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Max ist erstaunt über meine Härte und fragt, oh ich denn wirklich nicht darunter leide, daß ich ihn von mir stoße.
Ob ich leide! Man leidet wohl nicht, wenn man von der tosenden Brandung fortgerissen wird und alle Gedanken und Gefühle angespannt sind, ganz besonders, wenn man am Ruder steht und für das Leben anderer verantwortlich ist.
Das Leiden kommt erst nachher.
Drinnen beim Vater ist meine Freistatt. Wenn es mir unerträglich wird, schlüpfe ich in sein Zimmer, um mich ein Stündchen von dem aufreibenden Kampf mit Max auszuruhen. Der Kampf ist heiß und hört auch nicht auf, wenn ich allein bin, denn ich muß mich ja auch selbst überwinden.
Der liebe, alte Doktor weiß nichts von dem Kampfe und seiner Veranlassung, darum ist seine Nähe mir eine doppelte Erquickung. Daß mich etwas beunruhigt, merkt er doch. Zuweilen sieht er mich so fragend an.
»Wildvogel! Gedenkst du wirklich zu verschwinden, oder kommt es mir nur so vor?« fragte er heute.
»Es ist nicht gerade leicht, zu verschwinden!« entschlüpfte es mir. Aber ich nahm mich sogleich zusammen und sprach in heiterem Tone weiter von etwas – ich weiß nicht mehr, wovon, aber ich wollte mich keiner weiteren Frage aussetzen. Es war ganz ungewöhnlich, daß wir uns unterhielten. Ich pflege sonst schweigend drinnen bei ihm zu sitzen. Ich tue, als ob ich lese, obschon ich oft nicht einmal weiß, was für ein Buch ich in der Hand halte. In der Tat lese ich weder, noch denke ich, ich ruhe mich nur aus – ich hole Atem.
Max sagt, daß er untergeht, wenn ich ihn verstoße. Dies Wort steckt mir wie ein Stachel im Herzen und schmerzt sehr, aber es ändert nichts an der Sache. Ihn verstoßen? Ich kann ihn gar nicht verstoßen, da er nie mein gewesen. Er würde untergehen, wenn ich ihn verstieße. Aber sie? Sie muß dann wohl um so mehr untergehen, wo sie doch wirklich sein gewesen.
Das habe ich ihm auch gesagt, da aber schwieg er mürrisch. Er sagt es nicht gerade heraus, aber ich verstehe schon, wie er es meint. Mit ihr braucht man es nicht so genau zu nehmen wie mit ihm. Man kann natürlich nicht verlangen, daß ein Mann sich für eine Frau opfert, wie oft man auch das Gegenteil verlangt. Wenn eins Frau in Lebensgefahr schwebt, wagt der Gentleman sein Leben, um sie zu retten, und das nennt man Ritterlichkeit. Daß aber andererseits ein Mann sich für die Frau aufopfere, die ihm sich selbst und ihre Ehre hingegeben hat, das ist zuviel verlangt!
Das habe ich alles Max gesagt. Und ich bin – 94 –
immer ganz empört, wenn wir darüber sprechen. Ich mag ihn nicht, wenn er sich in seiner männlichen Selbstsucht zeigt.
Ich glaube, Max fängt an, einzusehen, daß ich es ernst meine. Vielleicht wird er mich eines Tages verstehen. Er ist natürlich noch voller Einwände, Sarkasmen und Überredungskünsten; mit Worten gibt er mir nicht recht, und ich weiß eigentlich nicht, worauf meine Vermutung sich gründet. Aber mein Gefühl sagt mir, daß er anfängt, mich zu verstehen.
Aber wie wird es sein, wenn ich mein Ziel erreiche, wenn er mich völlig versteht und einsieht, daß ich recht habe? Wenn er mich dann verläßt und zu der anderen – nein, zu der ersten zurückkehrt? Welch eine entsetzliche Leere wird dann eintreten! Wie werde ich das ertragen? Der Streit ist ein Band zwischen Max und mir, wenn der Sieg aber errungen ist, dann bin ich ganz allein!
Max fragt, ob es wirklich mein Wunsch sein kann, daß er sich mit der anderen verheiratet, da doch sein Herz mir gehört. Ich antworte, daß ich nie an so etwas gedacht hätte, wenn er nicht schon mit ihr verheiratet wäre. Nach meiner Meinung ist es nicht die Trauung, sondern der Besitz, der sie vereint. Ich will ihn ihr ebensowenig rauben, wie ich einen Ehemann von seiner Frau locken würde. »Du weißt nicht, wieviel du von mir verlangst. Die allermeisten würden dich für unvernünftig streng halten.«
»Vielleicht. Aber ich werde dich doppelt lieb gewinnen und stolz auf dich sein wie auf einen Bruder, wenn du die Gelegenheit benutzest, dich über andere Männer zu erheben.«
»Indem ich mich mit einer Frau verheirate, die tief unter mir steht!« sagte er mit beißendem Spott.
»Inwiefern steht sie unter dir?«
»Sie ist ungebildet.«
»Nur ungebildet? Dann mußt du sie bilden.«
Er zuckt die Achseln, als wäre das unmöglich.
»Hast du's versucht?«
Nein, so etwas ist ihm nie eingefallen. Und jetzt wurde ich ganz empört, als ich daran dachte, wie die Weiblichkeit zertreten wird. Und auf meine Weise las ich ihm die Leviten. Es ergötzte ihn gewiß, aber dennoch waren meine Worte nicht ohne Eindruck auf ihn. Zuletzt machte ich ihm einen Vorschlag, der mir unwillkürlich in den Sinn kam. Ob es übereilt oder ob es die natürliche Folge unserer ganzen Erörterung war, kann ich nicht so genau sagen.
»Bringe sie her und laß uns sie kennen lernen!«
Max erschrak bei diesem Vorschlag wie über etwas Unerhörtes. Aber es geht uns merkwürdig: weder er noch ich kann den Gedanken los werden. Es muß etwas darin liegen, das uns zur Ausführung zwingt, trotzdem es uns zuwider ist.
»Du mußt dich ihrer annehmen. Das ist der einzige Ausweg, um sie mir in Zukunft erträglich zu machen. Du mußt sie dir so ähnlich machen, wie eine Küchenpflanze der Rose im Rosengarten werden kann.«
Das war seine Antwort. Der arme Max. Dann beugte er sich unter die harte Notwendigkeit.
Es liegt eine Kraft in seiner Schwerfälligkeit, und auf diese Kraft hoffe ich.
Und ich – ich kann ja nichts anderes tun, als mich ihrer annehmen. Ich habe ja Max gezwungen, ihr treu zu bleiben. Es ist das Wenigste, das ich für ihn tun kann – aber es ist zugleich auch das Schwerste.
Wieder habe ich mich Helga anvertraut. Ich glaubte, sie würde mir am besten helfen können. Sie sieht ja alles von einem höheren Gesichtspunkte. Helga aber staunte über mich. »So etwas hätte ich nie von Wildvogel erwartet!« rief sie aus.
Zum zweiten Male wunderte sie sich über mich. Aber jetzt wundere ich mich meinerseits über sie. Ich wundere mich über ihre Anschauungsweise.
Daß sie Max bedauern würde, hatte ich vorausgesetzt. Aber wie erstaunte ich, als sie mir zu verstehen gab, daß ich zu streng sei, und daß ich zuviel von Max forderte. Man konnte doch nicht verlangen, daß er sich mit solch einem Mädchen verheiraten solle. Wenn er sich nun bessern und sie verlassen wolle, um ein ordentliches Leben anzufangen und sich mit mir zu verheiraten, so müsse ich ihm entgegenkommen und ihm – helfen, anstatt ihn zu verstoßen.
Ich blieb zuerst ganz stumm, als ich Helga so sprechen hörte. Es wurde mir schwer, zu begreifen, daß eine so reine und gutherzige Frau die Sache in einem so falschen Lichte sehen konnte.
Allmählich aber ging mir ein Licht auf, und ich sah, daß es nicht allein die Schuld der Männer ist, wenn es eine besondere Moral für Frauen und eine andere für Männer gibt. Die Frau trifft vielleicht die größere Schuld, und ganz besonders die reine, ehrbare Frau. Was zum Beispiel fordert Helga von sich selbst und ihren Mitschwestern? Das untadelhafteste Leben und eine Treue bis in den Tod, ja, auch über den Tod hinaus. Und von dem Manne? Von ihm verlangt sie gar nichts. Als junger Mensch ist es ihm erlaubt, »seinen Wildhafer zu säen«. Ihm ist's erlaubt, sich ungestraft mit Weibern unter seinem Stande zu befreunden, um sie dann sitzen zu lassen, sobald es ihm einfällt, »gesetzt zu werden«. Ohne andere Genugtuung als Geldeswert, darf er ein solches Weib in dem Schlamm lassen, wo er sie gefunden, oder in den er sie hinabgezogen hat. Und nun soll eine Frau mit tadellosem Wandel ihm entgegenkommen und ihm edelmütig alles verzeihen, was er verbrochen – nicht gegen sie selbst, sondern gegen die andere.
Und das nennt man Genugtuung. Mein Eifer entzündete sich. Und sobald ich die erste Bestürzung überwunden, ließ ich Helga meine Meinung deutlich hören.
Und nun geschah das Sonderbare, daß sie zu meinem Gesichtspunkt überging. Dispute pflegen sonst nur einen jeden in seiner eigenen Überzeugung zu befestigen. Aber Helga ist zu ehrlich, um eine Anschauung festhalten zu wollen, wenn sie sich ihres Irrtums bewußt wird.
Die Frauen sollten darauf bedacht sein, nicht so viel voneinander, sondern etwas mehr von dem Manne zu verlangen.
Seit Helga die Augen aufgegangen sind, ist sie mir eine gute Stütze. Mitunter aber merke ich doch, wie tief diese Doppelmoral bei ihr eingewurzelt ist. Nach und nach wird sie sich ganz davon losmachen. Es ist nicht anders möglich. Sie ist grundehrlich und sieht ja alles im höheren Lichte.
Ich habe nicht umsonst gekämpft. Ich habe jetzt mein Ziel erreicht und sollte mich nun freuen und triumphieren. Max hat sich meinem Willen gefügt, und nun wird das Mädchen hierher kommen, um eine Zeitlang bei uns zu bleiben.
Max wünscht, daß ich sie mir ähnlich mache. Als ob man Vögel verschiedener Art sich gleich machen könnte! Nein, diesen Versuch mache ich nicht. Ich selbst verabscheue jeden Zwang und will um alles in der Welt nicht einen anderen in Ketten und Banden schlagen.
»Wirklich nicht?« sagt Max und lächelt wehmütig. »Aber mich hast du doch in Ketten und Banden geschlagen und alles getan, um mich zu einem anderen Mann umzuwandeln, als ich in Wahrheit bin.«
»Du hast unrecht, Max! Du hast sie erwählt, nicht ich. Wenn ich mit dir gekämpft habe, so ist es darum geschehen, weil ich wünsche, daß du dir selbst treu bleibst. Du bist doch in deinem innersten Wesen ein Idealist wie Viktor und dein Vater.«
»Ein Idealist! Ein Narr, der in der Welt nie etwas erreichen wird!« sagt Max in seiner mürrischen Weise, die aber mehr Gefühl verbirgt, als es den Anschein hat.
»Wer sein Leben in dieser Welt verliert, wird es erhalten, Max.«
Er blickte mich erstaunt an.
»Was? Bist du denn – –?«
Er findet den rechten Ausdruck nicht. Und ich weiß auch selbst nicht, woher mir die Worte kamen. Aber sie kamen vielleicht von dem Verkehr mit Helga. Sie sieht ja alles in einem höheren Licht.
Das Mädchen ist jetzt hier und fängt an, sich bei uns heimisch zu fühlen.
Wenn man sich auf einer Höhe befindet und zu einer anderen, die man auch besteigen will, hinüberblickt, dann sieht man den Weg sehr klar und hält ihn für sehr bequem. Wenn man ihn dann aber gehen soll und er sich so tief senkt, daß man weder die eine noch die andere Höhe sieht, wenn man sich an den Dornen ritzt und Hindernisse überwinden muß – dann wird der Weg mühsam und schwer. Aber man weiß keinen anderen Rat, als vorwärts zu streben, und die Erinnerung an das, was man von oben gesehen hat, als Leitstern zu nehmen.
Du armer Max! habe ich zuviel von dir gefordert? Aber ich habe es ja eigentlich nicht verlangt. Du konntest ja selbstverständlich nicht anders.
Ich kannte mich selbst nicht, als ich es auf mich nahm, den mühseligem Weg zu gehen. Wenn ich nur alles immer von höherer Warte aus sehen könnte, aber das geht nicht, wenn die alltäglichen Kleinigkeiten uns umgeben!
Wie meine Schwester war ich bereit, eine Frau zu empfangen, die nicht auf ihre Würde gehalten, sondern sie einem Manne preisgegeben hatte. Ich fühlte mich ganz erhoben bei dem Gedanken, ihr meine Hand zu reichen und keinen Unterschied zwischen uns anzuerkennen. Wer hätte aber ahnen können, daß meine schwesterlichen Gefühle daran Anstoß nehmen würden, daß meine Schwester sich auf die Knie schlägt, wenn sie lacht, daß sie mich vertraulich in die Seite pufft, daß sie das Messer in den Mund steckt, wenn sie ißt, und schlürft, wenn sie trinkt und dergleichen mehr.
Nie hätte ich geglaubt, daß ich soviel auf die äußere Politur gebe, aber das kommt vielleicht daher, weil ich dieselbe nie entbehrt habe. Man kennt sich selbst nicht. Aber man lernt, solange man lebt. Ach ja!
Der liebe, alte Doktor! Ich weiß kaum, ob ich lachen oder weinen soll, aber er sieht so verblüfft aus. Er kann scheinbar den Geschmack seines Sohnes in der Wahl seiner Frau gar nicht begreifen. Aber gut, wie er ist, versucht er, über ihre Manieren wegzusehen und nur ihr Herz in Betracht zu ziehen. Und ihr Herz ist wirklich golden.
Sie ist groß und stark und auf einem einsamen Felsen im Meer aufgewachsen. Sie hat etwas von der Frische des Meeres an sich, das ihr Aufenthalt in Stockholm zum Glück nicht verwischt hat.
Max machte ihre Bekanntschaft eines Sommers, als er sich an der See aufhielt. Und sie zog um seinetwillen nach Stockholm, wo sie eine Anstellung in einem Laden hat und sich von ihrer Arbeit ernährt. Sie fordert nichts von Max, nicht einmal ihren Unterhalt, für alles, was sie ihm gegeben, ihre Liebe und sich selbst. Sie ist freilich nur eine Frau und unter Frauen nur ein Fischermädchen, aber darum ist sie doch ein Mensch ebensowohl wie Max.
Wollte Max nur eine ärztliche Anstellung an der Meeresküste suchen, würde sie als seine Frau schon zu ihrem Rechte kommen. Tapfer und unerschrocken wie sie ist, würde sie mit ihm zu seinen Patienten auf den Inseln fahren können. Und da würde das Ungeschliffene in ihrem Wesen nur wie Kraft wirken. Aber in das Haus eines Arztes in einer Stadt, zu einem Gelehrten, wird sie schwerlich passen.
Aber es muß ja gehen.
Um Max zu verteidigen und seine Handlungsweise zu erklären, habe ich Vater unser Geheimnis verraten. Der alte Doktor und ich sind jetzt so vertraut miteinander, daß ihm mitunter ein Wort entfällt, das er sich kaum selbst gestehen mag. Ja, ich kenne ihn schon so gut, daß ich manchmal auch weiß, was er denkt, aber nicht ausspricht. So habe ich zum Beispiel bemerkt, was für eine Schlußfolgerung er daraus zieht, daß Max eine so merkwürdige Wahl in bezug auf seine Frau getroffen hat. Er sieht darin nur einen Beweis dafür, daß Max eine gemeine Natur ist. Und das peinigt mich. Jede Ungerechtigkeit schmerzt, besonders aber bei einem edlen Menschen. Ich weiß ja, was Max zuerst zu diesem Mädchen hinzog, und ich werde es auch Vater sagen, um so mehr jetzt, da ich deutlich merke, wie falsch er Max beurteilt.
Eines Tages, als Max' Braut – Ingrid heißt sie – drinnen bei uns gesessen und ungeniert mit uns geplaudert hatte, sah mich der Doktor an, als sie hinausging. Er sagte nichts, aber es lag eine Frage in seinem Blicke ungefähr wie: Kannst du Max begreifen?
»Sie hat ein sehr gutes Herz,« antwortete ich.
»Freilich. Aber es gibt mehr Leute, die ein gutes Herz haben, ohne daß ihnen deshalb alles andere fehlt,« sagte er, und ich verstand, daß er mich meinte.
Er hat vielleicht mehr von dem gesehen, was hier vorgegangen ist, als ich vermutete.
Um Max zu rechtfertigen, erzählte ich ihm jetzt alles.
Er sprach kein Wort, er sah mich nur mit einem unbeschreiblichen Blick an und legte seine Hand auf die meine, die auf der Armlehne seines Stuhles ruhte.
»Wildvogel! Wildvogel!« flüsterte er endlich. und es lag etwas in seinem Tone, das mich sehr glücklich machte, obschon es auch ein wenig vorwurfsvoll klang.
Jetzt fühlen wir uns mehr denn je zueinander hingezogen. Wir verstehen uns ohne Worte, empfinden und sehen alles in derselben Weise. Wenn ich mit jemandem in der Welt zusammengehöre, ist es gewiß der alte Doktor. Ehe ich mit ihm zusammengekommen war, lernte ich ihn in Viktor kennen und lieben. Und er ist es, zu dem ich mich in Max hingezogen fühlte, und den ich habe erretten wollen. Und nun habe ich ihm unser Geheimnis preisgegeben, um ihn mit dem, was von ihm selbst in Max lebt, zu versöhnen. Und jetzt wird er hoffentlich auch Max verstehen. Mein letzter Versuch, Vater und Sohn zu vereinen, ist mit Erfolg gekrönt worden. Dem Doktor tut sein Sohn jetzt leid, was früher noch nie der Fall war. Er bedauert Max, weil er auf Wildvogel verzichtet, aber er ist doch der Meinung, daß Max keine andere Wahl hat, als meinen Rat zu befolgen.
Kein einziger Flecken darf an meinem lieben Alten haften. Daher habe ich ihm auch nicht vorenthalten, daß der Hunger nach Liebe Max in die Arme des Mädchens getrieben hat. »Viktor und du, ihr hattet einander und außerdem alle anderen. Aller Herzen flogen euch zu, aber der arme Max hatte niemand. Ihr ließt ihn hungern; und in seiner Bitterkeit darüber suchte er mitfühlende Liebe und nahm sie da, wo er sie fand.«
Ich weiß nicht, woher mir die Kraft wurde, dir alles zu sagen, sogar, daß das finstere, mürrische Wesen, das Max so abstoßend macht, nicht in seiner Natur zu suchen ist, sondern in dem Unterschiede, den du seit seiner Kindheit zwischen ihm und Viktor gemacht hast. Wie fand ich die rechten Worte, daß du nicht unnötig verletzt wurdest?
»Wildvogel, hat er, der die Augen der Blinden öffnete, dir etwas von seiner Kraft gegeben? Du hast mir die Augen aufgetan, und ich sehe ein, welch großes Unrecht ich gegen Max begangen habe.«
Es ist kleinlich, aber recht gewöhnlich und sehr menschlich, glaube ich, Groll gegen jemand zu hegen, dem man unrecht getan, aber um so zu handeln, ist mein alter Doktor viel zu edel und demütig. Es tut ihm unendlich leid um Max, seit er eingesehen hat, welch lebenslängliches Unrecht er ihm, ohne zu wollen, getan. Und sein Bedauern umfaßt auch Ingrid. Es wird ihm jetzt gar nicht mehr schwer, über ihre ungebildeten Manieren hinwegzusehen. Die Tatsache, daß sie Max ihr Herz und sich selbst ohne jede Verpflichtung seinerseits gegeben und als Lohn nur Not geerntet hat, dünkt ihn hart. Und es ist ja auch nicht zu leugnen, daß eine gewisse Selbstlosigkeit dazu gehört.
Ich habe einen Einfall gehabt, auf den ich stolz bin, und der von Erfolg gewesen ist. Helga hat natürlich mehrere Schützlinge, und unter diesen auch zwei kleine Mädchen, die sie in kurzer Zeit in ein Waisenhaus senden will. Nun habe ich mir ausgedacht, die Kinder hierher zu nehmen, bis sie in das Waisenhaus aufgenommen werden können. Ich lasse die Kinder immer um uns sein und mit uns essen. Und was ich damit bezweckt, ist schon eingetroffen. Ihre Manieren erinnern nämlich zuweilen an diejenigen Ingrids, und da ermahne ich die Kinder. Mitunter ermahne ich sie wohl auch wegen kleiner Versehen, die sie eigentlich nicht begangen haben – wir nehmen es nicht so genau –, aber Ingrid hört es, und ich merke zu meiner großen Befriedigung, daß sie Verstöße, die ich bei den kleinen Mädchen getadelt habe, sich nicht mehr zuschulden kommen läßt. Sie ist gewiß bildungsfähig, und das ist ja sehr gut für Max.
Wer hätte es wohl geglaubt! Ingrid hat meine List durchschaut. Als ich es merkte, war es mir sehr peinlich, aber zugleich freute ich mich; denn es ist ein Beweis dafür, daß sie nicht dumm ist.
Sie ist rührend, demütig und offenherzig.
Erst gestern abend wies ich eines der kleinen Mädchen zurecht und sagte ihr, daß es nicht fein ist, sehr laut zu lachen. Ich finde natürlich wie jedermann, daß Kinder so laut lachen können wie sie wollen, aber ich wollte Ingrid auf ihr lautes Lachen aufmerksam machen. Und Ingrid verstand es. Sie saß schweigend und gedankenvoll da, und sobald wir wieder allein waren, blickte sie mich mit einem zaghaften Ausdruck ihrer treuherzigen Augen an. »Sag mir, bin ich sehr ungebildet?«
Ich war so bestürzt über diese direkte Frage, daß ich ganz aus der Fassung kam und keine Antwort finden konnte. Aber sie sah mich unverwandt an und las die Antwort in meinem Erröten.
»Vielleicht sollte ich Max nicht heiraten. Ich bin gewiß nicht fein genug für ihn. Mir kommt jetzt fast vor, als paßten wir nicht zueinander.«
Sie sagte das mit ihrer einfachen, erschreckenden Offenherzigkeit und noch dazu in fragendem Ton, gerade als ob sie eine Antwort erwartete. Aber ich konnte nichts sagen.
»Ich habe nie daran gedacht,« fuhr sie fort, »daß er sich mit mir verheiraten würde. Wir haben nie darüber gesprochen. Darum war ich auch furchtbar erstaunt, als er es vorschlug. Kurz vorher hatte er sich gar nicht um mich gekümmert. Aber froh wurde ich natürlich. Ich habe ihn ja furchtbar gern, und nun werde ich noch dazu eine feine Frau! Aber ich fürchte, ich bin zu gewöhnlich. Mir ist es vielleicht rein unmöglich, sein zu werden. Und Max ist doch an gebildete Damen gewöhnt. Wie wird er sich dann mit mir begnügen können?«
Während sie sprach, hatte ich mich wieder gefaßt. Sie hatte etwas unbeschreiblich Rührendes, und daher konnte ich sie von ganzem Herzen trösten. Ich sagte ihr, daß die wahre Feinheit im Herzen stecke, und wer sie besitze, der würde sich auch schon mit den äußeren Gebräuchen zurechtfinden. Die guten Sitten seien allerdings auch sehr wichtig, und daher möchte ich ihr gern einige beibringen, wenn sie es mir nicht übel nähme.
Sie lächelte ihr breites, gutmütiges Lächeln, ganz verwundert über die Vorstellung, daß sie von meinen Zurechtweisungen verletzt werden könnte. Und ihre Worte begleitete sie mit einem zärtlichen, ja, halb verliebten Blick. Ich glaube, die treue Seele verehrt mich wie ein höheres Wesen. Ich freue mich über ihre Zuneigung, denn dadurch wird meine Sache gefördert.
Möge Gott mir verzeihen, aber ich habe Ingrid absichtlich hinters Licht geführt. Ich sprach freilich die Wahrheit, wenn ich ihr auch sehr vieles vorenthielt.
Mit ihrer gewöhnlichen Offenherzigkeit erklärte sie, daß ich viel besser zu Max paßte als sie. Und als er sich eine Zeitlang von ihr zurückgezogen habe, hätte sie geglaubt, daß er sich in mich verliebt hätte. Obschon er ihr sehr wenig von seinen Familienverhältnissen mitteilte, hätte sie doch gewußt, daß sich eine junge Dame in seinem Elternhause aufhalte. Auch reiste er ja sehr oft nach Hause.
»Aber wußtest du denn nicht, daß ich seine verwitwete Schwägerin bin?«
»Doch, aber Witwen können sich ja wieder verheiraten?«
Und nun fing ich an, vom kleinen Viktor zu sprechen. Ihre treuen, blauen Augen füllten sich mit Tränen, während sie mir zuhörte. Und es wurde mir klar, daß ich Viktor sehr geliebt habe und daß ich ihn noch sehr liebe.
Das ist ja auch wahr, und man darf es mir nicht verdenken, daß ich die Tatsache verschwieg, wie es eine Zeit gegeben, in der Max sich meinetwegen von ihr abwandte und Viktors Lichtgestalt sich vor meinem inneren Blick zwischen den Engeln verbarg. Daß ich Platz für ein anderes Gefühl habe, als die himmlische Liebe zu Viktor, fällt ihr nicht ein. Sie vergöttert mich gar zu sehr.
Ließe ich sie ahnen, daß ich Maxens Frau geworden wäre, wenn sie nicht gewesen wäre, so wäre sie gewiß bereit, aus seinem Leben zu verschwinden und sich selbst aufzuopfern. Aber gerade, weil sie solch braves Mädchen ist, liegt mir mehr denn je daran, daß Max sie heiratet. Wäre sie aufdringlich und unverschämt und unreinen Herzens, dann würde ich meine Macht benutzen, um sie zu verdrängen. Wie sie nun aber ist, möchte ich es um keinen Preis. Daß er einem solchen Mädchen Gerechtigkeit widerfahren läßt, wird ihn nur veredeln. Verstieße er sie dagegen und bräche ihr das treue, selbstlose Herz, so würde ihm das zum Fluch werden.
Der schwer zu findende verworrene Weg unten im Gebüsch zwischen den beiden Höhen scheint zu steigen. Die Aussicht erweitert sich, der Pfad ist leichter zu finden und zu gehen, und bald kommen wir oben auf der anderen Höhe an.
Wenn Max und ich beisammen sind, benutze ich jede Gelegenheit, um ein gutes Wort für Ingrid einzulegen. Und das wird mir jetzt leicht, denn ich mag sie wirklich gern. Max merkt es und freut sich darüber. Er sieht sie mit denselben Augen wie ich. Er fängt an, mit seinem Schicksal, das er sich durch sein früheres Leben bereitet hat, auszusöhnen und sucht alles wieder gut zu machen und etwas von dem zurückzuerstatten, was er in gedankenloser Selbstsucht genommen.
Ja, so mußt du sein, Max! So gefällst du mir.
»Komm mal her, Wildvogel!« sagte Max.
Ich zögerte einen Augenblick. Er war gerade von Stockholm zurückgekehrt und hatte scheinbar etwas mitzuteilen. Ich meinte, er sollte es seiner Braut zuerst erzählen. Sie aber lächelte nur und fand es ganz natürlich, daß er mit mir allein sein wollte. Sie ist völlig frei von Eifersucht, und in ihrer Demut und Anspruchslosigkeit hegt sie ein wirklich rührendes Vertrauen zu uns. Ich ging also mit Max, denn ich merkte, daß er ungeduldig wurde. Vielleicht wollte er meinen Rat in irgend einer Angelegenheit hören.
Aber ein einziger Blick auf sein Gesicht sagte mir, daß es sich um einen schon gefaßten Entschluß handelte, ja, vielleicht um eine schon vollendete Tatsache, die er mir mitteilen wollte. Und das traf auch zu.
»Ich habe mich um eine Stelle als Bezirksarzt an der Küste beworben und habe sie erhalten. Was sagst du dazu, Wildvogel?«
Ich war sehr erstaunt und sah ihn an, um zu ergründen, ob er ein Opfer gebracht habe.
»Aber die Wissenschaft?« fragte ich.
»Die lasse ich fahren und werde mich der Praxis widmen wie Vater.«
»Und was hat dich so ganz und gar umgestimmt?«
»Verschiedenes. Du erinnerst dich vielleicht der Kaninchen in meinem Laboratorium?«
»Gewiß. Nun?«
»Die will ich nicht mehr quälen. Du brauchst also nie wieder vor meiner Grausamkeit zu schaudern.«
»Wirklich nicht!« Ich atmete erleichtert auf. Die Kaninchen hatten mir schwer auf dem Herzen gelegen.
»Und das ist's, was du mir sagen wolltest?«
»Ja, zum Teil. An die Küste paßt Ingrid am besten, nicht wahr? Das hast du doch immer gesagt, und ist sie einmal da, dann werde ich mich ganz von selbst wieder an sie anschließen.«
»O, wie bin ich glücklich und stolz auf dich, Max!«
»So? Na, dann ist alles gut,« sagte er sanft. Und wir kehrten ins Zimmer zurück.
Ich bin glücklich und stolz auf dich, Max, das ist wahr – aber dennoch!
Wie wird mir wohl zumute sein, wenn ich alles erreicht habe, wonach ich gestrebt, und wenn er sie wieder ganz lieb gewonnen und ich überflüssig bin? Denn so weit will ich's doch bringen. Ich will die Sache nicht halb machen. Ich will nicht, daß er sich mit Ingrid trauen läßt und mich im Herzen trägt. Nein, er muß sie lieben und mich vergessen. Aber ich will es nicht mit Augen sehen, ich will nicht daran denken. Ich wünsche, daß sich alles zu ihrem Besten entwickle; ich selbst aber will in dem Glauben leben, daß er sie um meinetwillen heiratet. Und seine Worte: »Dann ist alles gut« und den Ton, in dem er sie gesprochen, werde ich in meinem Herzen wie in einem Heiligenschrein aufbewahren.
Jetzt sind sie getraut, und Max hat seine Frau schon in sein Haus an der Küste geführt.
Und ich bin wieder allein mit meinem alten Doktor, aber ich fürchte, ich werde ihn nicht mehr lange behalten. Es liegt etwas in der Luft wie Aufbruch und Trennung. Das Künftige wirft seinen Schatten voraus.
Mein geliebter Doktor ist alt und sehr müde, aber so sanft und liebenswürdig. Sein Lebensabend gleicht einem klaren Sonnenuntergang über einem glänzenden Meer. Der Sonnenstreifen bildet eine breite, ununterbrochene glänzende Straße auf dem weiten Meer. Wildvogel sitzt auf dem Felseneiland und ruht in dem Sonnenstreifen.
Der Abend ist schön, aber für mich sehr wehmütig, denn mir steht bald ein langer Tag bevor ohne den lieben Alten.
Noch aber ist er da, noch darf ich mich mit ihm beschäftigen, mit ihm leben und seine letzten Schritte stützen, wie seine Mutter ihm die ersten stützte. Er strauchelt jetzt wie damals.
Helga kommt oft. Sie ist durch das Band mit uns vereint, das noch wichtiger ist als die Bande des Blutes. Es ist ein Stückchen Himmelreich auf Erden, wenn man mit denen zusammenkommt, die zu einem gehören. Solch ein Himmelreich gibt es nur für kurze Augenblicke in einem Leben, wo Tod und Trennung herrschen.
Der alte Doktor ist sich darüber klar, daß er bald abscheiden wird und macht jetzt seine Rechnung mit Gott und den Menschen.
»Du kannst auf ein rechtschaffenes Leben zurückblicken und guter Hoffnung sein,« sagte der alte Baron Sporre, und schneuzte sich laut.
»Mit unserer Rechtschaffenheit können wir nicht vor Gott bestehen; er fordert Vollkommenheit, aber es gibt eine Gnade, die vollkommen ist, und auf die hoffe ich,« antwortete der Doktor.
Max ist hier. Sein Vater hat sich so sehr nach ihm gesehnt.
»Max, mein lieber Junge, kannst du mir verzeihen, daß ich dich erst so spät verstehen lernte?«
Der arme Max! Er versuchte zu tun, als verstände er die Worte seines Vaters nicht und wollte sich hinter einem scheinbar gefühllosen Äußeren verbergen, aber es gelang ihm nicht, er verlor sehr bald die Selbstbeherrschung und brach in Tränen aus. Der große, starke Mann weinte wie ein Kind.
Sein Vater wurde blaß vor Rührung.
»Mein Junge, mein geliebter Max! Daß ich dich erst jetzt kennen gelernt habe! Aber warum hast du dich mir immer verborgen?«
So viel hörte ich von ihrer Unterhaltung. Da hielt ich es für richtiger, sie allein zu lassen. Kein Dritter durfte hören, was sie einander jetzt zu sagen hatten.
Noch einige Stunden, einige Worte, einige Atemzüge, und dann lautlose Stille, versiegeltes Geheimnis.
Wieviel ist da noch von dem geliebten Menschen, dem wir uns auf den Zehenspitzen nähern, und in dessen Gegenwart wir flüstern, zu dem wir uns hingezogen fühlen, und vor dem wir doch beben, das uns so bekannt und doch so unbekannt erscheint, und das wir in weißestes Leinen hüllen und in einem geweihten Raum in die Erde senken? Helga sagt, daß die zurückgelassene irdische Hülle eines Gottesmenschen der Eliasmantel sei, den der befreite Geist in dem Augenblick des Todes von sich wirft.
Die Sonne ist untergegangen, und der breite Sonnenstreifen auf dem Meere ist verschwunden. Es friert Wildvogel auf dem Felseneiland. Es ist öde, grau und kalt. Wildvogel hebt die Flügel zum Fluge hinaus in die Weite, in das hohe Blau der Trauer, wohin man durch eine Pforte düster rollender Wolken kommt.
Manche Bauer tun sich dem Wildvogel auf, warme, hübsche Bauer, auch ruhige und bequeme, aber Wildvogel hat Flügel und will sie brauchen.
Max und seine Frau wünschen, daß ich bei ihnen bleibe. Sie wollen mich als ihre Schwester bei sich haben. Auf der Inselburg will man mich auch als Schwester und Freundin behalten.
Ein Wildvogel aber hat seine eigene Art. Er kann sich wohl eine Zeitlang auf einem Zweig niederlassen, sich sogar in einem Neste ausruhen, aber dann muß dies Nest in schwankendem Wipfel, den blauen Himmel über sich, gebettet sein, und rings umher muß Licht und Freiheit herrschen. In einen Bauer geht Wildvogel nie!
Die Weite ist mein Nest, wo Erinnerungen, Trauer und unbekannte Schicksale meiner warten!