Hugo Bettauer
Bobbie oder die Liebe eines Knaben
Hugo Bettauer

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XI. Kapitel

Bob findet eine Spur

Gertie war nun schon seit fünf vollen Tagen verschwunden. Und die Zeitungen beschäftigten sich nicht mehr mit der Angelegenheit. Andere Verbrechen hatten sich ereignet, eine Regierungskrise war überwunden worden, ein Dampfer gestrandet, über den Brand eines Wohnhauses hatten die Reporter aufregende Einzelheiten zu berichten, und so war man über das Schicksal eines kleinen Mädchens zur Tagesordnung übergegangen. Die Mutter aber siechte langsam dahin, sie konnte ihr Lager kaum noch verlassen, und die Pflegerin, die Frau Holgerman aufgenommen hatte, saß stundenlang an dem Bette einer Frau, die willens schien, an gebrochenem Herzen zu sterben. Nur wenn Bob zu ihr kam, was täglich zweimal der Fall war, richtete sie sich auf, sah den Knaben groß und fragend an und lächelte schmerzlich, wenn er ihre Hand streichelte, um dann wieder in Teilnahmslosigkeit zu versinken.

Bob wanderte die Vor- und Nachmittage ruhelos durch die Straßen und Gärten der Großstadt, entdeckte grüne Flächen an der äußersten Peripherie, von deren Vorhandensein er kaum eine Ahnung gehabt hatte, wurde blaß und schmal, und in seinen großen dunklen Augen spiegelte sich die Verzweiflung seines Kinderherzens.

Herr und Frau Holgerman sahen sehr gut, was in ihm vorging, sie wußten auch, wie er seine freie Zeit verbrachte, und immer wieder hatte der Vater die Absicht, dem Halt zu gebieten und Bob auf das Unsinnige dieser Jagd durch das Nichts aufmerksam zu machen. Sobald er aber davon zu sprechen anfing, blickte ihn Bob aus weit aufgerissenen Augen so erschreckt und unglücklich an, daß er nicht den Mut fand, das Gespräch fortzusetzen. Insgeheim besprach das Ehepaar die Pläne zu einer Reise nach Norwegen, denn sie waren darüber einig, daß allein eine völlige Änderung der Umgebung imstande wäre, den Knaben auf andere Gedanken zu bringen und ihn das Furchtbare vergessen zu lassen. In der Nacht schlich sich Frau Holgerman oft in das Zimmer Bobs, lauschte voll Schmerz und Angst seinen unruhigen Atemzügen und legte ihm die milde Mutterhand auf die heiße Stirne, wenn er abgerissene Worte ausrief, im Schlafe wimmerte oder plötzlich laut und entsetzt »Gertie« rief.

Bob besuchte heute wieder den Parkwächter, der ebenfalls nichts mehr in seinem alten Schädel zu haben schien als Gedanken an das aus seinem Reiche verschwundene Kind. Mit dem Knaben verband ihn eine drollige Freundschaft, wobei Bob entschieden die überlegene Rolle spielte. Kaum wurde er des Jungen ansichtig, als er auch schon das jeweilige Morgenblatt aus der Tasche zog und sich bei Bob genau nach verschiedenen Dingen, die er nicht begriff, erkundigte. Er ließ sich von ihm die Politik und die Fremdwörter erklären; Bob mußte ihm in einem längeren Vortrage auseinandersetzen, wie es möglich sei, daß auf der anderen Seite der Erdkugel furchtbare Schneestürme herrschten, während es hier fast unerträglich heiß war, und als er einmal las, daß das Schiff einer Südpolarexpedition im Eise steckengeblieben sei, zeigte er dem Knaben grinsend diese Stelle und sagte:

»Sehen Sie, was da die Zeitungsschreiber wieder für Blech geschrieben haben. Eis am Südpol. Ebenso hätten sie schreiben können, daß einer am Nordpol den Hitzschlag bekommen habe.«

Bob hatte furchtbare Mühe, dem alten Manne die Verachtung vor den Zeitungsschreibern wenigstens in diesem Falle auszureden, und selbst als er ihn an der Hand seiner Schulbücher belehrte, blieb in dem Invaliden noch ein Rest von Mißtrauen zurück.

Von Gertie sprachen sie wenig. Taten sie es, so ereignete es sich immer wieder, daß Bob sein schneeweißes, der Invalide aber sein blau-rotgewürfeltes Schnupftuch zog und jeder sich ein Staubkorn aus den Augen wischen mußte.


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