Hugo Bettauer
Faustrecht
Hugo Bettauer

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3. Teil

Erstes Kapitel

Silvesterfeier bei Direktor Büxel. Die kleine Frau wirft noch einmal einen Blick auf das Tafelarrangement und denkt seufzend und angestrengt nach, ob die Tischordnung auch wirklich genau so ist, wie sie sein soll. Das ist bei ihrer eigenartigen, aus Bohème und Bankwelt, Künstlerkreisen und Lebewelt zusammengesetzten Gesellschaft, ein schwieriges Werk. Man muß höllisch aufpassen, um die Dreiecke nicht auseinanderzureißen, keimende Beziehungen nicht zu stören, nicht Eifersuchtsszenen hervorzurufen. Und dann hatte man schließlich auch seine eigenen kleinen Absichten und wollte den Flirt zwischen dem Architekten und der Soubrette des Carl-Theaters nicht fördern, während man allerlei Ursachen kannte, diesen Architekten in Fühlung mit der geschiedenen Frau X. zu bringen, der Soubrette aber den süßholzraspelnden Historiker anzuhängen. So – und nun konnten die Gäste aus dem Salon ins Speisezimmer gerufen werden. Der ganze Stammtisch aus dem »Café Zentral« und noch viele andere Bekannte waren gekommen, Ehren- und Sensationsgast aber bildete heute Oskar Fels, der, vor wenigen Tagen nach Wien zurückgekehrt, aber bis zum heutigen Abend unsichtbar geblieben war. Als Tischdame bekam er die Hausfrau, während Dr. Bär mit einer jungen, ätherischen Schriftstellerin, die in ihrer ganz eigenen, von den Autoritäten nicht beglaubigten Orthographie die größten Schlüpfrigkeiten niederschrieb, ihr Gegenüber bildeten. Die Tafel verlief sehr animiert, Direktor Büxel erwies sich wieder als Rekordesser und ließ nur ab und zu in seinem gemütlichen schwäbischen Dialekt eine höchst unpassende Bemerkung fallen, die seine Frau jedesmal zu einem protestierenden »Aber Hansi!« veranlaßte. Die allgemeine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Fels, der immer wieder alle Fragen nach seinen amerikanischen Erlebnissen beantworten mußte. Beim Champagner, zwischen Eis und Früchten erzählte er dann in seiner plastischen, farbigen Art von der großen Spielpartie im Westend-Klub, und die Aufregung unter den Gästen war enorm. Acht Millionen Kronen in einer Nacht gewonnen, – das übertraf die abenteuerlichsten Kartenpartien im Jockey-Klub; jeder rechnete sich schnell die Zinsen dieses Vermögens aus und dem Direktor blieb beinahe ein halber Pfirsich im Munde stecken. »Acht Millionen,« schrie er begeistert, »hören Sie, da können wir ja zusammen ein neues Theater bauen.« Die anderen aber phantasierten von einem Palais in Hietzing, Gütern mit eigener Jagd, Zeitungsgründungen und die Schriftstellerin regte die Schaffung eines ganz modernen Buchverlages an, – mit dem Titel – »Wiener Pornographia« schrie Büxel dazwischen. Fels wehrte lachend ab.

»Nein, verehrte Freunde, keinen Verlag und keine Zeitung, kein Theater und kein Gut. Nicht einmal ein Palais in Wien und kein Automobil, – dies alles sind silberne und goldene Fesseln für das höchste Gut: die Freiheit. Ich will weder der Sklave meiner Dienstboten, meines Chauffeurs noch etwa der Redakteure, Schriftsteller oder Mimen sein, sondern mich so einrichten, daß ich mir nur allein gehöre, von einer Stunde auf die andere meine Zelte abbrechen und wenn es mir paßt, auf den Mars übersiedeln kann. Ich habe die acht Tage, die ich wieder in Wien bin, benützt, um mir ein behagliches Junggesellenheim zu installieren, und dies ist auch der Grund, warum ich mich nicht blicken ließ.«

Fels erklärte nun, daß er in der Schwindgasse eine Wohnung, bestehend aus fünf großen Zimmern mit vielen Nebenräumen, gefunden und sie nun glücklich im Eilzugstempo eingerichtet habe. Während die Maler, Tapezierer und Installateure mit Überzeit Tag und Nacht arbeiteten, sei er in ganz Wien herumgerast, um alte, schöne Teppiche, Möbelstücke, Luster und Bronzen zusammenzukaufen, zwischendurch habe er sich stundenlang bei Buchhändlern aufgehalten, einen verläßlichen, wohlgeschulten Diener gemietet, der die Kunst des Rasierens ebenso verstehe, wie die, ein Beefsteak zu braten und Tee zu bereiten, und eben sei es ihm gelungen, ein neues, starkes Automobil samt Chauffeur zu mieten.

»Wenn es mir einfällt, kann ich zu jeder Stunde die Wohnung schließen, das Auto abbestellen und mich mit meinem Diener oder auch ohne ihn auf Reisen begeben.«

Ein Advokat, von dem man sagte, daß er der beste Verteidiger sei, weil jeder Richter seinem Klienten mit Rücksicht auf die unzulängliche Verteidigung Milderungsgründe zubillige, murmelte, während der Neid seine Züge verzerrte, etwas von Müßiggang, den er nicht ertragen könnte, dem Bedürfnis nach Arbeit und ähnliches. Fels lächelte ironisch:

»Lieber Doktor, die unleugbare Tatsache, daß jeder Mensch mit seinem Beruf unzufrieden ist, spricht gegen Sie. Übrigens gedenke ich so emsig zu sein wie ein Wiesel. Oder glauben Sie, daß Bücher auswählen und lesen, Reiten und Spazierengehen, Gäste bewirten und schöne Frauen lieben keine ebenso dankenswerte Beschäftigung sei, als gähnenden Geschworenen Geschichten von der Unschuld eines Einbrechers zu erzählen?«

Fels hatte die Lacher auf seiner Seite, und als die zwölfte Stunde schlug, wurde die Stimmung ein wenig gedämpfter, jeder dachte an das vergangene Jahr zurück, und die Glückwünsche, die einer dem anderen bot, waren in Wirklichkeit Wünsche für das eigene Wohlergehen im angebrochenen Jahr.

Erst im Rauchzimmer hatte Fels Gelegenheit, sich allein mit seinem alten Freund, dem Kriminalkommissär Bär, zu unterhalten. Er erzählte ihm von dem seltsamen Zusammentreffen mit dem gemeinsamen Waffengenossen Winzer und ließ sich von Bär über die eigenen Erlebnisse und von Bekannten berichten. Über seine Beziehungen zu Grace ging Fels ganz flüchtig hinweg. Und dann stellte er ihm eine Frage, die ihm während der ganzen Unterhaltung auf den Lippen geschwebt hatte: »Was ist eigentlich mit dem Mord in der ›Villa Mabel‹? Bist du den Tätern auf der Spur?«

Dr. Bär schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann nicht nur keine Spur finden, sondern mußte heute die letzte Hoffnung, das Rätsel jemals lösen zu können, aufgeben. Herr August Langer ist nämlich vor einigen Stunden gestorben.«

An den anderen Tischen hörte man lachen und scherzen. Fels war in tiefes Schweigen versunken, das schließlich von dem Polizeibeamten gebrochen wurde:

»Dieser Herr Langer, der immer den Eindruck eines schwindsüchtigen Menschen auf mich gemacht hat, ist im Sommer an einem akuten Lungenspitzenkatarrh erkrankt und hat sich in die Kuranstalt auf dem Semmering begeben. Vorher aber hat sich noch einiges ereignet, was verschiedene meiner Vermutungen bestätigte. Du erinnerst dich vielleicht, daß wir nach all dem, was ich über die ermordeten Frauen und ihr Verhältnis zu Herrn Langer wußte, zur Überzeugung kamen, Langer habe viel eher Grund, ein lustiger, als ein trauernder Witwer zu sein. Und diese Überzeugung hat mich auch kriminalistisch nicht losgelassen, sondern mir immer wieder die Vermutung nahegelegt, daß das Rätsel der ›Villa Mabel‹ nur im Hause selbst seine Lösung finden könne. Dies auch der Grund, warum ich Langer nicht ganz aus dem Auge verlor und mich von Zeit zu Zeit immer wieder über sein Leben informieren ließ. Herr Langer hat die ›Villa Mabel‹ nicht mehr bezogen, sondern sich im ›Hotel Bristol‹ einquartiert. Das Trauern gab er wirklich sehr bald auf, und gerade als du wegfuhrst, knüpfte er Beziehungen zu einer Sängerin an, die im Wesen der ermordeten Frau Mabel ziemlich nahesteht. Diese Sängerin hat nämlich den begründeten Ruf, eine sehr handfeste Person zu sein, die ihre jeweiligen Liebhaber an der Kandare hält und aus ihnen ihre ergebenen, gehorsamen Sklaven macht. Langer mietete ihr eine fürstliche Wohnung und schenkte ihr große Summen, was aber die Walküre nicht abhielt, mit ihm sehr ungnädig zu verfahren. Ein Kellner des ›Hotel Bristol‹, den einer meiner Vertrauensleute aushorchte, erzählte, daß er gehört habe, wie die Sängerin dem Langer, als er einmal im Vestibül des Hotels die Frage, ob es regnen werde oder nicht, anschnitt, ein energisches ›Kusch!‹ zugerufen und ihm dabei einen Blick zugeworfen habe, vor dem der Kellner erschrak. Man munkelte schließlich, daß Herr Langer die Dame heiraten oder sich, besser gesagt, von ihr werde heiraten lassen, aber dann kam eben der Lungenspitzenkatarrh. Die Sängerin wollte durchaus ihre neue Opernpartie kreieren, Langer mußte auf den Semmering, und die Idylle fand ein Ende, um so mehr, als sich ein russischer Nabob einstellte, der die Sklavenrolle bei ihr übernahm.

Vor einigen Tagen wurde mir berichtet, daß sich bei Herrn Langer die Schwindsucht in ihrer rapidesten Form entwickelt habe, und nun machte ich ihm unter einem gleichgültigen Vorwand einen Besuch. Ich dachte, daß ein dem Tode Geweihter immerhin vielleicht eher zum Sprechen geneigt sein werde. Aber ich sah mich enttäuscht. Herr Langer wollte mit aller Gewalt von mir erfahren, ob ich irgend einen neuen Verdacht habe, und als ich das schließlich energisch verneinen mußte, war aus ihm überhaupt nichts mehr herauszubekommen. Er sagte immer wieder: ›Lassen Sie die Toten ruhen, nur die Lebenden haben recht.‹ Und doch, heute, wo nun der arme reiche Mann gestorben ist, habe ich mehr als jemals die Überzeugung, daß er mehr über die Ermordung seiner Frau und Schwägerin wußte, als irgend ein anderer Mensch. Erforschen konnte ich darüber nie etwas, obwohl ich immer wieder seinen Verkehr, seine Privatkorrespondenz und seine Besucher überwachen ließ.«

Die Gesellschaft bemächtigte sich energisch der beiden Herren, die junge Schriftstellerin, die einen diskreten Rausch hatte, lehnte sich zärtlich an Fels und war bereit, zu beschwören, daß sich die beiden Freunde irgend etwas schrecklich Unanständiges erzählt hätten, worauf Fels trocken meinte: »Sie haben es erraten, wir sprachen von Ihren letzten Aufsätzen in der Zeitschrift ›Nackte Wahrheit‹.« Fels war wieder sehr aufgeräumt geworden, toller Übermut bemächtigte sich seiner, er riß durch Humor und Geist die ganze Gesellschaft mit, und als es drei Uhr geworden war, hatte er zum reichlichen Mißvergnügen der Herren einen Kußkurs etabliert, der sich seitens der Damen reichlichen Zuspruches erfreute.

Auf dem Heimweg überraschte er Bär, der mit ihm ging, durch die vor sich hingesprochenen Worte: »Grace, wie herrlich stehst du in meinen Gedanken da, wenn ich dich mit diesen kleinen, girrenden Weibchen vergleiche.«

 


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