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»Du hast viel Mut, Sonja!«
Es war abends in Wildvogels Zimmer. Sie saß auf ihrem gewöhnlichen Platz auf dem Fensterbrett und Beata auf einem Stuhl ihr zu Füßen. Eben hatte ihr Sonja ihre Verlobung mitgeteilt.
»Man läßt sich bisweilen überrumpeln,« fuhr Beata fort. »Ich will nicht behaupten, daß ich keine Hintergedanken hatte, als ich dich hierher einlud, aber jetzt bei der vollendeten Tatsache wird mir angst.«
»Warum?«
»Ich frage mich, ob es wirklich zu deinem Glück dienen wird?«
»Was ist Glück?« fragte Sonja mit seelenvollem Lächeln.
Darauf antwortete Beata nicht unmittelbar.
»Ich fürchte, du gehst mancher Unruhe entgegen.«
»Und sonst? Einförmige Ruhe taugt mir nicht.«
Beata streichelte Wildvogels Hand liebkosend.
»Als ich das herbeiwünschte, was sich jetzt vollzogen hat, dachte ich am meisten an ihn. Er war mir zu gut für das Leben, in das er hineingeraten ist. Mir schien, als könne dir niemand widerstehen, auch ahnte ich nach der Art, wie er von dir sprach, daß irgend etwas zwischen euch sei, wenigstens von seiner Seite. Er ist nicht für die Einsamkeit geschaffen, aber wenn du dich seiner annähmest, könnte er ein prächtiger Mensch werden. So dachte ich, ohne aber an dich persönlich zu denken. Das tue ich jetzt. Er ist nicht leicht zu behandeln.«
Ein Leuchten ging über Wildvogels Gesicht.
»Gerade das gefällt mir. Gerade das zeigt, welch starke Macht die Liebe auf ihn ausübt.«
»Hast du irgend eine Bedingung gestellt?« fragte Beata, und Sonja las in ihrem Blick, woran sie vornehmlich dachte.
»Bedingungen? Zur Bedingung habe ich es nicht gemacht, aber er weiß, was ich will, und er will dasselbe.«
»So, so! Aber ist es sicher, daß er es immer will? Die Gewohnheit ist eine gefährliche Macht.«
»Das weiß ich wohl, und ich unterschätze auch den Feind keineswegs, gegen den wir, Max und ich, kämpfen müssen.«
Stolz und glücklich klang das »Max und ich«.
Beata gefiel der vertrauensvolle Mut, den sie auch nicht niederschlagen wollte; trotzdem trieb ihre innige Freundschaft sie dazu, zu warnen.
»Du hast viel Mut, du liebes Wildvögelchen!« wiederholte sie. »Ich zittere für dein Los, – wenn du nicht glücklich würdest?«
»An die Möglichkeit denke ich gar nicht. Dazu darf es nicht kommen,« sagte Wildvogel. Ihre ganze Gestalt straffte sich, und aus ihren Augen leuchtete die Tatkraft, die Max besiegt und aufgerichtet hatte.
»Ich weiß wohl,« fuhr sie fort, »daß ich mancherlei mit Max erleben werde. Mir ist immer klar gewesen, daß das Verheiratetsein eine große, schwere Kunst sein muß, und vielleicht wird es das noch mehr für mich sein wie für andere. Das hat mich bisher davon zurückgehalten, aber jetzt schreckt es mich nicht mehr, sondern lockt mich eher, denn jetzt ist meine Zeit gekommen.«
Sie sprach mit ruhiger Sicherheit. Beata wunderte sich in ihrem Innern darüber, ließ aber keinen Zweifel laut werden.
»Ich erwarte mir kein sonniges Paradies mit ungestörtem, ruhigem Glück,« fuhr Wildvogel mit dem für sie so charakteristischen Humor fort. »Und das ist auch gut, denn das würde mir bald langweilig werden. Nein, ich weiß, daß ich ein Leben gewählt habe reich an Unruhe, Arbeit, Streit und Selbstüberwindung, sowohl in voraussichtlichen wie in unvorhergesehenen Konflikten, aber, Beata, interessant wird es, – das heißt leben! Endlich ist mir eine Aufgabe geworden, die einen Charakter fordert, und mit der Aufgabe werde ich mich hoffentlich selbst zu einem Charakter auswachsen.«
Ihre Augen strahlten und ihre Hände öffneten und schlossen sich im Überschwang der Gefühle.
»Und außerdem,« gab sie mit einer plötzlichen Ruhe zu, aus der ein noch stärkeres Gefühl sprach, als aus ihrer vorigen Lebhaftigkeit, »außerdem habe ich keine Wahl, ich gehöre nun einmal zu Max. Das Vergangene, von dem ich dir noch nichts erzählt habe, macht ihn jetzt und immerdar zu meiner Aufgabe. Ich bin in seiner Schuld und die Liebe macht es mir zu einer Lust und Freude, ihm zurückzuzahlen.«
»Die Liebe ist alles, und macht das Schwerste leicht,« sagte Beata mitfühlend, aber zu ihrer Verwunderung schüttelte Wildvogel den Kopf.
»Sie ist nicht alles, aber sie macht alles möglich, und sie macht das Schwere nicht leicht, sondern sie gibt uns Kraft, es zu tragen,« sagte sie.
»Dann ist die Liebe ja etwas noch Größeres,« bekannte Beata, und blickte bewundernd in das seelenvolle, begeisterte Gesicht ihrer Freundin. Sie staunte darüber, daß Sonja schon so tief in das Wesen der Liebe geschaut hatte, und zwar mit einem so scharfen, unbeirrten Blick.
Es beruhigte sie, denn sie hatte nicht ohne Bangen an die vielen Frauen gedacht, die, so wie Wildvogel jetzt, hoffnungsvoll davon geträumt hatten, einen Mann zu bessern, und dann mit ihren Kindern in Elend geraten waren, ohne ihm helfen zu können. Das Kluge und Nüchterne in Sonjas erhobener Stimmung bewies, daß nicht bloß eine gefühlvolle Zukunftshoffnung ihrem wichtigen Beschluß zugrunde lag.
Nach einigen Augenblicken des Schweigens sprach Beata diese Gedanken aus. Sie hoffte, den Grund der Sicherheit ihrer jungen Freundin zu erfahren.
»Gott hat uns in unserem eigenen Wesen Leitsterne gegeben, das Gefühl, das Gewissen, den Verstand, und wenn sie uns nun alle dieselbe Richtung angeben, wäre es da nicht fürchterlich feige, wenn wir sie nicht einschlügen?« antwortete Wildvogel. »Es wäre doch geradezu Ungehorsam!«
»Ich sehe ein, daß das Gefühl dich leitet, was aber die anderen Sterne betrifft, das Gewissen und den Verstand, so kann ich die wohl kaum anerkennen, so lange ich nichts von der Vergangenheit weiß, die Dr. Reis zu deiner Aufgabe gemacht hat,« sagte Beata mit einem vorwurfsvollen Blick auf Sonja. Die lachte und erzählte alles.
»Ja, jetzt verstehe ich dich, nun bin ich beruhigt!« rief Beata aus. »Wenn seine Liebe zu dir eine so tiefe Wurzel hat, dann wird es dir sicherlich glücken. Jetzt ist mir deine ruhige Sicherheit und dein Vertrauen auf die Macht eurer Liebe erklärlich.«
»Ich traue nicht nur auf die, sonst würde ich wohl nicht so ruhig sein,« sagte Wildvogel leise.
In Beatas zärtlichem Blick lag eine Frage, und Sonja fügte im selben Tone hinzu: »Ich traue auf Gott, der sie in uns entzündet hat.«
Kalt und klar hielt der Herbst seinen Einzug. Das Meer glitzerte in der Sonne vor dem roten Pfarrhof auf der Klippe. Auf der Bank vor dem Häuschen saß der Pastor und neben ihm Dr. Reis.
Stina war krank und der Doktor hatte sie eben besucht. Er hatte aber scheinbar noch keine Lust, nach Haufe zu gehen, die friedliche Umgebung fesselte ihn. Zum ersten Male fürchtete er sich nicht vor einem vertraulichen Beisammensein mit dem Pastor. Die letzten Zeiten hatten ihn verwandelt und sein mürrisch verschlossen gehaltenes Innere geöffnet.
»Warum hausest du einsam auf deiner Klippe, Löwing? Warum heiratest du nicht?« fragte er plötzlich.
»Mein Los ist die Einsamkeit, und ich bin damit zufrieden,« antwortete der Einsiedler in seiner langsamen und bedächtigen Art.
Dr. Reis betrachtete ihn mit beinahe neugierigem Interesse und dachte, wie auffallend doch das Profil mit dem männlichen und verschlossenen Ausdruck sei. Der Pastor blickte unverwandt auf das Meer, aber dem Doktor wollte scheinen, als sähe der in die Ferne schauende Blick ein anderes Meer, als das sonnenbeglänzte zu ihren Füßen.
»Was hat dich zum Einsiedler gemacht, Löwing?« fragte er endlich kühn.
»Ein großer Umschwung in meinem Leben,« antwortete der gewöhnlich so verschwiegene Mann mit einer Offenheit, die den Doktor in Erstaunen versetzte.
»Das habe ich immer geahnt,« murmelte Max.
»Ich habe die Erinnerung an und die Reue über ein weltliches Leben in Selbstsucht und muß dafür Buße tun,« fuhr Löwing in demselben bedächtigen Tone fort, ohne den Blick von der See zu wenden.
»Das hättest du? Wahrhaftig, dann muß der Umschwung sehr groß gewesen sein!«
»So ist es.« Der Pastor überlegte, wie ungerecht es doch eigentlich sei, daß ihm alles, was Max Reis betraf, bekannt war, während dieser nichts von ihm selbst wußte.
»Das Verlangen, das, was ich bin, ganz zu sein, ist stark in mir, deshalb zog ich mich von allem und allen meines früheren Kreises zurück und wurde ein Einsiedler. Reue und Buße kommen mir zu, Arbeit in einem verborgenen Winkel, Armut, Einsamkeit. Alles das suchte und fand ich, und so wurde mir das beste Teil.«
Ein inneres Feuer verklärte seine Züge, aus seinen Augen leuchtete eine demütige Begeisterung, und seine muskulöse, aber magere Gestalt reckte sich, als er mit unterdrückter Bewegung leise fortfuhr:
»Hier auf meiner Klippe, wo das Meer und die Sterne vor meinen Augen mir die Unendlichkeit predigen, habe ich Unwürdiger oft von Angesicht zu Angesicht mit Gott geredet, hier hat er mich besucht, hier hat seine Gnade mich umgestaltet, hier habe ich mich in ihn hineingelebt.«
Der Doktor betrachtete das verklärte Gesicht aufmerksam und wunderte sich, daß Löwing so rückhaltlos über diese Sachen mit ihm, dem Zyniker, redete. Aber er war dankbar für diese unerwartete Offenheit, denn sie gab ihm Gelegenheit, ohne sich selbst zu verraten, die Unterredung auf eine geheime Sorge zu bringen, die ihn in der letzten Zeit gequält hatte. Das Glück hatte ihn feinfühlig gemacht. »Hast du bei diesem selbstsüchtigen Weltleben auch mitunter gegen andere gefehlt?« fragte er.
»Ja, das habe ich, – besonders gegen eine.«
»Hast du alles wieder gut gemacht?«
»Das konnte ich nicht, es stand nicht in meiner Macht.«
Nun wurde der Doktor erregt, denn jetzt waren sie bei seiner geheimen Sorge angelangt, ohne daß er sie zu offenbaren brauchte.
»Wie kannst du dann hier in Frieden mit Gott und deinem Gewissen sitzen?«
»Es gibt etwas, das Vergebung heißt.«
»Hat sie dir vergeben, gegen die du gesündigt hast?«
»Das weiß ich nicht.«
Des Doktors Augen funkelten.
»Wessen Vergebung verhalf dir denn zum Frieden?« fragte er herausfordernd.
»Gottes,« antwortete der Pastor.
Die Antwort hatte der Doktor gerade erwartet, um in überlegenen Spott auszubrechen und den lästigen Stachel des Gerechtigkeitsgefühls von sich abzuwenden.
»Ist es so bequem eingerichtet, daß man das gekränkte Opfer ganz aus dem Spiel lassen kann und die Sache nur mit Gott ins reine zu bringen braucht? Das würde ich für Jesuitenmoral halten!«
Jetzt endlich wandte der Pastor seinen Blick von der See fort, richtete ihn prüfend auf Max, als wollte er den Beweggrund seiner Frage und seiner unerklärlichen Hitzigkeit ergründen, und erwiderte:
»Du ahnst nicht, wie sehr ich dich darum beneide, daß du alles wieder gutmachen konntest!«
Max wurde dunkelrot vor Überraschung.
»Ich! Ach, das war ein elendes Wiedergutmachen, – das mußt du doch am besten wissen –, denn –!«
In abgerissenen Sätzen sprach er den Kummer ganz gegen seinen Willen aus, für den er sich hatte Rat holen wollen, ohne ihn zu offenbaren. Seit sein eigenes Geschick anfing, lichter zu werden, drückte ihn die Erinnerung daran, wie unglücklich er Ingrid in ihrer Ehe gemacht hatte. Jedoch achtete der Pastor gar nicht auf das Bekenntnis, das dem Doktor so unvermutet entfahren war, sondern er griff zurück auf die Frage, die dieser vorher gestellt hatte.
»Glaube nur nicht, daß ich Gottes Vergebung als einen Balsam für meinen Sündenkummer suchte! Wenn sie nicht auch eine umgestaltende Kraft zum Siege über die Sünde würde, so wäre sie nicht wahrhaftig.«
»Aber die, gegen die du fehltest?« beharrte der Doktor.
»Konnte ich nicht erreichen. Aber ich kann andere erreichen. Ich bin in jedermanns Schuld, der in irgend einer Hinsicht meine Hilfe brauchen könnte.«
»Ist sie tot?« fragte der Doktor schnell. »Für mich ist sie tot. Wie weißt du denn, daß es eine ›Sie‹ war?«
»Ach,« sagte der Doktor, »an eines jeden Mannes Tragödie trägt ein Weib die Schuld. So ist es vom ersten Anfang an gewesen.«
»Und vom ersten Anfang schiebt Adam die Schuld auf Eva,« sagte der Pastor mit einem unergründlichen Ausdruck in seinen Augen.
»Du tust es jedenfalls nicht,« bemerkte der Doktor.
»Wenn zwei fehlen, ist es wohl niemals nur des einen Schuld,« antwortete der Pastor.
Der Doktor blickte ihn mit brennendem Interesse an, indem er sagte: »Mir scheint, du hast mir zuviel von deiner Vergangenheit gesagt, um mir nicht noch mehr zu sagen.«
Der Pastor streifte ihn mit einem schnellen Blick und sah dann wieder auf das Meer hinaus.
»Die Umrisse kann ich dir wohl in kurzen Zügen geben, was sie aber an aufreibendem Kampf und Kummer umschließen, können vielleicht deine eigenen Mutmaßungen ergänzen,« sagte er in kurzem, gepreßtem Ton.
Fast bereute der Doktor seine Kühnheit, als er sah, daß der andere nur mit sichtlicher Selbstüberwindung nachgab, aber ehe er ein Wort sagen konnte, fuhr Birger Löwing fort: »Ich war leichtsinnig und selbstsüchtig, führte ein verschwenderisches Leben, brauchte Geld, traf ein junges, reiches Mädchen, das sich in mich verliebte, und heiratete es um ihres Geldes willen. Niemals hatte ich eine andere Absicht, als meine Pflicht gegen sie zu erfüllen, niemals glaubte ich, daß sie den Mangel eines wärmeren Gefühls bei mir empfinden würde, aber ein Weib, das liebt, ist über die Maßen feinfühlig und scharfsichtig. Sie kam dahinter, und das verwandelte sie. Vergebens tat ich alles nur Erdenkliche, um sie zu versöhnen. Da kam ein anderer Mann, und als sie bei dem die Wärme fand, die sie bei mir vermißte, gab sie mich auf und folgte ihm.«
Er schwieg. Als er so dasaß, die Arme über der Brust gekreuzt, an die Mauer zurückgelehnt, die Beine von sich gestreckt, hatte er den Blick von der See zu Boden gewendet.
»Erfuhrst du damals die große Umwandlung in deinem Innern?«
»Das war der erste Anstoß. Ich schwankte, aber ich fiel noch nicht auf die Knie. Dazu ist mehr erforderlich: des Herzens wundester Punkt muß berührt werden. Das geschah später, als unser Kind starb. Da sie es war, die mich verlassen hatte, so wurde es mir bei der Scheidung zugesprochen. Der Knabe lehrte mich lieben. Er weckte das Gefühl in mir, das seine Mutter nie zu wahrem Leben erwecken konnte. Als Gott ihn nahm, warf er mich auf die Knie.«
Der Pastor beschattete die Augen mit der Hand und blickte in die Ferne. Die Erinnerung hatte sein Innerstes erregt.
»Wenn ich meine Meinung sagen darf, so hat sie dir genügend vergolten, was du ihr tatest,« sagte der Doktor nach kurzem Schweigen. »Wärest du es nicht, so würde es mir schwer werden, an deine Aufrichtigkeit zu glauben, wenn du von deiner Schuld gegen sie sprichst. Eine Frau, die ihrem Manne fortläuft und ihr Kind verläßt!«
»Sie hätte es nie getan, wenn ich sie geliebt hätte. Ja, wäre ich nur von Anfang an wahr gegen sie gewesen und hätte nicht mehr Gefühl geheuchelt, als ich besaß! Aber ich war falsch – und das machte sie zu dem, was sie wurde.«
»Du willst doch wohl nicht behaupten, daß sie ohne Schuld war?« rief Max aus, entrüstet über seines Freundes übertriebene Ritterlichkeit.
»Nein, natürlich sehe ich ein, daß auch sie schuldig war, aber das vermindert meine Schuld nicht. Das Bewußtsein, daß sie jung und unschuldig und vertrauend war, als sie mich heiratete, verursacht mir heute noch bittere Gewissensbisse. Es steht fest, daß nur mein selbstsüchtiger Betrug sie so verwandelte.«
»Wäre sie stark gewesen, so wäre sie als Siegerin aus der Krisis hervorgegangen und hätte dich gewonnen. Ich kann es nämlich nicht fassen, daß du jemals herzlos gewesen sein solltest,« sagte der Doktor. Der Eifer, mit dem er des Pastors Schuldlosigkeit zum Nachteil der Frau verfocht, war so groß, daß deutlich daraus hervorging, wie nicht nur dieser besondere Fall ihn bewegte. So faßte Pastor Löwing es auch auf und beantwortete den Einwand von einem weitschauenden Gesichtspunkt.
»Ja, wäre sie stark gewesen und wäre ich wahr gewesen! Hätten Adam und Eva Gott gehorcht, so wäre die Sünde nie in die Welt gekommen. Unser armes Geschlecht strauchelt über alle seine unerfüllten ›Wenns‹!«
Der Doktor betrachtete den Mann aufmerksam, den er seit Jahren zu kennen geglaubt hatte und doch jetzt erst kennen lernte. Wie eigenartig war es doch, ihn von der Niederlage sprechen zu hören, als sei es etwas, das fast jedermann erfahren müsse. Er, der immer den Eindruck machte, als lebe er nach einem vollständigen Sieg erhaben über des Lebens Kampf, stellte sich jetzt auf den Standpunkt derjenigen, deren Leben aus unerfüllten Wenns besteht!
Aber obgleich er von Niederlage sprach und auf etwas so gründlich Verfehltes zurückschaute, daß es nie wieder gutzumachen war, so fehlte ihm doch die harmonische Ruhe nicht, die nur der Zusammenklang der Seele mit Gott sein konnte. In des Doktors Hirn regten sich allerlei Fragen, ohne daß er sie in Worte kleiden konnte. Da fing der Pastor wieder an zu sprechen in seinem gewöhnlichen, gefühlvollen, leisen Tonfall: »Wenn wir fallen, so ist unsere einzige Rettung, in Gottes Arme zu fallen. Da geschieht das Wunderbare, daß wir von unseren Fehlgriffen, ja selbst von unseren Sünden lernen.«
Er schwieg. Der Doktor konnte immer noch nicht die richtigen Worte für seine Fragen finden und beharrte daher in erwartungsvollem Schweigen, aber als empfände der Pastor, was sich in dem Innern seines Besuchers regte, fuhr er fort, die unausgesprochenen Fragen zu beantworten.
»Leiden müssen wir freilich – tief innerlich, heftig, aber nicht zum Tode, sondern zum Leben, für uns und für andere. In der tiefsten Tiefe strahlt des Erlösers Herrlichkeit am klarsten, niemals lernen wir ihn so kennen wie da!«
Seine Stimme sank beinahe zum Flüsterton, und nicht einmal der Zyniker neben ihm empfand den leisesten Zweifel, daß das Gesagte auf tatsächlicher Erfahrung begründet war.
»Wenn du dermaleinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder,« fuhr der Pastor fort. »Meine verhängnisvolle Verfehlung wurde durch Gottes Barmherzigkeit für mich in Weisheit verwandelt. Weil ich durch eigene Verfehlung ein innigeres Verständnis für Schwachheit und Sünde erlangt habe, so habe ich andere besser auf den richtigen Weg weisen können.«
»Aber dann wäre ja das Sündigen etwas Gutes!« rief der Doktor aus. »Die Sünde ist immer ein Übel, aber durch Gottes Macht kann sie bisweilen zum Guten gewendet werden. Gibt es etwas Größeres als das? Der armselige Satan, er ist wohl niemals ohnmächtiger, als wenn Gott seine eigenen Waffen gegen ihn richtet! Wie geht doch unser ganzes Leben im Gebet auf, wenn Gott im großen Weltenkampf des Lichtes gegen die Finsternis einen solchen Sieg in uns erringt!«
Dr. Reis hatte immer empfunden, daß Birger Löwing eine starke Persönlichkeit war, dessen machtvollem Einfluß sich niemand entziehen konnte, niemals aber hatte seine Persönlichkeit einen stärkeren Eindruck gemacht als jetzt, da er sein Inneres so rückhaltlos erschloß. Der Doktor war mächtig ergriffen, aber seine Selbständigkeit lehnte sich gegen den Einfluß auf. Er wollte sich nicht durch das Gefühl des Augenblicks auf einen geistlichen Standpunkt zwingen lassen, den er bei nüchternem Nachdenken vielleicht nicht behaupten konnte. Er löste sich aus dem Griff, mit dem des anderen Persönlichkeit ihn bewußt oder unbewußt gepackt hatte.
»Du redest so rückhaltlos, als glaubtest du, daß ich alles verstehen müßte,« sagte er mit kurzem Lachen. »Fürchtest du nicht, deine Perlen vor die Säue zu werfen!«
»Verstehst du mich denn nicht?«
»Wie wäre das möglich, so wie ich nun einmal bin?« antwortete der Doktor mit einer Mischung von Selbstironie und Gleichgültigkeit, die er angenommen hatte, um seine wirklichen Gefühle zu verbergen. »Du weißt, weshalb ich mich mit Ingrid verheiratete, und du weißt auch ungefähr, wie ich gegen sie war. Jetzt ist sie tot, und deiner Auffassung zufolge müßte die Reue über mein schlechtes Benehmen gegen sie mich zur Bekehrung und Buße treiben. Statt dessen bin ich im Begriff, mich wieder zu verheiraten und mit Wildvogel glücklich zu werden, gerade als hätte die arme Ingrid nie gelebt. Wo siehst du einen Schimmer von Gott in meinem Leben?«
»Wenngleich dein Licht nur schwach ist und du ihm strauchelnd folgst, so ist es doch ein Licht, dem du nachgehst, deshalb wird es auch klarer werden und deine Schritte stetiger. Ich bin überzeugt, daß deines Wildvogels Liebe, die dir jetzt geschenkt worden ist, da du sie am nötigsten brauchst, ein Strahl von Gottes Vergebung für dich ist.«
Wider Willen ergriff diese Ansicht der Sache den Doktor, aber er versuchte sich zu widersetzen.
»Und Ingrid?« fragte er kurz.
Sie ist bei Gott, von dem alles Gute kommt,« antwortete Löwing.
Aber dem Dr. Reis schien diese Äußerung der Wirklichkeit zu entbehren. Sie klang ihm wie eine schöne Redensart.
»Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist, ich weiß nur, daß ich sie unglücklich machte, so lange sie bei mir war,« sagte er in kurzem, gezwungenem Ton, der ahnen ließ, daß er lebhafter fühlte, als er zeigen wollte. »Ich hätte mich nie mit ihr verheiraten sollen.«
»Daß du es tatest, war ihre Rettung aus der Gefahr, in ein Leben der Sünde und Schande zu versinken.«
»Warum war die Gefahr, in ein solches Leben zu versinken, größer für sie wie für mich, wenn wir uns getrennt hätten?«
»Ein armes Mädchen mit befleckter Ehre und getäuschter Liebe und ohne Gott, wie sie damals war, ist dem Strudel, der nach unten zieht, so gut wie unrettbar preisgegeben,« sagte der Pastor, voller Mitgefühl für alle die, auf die seine Worte paßten.
»Durch ihre Ehe mit mir wurde sie wahrhaftig nicht gehoben!« bemerkte der Doktor trocken.
»Und doch war es ihre Rettung aus Schlimmerem. Eines Weibes Weiblichkeit wird dadurch bewahrt, daß sie für einen einzigen lebt, selbst wenn sie dabei nicht glücklich ist. Du hast also dein Opfer, wenn es auch noch so unvollkommen war, nicht vergebens gebracht.«
Der Doktor blickte gedankenvoll auf das weite Meer.
»Gott ist mein Zeuge, wie sehr ich wünsche, daß es besser gewesen wäre!« murmelte er.
Pastor Löwing aber freute sich, denn er kannte den Mann neben sich gut genug, um zu wissen, wie inhaltsreich diese Worte trotz ihrer Kürze waren.
An einem kalten, rauhen Herbstabend ging Max ruhelos in seinem Zimmer auf und ab.
Es war um die Stunde, in der er früher bei seinem Glase zu sitzen pflegte. Seit dem verhängnisvollen Sturmtag hatte er es aber nicht mehr getan. Sein Leben war lichter geworden, edle Interessen und erhebende Gefühle hatten die niedrige Begierde verdrängt, und er hatte sie für überwunden gehalten. Heute abend war sie plötzlich und unerwartet wieder erwacht, und mit Entsetzen empfand er, wie stark sie war.
Er versuchte zu lesen, ohne aber das Gelesene zu fassen. Die Begierde wurde zur Qual. Er schleuderte das Buch von sich und ging in die Kinderstube, um bei seinen schlafenden Buben Hilfe zu suchen. Hier kamen ihm weiche Gedanken, die ihm ein Weilchen halfen. Bald würden seine Söhne eine neue Mutter bekommen, die ihre stürmischen Lebensgeister zähmen oder besser, in die richtigen Bahnen lenken würde, ohne ihnen die Kraft zu rauben. Sonja hatte Freude an seinen kleinen Schlingeln. Das hatte sie selbst gesagt und auch in ihrer frischen Art bewiesen, durch die sie die Knaben schnell gewann. Bald aber machte sich der brennende Durst wieder fühlbar, so daß sich seine Gedanken wie eine bittere Flut gegen sich selbst richteten und ihn fast zur Verzweiflung brachten. Wohl niemals würden seine Wölflinge eine neue Mutter bekommen, bei ihm allein würden sie aufwachsen und ihre Wolfsnatur frei entwickeln. Er hatte Wildvogel versprochen, daß die Arme eines Sklaven sie nie umfangen sollten, aber was war er anders als ein Sklave! Die Fesseln hatten sich soweit gelöst, daß er sie nicht mehr gefühlt und sich darum frei geglaubt hatte. Nun strafften sie sich wieder, die Freiheit war nur ein kurzer Traum gewesen, ein Sklave war und blieb er, es lohnte sich nicht, dagegen zu kämpfen.
Er verließ seine Kinder und kehrte in sein Zimmer zurück. Noch ließ er sich nicht unterkriegen. Er versuchte, an Sonja zu denken, fühlte aber, wie machtlos der Gedanke an sie heute abend war im Vergleich mit seiner wiedererwachten Begierde. Sein Blick fiel auf die Glasscherben, die noch auf dem Tisch in der Ecke lagen.
»Sicherheitshalber lasse ich sie liegen, bis ich ganz hierher ziehe oder du von hier weggehst,« hatte Wildvogel eines Tages gesagt.
»Hast du die Absicht, mich von der Insel zu vertreiben?« fragte er darauf.
»Wenn auch nicht gerade ich, so doch vielleicht der Mann der Wissenschaft in dir,« hatte sie in ihrer scherzenden Art erwidert. »Der ist längst tot und begraben.«
»Das glaubst du doch nur; prüfe dich, ob er nicht doch noch lebt!«
»Das wäre ein großes Unglück, denn jetzt ist es zu spät. Meine besten Jahre sind vorüber.«
»Doch nur acht. Viele fangen viel später an, und du brauchst nur an einen schon gemachten Anfang anzuknüpfen.«
»Sprich nicht davon, – es ist unmöglich!«
»Sag doch nicht, daß etwas unmöglich ist, ehe du es versucht hast.«
»Wo sollte ich den Versuch machen?«
»Versuche es doch, in Stockholm anzukommen. Nimm deine Studien und deine Versuche wieder auf.«
»Machst du das zur Bedingung?«
»Ich stelle keine Bedingungen, – außer einer.«
»Und die wäre?«
Anstatt jeglicher Antwort hatte sie nur die Glasscherben auf dem Tische angeblickt, und er verstand sie.
»Wie streng bist du, Wildvogel? Forderst du jeden einzigen Tropfen?«
»Ist es nicht am leichtesten, eine böse Angewohnheit zu überwinden, wenn man ganz mit ihr bricht?« war ihre Gegenfrage.
Er erinnerte sich jetzt lebhaft dieses Gespräches. In seiner jetzigen Stimmung empörte ihn ihre Forderung, und er fand sie übertrieben. Es würde ihm doch nicht schaden, wenn er mitunter etwas tränke, wenigstens vorläufig, solange er noch einsam war. War er erst verheiratet und Wildvogel beständig um ihn, da würde das Verlangen schon nach und nach von selbst ersterben. Aber warum sollte er sich jetzt Gewalt antun und sich mehr als nötig quälen?
Bei diesen Gedanken wurde der Durst so mächtig, daß Max nicht länger widerstanden hätte, wäre Sprit im Hause gewesen. Er könnte ja danach schicken, denn er wußte wohl, wo welcher zu haben war. Auch hatte er Freunde, die ihn willkommen heißen würden, wo die Flasche nicht fehlte. Der letzte Gedanke kam über ihn wie eine Versuchung, der er nicht widerstehen konnte.
Er ging hinaus. Obgleich es noch nicht spät war, war es doch schon ganz dunkel. Das Wetter war in höchstem Grade unfreundlich, und der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Es war just so ein Abend, an dem ein gemütliches Beisammensein beim Glase sehr wohltuend sein mußte!
Plötzlich hörte er den Schrei eines Kindes und darauf rohes Gelächter und Flüche. Nach einigen Schritten unterschied er trotz der Dunkelheit auf dem Wege vor sich ein paar Kerle und ein Mädchen, das sie gefaßt hatten.
»Laßt sie gehen!« donnerte Max sie an.
In ihrer Verdutztheit ließen sie gleich von dem Kinde ab, das sich kaum befreit fühlte, als es sich auf seinen Retter stürzte und sich schluchzend an ihn schmiegte. Die Burschen trollten von dannen, und an ihrem schwankenden Gang sah Max, daß sie betrunken waren.
»Haben sie dir etwas zuleide getan?« fragte er das Kind.
»Nein, aber sie haben mich so erschreckt.«
Jetzt erkannte Max das Mädchen wieder; es war die dreizehnjährige Tochter des Inspektors in Sund. Sie zitterte noch vor Schreck und drückte sich noch enger an ihn. Es wäre grausam gewesen, sie allein zu lassen. Er wandte sich um.
»Ich will dich nach Hause bringen,« sagte er.
»Ach, danke!«
Er faßte ihre Hand, und sie machten sich auf den Weg, aber er sprach kein Wort weiter.
Unterwegs überlegte er sich, wie merkwürdig es zuging, daß er gezwungen wurde, gerade die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, in der er zuvor gegangen war. Und daß seine Schritte gerade nach Sund gelenkt wurden, nach Sund, wo sein Wildvogel war!
Er blickte auf das Mädchen hinab, das so zutraulich mit ihm ging, und wunderte sich über die merkwürdige Laune des Schicksals, die ihn zum Retter und Helden eines Kindes machte, gerade als er sich in der Stunde der Schwachheit auf den Weg gemacht hatte, um der Versuchung nachzugeben. Er mußte einsehen, daß das Schicksal, das ihn heute abend leitete, nicht blind war. Es war sogar ein sehendes, verständnisvolles Schicksal, ein Schicksal, das ihn von Grund aus kannte. Seine Begierde war so stark gewesen, daß er mit dem festen Vorsatz ausgegangen war, sie zu befriedigen, und weder die Furcht vor der Hölle noch die Liebe zum Himmel wären imstande gewesen, ihn zur Umkehr zu bewegen, aber – er konnte doch unmöglich das arme erschreckte Kind allein im Dunkeln nach Haufe gehen lassen! – –
Es gibt Leute, die an eine starke Hand glauben, die die schwache Menschenhand faßt. Sonja hatte von dieser Hand gesprochen, sie hatte ihren Griff um die ihrige gefühlt. War das dieselbe Hand, die seine eigene mitten in der Stunde der Finsternis gefaßt hatte und ihn jetzt dem Lichte entgegenführte, vor dem er zurückgeschreckt war?
Max begleitete das Kind bis nach Sund. Das Mädchen knixte und ihr Gesicht strahlte ihn dankbar an, als sie sich von ihm verabschiedete und in den Flügel des Hauses sprang, wo sie wohnte.
Jetzt stand er einsam draußen im Hof und blickte nach dem Licht, das aus den Fenstern fiel.
Sollte er umkehren und dorthin gehen, wo es ihn vorhin hinzog? Der Weg war lang und naß, der Abend kalt und die Einsamkeit dämonisch. Wäre er nur durch einen blinden Zufall hierher geführt, so hätte er ihm trotzen können. Aber es hatte sich ja gezeigt, daß es ein sehender und sogar sehr scharfsichtiger gewesen. Was wollte dieser Zufall von ihm? Warum hatte er ihn hierher geführt? Sollte er vielleicht hineingehen, um Wildvogel zu sagen, daß er dem Laster nicht widerstehen könne, und daß sie ihn lieber in Ruhe lassen und davonfliegen solle. Ja, das wollte er, es war ja nur die Wahrheit! Mit finsterem Gesicht ging Max hinein.
Dort saßen sie alle beisammen: Frau Beata und Sonja, Agnes und der Fabrikherr, Fabian und Pastor Löwing, und sie alle bewillkommneten ihn herzlich.
»Das ist ein ungemütlicher Abend und du siehst naß und verdrießlich aus, Reis! Komm, wir wollen was Warmes trinken! Setz das Wasser zum Grog an, Agnes!« sagte Hök, der des Doktors Geschmack kannte und gern seine eigenen Schwachheiten und die anderer hegte. Agnes legte ihre Arbeit nieder. So flink sie zu sein pflegte, wenn es galt, einen Dienst zu leisten, so säumig schien sie jetzt. Sie stand jedoch auf, aber auch Max erhob sich und legte seine Hand hindernd auf ihren Arm.
»Machen Sie meinethalben keine Umstände!«
»Er wird schon fürlieb nehmen, wenn er erst da ist, geh nur, meine Tochter,« sagte der Hausherr gutmütig.
Agnes jedoch rührte sich nicht. Sie wunderte sich über den Doktor. Noch immer umklammerte seine Hand ihren Arm fest, während er dastand und Sonja mit einem stürmischen Ausdruck im Blick ansah. Er befand sich in der Tat in einem Sturm, noch heftiger wie der, aus dem er Wildvogel gerettet hatte. Auch jetzt galt es, sie zu retten, denn blieb er nicht Sieger, so ging sie ihm verloren. Er sah sie an, und sie verhalf ihm zum Sieg. Ohne Agnes' Arm loszulassen, wandte er sich an den Fabrikherrn.
»Nie wieder darfst du mir einen Tropfen starken Getränkes anbieten! Ich habe dem Alkohol abgeschworen und will nicht in Versuchung geführt werden, mein Gelübde zu brechen.«
»Wann hast du das getan?« fragte Hök verwundert.
»Jetzt!«
Alle schwiegen. Agnes setzte sich an ihren Platz und nahm nach einem schnellen Blick auf Sonja ihre Arbeit wieder auf. Aber die beugte ihren Kopf tief über ihre Arbeit, um den Freudenstrahl, den Tränenschimmer, den Lobgesang und den Jubel, die ihr Inneres bei seinem kurzen, finsteren, entschlossenen »Jetzt« durchstürmten, zu verbergen, das Wunder geschah vor ihren Augen, sie sah den Lahmen aufstehen und wandeln.
»Das Haus soll zeigen, daß es etwas Besseres bieten kann als Grog,« sagte Frau Beata, und ihre Stimme hatte einen noch herzlicheren Klang wie gewöhnlich. »Agnes, heute abend mußt du uns etwas ganz außerordentlich Gutes vorsetzen! Wer seine Freunde bei so schlechtem Wetter aufsucht, verdient eine Belohnung. Setzen Sie sich auf Ihren Lieblingsplatz, Doktor!«
Diesmal stand Agnes willig auf und ging unbehindert hinaus, um den Auftrag auszuführen.
Max aber saß finster und wortkarg und beteiligte sich wenig an der Unterhaltung, die ihn bald lebhaft umschwirrte. Er sah, daß Sonja ihn als Sieger betrachtete und wußte doch am besten, daß er es nicht war. Nun sehnte er sich danach, mit ihr allein zu sein, um sie aufzuklären.
Endlich glückte es ihnen, zusammen zu verschwinden. Soja trat auf die verdeckte Veranda hinaus, um zu sehen, ob der Regen nachließe, und Max folgte ihr. Sie wandte sich um und blickte ihn strahlend an.
»Heute abend hast du einen großen Schritt vorwärts getan, Max!«
»Groß! Urteile selbst, wieviel Wert er hat! Es war gar nicht meine Absicht, hierher zu kommen, als ich heute abend ausging, sondern ich wollte mich betrinken, trotz der Liebe zu dir und aller guten Vorsätze. Da kam mir der Zufall zu Hilfe und führte mich statt dessen hierher, und so wurde ich dazu getrieben, zu handeln, wie du gesehen hast. Es ist nicht mein Verdienst, denn ich weiß nicht, wie es kam. Der Durst brennt, und es war meine Absicht, zu trinken.«
Er sah sie herausfordernd mit düsterem Blick an. Es wäre doch merkwürdig, wenn sie jetzt nicht erbleichte und vor ihm zurückwiche! Sie tat aber nichts dergleichen.
»Und doch schlugst du das Glas aus, das dir eben erst angeboten wurde,« rief sie jubelnd aus.
Mit einem hoffnungslosen Blick sah er sie an. Wie sollte er sie von seiner Schlechtigkeit überzeugen?
In diesem Augenblick trat der Pastor heraus, um sich von ihnen zu verabschieden, da er nach Hause wollte.
»Hör mal, Löwing! Es ist ja dein Amt, überall Sünde auszuspüren,« sagte Max aufgeregt und seiner selbst nicht mehr mächtig.
»Ich suche nicht nach Sünden, sondern nach dem Kampf dagegen, und wo er aufgenommen wird, erblicke ich des Erlösers Antlitz,« antwortete der Pastor und blickte in Max' finstere Züge, als sähe er etwas sehr Schönes und Erhebendes darin.
Max brach in ein kurzes, bitteres Lachen voller Selbstverachtung aus.
»Ihr scheint euch verschworen zu haben, mich heute abend zu bewundern! Welchen Wert hat ein äußerlicher Sieg, wenn die Begierde hohnlachend im Innern steckt?«
»War dein Sieg wirklich nur äußerlich? Hat er sich nicht eher aus einem starken, inneren Wunsch, zu überwinden, emporgerungen?«
Max dachte nach und seine wilde Selbstverachtung wankte, aber er war schwer zu überzeugen. »Ist der Beweggrund einer Handlung nicht alles?« fragte er.
»Der Beweggrund ist die Seele der Handlung,« gab der Pastor zu.
»Und sollten wir nicht Gott zuerst und zuletzt suchen?«
»Ja.«
»Wenn man also einen Sieg nur um eines Menschen willen erringt, dann hat er doch gar keinen Wert,« sagte Max, finster triumphierend, als hätte er jetzt endlich ein endgültiges Urteil über sich gefällt.
»Es ist der nächstbeste.« Die Antwort verblüffte Max.
»Der nächstbeste?« wiederholte er verwundert.
»Es heißt: Gott und der Nächste.«
Max schwieg und suchte einen neuen Beweis seiner Schlechtigkeit, etwas, das sie wirklich überzeugen müßte. Aber Löwing fuhr fort.
»Der Mensch, den ich so liebe, daß ich mich um seinetwillen selbst überwinde, kann nichts Geringeres sein als die Hand, die Gott mir entgegenstreckt, um mich zu sich emporzuziehen.«
Bei diesen Worten drückte er beiden die Hand und verschwand draußen in der herbstlichen Dunkelheit.
»Max, was war das für ein Zufall, der dich heute abend hierher führte, anstatt dahin, wo du eigentlich hinwolltest?« fragte Sonja. Sie hatte sich in einen Korbsessel gesetzt, und er stand, an die Wand gelehnt, vor ihr. In wenig Worten erzählte er ihr von seinem Kampf, ohne sich dabei zu schonen. Aber ihre Augen strahlten seinem finsteren Blick entgegen, der vergebens nach einem Anzeichen der Mutlosigkeit bei ihr suchte.
»O mein Geliebter, jetzt bin ich deiner sicher! Gott selbst hat deine Hand erfaßt. Siehst du das nicht, begreifst du es nicht?«
»Gott meine Hand? Wie könnte er sich eines so erbärmlichen Menschen annehmen?«
»Gerade solcher Verirrten nimmt er sich ja an.«
Max schwieg. Er hatte keine Waffen mehr gegen eine Liebe, die so hartnäckig hoffte und glaubte.
»Wie ist es möglich, daß du dich nicht vor mir fürchtest, da du doch weißt, welcher Art ich bin? Wagst du wirklich, mein eigen zu werden?« fragte er mit bebender Stimme.
»Wer sollte sich fürchten, der an Gottes Macht glaubt?«
Da beugte er seine Knie vor ihr und küßte ihre Hände ehrfurchtsvoll.
»Max, mein Geliebter, du darfst nicht mehr an dir selbst verzweifeln. Du mußt an Gott glauben.«
»Nein, ich will nicht mehr verzweifeln, ich will glauben, glauben! Gott ist gut, der dich mir gegeben hat!« stammelte er mit gebrochener Stimme, schlang seine Arme um sie und verbarg sein Gesicht an ihrer Schulter. Bebend drückte sie seinen Kopf an sich und lehnte ihre Wange an seinen Scheitel. Mit Zagen und zugleich mit inniger Zärtlichkeit erkannte sie, daß sie sich nicht mehr selbst gehörte. Sie war ihm geschenkt, so wie er ihr. In dem, der hilfesuchend vor ihr kniete, begrüßte ihr Frauenherz ihren Gebieter.
Als der Pastor Max und Wildvogel verlassen hatte und durch den Wald nach Hause ging, klärte sich der Himmel, und als er auf die Klippe hinaustrat, auf der sein rotes Häuschen lag, glänzten die Sterne über der See.
Es war eine schöne Nacht. Er stand lange an eine der Säulen gelehnt, welche das Dach des Vorbaues trugen. Aber er war nicht einsam, denn er hatte sich erst seine vertraute Freundin, die Flöte, herausgeholt und blies ab und zu darauf. Tiefes Schweigen wechselte mit den Tönen ab.
Er pflegte oft in der Einsamkeit Flöte zu blasen. Mitunter waren es bekannte Melodien, häufig aber waren es solche, die man nie gehört hatte und die seine innere Stimmung verrieten. Der Fischer, der am Fuße der Klippe vorbeifuhr, ruhte gern auf seinen Rudern und lauschte, und der Segler, der mit schlaffen Segeln auf der See lag, söhnte sich mit der Windstille aus, wenn die Flötentöne ihn erreichten, und wenn jemand im Walde vorbeiging, der blieb stehen, bis die Töne verstummten und ging dann erhobenen Sinnes weiter.
An diesem schönen Herbstabend aber waren weder Ruderer, noch Segler, noch Wanderer unterwegs. Das schwere Wetter hatte sie alle drin gehalten, und niemand außer dem Pastor wurde gewahr, wie sternhell die Nacht jetzt war. Darum hörte auch niemand, wie es in den Flötentönen siedete, brannte und rang, wie es sich durch den Sturm eines unruhigen Inneren emporkämpfte, bis zu den Höhen des Lobgesanges. Der Pastor dachte an die beiden, die er eben verlassen hatte, an das Glück und die Stärke, zu zweien durchs Leben zu gehen, zu fühlen, wie eine geliebte Hand mit Vertrauen in der eigenen ruhte.
Da glühte es in den Tönen, da siedete die Sehnsucht darin, da durchbrauste sie der Kummer über ein verfehltes Leben, dem das Glück verloren gegangen war.
Dann trat Schweigen ein, während sein Blick den Glanz der ewigen Sterne suchte.
Ihm war der Kelch der Einsamkeit beschieden, und er hatte ihn demütig hingenommen mit dem festen Vorsatz, ihn bis auf den Grund zu leeren. Er hatte ihm mehr Linderung als Bitterkeit gewährt, aber manchmal erfüllte er ihn doch mit Wehmut und brennender Sehnsucht.
Ach, wer in einer solchen Stunde einen Menschen hätte, auf den man sich stützen und dem man sein Inneres mitteilen könnte! Er aber hatte keinen solchen Freund unter den Menschen, und es kam ihm nicht in den Sinn, danach zu suchen, denn ein solcher Freund muß einem ohne eigenes Zutun geschenkt werden.
Die Menschen werden auf sehr verschiedenen Wegen zu Gott geführt. Warum sollte er darüber klagen, daß sein Weg zu Gott die Einsamkeit war, während andere in Gemeinschaft miteinander dahin wanderten? Warum sollte er sehnsüchtig von seinem Weg auf den ihren sehen?
Hatte er denn Grund, über Leere und Einsamkeit zu klagen, weil kein menschliches Wesen ihm nahestand, da doch niemand so deutlich wie er in seinem Innern Gottes Stimme vernommen hatte: »Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!«
Er dachte an die Gnade, die ihn aus einem Sklaven der Selbstsucht zu einer Hilfe für andere umgestaltet hatte, so daß er Gottes Werk treiben durfte. Er dachte an die Gnade, die ihm, obgleich er dem Glück entsagen mußte, etwas viel höheres beigelegt hatte, – die Seligkeit.
Er fing wieder an zu spielen.
»Selig sind die – –«
Ja, welche denn? Die Glücklichen, die starken Überwinder, die Hochgestellten, die Vollkommenen?
Nein, nein! Demütiger Jubel klang durch die Flötentöne. Die Seligkeit der geistig Armen beseelte sein Spiel, der Betrübten, der Verfolgten, derer, die nach Gerechtigkeit hungert und dürstet, der Barmherzigen, der Sanftmütigen, derer, die reines Herzens sind, der Friedfertigen. – –
Aus seinem Spiel klang die Liebe zu den heiligen Wegen, auf die sein Sinn gerichtet war, und in der Liebe trug er den Sieg davon über jegliches andere Verlangen.
Ergriffen und erfüllt von dem Großen und Wunderbaren, daß er sich trotz aller seiner Unwürdigkeit unter denen befand, die Gott in die Einsamkeit geführt hat, um ihnen selbst nahe zu kommen, erhob sich sein Geist in der Einsamkeit dieser leuchtenden Sternennacht zu Gott empor.