbub war, hörte mit grossen Augen zu.

»So etwas Dummes«, sagte Walter Kienast.

»Tu du nur nicht so!« entgegneten die Mädchen ärgerlich. »Wenn du den feurigen Mann so in der Nacht sehen würdest an der Mauer, dir würden auch die Haare zu Berge stehen wie dem Vetter.«

»Ach was, mir stehen sie schon ohne euren feurigen Mann zu Berg«, erwiderte lachend Walter Kienast und fuhr sich über sein dickes, sehr kurz geschorenes Haar im Davongehen.

»Wenn wir den doch einmal recht fürchten machen könnten –« sagten Eva Imbach, Ottilie Eggenberg und Hedwig Bühler zusammen, und nach zwei Tagen schon heckten sie etwas aus.

»Die anderen –«, damit waren die Fünftklässlerinnen gemeint –, »die anderen nehmen wir nicht dazu. Sie würden uns am Ende nur die Sache verderben. Und überhaupt –«

Die sechste und die fünfte Klasse waren seit gestern nicht gut aufeinander zu sprechen. Sie hatten einen Streit wegen ihren Nähschachteln gehabt. Die Fünftklässlerinnen hatten sich auf einmal im anderen Fach des Schrankes damit eingenistet. Und dazu hatten sie kein Recht. Das vordere Fach hatte immer der sechsten Klasse gehört.

Also diesmal brauchten die Fünftklässlerinnen nicht dabei zu sein. Die Grossen flüsterten geheimnisvoll und machten abwehrende Gesichter gegen die Kleinen hin. Sie merkten wohl, dass diese ebenfalls die Köpfe zusammenstreckten. Aber sie achteten nicht viel darauf.

»Sie tun nur so«, sagten Eva und Ottilie. »Damit man meint, dass sie auch etwas Wichtiges haben.«

Keine Ahnung hatten die Grossen, dass die Fünftklässlerinnen wirklich auch etwas Wichtiges hatten. Und zwar das gleiche wie die Grossen.

»Dem Walter Kienast, dem muss man es einmal zeigen!« hatte Sara in der Pause gesagt, während sie auf dem Lattenzaun des Hofes sass, einen angebissenen Apfel in der Hand. Die anderen standen um sie herum.

»Die Eva Imbach oder die Ottilie wüssten gewiss etwas zum Erschrecken, etwas recht Greuliches.«

»Wir brauchen die gar nicht«, erklärte Sara grossartig. »Sie wollen immer nur regieren. Wir machen allein etwas. Grad wir vier zusammen. Wir machen Feuerköpfe.«

»Was?«

»Feuerköpfe! Wenn er sich da nicht fürchtet! Die grossen Kroneggersbuben, die neben uns wohnen, haben vier; die müssen sie mir leihen.«

Und nun erklärte Sara, was sie unter einem Feuerkopf verstand. Das war ein ausgehöhlter, grosser Kürbis. Da waren Augen hineingeschnitten und eine Nase und ein Mund, und da stellte man einen Kerzenstumpf hinein. Unten herum hängte man sich ein Tuch und band den Kürbis auf dem Kopf fest.

»Die Kroneggersbuben und der Eduard und der Hans Merk sind im Herbst so durch den Garten geschlichen«, fuhr sie fort. »Wir haben laut geschrien vor Schrecken, meine Schwester und ich. Also wir sind gerade vier. Aber niemand etwas sagen, gar niemand!«

Vier Feuerköpfe auf einmal, das war etwas! Da musste man viermal stärker erschrecken, als bei einem einzigen. Fein!

Und auch die von der sechsten Klasse –, es waren etwa vier oder fünf im Bunde, hatten etwas Grosses im Sinne. Die wollten mit einer Mehrzahl von Geistern aufrücken, gleichsam ein Massenaufgebot, eine ganze Sammlung und Auswahl von Grauen und Schrecken.

Eva übernahm den grauen Mönch; etwas wie eine Kutte und eine Kaputze, die sie über das Gesicht ziehen konnte, fand sich schon zu Hause.

Das kleine, bewegliche Netti Tobel aber wollte das Küchengeistlein vorstellen; über das Gesicht hatte sie ein weisses Papier gebunden, aus dem nur Augen, Nase und Mund herausschauten. »Ich kann mich ganz niedrig machen. Seht einmal – so.«

Netti wickelte sich in ein gehäkeltes, schwarzes Tuch ein, kauerte sich zusammen und fuhr mit merkwürdiger Geschwindigkeit auf dem Boden hin und her.

Die Mädchen waren in Imbachs Gartenstube und hatten die Läden geschlossen. In dem Halbdunkel sah das schwarze Ding da mit dem weissen Gesicht wirklich wie ein rätselhaftes kleines Ungeheuer aus.

Alwine Gehring wollte durchaus auch mitmachen.

»Aber Alwine – wo du dich selber so fürchtest.« –

Schliesslich übergab man ihr die Rolle des Wiesenfrau mit dem langen Hals. Vermittelst eines Kehrwisches, an den man ein Maskengesicht band und eines alten Vorhanges brachte man eine sehr glaubwürdige Wiesenfrau zustande.

Und jetzt erst noch des Humpump, den Hedwig Bühler machen sollte. Das war eine ganze Arbeit.

An einer grossen Jacke wurden die Ärmel verlängert und an zwei Stecken band man alte Lederhandschuhe von Vater Eggenberg und füllte sie mit Sand. Wie das aussah, diese Gespensterarme bis zum Boden, an denen die Hände so unheimlich baumelten! Das Gesicht aber kam, wie beim Küchengeist, unter eine weisse Papiermaske.

Ottilie Eggenberg erfand ein merkwürdiges Flattergespenst, mit einem weissen Vorhang, den sie mit ausgebreiteten Händen auf und ab schwang und gleich dem grauen Mönch klägliche, leise Wimmertöne einübte:

Mm – Mm –

Zum Auftreten aller dieser Grauengestalten eignete sich am besten der Donnerstag. Er allein konnte eigentlich in Betracht kommen. Und es war ganz natürlich, dass die Mädchen von der fünften ebenso wie die von der sechsten Klasse diesen Abend wählten. Jede Partei im geheimen; keine Ahnung hatten die anderen davon, dass neben ihrer Unternehmung noch eine zweite vorbereitet wurde. Am Donnerstag von halb vier bis gegen fünf gab Herr Schwarzbeck den Sechstklässlerbuben, die im Frühling ins Gymnasium eintreten wollten, eine Extra-Mathematikstunde. Es waren heuer zwei Buben, Gustav Brenner und Ernst Hutter; Walter Kienast und Hans Kündig machten auch mit.

Wenn einer seine Aufgabe fertig hatte, so ging er heim. Herr Schwarzbeck richtete es ein, dass Walter Kienast zuerst fertig wurde; denn der musste um fünf Uhr in die Geigenstunde.

Und auf ihn hatten die Mädchen es besonders abgesehen.

»Also ganz allein kommt er dann durch den Kreuzgang. Das wär’ zu fein, wenn er einen Schrei täte und davon rennen würde! Den lachen wir dann aber aus am Morgen!« triumphierten schon im voraus die Mädchen der sechsten Klasse.

Und in der anderen Ecke des Hofes ging es in derselben Weise.

»... und nach dem Walter Kienast kommt dann etwa der Gustav Brenner oder der Ernst Hutter. Wenn die sich vor Schrecken gar nicht weiter trauten und wieder zu Herrn Schwarzbeck zurückgingen« »Ihr seid aber Helden!« würden wir ihnen nachher sagen. »Die müssten es noch lange hören!«

Sara sah die Sechstklässlerbuben, die eben im Spiel vorbeirannten, spöttisch an, was die nicht weiter beachteten.

Der Donnerstag kam. Es war ein graues Wetter. Am Morgen hatte es geschneit. Jetzt am Abend wehte ein lauer Wind; der Schnee tropfte eintönig von den Dächern des Leuenhofes.

»Das macht sich schon ein bisschen unheimlich«, sagten Eva und Ottilie.

Schwatzend verliessen die Buben und Mädchen, die nicht in der Mathematikstunde und nicht bei der Gespensterunternehmung beteiligt waren, den Kreuzgang.

Eva und ihre Gefährtinnen, die auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes in einer verborgenen Ecke heimlich ihr Zeug hingebracht und versteckt hatten, warteten ungeduldig, bis der Gang leer würde.

Sie machten einen Erkundschaftsgang um die vier Seiten des Hofes. Nein, alles war noch nicht fort; aus dem Holzverschlag der Frau Beyel ertönten Stimmen.

»Was tut denn ihr da drinnen noch?« fragten Eva und Ottilie ärgerlich, als sie die Türe aufstiessen und die vier Fünftklässlerinnen darin sahen, wie sie ihre Kürbisköpfe hervorholen wollten, die sie am Abend heimlich gebracht hatten. »Was tut denn ihr noch da?«

»Wir – wir reitseilen noch ein wenig«, sagte Sara, die nie verlegen war, und setzte sich auf die Schaukel, die die Leuenhofer Kinder sich da errichtet hatten.

»Es wäre jetzt Zeit heimzugehen«, mahnte Eva die Kleinen.

»Ja, ja, geht ihr nur zuerst«, gaben die zurück.

»Also!« die Sechstklässler nahmen den Weg um die obere Ecke und bemerkten, sich umschauend, mit Vergnügen, dass die Kleinen den Holzverschlag verliessen. Von ihrem Versteck aus sahen sie dann aber nicht, dass die vier bei der Türe umkehrten und geduckt und heimlich, wie Indianer auf dem Kriegspfad, zurück in ihren Verschlag schlichen.

Hüben und drüben begannen jetzt die Vorbereitungen.

Es wurde ausgemacht, dass Eva als grauer Mönch sowie das weisse Flattergespenst, im Hofe hin und her huschend, bald auftauchen und dann wieder verschwinden sollten. Sobald Schritte vom Schulzimmer her zu hören wären, mussten die drei anderen Gespenster durch den Hof herangezogen kommen.

Im Verschlag der Frau Beyel ging es auch sehr eifrig zu. Sara als Unternehmerin der Sache hatte alle Hände voll zu tun. Die Zündhölzer – wo waren sie denn? – Und bis nur die Kerzenstümpfe brannten! Und die Kürbisse, mit beiden Händen gehalten, ordentlich auf den Köpfen sassen!

Endlich standen die vier Feuergeister bereit und warteten. Es wurde schon recht dunkel in der Holzkammer.

»Schau mich doch nicht so an mit deinen glühenden Augen«, sagte Marie Hug zu dem gegenüber stehenden Anneli.

»Ich schau dich gar nicht an«, antwortete das Anneli unter seinem Tuch heraus. »Das sind halt die Augen von meinem Kürbiskopf« –

Ein paar Augenblicke horchten die Kinder still hinaus.

»Ich – ich glaube, ich sollte eigentlich heim«, begann Marie Hug mit beklommener Stimme. »Ihr könnt es ja zu dritt machen. Da, Sara – du kannst den Kopf wieder haben« –

Rasch aber trat Sara an die Türe, um sie zuzuhalten.

»Das gilt nicht«, erklärte sie. »Wer einmal dabei ist, der macht ganz mit!«

»Es wäre«, – Sara suchte nach einem Ausdruck der Entrüstung – »ehrlos«, sagten allemal die Sechstklässlerbuben in ganz ernsthaften Fällen, – »es wäre ehrlos, Marie, weisst du, wenn du jetzt davonlaufen würdest« –

Ehrlos wollte Marie Hug nicht sein; sie rückte ihren Kürbiskopf wieder zurecht und drehte sich zu dem kleinen Fenster, durch das noch ein Restlein Helle hereinkam. An ihrem seltsamen Schnaufen merkte man, dass sie nah am Weinen war.

Wieder war es eine Weile still. Die vier Kürbisköpfe sahen einander mit tückischen Gesichtern an.

»Red’ doch etwas, Sara«, unterbrach Marie Hug die erneute Stille. »Sonst schwatzest du an einem fort.«

»Ich weiss jetzt gerade nichts«, erwiderte Sara.

»Du«, flüsterte Marie dem Gritli Wegmann zu, »ich glaube, sie fürchtet sich selber. – Sie fürchtet sich grad so wie wir« –

Horch – war das ein Schritt? – Nein. Es hatte bloss irgendwo ein Balken gekracht. Es krachte oft so unheimlich in dem alten Haus ....

Im Schulzimmer hatte Herr Schwarzbeck die Lampe angezündet, und die Buben arbeiteten fleissig über ihren Rechnungsheften. Neben Herrn Schwarzbeck aber stand der Herr Pfarrer. Er hatte eben in der Dachwohnung bei dem alten Briefträger Heuseler einen Krankenbesuch gemacht und war dann bei Herrn Schwarzbeck eingetreten, um der Mathematikstunde beizuwohnen.

Jetzt nahm er Hut und Stock.

»Macht bald Feierabend, ihr mathematischen Genies« sagte er. »Gute Nacht, Herr Schwarzbeck.«

Im Gang draussen zog er seine Uhr heraus und musste sie ganz nah an die Augen halten. »Wie es schon dunkelt«, dachte er. »Vom Zunehmen der Tage merkt man noch nicht viel.«

Nach ein paar Schritten stand er plötzlich still und spähte in den Hof hinaus. Was war denn das eben gewesen? Wie ein grauer, undeutlicher Schatten war es durch den Hof gehuscht? – Seltsam! Der Herr Pfarrer sah angestrengt über das Holzgatter, das den Gang vom Hofe trennte. Es war nichts mehr zu sehen. »Hab ich mich scheint’s getäuscht ...«

»Der Ernst Hutter und der Brenner, die können’s zu was bringen, kluge, fleissige Köpfe!« dachte er im Weitergehen. »Haben aber auch einen guten Lehrer!« – Wieder hielt er an: jetzt war’s etwas Weisses drüben an der anderen Hofseite – wie wenn ein grosser Vogel lautlos vorüber flatterte.

»Das möchte man doch fast ungemütlich heissen«, sagte der Herr Pfarrer vor sich hin, indem er die Brille abnahm und sie rieb. Als er sie wieder aufgesetzt hatte, war nichts mehr zu sehen. Er schüttelte den Kopf. War’s am Ende nur ein Dampfschwall gewesen aus Frau Beyels Waschküche? – Nach ein paar Schritten stutzte er von neuem. Vom Hofe her ertönte ein merkwürdiges leises Stöhnen. – Mm – Mm, erklang es kläglich in dem Halbdunkel.

Der Herr Pfarrer wusste nicht mehr, was er denken sollte. Da fiel ihm ein, dass das am Ende Frau Beyel sein könnte, die vorgestern über rheumatische Schmerzen geklagt hatte.

»Frau Beyel, sind Sie es?« wollte er hinausrufen, aber das Wort blieb ihm im Munde stecken. Denn – was war das, was jetzt gerade vor ihm um die Ecke geschlichen kam, was für eine ganz greuliche Gesellschaft? – Ein schauderhaftes Wesen, mit Armen bis an den Boden und fletschenden Zähnen und neben ihm ein Ungetüm mit einem ellenlangen Hals. Dahinter eine graue und eine weisse Schattengestalt und am Boden ein schwarzes Ding, das mit einem drohenden Prrr! auf den Herrn Pfarrer zuschnurrte.

Das war nun auch für einen Herrn Pfarrer und tapferen Mann etwas viel. Er stand einen Augenblick starr. Da – als ob heute die Hölle mit allen ihren bösen Geistern los wäre – ging eine Türe auf, ein unförmlicher Kopf erschien, dem aus den Augen, aus Nase und Mund eine rötliche Glut leuchtete und hinter ihm noch zwei andere und noch ein vierter.

»Jetzt um aller Welt willen«, rief der Herr Pfarrer aus, »was ist das für ein Hexensabath.«

Ein gellender Schrei, den das Halsgespenst ausstiess, unterbrach ihn, und in derselben Minute fast schrien auch die Feuerköpfe laut auf. Die zwei Gespenstergruppen rechts und links vom Herrn Pfarrer hatten sich gegenseitig erblickt. Mit Entsetzen prallten sie zurück und schrien, als ob sie am Spiess steckten. Ganz und gar vergassen sie, dass sie gekommen waren, um andere Leute fürchten zu machen. Es war aber auch schauderhaft – selbst Eva und Ottilie verloren alle Fassung – da drüben unter der Türe, diese vier Gestalten auf einmal mit den dicken Köpfen, mit den grässlichen Glühaugen!

Und umgekehrt, welch fürchterlicher Anblick bot sich den Feuergeistern. –

»Ein – ein Humpump uh, uh!« krähten Marie Hug und Gritli Wegmann und drängten zurück; die hinteren aber wollten vorwärts, hinaus aus dem grässlichen Kreuzgang; sie verwickelten sich in ihre Umhänge, wollten sich aneinander halten und purzelten schreiend in einem Knäuel über die Türstufe hinunter. Die glühenden Köpfe kollerten auf dem Steinboden dahin. Das schwarze Küchengeistlein aber auf der anderen Seite schoss fliehend an das Halsgespenst, das im Fallen den Humpump mitriss, der über seine eigenen Arme stolperte. So, jetzt lagen die drei auch am Boden!

»O, halt, uh, lass doch los, au!« zeterte, quiekte und zappelte es durcheinander.

Die Verblüffung des Herrn Pfarrers aber verwandelte sich in eine grosse innere Belustigung.

Zuerst griff er in den heulenden Knäuel vor der Türe, um aufzuhelfen.

»So – so! Tut nicht ganz wie von Sinnen! Beruhigt euch!« Er stellte einmal Gritli Wegmann auf die Füsse.

»Ei, sieh, hat man doch noch einen Kopf, wenn dort schon vier am Boden liegen! Überhaupt scheint ihr mir alle denn doch aus Fleisch und Blut zu bestehen. So mörderlich schreien tun keine Gespenster. Kannst du gar nicht aufhören?« wandte er sich an Marie Hug.

Sie schüttelte schluchzend den Kopf. Die Angst schon vorher in der Holzkammer und nun der Schrecken. Nein, da musste man schon noch weiterfahren. Auch Alwine kam noch nicht zu Ende. Und dazwischen schrien und kreischten die anderen immer von neuem auf, vor den Köpfen am Boden und dem Humpump, der noch sein Greuelgesicht vorgebunden hatte. Auf der Welt kann ja niemand besser kreischen und krähen als elf- und zwölfjährige Mädchen.

Am schnellsten fand natürlich Sara die Sprache wieder.

»Die –«, sie schaute vorwurfsvoll zu den grösseren hinüber, »die haben aber auch so viele Arten gemacht.« –

»Ja, wirklich!« sagte der Herr Pfarrer, »eine ganze Auswahl von Gespenstern, eine wahre Raritätensammlung. Vielleicht erfahre ich dann noch, warum eigentlich die Herrschaften gerade auf mich losgelassen wurden.«

»Ja – Sie waren nicht der Rechte«, erklärte Sara munter. »Wir wollten den Walter Kienast erschrecken und die anderen, weil sie so stolz taten.«

Eva und Ottilie Eggenberg waren derweil auch wieder einigermassen zur Besinnung gekommen und wussten nicht recht, ob sie lachen oder sich schämen sollten. Der Herr Pfarrer? – Wie war denn der Herr Pfarrer dazu gekommen? Und also bloss die paar Fünftklässlerinnen. Woher sie wohl die Köpfe hatten? – Jetzt ging schon ein Schwatzen und Kichern an.

Der Walter Kienast – wenn der jetzt käme; es wäre eigentlich am besten, schnell die Sachen zusammenzusuchen und sich davonzumachen.

Aber da kam er schon daher, pfeifend und raschen Schrittes; denn er hörte ein Schreien und Lachen, Schwatzen und Schluchzen.

Er hielt an, nur undeutlich – denn er war vom Lampenlicht geblendet – konnte er den Herrn Pfarrer erkennen; neben ihm, das konnte nur Sara sein. Was tat denn die da und hinter ihr noch zwei oder drei andere Mädchen, und ein paar fuhren am Boden herum, eine davon mit einem ganz weissen Gesicht.

Herrschaft! – Und der Kopf mit den Augen dort in der Ecke.

Was war da gegangen? – Was für eine merkwürdige Geschichte? – Das musste man mit den anderen Buben und mit Herrn Schwarzbeck zusammen geniessen; da musste die Lampe her! In grossen Sätzen rannte Walter zurück.

»Herr Schwarzbeck! Das Geschrei vorhin, wo wir gemeint haben, es seien die Kinder vom Fuhrhalter Blatter, ist bei uns im Kreuzgang gewesen. Man muss die Lampe nehmen; da ist etwas begegnet, ich weiss nicht, ob etwas Lustiges oder etwas Böses. Zwei oder drei heulen und ein paar lachen. Und die Sara schwatzt an den Herrn Pfarrer hin, und der Herr Pfarrer hält einen Stock in der Hand mit einem Gesicht oben und in der Ecke liegt ein Kopf mit glühigen Augen.« –

Gustav Brenner hatte schon die Lampe erfasst und lief trotz Herrn Schwarzbecks mahnendem: »Langsam! Obacht!« in den Gang hinaus. Walter und die drei anderen rannten voran, Herr Schwarzbeck folgte.

Und nun das Hallo! Halbtot lachten sich die Buben, als sie durch den Herrn Pfarrer von dem Gespensterüberfall hörten. Den Anfang, den der Herr Pfarrer nicht wusste, erzählte Sara bereitwillig und die anderen Mädchen halfen. Auslachen musste man sich doch lassen. Jetzt wollte man wenigstens das Vergnügen haben, mitzureden.

»Fein habt ihr’s ausgedacht, wirklich« – rühmten die Buben sie; die hatten das Gespenstermaterial vom Boden zusammengelesen und betrachteten es mit grossem Interesse.

»Wirklich fein – aber dann hahahah! Dann sind die Gespenster vor einander davongelaufen – Famos! Hahahah!«

»Man weiss jetzt erst noch nicht, was ihr getan hättet«, erwiderte Ottilie Eggenberg.

»Nein, das weiss man wirklich nicht«, bestätigte Herr Schwarzbeck lachend. »Die Probe der Buben muss man auf ein anderes Jahr verschieben. Was wir jetzt sicher wissen, ist bloss, dass die Mädchen vor Gespenstern nicht standhalten.«

Die Buben aber hantierten immer übermütiger mit den Verkleidungsstücken. Den Humpump – den musste man doch schnell noch einmal machen.

Der Herr Pfarrer aber tat zum Ergötzen der Kinder, als ob er sich fürchte.

»Nein, nein«, wehrte er, »für heute habe ich genug Gespensterei gehabt. Nein, bitte!«

So brach man denn endlich auf. Aber das wenigstens musste man den Buben überlassen, dass sie, jeder mit einem Kürbiskopf auf dem eigenen – die Kerzchen hatte der gute Herr Schwarzbeck wieder angezündet – der Gesellschaft voraus marschierten, durchs Wendeltor ins Städtchen hinein.

Die paar Leute in der Gasse wunderten sich sehr und erzählten daheim kopfschüttelnd von dem ganz merkwürdigen Umzug. Ein Schärlein Buben und Mädchen, jedenfalls wieder einmal die Leuenhofer, lachend und lärmend, voran vier Gestalten mit mächtigen Köpfen und feurigen Augen und hinter ihnen, mitten in dem Trubel, der Herr Lehrer Schwarzbeck und der Herr Pfarrer. Und es sei doch weder Fastnacht, noch Weinlese. Und überhaupt, der Herr Pfarrer und der Herr Lehrer!

Am anderen Tag lachte dann das ganze Städtchen über die Geister, die einander einen solchen Schrecken eingejagt hatten. –

Die Gespensterfurcht aber war für diesen Winter verschwunden, umso mehr, als jetzt Schnee kam und helles Frostwetter. Wenn man durch den Kreuzgang rannte, dachte man nicht an den grauen Mönch, sondern ans Schlittschuhlaufen und ans Schlitteln.

Geneckt aber wurden die Mädchen noch lange. Hedwig Bühler hiess überall, wo sie hinkam, der Humpump. Sogar beim Herrn Pfarrer. Und jedesmal, wenn er Netti Tobel begegnete, machte er: »Prrr«, in Erinnerung an das schwarze, kleine Greuelwesen, das ihm an jenem Abend vor die Füsse geschossen war.


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