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Es war elf Uhr vormittags, als sich Krause unweit des Bahnhofes Friedrichstraße in eine Kaffeehausecke setzte, um das Buch »Kämpfende Seelen« zu lesen, und vier Uhr nachmittags, als er es beendet hatte. Dann ging er nach der Novalisstraße, um sein Absteigequartier aufzusuchen.
Niemand hielt sich in der Wohnung der Frau Armbruster auf, die Türe zum Zimmer des Herrn Hartwig war unversperrt.
Das typische Berliner möblierte Zimmer. Das übliche Sofa mit Paneel, ein wackeliger Fauteuil, eine Uhr an der Wand, die nicht ging, ein zerschlissener Teppich, immerhin aber ein großer, ansehnlicher Schreibtisch und an den Wänden durchaus nicht die Familienbilder derer von Armbruster, sondern ein paar gute Radierungen, Originale mit handschriftlichen Widmungen an den »lieben Freund«, »feinsinnigen Beurteiler« und so weiter. Auf dem Schreibtisch ein rechtes Kunterbunt, im Hintergrund in Glas und Rahmen ein schönes Lichtbild des Fräuleins Fröhlich.
Krause zog sein Taschenmesser, entfernte vom Rücken des Rahmens ein paar Nägelchen, so daß er das Bild herausnehmen konnte. In steiler, fester, eigenwilliger Schrift standen da die Worte:
»Dein für immer! Lotte«.
Krause überlegte kurz, ging nach dem Vorraum, sperrte die Wohnungstüre von innen ab und ließ den Schlüssel stecken, so daß Frau Armbruster oder Hartwig bei ihrer etwaigen Heimkehr hätten läuten müssen. Nun war er vor unwillkommener Störung sicher.
Einem kleinen Lederfutteral entnahm er winzige Werkzeuge und schon war ein Schreibtischfach nach dem anderen geöffnet. Manuskripte, Tabakbeutel, halbleere Zigarettenschachteln, Ansichtskarten, Lichtbilder, Dokumente quollen ihm entgegen. Das unterste, geräumigste Fach aber war angefüllt mit Briefen. Bündelweise lagen sie da aufgestapelt, Dutzende, Hunderte, viele noch uneröffnet, alle an »Idylle an der Havel, Annoncenbureau des Generalanzeiger« gerichtet.
Krauses Gesicht verriet keine Überraschung, kaum daß es in seinen grauen Augen aufblitzte. Gelassen nahm er die Briefe heraus, setzte sich an den Schreibtisch, als wäre er im eigenen Zimmer, begann blitzschnell die geöffneten Briefe auf ihren Inhalt zu prüfen, während er die noch nicht eröffneten beiseite legte. Eine halbe Stunde mochte so vergangen sein, Briefbogen auf Briefbogen flogen auf einen Haufen, alle möglichen und unmöglichen Gerüche entstiegen ihnen, es begann im Zimmer nach Altjüngferlichkeit, Armut, Jammer, Veilchen, Lavendel zu riechen. Und wahrend er las, horchte er auf, vernahm durch die offene Tür jedes Geräusch, jeden Schritt auf dem Treppenflur, immer bereit, innerhalb einer Sekunde wieder alles in Ordnung zu bringen und aus der Stube des Herrn Hartwig in sein gemietetes Berliner Zimmer zu schleichen.
Jetzt erweiterten sich seine Pupillen, gespannt, mit zugespitzten Lippen las er einen Brief durch. Es war der Brief der verschwundenen Käte Pfeiffer. Und in rascher Folge fanden sich nun die Briefe der Müller, Möller, Jensen und Cohen vor. Blaue, grüne, rosa und weiße Papiere, solche in guter Leinenqualität, schlechte, fetzige, wie man sie in den Konditoreien bekommt, ernste, nüchterne und kitschige, abscheuliche mit Tauben oder Vergißmeinnicht verziert.
Dies war der Brief der Annemarie Jensen aus Hamburg:
Verehrter Herr!
Mit Gegenwärtigem erlaube ich mir, auf ihre werte Annonce im »Generalanzeiger« Bezug zu nehmen, indem ich glaube, allen Ihren Anforderungen zu entsprechen. Bin 24 Jahre alt, entstamme einer ordentlichen Hamburger Familie, mein Vater war Kapitän bei Woermann, ist aber ebenso wie meine Mutter längst gestorben, wie ich überhaupt niemanden auf der Welt habe und ganz allein stehe. Würde gerne einem guten Mann eine liebevolle Frau werden und kann wohl behaupten, daß Sie es nicht zu bereuen haben würden. Bin brünett, mittelgroß, wie man sagt, hübsch und habe nebst schöner Aussteuer auch Vermögen in der Höhe von 20.000 Mark, über die ich jederzeit verfügen kann. Da ich ohnedies im Begriff bin, nach Berlin zu fahren, so könnten wir uns bald treffen und dann sehen, ob wir zu einander passen. Bitte mir unter »Lebensglück 24«, postlagernd Dorotheerstraße nach Berlin zu schreiben.
Und ähnlich, ganz ähnlich, wenn auch in anderer Schrift und mit anderen Redewendungen schrieb die Möller und die Müller und die Cohen. Sie alle betonten das Alleinstehen, waren überzeugt davon, daß – behaupteten, wie man sagt, hübsch zu sein, sprachen von zehntausend oder zwölftausend oder noch weniger Mark, von Aussteuer und Ersparnissen, von Sehnsucht und Willen zur Treue und zum Glück.
Tiefatmend lehnte sich Krause zurück, bedeckte die Stirne mit der Hand, lächelte sein schiefstes, hämischestes Lächeln, sprang dann auf, steckte die fünf verräterischen Briefe in die Brusttasche, brachte den Schreibtisch in tadellose Ordnung und zog sich leise mit seiner Beute in sein Zimmer zurück, nachdem er die Wohnungstüre wieder aufgesperrt.
Im Zimmer der Frau Armbruster aber ging er mit langen Schritten auf und ab, blieb von Zeit zu Zeit beim Fenster, wenn man die Öffnung in den finsteren Hof Fenster nennen konnte, stehen, betrachtete diesen oder jenen Brief von neuem, schnitt Grimassen, entwickelte unerhörte und überraschende Falten im Gesicht, versank minutenlang in tiefes Brüten, um dann wieder auf und ab zu stelzen.
Bis er hörte, wie draußen die Wohnungstüre mit dem Drücker geöffnet wurde, Männerschritte im Vorraum laut wurden, um im Zimmer des Herrn Hartwig zu verhallen.
Krause wartete eine Minute, nahm dann Hut und Stock, schlich lautlos hinaus, verließ die Wohnung, wartete auf dem Korridor wieder einen Augenblick, zog die Klingel und sagte, bevor noch Herr Hartwig ihm öffnete, in sich hinein:
Das Spiel kann beginnen! – –