Hugo Bettauer
Faustrecht
Hugo Bettauer

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Viertes Kapitel

Als Bär spät nachts ins »Café Central« kam, war er nicht heiter, liebenswürdig und aufgeräumt, wie sonst, sondern sehr wortkarg, zerstreut und verdrossen. Auf eine teilnehmende Frage des Fels gab er nur durch ein Murmeln Antwort. Plötzlich aber schien er einem Herrn, der eben das Café verließ, nachzusehen und sagte zu Fels, während er ihn zum erstenmal an diesem Abend ansah: »Hast du nicht auch bemerkt, wie ähnlich dieser Herr dem verstorbenen Langer sieht?«

Fels schaute verwundert auf. »Du bist zerstreut heute, Heinrich, woher sollte ich wissen, ob jemand dem Langer ähnlich sieht? Ich habe ihn doch gar nicht gekannt!«

»Ach so, das hatte ich vergessen.« Früher als sonst verließ Dr. Bär seine Stammtischgesellschaft. Fels aber sah ihm kopfschüttelnd nach und konnte sich das veränderte, verstörte Wesen seines Freundes nicht erklären.

Am anderen Morgen ging der Kriminalbeamte nach einer fast schlaflos verbrachten Nacht frühzeitig an die Arbeit. Er begab sich nach Erledigung der dringendsten Agenden im Polizeipräsidium nach der Hegelgasse in das Bureau der Firma August Langer, G. m. b. H., und ließ sich zum Prokuristen Percy Moldauer, einem nicht ganz waschechten Engländer aus Krotoschin, führen. Dr. Bär legitimierte sich sofort als Polizeibeamter.

»Und nun bitte ich Sie, mich bei einer sehr schwierigen und diskreten Aufgabe zu unterstützen, wobei ich Sie nachdrücklich darauf aufmerksam mache, daß ich mit den Steuerbehörden nicht das geringste zu tun und auch keinerlei Absicht habe, mich in die Geschäfte Ihrer Firma zu mengen.«

Hocherfreut über diese Versicherung, erbot sich Herr Moldauer zu jeder Information.

»Also,« begann Dr. Bär, »Sie sind, wenn ich richtig informiert bin, einerseits von den österreichischen Nachlaßbehörden, anderseits von den Erben der Frau Langer, die aus entfernten, in England lebenden Verwandten bestehen, beauftragt, die Bilanz zu ziehen und eine genaue Aufnahme des Vermögensbestandes vorzunehmen.«

»Jawohl, und diese Aufgabe ist nicht einfach, weil es sich ja nicht nur um unsere Gesellschaft mit beschränkter Haftung handelt, sondern auch um das Privatvermögen der Frau Langer, besser gesagt, des eben verstorbenen Herrn Langer, da er ja nach dem Tode seiner Gattin und Schwägerin Alleinbesitzer des sehr erheblichen Vermögens wurde.«

»Ganz richtig! Und wo befinden sich die privaten Vermögenswerte des Herrn Langer, respektive worin bestehen diese Vermögenswerte?«

»Herr Langer ist nach dem Tode der beiden Damen einfach in den Besitz einer Anzahl englischer Papiere getreten, über die er, solange die Frauen lebten, nicht allein verfügen durfte. Diese Papiere befanden und befinden sich zum Teil in diesem Tresor hier im Bureau.« Der Prokurist wies bei diesen Worten auf einen der mächtigen, eingebauten Kassenschränke, die die Hinterwand des großen, saalartigen Zimmers einnahmen. »Es sind dies englische Bahnaktien, australische Minenaktien, südafrikanische Kimberley-Shares und ein Posten ›Marconi Wireless‹.«

Dr. Bär sah den Prokuristen scharf und durchdringend an:

»Sie sagten vorhin, diese Papiere befinden sich oder befanden sich im Tresor! Meinten Sie damit etwa, daß etliche der Aktien inzwischen verschwunden sind?«

Verwirrt sah Herr Moldauer den Kriminalkommissär an. »Ja, allerdings – aber woher wissen Sie –?«

»Das tut nichts zur Sache, Herr Moldauer, ich bitte Sie nur, diese Frage, die von größter Wichtigkeit ist, genau zu beantworten.«

»Nun, die Sache verhält sich folgendermaßen: Als ich nach Entfernung der sofort nach dem Ableben des Herrn Langer angelegten Siegel mit Hilfe des bei dem Verstorbenen gefundenen Schlüssels in Gegenwart des Nachlaßrichters Landesgerichtsrat Doktor Stößl und des Notars Doktor Zwerenz den Tresor öffnete, fanden wir die Aktien sorgfältig nach ihrem Charakter in Mappen geordnet vor und in einem Couvert lag ein Verzeichnis der vorhandenen Papiere, leider aber nur die Stückzahl und der Kurs, zu dem sie gekauft worden waren, nicht aber die Nummern und Serien der einzelnen Stücke. Und bei dem Vergleich stellten wir fest, daß eine beträchtliche Anzahl von Papieren, und zwar mehrere von jeder Sorte, fehlten. Alles in allem beträgt der Abgang gegenüber dem Verzeichnis etwa hunderttausend Pfund, das ist nach dem heutigen Devisenkurs ungefähr vier Millionen Kronen.«

Dr. Bär fühlte, wie ihm das Blut vor Aufregung rascher durch die Adern lief, und stellte eine weitere Frage:

»Und wie erklären Sie sich diesen Abgang?«

Achselzuckend erwiderte der Prokurist:

»Aufrichtig gesagt: gar nicht! In das Privatleben des Herrn Langer und seiner Frau hatte ich nie einen Einblick und ebensowenig in die Verwaltung seines großen Privatvermögens. Auch Herr Doktor Holzinger, den wir befragt haben, ist in dieser Richtung nicht näher informiert. Es wäre also möglich, daß Herr Langer die Papiere gebraucht hat, um etwa ein Gut irgendwo zu kaufen, ein Schloß in England oder andere Papiere, die ihm vorteilhafter erschienen, und dabei dürfte er vergessen haben, die Aktien aus seinem Verzeichnis zu streichen. Jedenfalls konnten die fehlenden Papiere nur von ihm selbst und mit seinem vollen Willen entfernt werden.«

»Herr Langer hatte doch, als noch seine Frau lebte, kein selbständiges Verfügungsrecht über sein Vermögen? Konnte er trotzdem allein Papiere entfernen?«

»Durchaus nicht. Der Tresor hat zwei sehr kunstvoll gearbeitete amerikanische Schlösser mit zwei ganz verschiedenen Schlüsseln. Von diesen besaß Herr Langer den einen und seine Frau den anderen. Wenn also die Coupons abgeschnitten oder die Talons ausgetauscht werden mußten, kamen Herr und Frau Langer ins Bureau und öffneten gemeinsam den Tresor. Nach dem Tode der Frau Langer sollte Miß Mac Lean ihren Schlüssel übernehmen, da sie aber gleichzeitig starb, bekam Herr Langer ihn und er konnte nun, so oft er wollte, den Kassenschrank aufschließen. Wie oft er das getan hat, weiß niemand im Hause, weil dieser Kassenraum, der sonst nur als Konferenzzimmer dient, nur durch das Privatkontor des seligen Herrn Langer betreten werden kann.«

»Kurzum, Herr Moldauer, die Sache liegt so, daß entweder das Ehepaar Langer gemeinsam die fehlenden Papiere dem Schrank entnommen hat, oder aber, nach dem Tode der Damen, Herr August Langer allein?«

»Jawohl, genau so ist es!«

Mit verbindlichem Dank verließ Dr. Bär den erleichtert aufatmenden Prokuristen und begab sich nach dem Gebäude der Kreditanstalt, wo, wie er wußte, Fels sein Scheckguthaben besaß. Er suchte dort einen ihm bekannten Oberbeamten auf, der den Parteienverkehr unter sich hatte. Dieser Herr konnte ihm folgendes mitteilen: Oskar Fels hatte sich im März des Vorjahres ein Konto bei der Kreditanstalt eröffnen und ein Scheckbuch ausfertigen lassen. Auf die Aufforderung, sich ein Safe im Bankgebäude zu mieten, hatte Herr Fels erklärt, es vorzuziehen, seine Papiere bei sich aufzubewahren. Als er auf Reisen ging, mietete er dennoch ein Safe, in das er seine verschlossene Handtasche einstellte. Im Dezember, als er zurückkam, ließ er sich die Tasche wieder ausfolgen und nahm sie mit sich nach Hause in seine neue Wohnung, wo er, wie er dem Beamten mitteilte, einen Kassenschrank aufgestellt habe. Wie groß das Vermögen des Herrn Fels ist, wisse man nicht, auch nicht, in welcher Art es angelegt sei, sondern nur, daß ein Teil des Vermögens, wenn nicht das ganze, aus englischen, afrikanischen und australischen Aktien bestehe. Dies sei dadurch erwiesen, daß Fels für sein Konto lediglich die Coupons solcher Aktien hinterlegt habe. Jetzt, nach seiner Rückkehr aus Amerika, müsse sich sein Vermögen beträchtlich vergrößert haben, und zwar scheinen, nach den zur Einlösung übergebenen Coupons zu schließen, jetzt ausschließlich nordamerikanische Bons und Aktien dazugekommen zu sein.

Nun wußte der Kriminalkommissär genug, und während er, wie von Furien getrieben, über die Straße stürmte, rangen Freundschaft und Pflichtgefühl, brüderliche Liebe und Entsetzen einen schweren Kampf in ihm, in dem auch jetzt der Beamte Sieger blieb. Immer wieder reihte Bär die Resultate seiner Nachforschung logisch aneinander und immer wieder kam er zu demselben Resultat: Fels hat mit diesem furchtbaren Morde zu tun gehabt, direkt oder indirekt, als Täter oder Beauftragter. Und unter anderen Umständen wäre der Kriminalkommissär sofort zur Verhaftung geschritten, in diesem Falle aber konnte und wollte er sich noch immer nicht zu diesem letzten, entscheidenden Schlag entschließen. Plötzlich fiel ihm die Smaragdnadel ein, die man bei dem Raubmörder Schmiedeisen gefunden hatte. Und wie ein Blitz erhellte sich ihm auch dieses Dunkel: Fels war bei der Verhaftung Zuseher gewesen, hatte die leichteste Möglichkeit, die Nadel dem Manne zuzustecken, um die Fäden zu verwirren, die Arbeit der Polizei für immer fruchtlos zu machen.

Und trotzdem konnte sich Dr. Bär zur sofortigen Verhaftung des Freundes, des Mannes, mit dem er durch Jahre gemeinsam im Schützengraben gekämpft und gelitten, der ihm lieb und wert geworden war, wie sonst kein Mensch auf der Welt, nicht entschließen. Noch gab es den Bruchteil der Möglichkeit, daß Fels, wenn auch nicht unschuldig, so doch nur entfernt mitschuldig sei, und diese Möglichkeit muß geprüft werden. Fels war damals, als er angeblich ein großes Geschäft abschließen wollte, nach Budapest gefahren, und vielleicht ließ sich hier etwas erforschen, was sein Verbrechen weniger schrecklich, seine Schuld geringer erscheinen ließe. Unmittelbar nach der Enthaftung Holzingers war Fels weggefahren, in Budapest hatte er im »Hotel Hungaria« gewohnt, also war es nicht schwierig, dieser Sache nachzugehen und festzustellen, mit wem, wenn überhaupt mit jemandem, Fels dort zusammengekommen war. Heute abends noch sollte ein geschickter Detektiv nach Budapest fahren, morgen im Laufe des Tages würde er von dort telephonischen Bescheid geben, und dann mußte Fels eben, wenn nicht wie durch ein Wunder seine Unschuld von Budapest aus festzustellen war, verhaftet werden.

 


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