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F... ist ein Städtchen an der Weichsel, dessen Existenz die Königl. Preußische General-Post-Karte vom Großherzogtum Posen hinreichend verbürgt, sein Ruf jedoch als Kehilla Jüdische Gemeinde. ruht auf besserer, auf historischer Basis, seine Berühmtheit wurzelt in der Geschichte der Vorväter, wessen sich Kind und Rind in der ganzen guten Kehilla mit großem Stolze bewußt ist.
Es ist nämlich F. dieselbe Kehilla, in welcher vor hundert Jahren ein sehr berühmter Chason Vorsänger in der Synagoge., namens Ephraim Greidicker, wirkte, dessen »L'cho daudi« Bekanntes Lied aus der Freitagabend-Liturgie. noch heutigen Tages die Schlummer-Arie jedes echten Wiegenkindes in F. ist. Die Behörde könnte diesen rührenden Niggun Synagogale Melodie. als hinreichende Legitimation statt eines Geburtsattestes aus F. brauchen; mindestens steht es fest, daß jeder, dem diese sanften Töne fremd sind, eher gar nicht als in F. geboren sein kann.
Welch kaltherzigem Wesen diese eine historische Tatsache nicht Bürgschaft genug für die Berühmtheit unseres Städtchens ist, der wisse, daß vor etwa achtzig Jahren der »Maggid« Prediger, Redner. dort lebte, der, wie jeder Mensch aus F. bestätigen wird, »von Eck Welt bis Eck Welt nicht seinesgleichen hatte«. In der Erinnerung an ihn war es in F. zum Sprichwort geworden: »Wenn er Mussar Sittenpredigt. sagte, fingen die Ständers Betpulte. an zu zittern und bei seinem Hesped Leichenrede. haben alle Matzewes Grabsteine. geweint.« Darum war auch ein »Wörtchen« vom Maggid, Friede sei mit ihm, ein Honigseim für jedes Kehillakind. Wer dergleichen nicht mit Enthusiasmus aufnahm, mußte von Fremdlingen in der Gemeinde herrühren.
Ein drittes historisches Merkmal unseres Städtchens ist noch epochemachender zu nennen; denn nach diesem Ereignis wurde in Wirklichkeit gezählt. Das Ereignis war ein Brand, und zwar ein großer Brand, in welchem das ganze Städtchen vor etwa vierzig Jahren draufging. Nicht das Beshamidrasch Haus, wo der Talmud studiert wird., nicht die liebe heilige Schul Synagoge. blieb verschont, sogar das Haus des Herrn Bürgermeisters, das gar noch nicht nötig hatte abgebrannt zu werden, ging in der allgemeinen Zerstörung unter. Nur die Mikwe Tauchbad. – und das war das größte Wunder, das F. weltberühmt machte – blieb stehen und auch nicht eine einzige Schindel ihres Daches konnte vom Feuer angegriffen werden.
Als nach dem großen Elend dieses vielbesprochenen Brandes der ganze sicher prophezeite Reichtum der Gemeinde in den Geldern der Feuerassekuranz eintraf, wurde das Städtchen wiederum neu aufgebaut, und zwar in dem würdigen einfachen Baustil, der das Schöne mit dem Nützlichen verband und der ganzen Gemeinde die Uniform einer kleinen einstöckigen Kaserne verlieh.
Nur vier Gebäude machten eine Ausnahme. Die heilige liebe Schul wurde in einer Schönheit aufgemauert, derengleichen die Welt nicht gesehen hat. Man trieb die Pracht hierin gar so weit, sich die nah und fern berühmten »Schnitzler« aus Kempen kommen zu lassen, um den Oraun hakaudesch Schrein, in dem die Tora-Rollen in der Synagoge verwahrt werden. und Almemor Vorleserpult. mit vergoldetem Schnitzwerk zu versehen. Auch das Haus des Herrn Bürgermeisters zeichnete sich beim Neubau durch einen zweiten Stock aus, obgleich kein Mensch in F. begreifen konnte, wozu man sich eine Wohnung über der andern erbaut, um auf einer Treppe dort hinaufzusteigen, wenn man so bequem im Erdgeschoß wohnen kann. Doch der Bürgermeister tat es und die Gemeinde mußte schweigen. Nicht ganz so schweigsam verhielt sich die Welt in F., als sie sah, daß sich der Nogid Der reiche Mann. der Kehilla, Reb Noach Brall, auch ein zweistöckiges Haus aufrichtete. War er auch der Angesehenste in der Gemeinde und durch seinen Reichtum berechtigt zu allen äußerlichen Würden, so mochte man ihm doch diesen Luxus nicht verzeihen, zumal er bereits sechs Jahre kinderlos mit seiner schönen Frau Täubchen lebte und eigentlich nicht viel aus den vier Pfählen seiner Stube im Erdgeschoß herauskam.
Zeichneten sich diese drei Gebäude nach dem Brande zum Vorteil vor der Uniform des ganzen Städtchens aus, so machte die wunderreiche Mikwe, so hochgepriesen sie auch in der ersten Zeit war, eine seltsame und etwas sehr verfallende Ausnahme. Aber ihr Ruhm, der Ruhm einer von keiner Flamme antastbaren Mikwe, verblieb noch lange Jahre nach dem Brande und gehörte zu den Dingen, auf welche jedes Kind aus der Kehilla mit Recht stolz war.
Zu all den Berühmtheiten aber kam nach dem Brande noch der Umstand, daß die Gemeinde sich nach den üblichen großartigsten Parteikämpfen, die je eine Kehilla bei solcher Gelegenheit gesehen, entschloß, einen Rabbi zu wählen, der daselbst eine Jeschiwa Schülerkreis um den Rabbi. einrichtete. Die Stadt bevölkerte sich infolge dessen mit mehr als fünfzehn Bachurim Talmudschüler. und erhielt dadurch einen neuen erhabenen Glanz. Aus dem wieder auferbauten Beshamidrasch, das gegenüber der berühmten Mikwe stand, erhob sich demnach in der Zeit, in welcher unsere Geschichte spielt, ein Duft der Gelehrsamkeit über die ganze Stadt, so daß die Erhaltung der Bachurim, die der armen Gemeinde nicht eben leicht ward, doch ein freudiges Opfer war, das die frommen Einwohner gern zum Heil der Welt darbrachten.
Es war an einem sonnenhellen Nachmittag in der Mitte des tiefernsten Monats Elul Der dem Monat Tischri mit seinen hohen Festtagen, Neujahrs- und Versöhnungstag, vorangehende Herbstmonat., als zwei Bachurim allein im Beshamidrasch saßen, denn diese Stunde war eben nicht die des allgemeinen Studierens. Im Monat Elul, in der heiligen Zeit, in der das Schofarhorn schon mahnt an die Sünden der Menschen, war das Beshamidrasch in den einsamen Stunden der Nacht belebter als an den Nachmittagen. Heute besonders, an einem Donnerstag, gebot die Sitte der Jeschiwa, die Nacht hindurch gar fleißig zu lernen, so daß selbst der Rabbi erst spät gegen Mincha Nachmittagsgebet. in dieser Werkstatt seiner geistigen Produktionen erschien.
Die beiden heutigen Insassen dieser Stätte hatten zwar vor sich große Folianten aufgeschlagen, auch wiegten sie sich im andächtigsten Summen des Gemoro-Niggun Eigene Melodie, in welcher der Talmud gelesen wird. unter leichtem Schaukeln hin und her; allein die Bewegung ihres Oberleibes und das Summen ihres Gesanges würde auch den weniger Eingeweihten schon verraten haben, daß sie nicht über die schwierigen Probleme des Talmuds sannen, die bekanntlich nur unter den heftigsten Gestikulationen und Modulationen ans Tageslicht gefördert werden. Wer schärfer hinblicken konnte, würde sogar wahrgenommen haben, daß die Folianten nur zum Schein aufgeschlagen waren; denn der eine der Bachurim, ein kleiner Mensch mit dem blühenden Antlitz der Jugend, über dessen ansprossenden Bart noch nicht die »Zwickschere« gefahren, hatte ein paar geschriebene Blätter in jüdischen Schriftlettern vor sich, auf die sein Blick mit besonderer Glut geheftet war; und wenn er das Auge von dieser Schrift aufschlug, flog der Blick offenbar hinaus zum Fenster und drüben hinüber nach den sehr kleinen Scheiben der wunderbaren Mikwe.
Der zweite Bachur, älter als sein Genosse und von bleicherer und sorgenvollerer Gesichtsfarbe, schien noch minder andächtig dem Folianten zuzusprechen. Er hatte zwischen den Händen halb verborgen ein Buch von einer Kleinheit, wie es in Händen von Bachurim sonst selten ist; ein Buch, in das er sich sehr vertieft zu haben schien, und das offenbar sein höchstes Entzücken erregte, das er aber ganz unzweifelhaft um jeden Preis den Blicken eines Lauschers entziehen mochte; denn es war ein verbotenes Buch, es war – daß wir's nur sagen – es war gar ein Buch mit deutschen Lettern.
Daß sie trotzdem den äußern Anschein des Studierens in Bewegung des Leibes und in ihrer wehmütigen Singweise zu wahren trachteten, geschah ohne Zweifel nur, um einen unberufenen Lauscher zu täuschen und die Gedanken oder Gefühle zu verdecken, die ihre Seele erfüllten.
»Zempelburger«, begann der Jüngere nach einer Pause, in welcher er sorgfältig die geschriebenen Blättchen zusammenrollte und in seinem Ärmel verbarg, »siehst du sie?«
Der Zempelburger blickte mit seinen großen Augen von dem Buche auf und ließ dieselben hinüber auf die Scheibchen der Mikwe schweifen: »Ich hab' sie noch nicht gesehen; aber ihre Hand hat eben die Scheiben abgewischt. Sie wird kommen!«
»Golde wird kommen!« sagte der Jüngere, den wir nach Sitte der Bachurim ebenfalls nach seiner Vaterstadt, den Kosminer nennen wollen: »Golde wird kommen«, wiederholte er mit einem tiefen Seufzer; »von Vögele hab' ich noch keine Spur erblickt«.
Nach diesem kurzen Gespräch trat eine Pause ein, in welcher beide wieder in das Wiegen des Körpers und in den singenden Ton des Lernens verfielen, denn von draußen her in der schmalen Gasse, die sich zwischen Beshamidrasch und Mikwe hinzog, vernahm man den merkwürdigen Doppelschritt von Leeser Schlapp, einem Manne, der jahraus, jahrein wegen seines schlimmen Fußes stets in einem Stiefel und einem Pantoffel einherschritt, und der wegen seines bösen Mundes die gefürchtetste Erscheinung in der Gemeinde war.
Leeser Schlapp nahte wirklich und streckte sein Gesicht an die niedrigen Fenster des Beshamidrasch. Als beide Bachurim hierauf einen Augenblick innehielten und den gefürchteten Gast durch die Scheiben ansahen, verzerrte sich sein Gesicht zu einem bösen Lachen. »Da sieht man«, rief er laut hinein: »die heutige Welt! Die Bachurim sitzen im Beshamidrasch, aber sie lassen nicht einmal den Niggun vom Lernen hören!«
Unwillkürlich wollten beide, in ihrem Gewissen getroffen, diese Melodie hören lassen; allein an den kleinen Scheiben drüben in der Mikwe ließen sich im selben Augenblick, wahrscheinlich angelockt von Leesers Stimme, zwei jugendliche Gesichter blicken, deren Erscheinen die jungen Menschen wieder verstummen machte. Da jedoch die Gesichter schnell wieder verschwanden und Leeser immer noch auf die Melodie zu warten schien, hoben sie nun mit munterer Stimme und offenbar in aufgeregter Stimmung laut die Texte aus ihren Folianten zu rezitieren an und fuhren darin so kräftig fort, daß sie die schmähenden Worte Leesers nicht hörten, mit welchen er seinen merkwürdigen Doppelschritt in die Gasse hinein begleitete.
Wieder trat eine Pause ein, in welcher sie beide seufzend auf das wunderreiche Gebäude gegenüber hinblickten. Die Flammen in den Augen des jungen Kosminer waren dabei so gewaltig, daß man für das arme Häuschen hätte Gefahr darin erblicken können, stünde es nicht fest, daß gerade dieses mit Schindeln gedeckte Gebäude feuersicherer sei als alle Bauwerke der Welt.
Endlich nach langem Harren öffnete sich die niedrige Türe der Mikwe, und nicht Golde, sondern die schlanke Vögele trat aus derselben hervor. Das Angesicht des Kosminers verriet ein Entzücken, das nur die Liebe zu erzeugen vermag; jedoch gemischt mit einer Verlegenheit, die hinreichend zeigte, wie seine Liebe noch in jenem Stadium sei, wo sie nur erst stummer Anbetung und keines Wortes mächtig ist.
Offenbar machte Vögele Vorbereitungen, um ins Beshamidrasch einzutreten. Sie hatte in Papier eingewickelt, etwa ein Dutzend Talglichter in der Hand; diese legte sie auf den großen Stein vor der Mikwe nieder, der nicht minder berühmt war als die Mikwe selber. Der Kosminer sah nun in stiller Anbetung, wie Vögele gar züchtig das »Brusttüchel« von den Schultern abnahm, um ihren bloßen Kopf damit einzuhüllen; denn obwohl ihr nußbraunes Haar sich in einem fürstlichen Palaste nicht hätte zu schämen brauchen, gebot doch der fromme Anstand, daß sie nicht mit entblößtem Haupte ins Beshamidrasch trete, wo die Bachurim und die lieben heiligen Bücher waren. Das Brusttüchel verdeckte nun die zierlichen Flechten ihres Kopfes; aber es enthüllte eben dadurch halb die ärmlich gekleidete, überaus schlanke und liebliche Gestalt des jungen Kindes.
Der Zempelburger ließ den Kopf tief in seinen Folianten sinken. Es war heute nicht Golde, wie er mit der ganzen abergläubischen Zuversicht der Liebe erwartet hatte; es war Vögele, die herüberkam. Mit einem tiefen Seufzer begann er seinen Text laut zu rezitieren, während der Kosminer mit Herzpochen die Tritte der Herüberschreitenden zählte und bei ihrem wirklichen Eintritt in das Beshamidrasch aufsprang, um ihr in glühendster Verlegenheit entgegenzutreten.
»Bochur«, sagte Vögele mit weit geringerer Verlegenheit zu dem vor ihr Stehenden: »Da sind die Hälfte der Lichter für das Beshamidrasch. Sie sind heut ein bißchen spät fertig geworden.«
Der Kosminer streckte seine Hand aus, um die Lichter zu empfangen; unwillkürlich berührten sich die Finger des jungen Paares. Dem Kosminer wurde so wunderbar hierbei zumute, daß er sofort vergaß, was er sagen wollte; nur mit Stottern vermochte er die Worte hervorzubringen:
»Vögelche, Ihre Hand« – –
»Ist trefe Ungenießbar im Sinne der jüdischen Speisegesetze, hier wegen des daran haftenden Talgs.« – fiel ihm Vögele schalkhaft schnell ins Wort, indem sie ihre in der Tat von den Talglichtern glänzenden Finger dabei besah.
»O nein, bewahre!« rief der Kosminer in bitterster Verlegenheit und im Tone halber Verzweiflung aus, denn ihm schwebte etwas ganz anderes vor, was er sagen wollte. Gewiß hätte er auch noch das richtige Wort dafür gefunden, wenn ihm Vögele nur Zeit gelassen hätte; allein diese hatte offenbar noch etwas anderes zu bestellen. Sie blickte mit einem ebenso klugen als schalkhaften Blick auf den Zempelburger, der seinen Kopf noch immer hinter den Folianten verbarg, und sagte mit etwas lauterer Stimme: »Die anderen Lichter wird Golde bald herüberbringen!«
Der Kosminer stand noch in seiner tiefsten Betroffenheit da, als Vögele schon wieder zur Tür hinausgetreten war und der Zempelburger auf ihre letzten Worte den Folianten von sich schob und mit einem frohen Antlitz an die Seite seines Kollegen und Liebesgenossen trat.
»Kosminer!« rief er leise, »hast du gehört? Golde wird noch kommen! Siehst du, Bruder, das ist heute ein maseldiker Glückhafter. Tag!«
»Ein maseldiker Tag?« entgegnete ihm der Kosminer mit einer heftigen Bitterkeit, die an Verzweiflung grenzte. »Ein maseldiker Tag? vielleicht für dich; für mich ist er schrecklich!«
»Wie?« fragte der Zempelburger erstaunt, »bist du nicht sinnig? Hast du nicht da eben mit deinem Vögelche gesprochen?«
»Nein«, unterbrach ihn der Halbverzweifelte; »sag nicht: mein Vögelche, sag nicht, ich hab' mit ihr gesprochen, ich wollte ihr was sagen, was ich mir schon tausend, tausendmal vorgenommen; aber sie will es nicht hören, sie will von mir nichts hören!«
Mit diesen Worten warf er sich auf die Bank und ließ seinen Kopf auf den Arm sinken, um die Flammen seines Antlitzes und die aufsteigenden Tränen in seinem glühenden Auge zu verbergen.
Der besonnene Zempelburger setzte sich begütigend neben ihn hin und legte ihm die Hand auf die Schulter: »Schaute Tor.«, raunte er ihm in besänftigendem Tone zu: »Was willst du denn? Sieh nur, ich hab' Golde noch nicht gesehen und bin doch ruhig und glücklich; du aber hast doch mit Vögelche gesprochen.«
»Ich gesprochen?« fuhr der Kosminer auf: »Ich hab' sprechen wollen, ich hab' ihr sagen wollen –«
»Ich weiß, was du hast sagen wollen.«
»Nein, du weißt nicht!«
»Ich weiß –«
»Nein!« rief der Kosminer mit Heftigkeit. »Ich hab' ihr sagen wollen: ›Vögelche, Ihre Hand macht lichtig das Beshamidrasch!‹ Aber sie läßt mich nicht reden, und ich hab' ihr noch nichts, gar nichts gesagt! Du bist glücklich, du kannst reden; Golde weiß, wie du sie liebst. Ich bin der unglücklichste Mensch auf der Welt!«
»Versündige dich nicht, Kosminer«, begütigte der Freund; aber der Unglücklichste aller Menschen fiel ihm im Tone der leidenschaftlichsten Gereiztheit ins Wort:
»Versündigen! Ich will mich versündigen! – Ihre Hand trefe?« Er schüttelte so bitter den Kopf verneinend dabei, daß jede seiner krausen Peies Stirnlocken. ein verzweifeltes: Nein! zitterte. »Gott, Gerechter! – Zempelburger! sieh her!« setzte der Unglücklichste der Menschen in plötzlicher Wendung hinzu, indem er aus seinem Ärmel das zusammengerollte Manuskript hervorzog und vor den Augen seines Genossen emporhielt, »sieh her, ich bin so verzweifelt wie Kotzebue!«
Wer jemals geliebt und mit jugendlicher Leidenschaft geliebt, und in ähnlicher Lage, wie unser armer junger Mensch, von dem Bewußtsein geplagt worden ist, der Geliebten, trotz der tausendfältigsten Vorbereitungen, dennoch nicht das richtige Wort der Liebesnot geklagt und gesagt zu haben, der wird die Verzweiflung natürlich oder mindestens verzeihlich finden, die unsern armen Helden erfaßt hatte, als er die vielfach überlegte Galanterie in dem rechten Moment nicht über die Lippen bringen konnte, ja sogar durch sein Stocken und Stottern den bittern Irrtum in der geliebten Vögele erzeugte, daß er auf ihre durch ein wenig Talg »trefe« gemachte Hand anspielte.
Wer aber noch außer in der Liebe in der deutschen Literatur bewandert genug ist, um zu wissen, daß der selige Kotzebue ein ganz verzweifeltes Phantasie-Gedicht geschrieben, das unter dem Namen »Kotzebues Verzweiflung« in den zwanziger Jahren sprichwörtlich war, der wird unsern Helden noch besser verstehen, wenn wir hinzufügen, daß sich gerade dieses verzweifelte Gedicht in damaliger Zeit auf einem nicht mehr zu ergründenden Wege bis in die Kreise aller jüdischen jungen Menschen verirrt hatte, und daß die sehr zerlesene Papierrolle, welche der Kosminer eben in der Hand hielt, eine Abschrift dieser großen »Verzweiflung« in jüdisch-deutschen Lettern war, die der Arme unzähligemale durchgelesen, sooft ihm der Gedanke nahekam, daß Vögele am Ende gar nichts davon wisse, wie sehr er sie liebe.
Der arme Kosminer fühlte in der Tat, daß seine Verzweiflung so unendlich sei wie die Kotzebues, und eine größere Verzweiflung konnte es wohl auch in der Welt nicht geben.
Auf das Gemüt des gefühlvollen, aber doch besonnenem Zempelburger machte dieser Ausbruch einer verzweifelnden Liebe einen tiefen Eindruck. Denn der Zempelburger war ebenfalls noch nicht in der Liebe zu Golde so weit gekommen, ihr sein ganzes Herz auszuschütten, und obwohl er in der deutschen Literatur durch günstigere Umstände bis in Schillers »Kabale und Liebe« hineingeraten und dies das kleine Buch war, welches er – Gott verzeihe ihm – eben bei der offenen Gemoro Hauptteil des Talmud, häufig Bezeichnung des ganzen. gelesen, so war er doch gleich vielen seiner Zeitgenossen fest überzeugt, daß im Punkte der verzweifelten Poesie Kotzebue die höchste Stufe der Vollendung erreicht habe, und daß somit der Zustand seines Freundes ein höchst bemitleidenswerter sein müsse.
Eine kleine Weile verging, bevor er einen Trostgrund ausfindig machen konnte. Sie hatte den Vorteil, daß die Leidenschaft des Kosminer inzwischen den Gipfelpunkt überschritt und ihn empfänglicher für die sanfte Zurede seines Freundes machte.
»Kosminer«, sagte dieser, »sei ruhig. Ja, geh du lieber jetzt weg. Golde wird bald kommen, und wenn ich mit ihr allein bin, kann ich mit ihr reden. Ich will ihr dann sagen, was du hast Vögelche sagen wollen, und die gute Golde hat ihre Schwester so lieb, daß sie es ihr gewiß wieder erzählen wird. – Geh«, setzte er nach einer Pause hinzu, »sei nicht so verzweifelt. Ein Jüd darf gar nicht so verzweifeln, wie der Goi Nichtjude..«
Der arme verliebte Kosminer mochte das Richtige dieses Vorwurfs ebenso fühlen, wie er mit Dank den Liebesdienst empfand, den ihm der Freund zu erweisen trachtete. Er steckte daher, nachdem er sich aufgerichtet und noch einen Blick auf die wunderreiche Mikwe geworfen, Kotzebues »Verzweiflung« mit etwas weniger bewegtem Gemüte in die Tasche, drückte dem Freunde die dargereichte Hand mit einer Innigkeit, als ob es die geliebte Hand wäre, welche das Beshamidrasch lichtig macht, und entfernte sich aus den geweihten Räumen, die heute etwas seltsame Szenen in sich fassen sollten.
Der getreue Zempelburger hatte kaum wieder seinen Folianten vorgenommen, der ihm als Schutzmauer für seinen verbotenen Genuß von »Kabale und Liebe« dienen sollte, als drüben die Tür des Wunderhauses sich wieder öffnete und – o Seligkeit! – die kleinere, aber schönere Golde daraus hervortrat. Auch sie hatte ein Päckchen Talglichter in der Hand. Auch sie knüpfte sich das Tüchel, welches ihren vollen Busen verhüllte, in frommer Andacht über den Kopf, dessen schwarze Haare die natürlichsten Locken in der Welt bildeten. Auch sie kam leicht herübergeschritten, und eher noch, als der gute Zempelburger es vermutete, stand sie im Beshamidrasch und reichte ihm die Lichter hin.
Die Leidenschaft des Zempelburgers war nicht so überstürzend; aber als er der guten Golde in das blühende Antlitz sah, vergaß auch er das Wort, mit dem er sie hatte anreden wollen. Goldes Augen leuchteten, ihr Herz wogte: aber auch ihr Mund war stumm. So kam es denn, daß sich beide im vollen Bewußtsein ihrer Liebe eine Weile schweigend gegenüberstanden und nur die Blicke sprechen ließen, die freilich in tausend Fällen dieser Art beredt genug sind.
Eben wollte der Zempelburger seine Anrede mit den Worten: »Liebste Golde« beginnen, als wiederum durch dieselbe Scheibe die Stimme Leeser Schlapps wie ein Donnerschlag über sie hereinfuhr.
»Ein schöner Steiger Art und Weise.«, rief er. »Heißt eine Welt! Fünfzehn Bachurim hält die Kehilla aus und man hört keinen Niggun vom Lernen, und guckt man sich im Beshamidrasch um, sind so viel Mädchen darinnen wie Bachurim!«
Die arme Golde stand bei diesen Worten wie versteinert; erst nach einer Weile konnte sie sich so weit fassen, daß sie zur Tür hinausschlüpfte. Aber draußen stand noch immer Leeser Schlapp und schimpfte auf die Bachurim und die heutige Welt. Wie die Arme die Tür der Mikwe wieder erreichte, wußte sie selber nicht recht. Drinnen aber ballte der Zempelburger die Faust und rief eingedenk der Verzweiflung seines Leidensgenossen aus: »Unsere heiligen Chachomim Die Weisen (die Lehrer der Vorzeit). haben recht: ›Verurteile deinen Nächsten nicht, als bis du in seiner Lage bist.‹ Ich möchte – Gott bewahre und beschütze mich! – auch verzweifeln wie Kotzebue.«
Wir verlassen die Stätte so grausiger Verzweiflung und wollen uns in das Gebiet der wunderreichen Mikwe etwas näher hineinwagen.
Der einzige Bewohner dieses Wundergebäudes war derjenige Mann, der gegen eine geringe Pacht seit fünf Jahren die Nutznießung der Mikwe hatte, die eigentlich das Eigentum der Kehilla Jüdische Gemeinde. war. Er führte den Namen Reb Chaim Mikwenitzer oder schlechtweg: der Mikwenitzer. Er war der Vater der beiden genannten Mädchen, deren nähere Bekanntschaft wir noch machen werden; und auch die wurden nach dem Stand des Vaters benannt. Golde Mikwenitzer und Vögele Mikwenitzer waren die gebräuchlichen Bezeichnungen, unter welchen diese Kinder, fast möchten wir sagen, berühmt waren.
Denn daß wir es nur gestehen: der Mikwenitzer war nicht etwa bloß wegen seines Wohnsitzes und Gewerbes ausgezeichnet, sondern in seiner und in der Person seiner Kinder vereinigte sich eigentlich alles, was zur historischen Berühmtheit des Städtchens gehört. Der Mikwenitzer war ein direkter Enkel des großen Maggid, seine selige Frau war eine ebenso in gerader Linie abstammende Urenkelin des großen Chason, dessen wir eingangs unserer Erzählung schon ruhmvoll gedachten. Über den Häuptern der beiden Mädchen vereinigten sich demnach die Dioskuren, Kunst und Wissenschaft, als Stammväter, und ginge es in dieser Welt nach der Gerechtigkeit, so würde dieser Jichus Nobilität. der Kehilla nicht in so trüben und engen Verhältnissen leben dürfen, als es zur Zeit geschah.
Reb Chaim war aber auch das Opfer einer großen politischen Maßregel, und das muß ihm in unsern Augen eine besondere Glorie verleihen. Sein Unglück datiert aus den Zeiten der Gesero Verhängnis, Entscheid (meist im Sinn eines bedrückenden)., die der Staatsminister von Altenstein, ohne zu ahnen, welch ein Geschick er unserm Reb Chaim bereitete, über ihn verhängt hatte.
Ungefähr fünf Jahre vor dem Brande hieß Reb Chaim noch nicht der Mikwenitzer, sondern man nannte ihn nach dem großen Ahn: Reb Chaim den Maggids, wie man sein Weib Täubchen mit dem Zusatz die Chasentes bezeichnete. Reb Chaim war der Melammed Lehrer. der Gemeinde und lebte in Ehren und Würden, ohne jemals im Leben dem Staatsminister von Altenstein irgend etwas Übles zu wünschen. Da kam mit einem Male die große Gesero wie ein Donnerschlag von Berlin direkt nach F. Der Minister von Altenstein ließ sich's nicht ausreden, er verlangte: Reb Chaim den Maggids soll ein Lehrerexamen machen; wo nicht, so soll ihm sein Cheder Jüdische Schule. geschlossen werden.
Ein ganzes Jahr verging hierauf noch unsrem Reb Chaim in der festen Hoffnung, daß solch eine Gesero, wenn es auch Geseras hamalchus Behördliche Verordnung. war, nimmermehr Bestand haben könne. Aber diese Hoffnung und noch viele andere waren trügerisch. Vergebens erwarb er sich die Protektion des Wachtmeisters, der alles in allem war beim Bürgermeister. Der Wachtmeister war durchaus auf Seite Reb Chaims und erklärte oft genug bei einem Schnäpschen, das er sehr gnädig annahm, seine eifrigste Gegnerschaft gegen den Minister von Altenstein. Es wird versichert, daß sich dieser edle Wachtmeister für die Sache Reb Chaims in die Länge und in die Breite legte vor den Bürgermeister; ja es ist eine in der ganzen Kehilla feststehende Tatsache, daß sich auch der Bürgermeister zu gleichem Zweck in die Länge und in die Breite legte vor den Landrat. Es wird sogar hinzugefügt, daß sich selbst der Landrat für die gerechte Sache Reb Chaims in die Länge und in die Breite gelegt vor die Regierung, ja die ganze Bromberger Regierung soll sich, der Sage nach, in die Länge und in die Breite gelegt haben vor das Ministerium. Und doch! Altenstein blieb Altenstein, und die Gesero blieb Gesero, und eines traurigen Tages wurde der Cheder trotz der offenbarsten Empörung der ganzen Kehilla geschlossen.
Reb Chaim tat da zum ersten Male seinen Mund auf zu einer Schmähung seines größten Feindes. »Er ist« – sagte er mit Anspielung auf dessen Namen – »er ist ein ›Ewen Negef‹, ein Stein des Anstoßes für die alte Jüdischkeit.«
Das Opfer der Gesero war sehr übel daran, und Täubchen, der zarte Sproß aus dem Hause des großen Chason, überlebte den Schmerz nicht lange. Sie starb in noch jugendlichem Alter und hinterließ ihn und die beiden Töchter der Vorsorge Gottes, auf die sie ihn noch in der letzten Stunde ihres frommen Daseins verwies.
»Chaim«, – das waren ihre letzten Worte: »gedenk an dein Weib! Dir wird noch beistehen das Verdienst der Vorväter, Du wirst noch beglückt werden durch diese Kinder!«
Und in der Tat, gerade nach dem großen Brande nahm es den Anschein, als sollte sich die Prophezeiung der Sterbenden schnell verwirklichen. Von der ältesten Tochter Golde, damals zehn Jahre alt, sagte die ganze Welt in F., daß sie die Anmut und die schöne Stimme von dem Eltervater, dem Chason, geerbt; Vögele, damals acht Jahre alt, sang auch recht lieblich und sekundierte der älteren Schwester, die das ganze Chasonus Bestand an synagogalen Melodien. mit meisterhafter Virtuosität ausführte, wie der schönste Fistelsinger der Synagoge; der vornehmliche Wert Vögeles aber bestand in ihrem hellen Verstand, ihrer muntern Laune, ihrer Lernbegierde und ihrem Talent der Rede, das ihr den Ruf zuzog: sie sei der wahre Maggid.
»Wären es nur Jungens!« pflegte Reb Chaim im stillen zu seufzen! Aber seine Freude hatte er doch daran, wenn Reb Noach Brall oder sonst ein reicher Mann aus der Gemeinde die Kinder holen ließ, um sie aus dem Machsor Festgebetbuch. vorbeten zu lassen; denn ihr Virtuosentum wurde ihnen gut belohnt. Sie brachten oft Geldstücke heim, die die Familie vor Not schützten.
Besonders wohltätig erwies sich ihnen Täubchen, Reb Noach Bralls Weib. Diese Namensschwester der verstorbenen Mutter der Kinder hegte eine große Zärtlichkeit für die Waisen. Die schöne kinderlose Frau war die Gutmütigkeit selber, und ihr, der reichen Frau, verdankte zumeist die unglückliche Nachkommenschaft aller Größe der Vorväter, das Stückchen traurige Existenz.
Der große Brand schien nun gar eine glückliche Epoche in dieser Familie herbeizuführen. Die Obdachlosigkeit der ganzen Gemeinde erregte die Teilnahme aller nahen jüdischen Gemeinden der Gegend. Man nahm die »Abgebrannten« gerne bei sich auf und leistete ihnen mit wahrhaft jüdischem Herzen treue Liebesdienste. Auch Reb Chaim zog in der Gegend umher. Eine in hebräischen Versen abgefaßte Bescheinigung seiner edlen Abstammung, wie daß er abgebrannt sei – worin beiläufig der ganze Brand des Städtchens mit allen möglichen und unmöglichen Schrecknissen höchst poetisch geschildert war –, verschaffte ihm Zuspruch in reichen Häusern; das Märtyrertum, das der Minister Altenstein ihm bereitete, gewann ihm die Liebe aller Frommen, die diesen Minister mit seinen Erziehungsplänen für einen »Stein des Anstoßes« hielten. Der liebliche Gesang seiner Kinder entzückte in den Kehillaus die heitersten Abendgesellschaften und verschaffte ihm Einnahmen, zu welchen er sich bei seiner Schule nicht hatte erheben können.
In der Tat war es ein seltener Genuß, die kleine runde Golde aus dem Machsor Mussaf Jom Kippur Hauptstück der Liturgie des Versöhnungstags. singen und die schlanke Vögele ihr »zuhalten« zu hören. Wenn Golde mit der innigsten Schwärmerei die runden Händchen an die vollen Backen wie der beste Chason drückte und den »Unßane Taukef Gebetstück.« mit voller Stimme absang, oder wenn die muntere Vögele ein schalkhaftes Niggunchen zum »Hajaum teamzenu Fröhliches Gebetstück.« abfistelte, war es ein Ergötzen für alt und jung, und es regnete Kupfer- und Silberstücke als Honorar, so daß Reb Chaim oft dachte: es sei doch zum Guten, daß die Mädchen keine Jungen sind.
Nur wenn das lustige Vögele ihr besonderes Kunststück bewies und aus dem Zeno ureno oder dem Simchas Nefesch oder Tam wejoschor Moralisch-religiöse Werke in jüdisch-deutscher Sprache, vorwiegend von Frauen gelesen. mit einer Virtuosität und einem Ausdruck Vorträge hielt, die alle Weiber zum Schluchzen und alle Männer zur Verwunderung hinriß und die gemeinsame Kritik sich darin vereinigte: »Ja, sie ist ein wahrer Maggid!«, nur dann erwachte der Ahnenstolz in Reb Chaim, und er sagte mit gerührtem Schmerz: »Ich will mich nit versündigen gegen Hakodausch boruch hu »Der Heilige, er sei gesegnet«, Gottesbezeichnung in der alltäglichen Rede. aber mein Vögelche hätte doch müssen ein Jung sein.«
Volle fünf Jahre waren so nach dem Brande vergangen. Reb Chaim hatte auf seinen Kunstreisen gute Zeiten und kam nur zu den »Jahrzeiten« Sterbetagen. seiner Eltern und seiner frommen Frau nach F. heim. Da griff denn wiederum das Schicksal etwas gewaltsam in sein Leben ein und machte dem öffentlichen Virtuosentum der Kinder mit einem Male ein Ende.
Diesmal hieß das Schicksal nicht Altenstein; es war der neue Rabbiner in F., der nach dem Brande und dem Wiederaufbau des Städtchens daselbst aufgenommen ward.
Dieser, der fromme und bewährte Reb Jizchak Reb Simchas, ließ Reb Chaim zu sich rufen und sagte ihm nach einem sehr lehrreichen »Wörtchen« und einigen gut »geteutschten« Bibelversen und »zurechtgemachten« Midroschim Homiletische Schriftdeutungen., daß es keine Art und Weise sei, wenn seine Mädchen, die jetzt bald heiratsfähig würden, so herumwandern durch die Welt, um vor Jungen und Balebatim Hausväter. zu singen. »Ihr wißt«, schloß er seine Ermahnung, »die Stimme eines Weibes ist Verführung. Eure älteste Mad ist schon in Jahren, wo sie nicht immer so mit dem Machsor umgehen darf; und Euere zweite Mad, höre ich, will ein ganzer Lamdon Gelehrter. sein. Nun, Reb Chaim, Ihr seid doch ein schöner Jüd, vergeßt Ihr denn, was unsere Chachomim Die Weisen, besonders die des Talmud. gesagt haben: ›Wer seiner Tochter Gelehrsamkeit beibringt, lehrt sie Unzucht‹?«
Reb Chaim war hierüber nicht minder bestürzt als über Altensteins merkwürdigen Eigensinn; allein darüber war er keinen Augenblick zweifelhaft: der Rabbi war gerecht, wie Gott gerecht ist. In Reb Chaims Seele waren schon dieselben Zweifel aufgestiegen.
Noch vor Mincha Nachmittagsgebet. desselben Tages war der Entschluß Reb Chaims bekannt, fortan nicht mehr die Gemeinde zu verlassen. Dies steigerte die Teilnahme für ihn bei jung und alt. Man lobte den Beschluß und noch mehr die Motive. Selbst Leeser Schlapp, der nichts ungehöhnt lassen konnte, glaubte dem armen Reb Chaim sein Mitleid ausdrücken zu müssen. »Nu, Reb Chaim«, sagte er, »mit Euerer Golde werdet Ihr kein Gold mehr machen, und mit Euer Vögele werdet Ihr nicht mehr ausfliegen. Ihr seid mir ein Rachmonus Gegenstand des Erbarmens.!«
Mit schwerem Gemüt ging Reb Chaim heim. Die Gastfreundlichkeit von Reb Noach Brall hatte den zweiten leerstehenden Stock seines Hauses der Familie, die nur vorübergehend nach F. zu kommen gedachte, eingeräumt.
Aber als der Vater hier den beiden Mädchen seinen Entschluß bekanntmachte, entstand eine lebhafte Szene. Mit der frommen Golde, die in einem Alter von fünfzehn Jahren das Gefühl für Schickliches und Unschickliches schon tief empfand, ward er sehr bald fertig. Mit der dreizehnjährigen Vögele gab es einen harten Strauß. Sie kämpfte wie ein wahrer Maggid mit allen Mitteln der Dialektik und ihrer reichen Gelehrsamkeit aus allen Werken der jüdisch-deutschen Literatur gegen die Argumente des Rabbi und ließ in ihrer Rede Streiflichter des Geistes über den Beruf der Frauen hören, die einer George Sand würdig waren. Sie sprach mit einer so glänzenden Beredsamkeit, daß der Vater nicht nur verstummt vor Verwunderung dastand, sondern sich in seinem Herzen sagte: man müßte eigentlich einen Fasttag darüber verhängen, daß kein Mensch diese gescheiten Reden hört. Aber er irrte, der gute Reb Chaim; Vögeles Rede hatte eine Zuhörerin, eine begeisterte Zuhörerin.
Die reiche Täubchen Reb Noachs war aus gutmütiger Teilnahme hinaufgestiegen in den selten besuchten zweiten Stock ihres Hauses und hatte an der Tür den lebhaften Streit belauscht. Man sagt, kinderlose Frauen hätten eine ganz besondere Vorliebe für Ideen, die an Emanzipation des Weibes streifen. Ob dies der Grund war, daß die gute Täubchen ganz berauscht ward von Vögeles Argumenten, wissen wir nicht; so viel aber steht fest, daß sie, als Vögele mit dem vollsten Siegesbewußtsein ihre Rede endete, die Tür weit aufriß und das Kind mit einer Herzlichkeit in die Arme schloß, daß allen miteinander die heißen Tränen in die Augen traten.
»Komm her, du Herz-Vögele«, rief die begeisterte Täubchen, »komm du Weiber-Maggid! Gott, gelobt sei er, hat dich gebenscht Gebenedeit, gesegnet. von Kopf bis Fuß. Du hast da geredt, daß du mögst in Erez Jisroel darschenen In Palästina predigen.. Aber der Rabbi ist doch gerecht. Du darfst nit mehr so in der Welt herumwandern. Du mußt lernen ein Haus führen, Stricken, Nähen, Kochen und Backen, damit du einmal eine Balboëste Hausmutter. wirst, die Chen Gunst. findt in den Augen Gottes und den Augen der Menschen. Darum geb dich zufrieden, und nun kommt alle hinunter, wir wollen mit mein Reb Noach die Sachen weiter überlegen.«
Es geschah also. Bis tief in die Nacht hinein hatte die Beratung gewährt. Ihr Resultat war, daß Reb Chaim einen neuen Lebensplan ergriff. Seine und seiner Kinder öffentliche Laufbahn war hiernach beendet; seine Wirksamkeit sollte sich auf ein stilleres Gebiet zurückziehen, als sonst, wo er sich in den höheren Kreisen der jüdischen Gesellschaft in Schubin, Kosmin, Margonin, vornehmlich aber im unvergeßlichen Wronke und ähnlichen Mittelpunkten des Kehilla-Daseins bewegte. Er wurde auch in der Tat, durch den siegreichen Einfluß des Reb Noach, der »Mikwenitzer« Tauchbad-Verwalter.. Diesem Einfluß verdankten die Mädchen auch die ausschließliche Berechtigung, die Talglichter für das Beshamidrasch und die Schul zu ziehen. Sie betrieben zugleich fleißig Handarbeiten nach der Anleitung, die ihnen die fromme Täubchen gab, und verdienten sich damit manchen Groschen, welcher der Familie zugute kam. Ihre Dienstleistungen in der Mikwe Tauchbad. endlich wurden ihnen gerne von allen vermögenden Frauen mit einem Geschenk belohnt; denn der Chen Anmut. dieser zwei Mädchen ward einstimmig anerkannt, und hatte man auch fortan nicht Gelegenheit, öffentlich den Glanz des unsterblichen Chason in Golde und den Ruhm des unsterblichen Maggid in Vögele zu bewundern, so konnte man doch ihr Herkommen nicht ganz außer acht lassen. Es stand vielmehr bei aller Welt fest, daß die Mädchen nur so blühend und lieblich seien, weil ihnen »Sechus Owaus«, das Verdienst der Voreltern, beistehe.
So waren denn wieder fünf Jahre bis zur Zeit, wo unsere Geschichte spielt, vergangen. Wir wissen nun, daß der Besuch der Mädchen im Beshamidrasch seinen guten Grund hatte, und daß man diesen nur sehr entfernt die Schuld beimessen kann, in unsern zwei Bachurim eine so grenzenlose, wahrhaft Kotzebuesche Verzweiflung erzeugt zu haben.
Aber auch daran, daß die Lichter heute etwas später als sonst fertig geworden, hatten sie nicht schuld, sondern der Umstand, daß in der Mikwe heute ein Badegast oder richtiger eine Badegästin um einige Tage früher angekündigt wurde, als es nach Berechnung Reb Chaims zu vermuten stand; und zwar eine Badegästin, die der beste und der liebste Kunde in diesem Hause war.
Daß Täubchen Reb Noach Bralls der beste Kunde der Mikwe war, das war – wie Reb Chaim schon vor längerer Zeit über den »Sch'loh hakodausch« Ein ausführliches Werk über Ritus und Moral, wegen seiner asketischen, zum Teil kabbalistischen Richtung ehemals hochgeehrt und »heilig« genannt. sinnend auf langem Umwege herausgebracht – der Wille von Haschem jißborach »Der Name, er sei gesegnet«, eine Gottesbezeichnung.. »Denn«, sagte Reb Chaim, »wenn es Haschem jißborach verhängt hätte, Reb Noach Brall soll Kinder haben, so wäre sein frommes Weib Täubchen einmal schwanger, einmal eine Wöchnerin und einmal eine Säugende, und dabei kann die Mikwe nicht bestehen! Denn wo soll« – fragte Reb Chaim in den dicken Sch'loh hakodausch hinein – »wo soll da die Pacht herkommen?« Da aber der Sch'loh hakodausch diese Frage ganz entschieden unbeantwortet ließ, so war es ausgemacht, daß es Gottes Wille sei, daß die in einer sechzehnjährigen Ehe noch immer kinderlose Täubchen Reb Noach Bralls allmonatlich der beste Kunde in der Mikwe sein soll. Ihre Besuche trugen in der Tat zu der Pachtfrage, die der Sch'loh hakodausch nicht lösen konnte, volle zwölf harte Taler im Jahre bei. Und soviel brachten zehn andere mit Kindern gesegnete Frauen nicht ein.
Daß sie aber der liebste Kunde war, das lag nicht unmittelbar an Gott, obwohl er – gelobt sei sein Name! – daran gewiß seine Freude hatte, sondern an der Herzlieblichkeit Täubchens, die mit mütterlichem Stolz und rührender Zärtlichkeit an den Mädchen in der Mikwe hing. Sie kam nie ohne Liebkosung und ging nie fort ohne Geschenk für die Mädchen; sie verweilte nie in dem Bereich dieses Hauses ohne mit der frommen Golde aus der T'chinno Frauen-Gebetbuch. gebetet, daß sie Haschem jißborach beglücken solle mit einem Kinde, und ohne mit Vögele über Haschem jißborachs Güte und Weisheit im Stil aller guten jüdisch-deutschen S'forim Bücher (religiösen Inhalts). disputiert und das Herz an ihr erquickt zu haben. Vor Täubchen Reb Noach Bralls sang auch Golde gern ihre schönsten Lieder, gab Vögele am liebsten ihr köstlichstes »Wörtchen« zum besten; denn es war unendlich erquicklich für die Kinder der Armut, mit solcher Liebe von der reichsten und auch schönsten Frau der Kehilla behandelt zu werden.
Es fand in der Tat ein inniges Verhältnis zwischen dieser Frau und den beiden Mädchen statt. Die Kinderlosigkeit der ersteren und die Mutterlosigkeit der letzteren war wohl der Hauptgrund; die ungemeine Herzensgüte aller aber das Siegel zu diesem Bunde.
Die Vorbereitungen zum Empfang der lieben Badegästin waren also heute wirklich die Ursache, daß die Lichter für das Beshamidrasch nicht so schnell fertig wurden als sonst; indessen wollen wir es nur gestehen, daß die Schalkhaftigkeit Vögeles in der Terminalablieferung derselben eine Rolle spielte. Nach Goldes Ansicht sollte durchaus der Vater die fertigen Lichter mitnehmen, wenn er zu Mincha Nachmittagsgebet. ginge; sie hatte durch ihre Scheibchen oft hinübergeblickt ins Beshamidrasch und dort den Zempelburger und den Kosminer allein gesehen, und gerade deshalb schlugen ihr die Flammen der Liebe und der Verlegenheit ins Gesicht, wenn sie hinüber sollte, wo ihr Herz sich ganz im stillen hinsehnte. Vögele dagegen bewies ihr schalkhaft mit allen möglichen gelehrten Zitaten, daß man den Vater nicht bemühen darf, und daß ein fromm Kind sich nicht zu schämen braucht, die Beshamidrasch-Lichter einem so feinen Bochur in die Hand zu geben, damit in der Nacht seine Augen sollen lichtig werden in der Tora Lehre..
»Wenn es eine Mizwo Fromme (eig. »gebotene«) Handlung. ist«, sagte Golde ernst, »warum soll ich dich nicht damit mechabbed sein? Beehren.«
»Mich?« rief Vögele lustig und blickte hinüber, um sich zu überzeugen, daß der Kosminer da war, – »mich brauchst du nicht mechabbed zu sein! An meinen Lichten werd' ich mir den Botenlohn allein verdienen!«, und wirklich raffte sie die Hälfte der eben fertig gewordenen und abgekühlten Lichter zusammen, um sie, wie wir wissen, hinüberzutragen.
Als sie nach ihrer Rückkehr mit vollstem Ernste versicherte, auch Goldes Besuch mit den andern Lichtern angekündigt zu haben, als die schüchterne fromme Golde sich durch einen heimlichen Blick durchs Fenster von der Wahrheit überzeugte, daß der Zempelburger vor Ungeduld aufgesprungen und ihr das Herzpochen sagte, daß er sie nun bestimmt erwarten werde, da überwand sie alle Bedenklichkeit ihres Wesens und ging auch hinüber, obwohl sie wußte, daß der Kosminer das Beshamidrasch verlassen und sie demnach dem geliebten Zempelburger allein gegenüberstehen werde.
Wie übel es ihr erging, das wissen wir. Leeser Schlapps rohe Stimme gellte ihr noch in den Ohren, als sie längst schon wieder daheim war. Ihr verletztes Herz machte sich in einem Strom von Tränen Luft und hatte sein jungfräuliches Erzittern und Erschüttern selbst in der Dämmerstunde noch nicht überwunden, als die geliebte Badegästin, Täubchen Reb Noach Bralls, sich einstellte.
Nach einigen herzlichen Liebkosungen, nachdem Vögele die Gardinen zugesteckt und Golde das Lämpchen angezündet hatte, saß Täubchen am Tisch zwischen den Kindern; in ihrer Rechten Goldes, in der Linken Vögeles Hand, und die schöne, reiche fünfunddreißigjährige Frau ließ den vollen Schmerz ihres gepreßten Herzens über ihre Kinderlosigkeit, den sie daheim vor ihrem Reb Noach nie laut werden lassen konnte, in einem Strom von Tränen freien Lauf, der auch härtere Herzen zum tiefsten Mitgefühl hingerissen hätte.
Die große T'chinno lag bereit auf dem, Tisch; – denn welch Esches chajil »Edles Weib« (Prov. 31,10). in Israel erfüllt heilige Gattinpflicht, die Haupt-Mizwo ihrer drei Gebote, ohne vorher vor Gott dem Allmächtigen ihr Herz auszuschütten? Und Täubchen war ein frommes Weib, sie war auch wohl bewandert in den Gebeten; allein ihr tränenfeuchtes Auge und das trübe Lämpchen und Goldes liebe Art Gebete vorzutragen, hatten es zur Sitte gemacht, daß Golde aus der T'chinno ihr laut vorlas und Vögele ihr beim Entkleiden Dienste leistete. Ebenso war es zur Regel geworden, daß Goldes Hand sie dann ankleidete und schmückte, während Vögeles munterer Geist einen Strom von heiterer Unterhaltung zum besten gab, um die Freude der erfüllten Pflicht zu erhöhen.
Wenn die Augen Täubchens sich in frommen Wehmutstränen badeten vor dem Bade, so schwammen sie nur um so munterer nach demselben in lieblichen Trost- und Freudentränen bei Vögeles »Wörtchen«.
Bei solcher Gelegenheit hatte Vögele einmal zu Täubchen gesagt:
»Herzliebe Madame Täubchen, Eure Augen hat der Poßuk gebenscht »der Schriftvers gesegnet«.. Es steht geschrieben Hohes Lied 5, 12.: »Deine Augen sind Täubchen, die sich baden in Milch«, Eure Tränen sind süß, wie die Milch von der Brust der Mutter. Wenn Haschem jißborach Euch wird begnaden, werden die Tränen aufhören, und die Milch wird fließen!«
»Vögele«, jubelte Täubchen mit frischen Tränen in den Augen: »Deine süßen Worte in Gott's Ohren! Du Herzkind!«
Das liebliche Vögele ließ sich in ihrer einmal begonnenen Rede nicht stören, sondern fuhr fort:
»Und Eure Neschomo Seele., herzliebe Madame Täubchen, hat der Maloch Bote, Engel. in zwei Wassern getaucht, ehe er sie auf diese Welt geschickt: in dem einen Wasser, das fließt, wenn man Leid sieht, und in dem andern Wasser, das fließt, wenn man Freud' sieht. Darum werden Euch die Augen naß bald von weinedige und bald von lachedige Tränen.«
»Und wenn du redtst, Vögele«, unterbrach sie Täubchen, »kommen beide Wasser übereinander.«
Aber Vögele fuhr fort: »Und weil Ihr geweint habt zu viel Tränen aus dem Bach der Leiden, werdet Ihr noch viel Tränen nachweinen aus dem Bach der Freuden!«
»Gott der Gelobte soll Euch benschen Segnen., Kinder!« hatte Madame Täubchen ausgerufen: »Ich tu ein Neder Gelübde.; wenn er mich begnadet, soll Euer Herz mit erfreut werden!«
Diese Szene, die vor längerer Zeit in diesem Zimmerchen, wo sie heute saßen, stattfand, wird hinreichen, um das Verhältnis der reichen Frau zu den armen Mädchen deutlich zu machen.
Und auch heute prägte sich das Verhältnis nur noch inniger aus.
Golde nahm die T'chinno und suchte den »Ribbaunau schel aulom« »Herr der Welt«, Anfangsworte eines Gebets. auf, welcher die Weltgeschichte von Anbeginn am richtigsten Ende anhebt und rührend erzählt von den vier Pärchen Adam und Eva, Abraham und Ssara, Isaak und Rebekka, Jakob und Lea, die beisammenliegen in der Höhle Machpelo, und von der Mutter Rahel, die allein liegt auf dem Weg, um zu hören jedes schwere Gemüt. Die arme Golde! Sie dachte an ihre Mutter, die auch allein liegt und gewiß gehört hat, wie schwer ihr Gemüt ist, seitdem Leeser Schlapp sie geschmäht. Ihre Stimme und ihr Herz zitterte deshalb heute ganz besonders unter der Wucht dieser himmelstürmenden Worte. Sie schluchzte vom »Herr der Welt« bis zum »Amen, ja Amen« so rührend, daß Täubchen noch mehr Tränen vergoß als sonst, und als Golde die T'chinno küßte und zuklappte, nahm Täubchen sie ans Herz und sagte zu ihr: »Goldeleben, was ist dir denn dein Gemüt so schwer heute? hast du was auf deinem Herzen, so komm bald zu mir und schütte es aus!«
Golde schwieg; aber ihr Antlitz drückte genugsam aus, daß auch sie noch sehr bewegt sei, und rührte das Herz der Madame Täubchen nur noch tiefer.
Unter solchen Umständen darf es nicht wundernehmen, daß das Bad etwas angreifend auf die sehr weich gestimmte Frau wirkte. Sie mußte beim Ankleiden lange Pausen machen, um sich ein wenig zu erholen, und als die Mädchen sich mit besorgten Gesichtern um sie bemühten, sagte sie wehmütig:
»Liebe Kinder, was soll ich euch sagen? Meine Hoffnung habe ich auf Haschem jißborach gestellt, aber ich bin jetzund mehr betrübt als sonst, denn der Kreisdoktor, mit dem ich geredt habe, hat mir gesagt, daß mir ›die Gemütsbewegung‹ sehr schädlich ist, und – mein Gemüt ist doch einmal bewegt, ich kann's nicht ändern!«
Da Vögele hierbei die Bemerkung machte, daß die liebe Beschützerin gegen alle bisherige Regel Neigung hatte, auch nach dem Bade in Wehmut zu versinken, nahm sie all ihre Munterkeit zusammen und rief mit der heitersten Stimme, die ihr so gut stand, aus:
»Herzige Madame Täubchen! Der Kreisdoktor hat das gesagt! Haben wir denn nicht einen Kreisdoktor im Himmel, dessen Kreis geht über alle Welten und über alle Stern, und hat der nicht angeschrieben: Wirf auf Gott deine Sorgen! Der Kreisdoktor? Ist nicht Eli hakauhen Der Priester Eli. ein Kreisdoktor gewesen für Kol Jisroel ganz Israel. von Dan bis B'erschewa, warum hat er nicht zu Channa gesagt, die doch ihr schwer Gemüt gehabt hat: Die Gemütsbewegung ist dir schädlich! Und unsere Eltermutter Sara, wie sie hat gestanden hinter der Tür und gelacht bis in ihr Herz herein, hat sich auch Gemütsbewegung gemacht und hat doch geboren den lichtigen Sohn und hat gerufen seinen Namen Jizchak, weil sie gesagt hat: Lachen hat mich Gott der gelobte gemacht! Und ist das Lachen nicht Gemütsbewegung? – Der Kreisdoktor«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, »ist ein Goi Nichtjude. und weiß von sein Gemüt nichts, geschweige von unserem Gemüt. Uns hat Gott, gelobt sei er, ein ganz ander Gemüt gegeben wie dem Goi. Bei uns hat er das Gemüt aufgehängt in der Mitten zwischen das Spitzchen von Herz und das Spitzchen von der Neschomo Seele.. Wenn die Neschomo krank ist, legt das Gemüt sich aufs Herz, und das tut weh; und wenn das Herz krank ist, legt das Gemüt sich auf die Neschomo, und das tut gut. In wem aber die Neschomo lacht, in dem tanzt das Gemüt hin und her vor Ssimcho Freude. und klopft an unser Herzspitzchen und Neschomospitzchen, und das ist ein Lachen, was Haschem jißborach macht, wie er es der Mutter Ssara gemacht hat! Na! der Kreisdoktor! Was soll aus uns Jüdenweibern werden, wenn wir nicht einmal weinen aus Gemütsbewegung und einmal lachen aus Gemütsbewegung!?«
Die muntere Art, in welcher Vögele dieses ausrief, verfehlte ihre Wirkung um so weniger, als in der Tat der Grundzug von Täubchens Charakter der der gutmütigsten Heiterkeit war. Vögele wußte die glückliche Wendung zu benutzen, und das stille Stübchen war bald unter ihrem Geschwätz eine Stätte fröhlichen Lachens, wie es kurz zuvor eine der Wehmut gewesen.
Täubchen stand endlich völlig angekleidet, und Golde knüpfte ihr eben die Kette hinten am Nacken zusammen; da sie nun den Heimweg anzutreten gedachte, lüftete die gute Frau ein wenig die Gardinen am Fenster und blickte in die mondhelle Nacht hinaus. »Stehen da nicht ein paar Bachurim vor dem Beshamidrasch?« fragte sie. Golde warf über die Schulter Täubchens den Blick hinaus und fuhr so sehr zusammen, daß sie die Kette zur Erde fallen ließ.
Die gutmütige Täubchen sah sie mit schalkhafter Laune forschend an, und entdeckte eine Flammenröte in dem lieben Gesichte, die für Frauenaugen gar zu verräterisch ist.
»Golde leben«, rief sie aus, und hob ihr am Kinn den gesenkten Kopf in die Höhe. »Golde leben, was ist es denn für ein Bochur, der dich so erschreckt? Ist er es, der dir dein Herz so schwer macht?« Goldes Augen senkten sich in einer Weise, die jede Bestätigung überflüssig machte. »S'chma Jisroel!« »Höre Israel!«, manchmal als Schreckensruf gebraucht. rief Täubchen aus, »weißt du, Golde, der Bochur muß doch ein Herz von Marmelstein haben, wenn er dir so weh tun kann!«
Das war zu viel! Golde schlug die Augen so licht und voll Liebe und Glückseligkeit auf, daß der eine Blick die schwerste Anklage von der Welt hätte vernichten müssen.
»Und willst du mir nicht sagen, wer es ist?« fragte Täubchen lächelnd.
Golde bewegte die Lippen, aber konnte das Wort nicht herausbringen. Vögele, die inzwischen die Kette aufgenommen hatte, überhob sie der Mühe, denn sie rief lachend: »Wer es ist? Nun, das Kosminerche ist es nicht!«
»Du geschliffen Mäulche!« lachte Täubchen auf, »hab' ich dich gefragt, wer's nicht ist!«
»Nun«, lachte Vögele, »wenn es der Kosminer nicht ist, ist gedrungen, daß es der andere, der Zempelburger ist!«
»Ah!« rief Täubchen aus. »Der Zempelburger, der Schiur-Leiner Fortgeschrittener Bochur, der die andern auf die Lektionen des Rabbi vorbereitet.! Ah! soll ich leben! Das ist ein feiner Bochur! Golde leben, da brauchst du dich nicht zu schämen! wahrhaftig nicht! Siehst du«, sagte sie zu ihr, die mit verschämter Schüchternheit vor ihr stand, »siehst du: die Kette, die ich da in der Hand hab', häng' ich dir mit Gottes Hilfe um, wenn Hakodausch boruch hu mir das Masel Glück. gibt, dich unter die Chuppo Trauzelt zu führen!«
Golde preßte die lieben Hände ihrer Wohltäterin mit stummem Danke; aber Vögele blickte mit so leuchtenden Augen auf dieselbe, daß das ganze Gemüt Täubchens in fröhlichste Bewegung geriet.
»Soll mir Gott alles Gute geben, Vögele, du guckst doch mit ein Paar lichtige Augen in die Welt hinein, daß ich ein Schwue Eid. darauf tun möchte, du hast mir auch etwas verschwiegen!«
»Ich?« rief Vögele unter leichtem Erröten, indem sie sich in all ihrer Schalkhaftigkeit abwandte, »ich verschweigen? – Golde kann nichts reden, und ich kann nichts verschweigen! – Ihr könnt mir's glauben: der Zempelburger ist es wahrhaftig nicht!«
Täubchen schlug die Hände ineinander. »Was hör' ich, du Maggid? Das Kosminerche, das Chorifche Chorif, ein scharfsinniger Talmudist. hast du dir ausgesucht? Guck mich nur noch einmal an!« Nur einen Augenblick kostete es Vögele eine Überwindung, die Röte ihres Gesichtes sehen zu lassen; auf eine zweite Bitte, sie anzugucken, wandte sie sich um und sagte mit einem heitern Ernst, der fast einen Anstrich von Wehmut hatte: »Warum nicht? Chorif und Maggid steht sich doch gut an!«
In weniger als einer Viertelstunde hatte Täubchen alles, was die Mädchen von ihrer Liebe wußten, herausgelockt. Viel war es nicht. Worte waren so gut wie noch gar nicht gewechselt; denn wie der Kosminer gegen Vögele, war Golde gegenüber dem Zempelburger so gut wie stumm. Aber Blicke hatten desto mehr gesprochen, und vorerst war es genug.
Eine Weile stand Täubchen mit ernstem Gesicht zwischen den Mädchen, die sie an beiden Händen hielt, dann sagte sie: »Kinder! Gott boruch hu »Er sei gesegnet!« wird in euer Hilf sein. Sechus owaus Verdienst der Vorfahren. wird euch beistehen, und Täubche Reb Noach Bralls wird euch nicht verlassen. So wahr soll Gott mich begnaden: mein Herz sagt mir, daß euer Herz wird erfreut werden!«
Und wieder kamen die zwei Wasser übereinander! Die gemischten Wasser der Wehmut und der Freude. Bei Täubchen rollten sie als Tränen an dem schönen Antlitz herab, bei Golde blieben sie schwer an der Wimper hängen; in Vögeles Auge waren sie nur wie ein holder Hauch zu sehen.
Nach einer Weile sah Täubchen wieder lachend ihrem Herz-Vögelchen ins Auge. »Warte, du Asus-Penemche Asus-Ponim im gewöhnlichen Sinn: Frechheit; im Scherz und Diminutivum: Schalk, Schelm.«, sagte sie, »dir werde ich das gut bezahlen.« – Sie griff in ihre Tasche. Den einen harten Taler, über den Reb Chaim in seiner Hinterkammer mit dem Sch'loh hakodausch schon den ganzen Abend merkwürdige Unterhandlungen führte, den legte sie auf die T'chinno; einen zweiten harten Taler aber nahm sie in die Hand und zwang ihn Golde auf, die sich weigerte, ihn anzunehmen. »Da«, sagte sie, »da hast du einen Taler, da machst du morgen einen guten Schabbos, ich werd' dem Schulklopfer sagen, er soll dem Zempelburger einen Plett Billet, Anweisung als Tischgast zu den Sabbatmahlzeiten bei einem Gemeindemitglied. bei dir geben! Und du Maggid«, sagte sie zu Vögele, »dein Chorifche werd' ich mir zu Schabbos nehmen; und da werd' ich sehen, ob er bei mir nicht besser reden kann, als bei dir!«
Die gutherzige Frau ging und die beiden Schwestern sanken sich in die Arme, und auch Vögele weinte eine Minute lang heftig, sogar heftiger als Golde. Als aber jetzt vom Beshamidrasch herüber der Niggun vom Lernen im vollsten Chorus einer Donnerstagnacht im Monat Elul erscholl, sprang Vögele mit ganzer Heiterkeit ans Fenster, und da sie den Kosminer im vollsten Eifer mit Kopf und Leib und Händen sah mefalpel sein »Pfeffern«, Ausdruck für das scharfsinnige Diskutieren schwieriger talmudischer Interpretationsfragen., rief sie aus: »Siehst du, Golde, in jedem Peie-Löckchen von meinem Kosminerche steckt mehr Charifus Scharfsinn. als in allen andern Bachurim mit dem Rabbi dazu!«
Golde lächelte. Sie war selig, sah sie ja den Zempelburger obenan sitzen neben dem Rabbi.
Welchem wissenschaftlichen Reisenden es in den Sinn kommen sollte, einmal die Kehilla F. aufzusuchen, in der unsere Geschichte spielt, dem wollen wir im voraus einen Fingerzeig geben, sich nicht von dem Zustand des Städtchens am Sonntag oder Montag oder Dienstag oder Mittwoch oder Donnerstag zu einem Urteil über dasselbe verleiten zu lassen. Wer nicht unsere gute Kehilla an einem Freitag und Sabbat gesehen, der lege die Hand auf den Mund und schweige.
Von welcher Seite man sich auch der Kehilla naht – man komme über die Weichsel im Süden oder über den Sandberg im Westen oder über den Begräbnisort im Norden oder von zwischen den Scheunen her im Osten –, man wird an jedem gewöhnlichen Wochentag meinen, ein Amazonenreich zu betreten, das nur von Frauen regiert wird. Wäre Leeser Schlapp nicht allenthalben auf der Straße zu sehen oder doch mindestens zu hören, und ginge nicht dann und wann einmal ein Bochur über die Gasse, könnte man auf die Vermutung kommen, daß das Geschlecht der Männer vertilgt sei von der Erde.
Aber am Freitag löst sich das Rätsel. Die Männer sind seit Sonntag hinaus aufs Land. Nicht etwa, um dem Gewühle der Stadt zu entfliehen und der Üppigkeit des Landlebens sich hinzugeben, sondern um draußen auf der »Medino«, auf Dörfern, Gütern oder Bauerngehöften ein bißchen Tuch oder Kattun oder Stricknadeln oder Hosenträger oder rote Bänder und Schmucksachen, die den Hans in den Augen der Christel und die Christel in den Augen des Hans wohlgefällig machen, zu verkaufen und dafür ein bißchen Wolle oder Felle oder Leder oder Schweineborsten oder Hörner oder Wachs oder Honig oder Talg oder Federn und was sonst Reb Noach Brall im großen und ganzen verwerten kann, einzukaufen. Die Stadt bleibt die Woche über unter der Obhut der Weiber und der Kinder sehr wohl aufgehoben. Die paar Männer, die nicht »auf die Medino« gehen, können durchaus nicht über ein allzu böses Weiberregiment in den Tagen der Woche klagen. Aber am Freitag, da zieht, ein Vorbild der Zeit des Messias, wo das große Schofarhorn wird gehört werden an allen vier Ecken der Erde, die männliche Bevölkerung von über der Weichsel und über den Sandberg, von hinter dem Begräbnisort und von zwischen den Scheunen wieder heim, und es ist ein Gewimmel und ein Getümmel von allen Seiten her, daß, so weit man den Blick auch über den Horizont schweifen läßt, man nichts sieht als Himmel und Jüden.
Auch einige Christen wohnten hin und wieder zerstreut unter ihnen; aber daß wir es nur zur Beschämung aller christlichen Germanen sagen, in unserm jüdisch-orientalischen Staat, oder richtiger Städtchen, hatten die paar Christen durchaus keine Ursache, über Glaubenshaß zu klagen. Sie waren vollständig emanzipiert, noch lange vorher emanzipiert, ehe die Nationen rings umher beglückt waren durch die Grundrechte der Deutschen aus Frankfurt am Main.
Nur Ein Christ lebte unter seinen völlig gleichgestellten Brüdern, der die Quelle religiöser Zwietracht war. Sein Name war zwar Kerkow; aber der gute Wachtmeister versicherte bei jedem Schnäpschen, das er am Schabbos in Judenhäusern trank, – und das tat er nie, ohne auf gut jüdisch »Lechajim!« »Zum Leben!« zu sagen – daß er schon hinter die Geschichte kommen werde! Der Name müsse falsch sein, denn der Roscho Judenhasser. müsse durchaus von Titus oder Haman oder Pharao abstammen und hintergehe demnach die Obrigkeit durch strafwürdige Täuschungen.
Was denn eigentlich Kerkow wollte, war schwer zu ermitteln. Die Emanzipation der Christen war so vollständig in F., daß sogar einmal zwei der Ratsmänner christlichen Bekenntnisses waren. Man behauptete zwar später, als bereits die große Schandtat Kerkows, von der wir sprechen wollen, geschehen war, er habe einmal geäußert, er werde sich für seinen Sonntag ebenso einen »Sonntag-Jüd« zum Einheizen, Wassertragen u. dgl., wie die Juden einen »Schabbes-Goi« halten; aber wir nehmen Anstand, ihm solche Pläne ohne sichere Beweise zuzumuten, denn dieser Gedanke grenzt an Wahnwitz. Tatsache aber ist es, daß Kerkow ursprünglich ein Grobschmied war, dann plötzlich mit dem Anspruch auftrat, als Schlosser zu gelten. In diesem Punkte gab ihm die Kehilla – wir wollen nicht sagen: mit Recht – nach und ließ sogar von ihm das große Schloß an der Schul Synagoge. einmal reparieren. Aber sein Stolz kannte bald keine Grenzen: er wollte nun auch der Uhrmacher für die Kehilla sein. Und hier griff er in die Religion ein!
Die Uhren, die Kerkow reparierte, gingen untereinander in einem sehr verschiedenen Schritt; jedoch in der Masse glich sich's aus. Was die eine vorauf lief, blieb die andere nach. Er hatte aber auch die Frechheit, zu verlangen, daß der Rabbi, Reb Jizchak Reb Simcha's, seine Uhr bei ihm zur Reparatur geben solle; dies jedoch war eben die Uhr der Religion; nach ihr klopfte man in die Schul, stand man zu Sselichaus Bußgebete, zu denen man sich in der Woche vor dem Neujahrsfest vor Sonnenaufgang versammelt. auf, machte man Schabbos und Jom tow begann man die Feier der Sabbate und Festtage. und biß man am Taanis an nahm man nach einem Fasten die erste Speise zu sich., wenn der Himmel trübe über F. hing und kein Sternlicht zu sehen war. Diese Uhr konnte man seiner Hand nicht anvertrauen, ohne die Religion zu gefährden, und darum faßte die schwarze Seele Kerkows einen Plan der Rache, würdig seines Ahnherrn Haman, denn es war ihm nicht genug, wenn er sich an dem Rabbi hätte rächen können; es sollte die ganze Gemeinde seine Bosheit fühlen.
Um die Ruchlosigkeit in ihrer ganzen Fülle zu verstehen, müssen wir eben die ganze Gemeinde, oder richtiger das Gebiet derselben, ins Auge fassen, und hierzu bietet uns nichts bessere Gelegenheit als der Eruw.
Was der Eruw sei, brauchen wir hoffentlich unsern frommen Lesern nicht zu sagen; da aber gegenwärtig die elektrischen Telegrafenleitungen, diese Stangen mit Drähten verbunden, durch das Land gehen und der Eruw eigentlich deren getreues Vorbild ist, so steht zu befürchten, daß wohl mancher Unerfahrene einen Eruw für eine telegrafische Leitung oder, was noch übler wäre, eine Telegrafenleitung für einen Eruw ansehen könnte; und zur Meidung solchen Irrtums mögen die guten Leser eine kleine abschweifende Erklärung nicht übeldeuten.
Wir bedienen uns bei derselben nicht unserer eigenen Worte, sondern führen lieber eine historische Szene vor, wie einst ein frommer Rabbi in Frankfurt am Main dem gestrengen Herrn Senator Jenichen das Wesen des Eruws deutlich machte.
Denn als in der frommen Gemeinde Frankfurt a. M. die Frage anstand, ob die hohe Obrigkeit, der gestrenge Senat, die jüdische Gemeinde zwingen solle, einen Eruw einzurichten, erklärte der fromme Rabbi, der ganz entschieden dieser Ansicht huldigte, mit Hand und Mund in folgender sehr instruktiver Weise das Wesen des Eruw.
Er streckte seine rechte Hand, und vornehmlich den Daumen, dem gestrengen Herrn Senator entgegen, beschrieb mit demselben erst einen kleinen Kreis in der Luft, der sich dann immer mehr erweiterte und eine Spirallinie wurde, und diese Spirallinie wurde immer größer und größer, und als sie ungefähr die Größe eines kleinen Luftballons erreicht hatte, war er auch mit der wörtlichen Erklärung des Eruw fertig, die also lautete:
»Gestrenger Herr Senator: Es steht geschrieben, daß wir Jüden sollen den Schabbos heiligen, und sollen nicht Lasten tragen aus unsern Behausungen. Nun aber muß man doch einen Betmantel, ein Gebetbuch und auch ein Schnupftuch, eine Tabaksdose und dergleichen, oder gar ein Getränk oder eine Speise am Schabbos von einem Haus zum andern tragen. Da haben nun unsere Weisen, gesegneten Andenkens, gelehrt, daß, wenn mehrere Behausungen sich zu einem Gebiete vereinigen, so soll das ganze Gebiet so gut sein wie ein einzig Haus. Wenn man nun eine Mauer herumzieht um die ganze Stadt, so werden alle vereinzelten Behausungen zu Einem Gebiet; denn die Mauer ist so gut wie ein Haus. Wenn nun aber keine Mauer ist um die Stadt, so macht man an allen Eingängen einen Torweg; denn ein Torweg ist so gut wie eine Mauer, und eine Mauer ist so gut wie Ein Haus. Wenn man aber keinen Torweg machen kann, so zieht man einen Draht oder auch eine Schnur über alle Stellen, wo ein Torweg hätte sein sollen. Dann ist der Draht so gut, wie ein Torweg, und ein Torweg ist so gut wie eine Mauer, und eine Mauer ist so gut wie Ein Haus. Und darum macht man einen Eruw, d. h. eine »Vereinigung« aller Behausungen, aus zwei Stangen, die man aufrichtet und die man miteinander durch einen Draht wie ein Torweg verbindet!«
Wir müssen uns damit begnügen, diese historische Szene zur Begründung unserer Ansicht vorzuführen, daß ein Eruw eigentlich mit den elektrischen Telegraphen-Leitungen nichts zu tun hat, wohl aber dürfen wir es als erwiesen ansehen, daß der Eruw dessen Vorbild sei.
Betrachten wir nun den Eruw, das Symbol der Gebietseinheit, in unserm frommen Städtchen F., so schloß er dasselbe so gut wie ein Torweg, der so gut ist wie eine Mauer, die so gut ist wie Ein Haus, von der Außenwelt ab. Er verband in Gestalt eines Drahtes an zwei Stangen die gegenüberliegenden Häuser an den Eingängen zur Stadt. Wo zwischen Zäunen irgendeine Lücke als Durchweg in die Außenwelt diente, oder mindestens dienen konnte, war vorsorglich der Eruw angebracht. Die Stadt war daher im vollsten Sinne des Wortes umschlossen, und zu dieser Umschließung gehörte auch der Zaun von Kerkow's Haus, ein Zaun, der mit seinen Latten, Leisten und drei morschen Brettern nicht im Entferntesten verriet, welch historische Bedeutung lebhaften Angedenkens in ihm verborgen liege.
An demselben Freitag, an welchem wir in unserer Geschichte angelangt sind, hatte kein Mensch in dem stürmischen Freitagsgewimmel des Städtchens eine Ahnung der Gewalttat, die in Kerkow's Busen reif geworden. Es lief Jung und Alt in der regelmäßigsten Freitags-Anarchie durcheinander. Die schönen Güter, Öffentlichkeit und Mündlichkeit, die eigentlich niemals in F. fehlten, wurden heute im vollsten Maße der Harmlosigkeit genossen. Begrüßungen und Anfeindungen, Liebe und Streit, häuslicher Friede und häuslicher Zwist, der die Liebe erfrischt, Alles wurde auf offener Gasse begonnen und abgesponnen. Alle Streitigkeiten der Frauen untereinander vom Sonntag bis zum Freitag waren nur Generalproben für die wirkliche Aufführung am heutigen Tage, wo auch die Männerrollen besetzt werden konnten. Und schön war es zu sehen, wenn unter dem schallenden Zuruf der Gattinnen ein Geist der Ritterlichkeit die Heimgekehrten umkleidete, und sie oft mit Hasenfellen gegeneinander den Streit ausfochten, den jene angezündet.
Der liebe Freitag war auch der Markttag in F. Wenn in der Wüste vor alten Zeiten das Manna am Freitag in doppelter Portion vom Himmel regnete, strömte es in F. am Freitag siebenfach herab; denn es war der Tag, der eine ganze Woche in sich barg. Was gebacken werden konnte, wurde heute gebacken, was gebraten werden konnte, wurde heute gebraten, was gesotten werden konnte, wurde heute gesotten, was gestritten werden konnte, wurde heute gestritten, was gesprochen werden konnte, wurde heute gesprochen, was gerannt werden konnte, wurde heute gerannt: Männer, Frauen, Jungen, Mädchen, Bauern, Bäuerinnen, Juden und Gojim Nichtjuden., Alles durcheinander und Alles in großer Eile, denn – es ist Freitag.
Und von dem großen Zauber atemloser Freitags-Geschäftigkeit waren auch alle Personen erfaßt, die wir mit besonderem Interesse bisher betrachtet haben. Reb Noach Brall schwitzte in seinem Speicher, in welchen heute Alles einzog, was von Wolle und Hanf, von Pelzwerk und Wachs, von Schweineborsten und Honig aus der »Medino« herankam. Der gute Mann in den besten Jahren seufzte oft schwer, daß er für die ganze Woche noch frisch genug sei; aber für den lieben Freitag sei er schon zu alt.
Täubchen hat sich die Ärmel aufgeschürzt und die Haubenbänder statt unter dem Kinn im Nacken zusammengebunden, denn sie steht in der Küche und knetet und rollt und schneidet Lokschen Nudelartige Speise. und flicht die Challaus Geflochtene Sabbatbrote., und bereitet den Butterkuchen und Baumölkuchen, und siedet den Fisch und schneidet das Zimmes »Zugemüse.« und schaffet die Kugel, und reget die Hände ohne Ende für den lieben Schabbos kaudesch Heiligen Sabbat..
Die gute Golde eilt mit Hast über den Markt, um Einkäufe zu machen für den guten Schabbos und den guten Gast, und hält nicht einen roten Heller von dem harten Taler zurück, den sie zu besagtem Zweck erhalten.
Vögeles Hände sind schon sehr zeitig so voll Lichterzieherei für die heilige liebe Schul, daß sie frühe noch imstande ist, sich den trefenen nach den Speisegesetzen ungenießbaren. Talg abzuwaschen, und sich mit Messerputzen zu beschäftigen für den lieben Schabbos kaudesch. Ihr munteres Mundwerk ist heute wortkarg, denn wer hat Zeit zu reden oder gar zu hören am Freitag?
Selbst im Beshamidrasch herrscht das Freitagsgewühl der Bachurim, die mit ihren »Pletten« herein- und herausrennen und mit dem Schulklopfer zanken, der ihnen nicht Rede stehen will.
»Ich sag euch,« schreit der erzürnte Schulklopfer den armen Kosminer an: »es ist kein Tous Irrtum., ich bin mich nicht taue »Ich irre mich nicht.«! Täubche Reb Noach Bralls hat mir beferusch Ausdrücklich. gesagt: Ihr, Kosminer, sollt euern Schabbos bei ihr haben, und der Zempelburger soll bei Reb Chaim Mikwenitzer essen!« Mit dem entrüsteten Ausruf: »Wie heißt, ich werd mich taue sein!« stürzt er davon.
Der Kosminer ist zwar sehr aufgeregt, daß es nicht umgekehrt ist, und seine Hand fährt unwillkürlich nach der Tasche, um Kotzebues große Verzweiflung zu fassen; aber welcher Jüd hat Zeit, am Freitag zu verzweifeln?
Sogar Leeser Schlapp hat nicht Hände genug, um seinen Pantoffel allen an den Kopf zu werfen, die ihm heute in den Weg rennen, und in dem Gesumme der großen Freitagsgeschäftigkeit geht auch sein Wort verloren, das die Woche über von Eck Stadt zu Eck Stadt durch alle Eruws klingt.
Füße, Rockschöße, Ärmel männlichen Geschlechts, Haubenbänder, Unterröcke, Brusttüchel weiblicher Wesen jagen, flattern und fliegen wirr durcheinander. Kinder werden umgerannt, Katzen retiriren sich auf die Dächer, und selbst die Hähne können ihr weises Kikriki nicht der Welt verkünden, wenn sie nicht auf einem Zaune oder auf einer Eruw-Stange eine sichere Zuflucht gefunden. Denn, mit einem Worte: es ist Freitag!
Nur zwei Charaktere birgt die Stadt, an deren Ruhe die Wellen des Freitagswirbels vergeblich anstürmen.
Zwei Charaktere, himmelweit voneinander verschieden und nur in dem einem Punkte sich gleichend, daß der Freitag sie nicht hinreißt.
Der eine, der Bösewicht Kerkow – den wir nimmermehr Uhrmacher Kerkow nennen werden –, steht mit seinen schwarzen Plänen an seinem schwarzen Zaun, der den Eruw ergänzt. Da wir seine ruchlose Tat noch zeitig genug sehen werden, wollen wir nicht weiter in den Abgrund seiner Gedanken niedertauchen.
Der andere, Reb Chaim Mikwenitzer oder wie er sich lieber hört: »Reb Chaim den Maggids«, sinnt gelassen in seiner Hinterkammer über seinen dicken »Sch'lo hakodausch«.
Die Wasser der Mikwe waren von gestern abend her noch warm genug; so daß das Institut seiner Sorgfalt nicht weiter bedurfte. Die Tür zur Mikwe stand offen, und ein und aus zog jeder männlichen Geschlechts, den sein Herz trieb, unterzutauchen und aufzutauchen in den Quellen absoluter Reinigungswasser. Reb Chaims Seele war trübe gestimmt und tauchte heute ganz besonders tief unter in dem Meere der Betrachtung des vor ihm liegenden dicken großen Folianten, in welchem umständlich und ausführlich beschrieben ist, was die ganze Welt erfüllt sammt den sichtbaren und unsichtbaren Geistern in den sieben Himmeln oben und den vier Elementen unten; und besonders alles, was mit der Seele geschieht, vom Augenblick an, wo sie der Engel hervorführt von unter dem Ehrenthron des Heiligen, bis er wieder anklopft an das Grab, um sie vor die Schranken der ewigen Gerichtsbarkeit zu rufen.
Als Golde ihm heute früh angekündigt, daß ein Bochur seinen Tisch zieren solle am kommenden Schabbos, hatte sich seiner Seele jene Betrübnis bemächtigt; denn wenn er dies auch für eine große Ehre ansah und dem Bochur mit vollstem Herzen alles gönnte, was sein Tisch bot, war es doch gerade dieser Schabbos, an dem er nicht einen Menschen bei sich sehen mochte.
Wäre all seine Widerstandskraft nicht schon längst an dem hartherzigen Starrsinn des Staatsministers von Altenstein gebrochen, so hätte er Goldes Einladung nicht akzeptiert. So aber ergab er sich seinem Schicksal, und suchte für seinen Gram im dicken Sch'loh hakodausch einen Trost; denn dieses gute Buch hatte für Reb Chaim einen noch weit höheren Wert als für alle Welt; er las nicht nur alles, was darin stand, heraus, sondern auch alles, was nicht darin stand, hinein, wie z.B. die Barbarei Altensteins, die Herrlichkeiten der guten frommen Stadt Wronke, und die zwei schwersten Pflichten des Mikwenitzers: die Pacht und die Tauchecho.
Was Altenstein anbelangt, so kennen wir bereits diesen trüben Flecken am Lebenshorizont Reb Chaims. Was die Pacht der Mikwe betrifft, so wollen wir versichern, daß sie gezahlt wurde, wenn nicht durch Reb Chaims Einkommen, so doch durch den Fleiß der Kinder. Bezüglich der guten frommen Stadt im Großherzogtum Posen, Namens Wronke, wollen wir nur hier andeuten; daß die der Lichtpunkt in den Kunstreisen Reb Chaims und seiner Kinder war; denn der Wronker Chason Vorsänger in der Synagoge. schwärmte damals ebenso für Golde wie die Wronker Rebbezen Frau des Rabbi. für Vögele, und beide, der Vorsänger und die Rebbezen, entzündeten ganz Wronke in einen Wettkampf des Enthusiasmus, der beispiellos war und beispiellos blieb für ewige Zeiten. Die Erinnerung an Wronke hätte sicherlich die Erinnerung an Altenstein völlig verlöscht, wenn nicht eben das kam, was uns jetzt beschäftigen muß, nämlich die bereits erwähnte Tauchecho.
Wer bewandert ist in der heiligen Tora, der weiß es, daß an zwei Stellen die schrecklichsten Strafandrohungen aufgeführt sind, die Israel treffen werden für die Sünde der Abtrünnigkeit. Wenn es nun beim Vorlesen der sonstigen Wochenabschnitte in der Schul eine große Ehre und Mizwo Gebotene Handlung. ist, zur Tora aufgerufen zu werden, so gibt es doch an allen Ecken und Enden der Welt keinen Menschen, der zu diesen Strafandrohungen, die den Namen Tauchecho führen, aufgerufen sein mag. In allen Gemeinden Israels wird deshalb ein gefühlloser, waghalsiger Mensch mit achtzehn Groschen bezahlt, um sich diesen Abschnitt vorlesen zu lassen. Ein grausamer, himmelschreiender alter Gebrauch in F. hatte diese Pflicht, sich die Tauchecho vorlesen zu lassen, dem Pächter der Mikwe aufgebürdet, und da ein alter Gebrauch in Israel so gut wie geschriebenes Gesetz ist, das Himmel und Erde nicht wegwischen können, so war das Schicksal unabwendbar: Reb Chaim den Maggids mußte sich die Tauchecho vorlesen lassen. Der arme Mann weinte dabei immer bittere Tränen. Wie kam er, der Nachkomme eines so großen Mannes, wie der Maggid gewesen, dazu, daß man ihm vorlas, was nur den Bösesten der Bösewichte treffen konnte. Aber weil die Ursache all dieses Leids denn noch immer der Staatsminister von Altenstein und in der Vorstellung des Reb Chaim dieser der Inbegriff des Bösesten aller Bösewichter war, so blieb dem Armen nichts übrig als der Trost, daß all das Böse, das man ihm androhte, doch nur diesen Staatsminister treffen könne.
Es war ein Trost; aber – daß wir es nur sagen – ein bitterer Trost für die gute Seele Reb Chaims, denn im Grunde seines Herzens hatte der Haß keinen Platz. Fast könnte man sagen, er hätte gern die ganze Welt geliebt, ja beinahe so wie das Ideal der Welt: Wronke.
Da eben zum morgenden Schabbos ihm die Tauchecho aus dem Wochenabschnitte »Kis fowau« Mos. 26 flg. bevorstand, so wird man es begreiflich finden, daß er nicht in der Stimmung war, einen Bochur bei sich zu sehen, und wird es verstehen, wenn wir sagen, daß er heute ganz besonders vertieft blieb in seinem dicken Sch'loh hakodausch, der ein Heil war für alles, was geschrieben steht, und – »was nicht geschrieben steht«.
Wir haben die Wirbel des Freitagsstromes in F. kennengelernt; wir müssen es nun hervorheben, daß sie, wie alles, was einen Anfang hat, auch ein Ende hatten. Wenn die Sonne, ohne sich um Kerkows Uhr zu kümmern, den Meridian von F. durchschnitt und von ihrem Höhepunkt des Mittags nach den Sandbergen im Abend hinabzusteigen begann, da legten sich die Wirbelwellen. Das Rauschen und Wogen nahm seinen friedlichem Charakter an. Der Markt war zu Ende. Alle umgerannten Kinder standen wieder auf den Beinen, alles verscheuchte Geflügel sammelte sich an den Türen wieder, um die wurmstichigen Erbsen und Bohnen aufzupicken, die man von den guten aussonderte, welche zum Scholent Warm gehaltene Speise für den Mittag des Sabbat. gebraucht wurden. Die Bewegung hatte den aufregenden Charakter der Öffentlichkeit verloren und wallte sanfter im Innern der Häuser weiter. Selbst der Rauch, der aufwirbelte aus den Schornsteinen aller Häuser, in welchen gekocht, gebacken, gebraten und gesotten wurde, stieg heute in geraden, lichten, friedlichen Säulen zur Höhe, und die dicken Schlacken, die zuweilen niedersanken, deuteten genugsam an, daß die Weisheit beim Wiederaufbau des Städtchens nach dem Brande vorgewaltet habe, in jedem Hause einen Scholentofen einzurichten. In diesem Punkt machte nur ein Haus eine verwegene Ausnahme, das zweistöckige Haus von Reb Noach Brall. Täubchen setzte ihr Scholentessen zu morgen mittags in den Ofen des Mikwenitzers, aber als die »schwarze Ssoro«, die Magd Täubchens, das Essen über die Straße dahintrug, mußte sie wegen der Ausnahme des zweistöckigen Hauses die Schmähungen von Leeser Schlapp hören. »Die heutige Welt!« schrie er, »das Haus baut man bis in den Himmel hinein, und zu einem kleinen Scholentöfenchen für die zwei einzelne Leut' hat man kein Platz!«
Wir führen diese Rede nur an, um auf die Folgen dieses Mangels, die wir bald kennen lernen werden, vorzubereiten und um anzudeuten, daß die Ruhe der Straße wiedergekehrt und Leeser Schlapp wieder Herr des Schauplatzes seiner Wirksamkeit war.
Die schwarze Ssore fand Golde mit dem glühenden Antlitz vor dem Scholentofen, im Begriff, ihr Scholent zu versorgen; Vögele, die eben recht dick den Sand über den Flur hinstreute, sprang ihr entgegen; es plagte sie die Neugierde, Reb Noach Bralls Scholent mit dem ihrigen heute zu vergleichen. Sie untersuchte die Töpfe mit Kennermiene und schrie lustig auf, als sie die Kugel Kugel: eine Hauptspeise im sabbatlichen Scholent. sah.
»Golde leben! Mein Kosminerches Kugel ist so rund und so voll wie sein Penemche Gesicht (Verkleinerungsform)..« Die glückselige Golde lächelte still in sich hinein. Sie hatte ihrem Zempelburger eine Kugel zurecht gemacht, die auch nicht ein Äpfelchen und nicht eine Rosine weniger haben konnte als die Kugel des reichen Reb Noach Brall.
Mit der sinkenden Sonne senkten sich nun die Engelscharen des Friedens herab auf die gute Kehilla, welche bereit waren, jeden Jüd zu begleiten von der lieben heiligen Schul' bis in die lichtige Schabbos-Stube.
Alle Tische waren gedeckt, alle Lichter aufgestellt, alle Kiddusch-Becher Becher für den Wein zum »Heiligungs-Segen«, mit dem die häusliche Sabbatfeier eingeleitet wird. hervorgeholt, alle Kinder gewaschen, alle Weiber geputzt, alle Männer gezwickt geschoren., alle Baumölkuchen aufgelegt, alle Fische gesotten und alle Feuer ausgelöscht. Selbst Reb Chaim in seinem Hinterkämmerchen tauchte empor aus den Tiefen des Sch'loh hakodausch, in welchem das Grauen vor der Tauchecho, der Zorn über Altenstein und die Seligkeit über Wronke in einem dunklen Gemisch sich harmonisch verwickelten. Die ganze Gemeinde erwartete den Schabbos, daß er komme und die Neschomo zwiefach mache. Alle Ohren horchten auf, um den Schulklopfer zu vernehmen, dessen drei Schläge an jede Tür ankündigten den lieben Gast, den heiligen Tag, an dem Gott geruht und sich gefreut hat über alle seine Werke.
Da, mitten in der Andachtsstille der untergehenden Sonne und des emporsteigenden Schabbos erdröhnte ein Schall durch die Stadt, der alle Herzen erzittern machte. Es folgte ein zweiter, und eine Ahnung der eben in Ausführung begriffenen Schandtat durchdonnerte die Geister. Ein dritter: er war ein Signal zu einem gemeinsamen Schrei des Entsetzens. Ein vierter, ein fünfter, und alles, was Beine unter seinem Leibe hatte, stürzte an die Stätte des Verbrechens hin. Ein sechster und ein siebenter, – und es war geschehen: der Eruw war poßul Ungültig; unbrauchbar..
Der Bösewicht Kerkow – denn von ihm ward die Schandtat vollführt, und nach dessen Haus stürzte die Flutwelle der Menschheit – der Bösewicht Kerkow stand da frech wie ein Mörder mit aufgeschürzten Hemdsärmeln, mit einem Antlitz weiß vor Wut und schwarz vor Ruß, und in seiner Hand schwang er eine ungeheuer große Kneifzange, wie sie nur ein Grobschmied hat und haben kann. Mit dieser hatte er das Werk der Vernichtung unbemerkt in stiller Boshaftigkeit vorbereitet, die Latten und Stakete seines Zaunes gelockert und gelöst, mit dieser großen Grobschmiedzange schlug er mit sieben gewaltigen Schlägen – ihre Zahl stand fest und war ein Hohn auf das Werk der sieben Tage – die morschen Bretter nieder, den Eruw vernichtend. Mit dieser Zange hieb er jetzt noch um sich, als wollte er die Welt zerschmettern, in derselben Minute, wo »vollendet wurden Himmel und Erde und all ihre Scharen!«
Wenn wir sagen: alle Kinder waren wieder umgerannt, alles, was Flügel hatte, stürmte wieder auf die Dächer, alles, was Hände hatte, griff nach Waffen um sich, alles, was Odem hatte, schrie nach dem Wachtmeister und dem Rabbi, – so sollen unsere schwachen Worte nur andeuten, was unsere schwache Feder doch nicht schildern kann, Szenen solcher Aufregung wollen erlebt, können überlebt, aber nimmermehr geschildert werden. Der Wachtmeister kam. Der gute Mann war selber herbeigestürzt. Zwar ohne seinen Säbel – denn auch er, obwohl christliche Obrigkeit, hielt den Schabbos, ja er begann sogar mit seinen Schabbosschnäpschen in Judenhäusern schon am Freitag mittag –, aber umgürtet mit Entrüstung gegen den Haman, der sich Kerkow nannte. Doch der gute Wachtmeister, auf solche Schandtat war er nicht gefaßt; nach den vielen Schnäpschen hatte der Schreck ihn so benommen, daß er taumelte; und hätte nicht der lange Schimschon ihn gehalten, er wäre zu Boden gestürzt.
Aber auch der Rabbi, Reb Jitzchak Reb Simche's, kam! – Und hier sah man, daß in gewaltigen Erschütterungen der Zustände wohl die weltliche Macht erschlafft niedersinkt, die geistliche Macht jedoch ordnet das Gefüge der zerrütteten Welt mit einem Worte wieder.
Der Rabbi stand da – ein kleines Männchen im langen schwarzseidenen Kaftan. – Er erhob die Hand und rief: »Schahh!« Stille gebietend. Und es ward still; selbst die wildesten Hähne auf den Dächern wagten keinen Laut. Und in dieser Stille sprach der Rabbi folgende Sätze aus, deren Unumstößlichkeit sich erst im weitern Verlauf unserer Geschichte bestätigen wird.
»Der Eruw ist poßul! – Was der Roscho Judenhasser. hat gemacht mit seiner Zang, das ist min haschomajim »Vom Himmel«.. Ihr sollt nicht vergessen, daß wir sind in Golus Verbannung.. – Die Weiber sollen anzünden die Lichter! – Die Männer sollen kommen in Schul herein! – Schahh!! Es ist Schabbos über die Welt« – –
So sprach er. Und es geschah, wie der Rabbi gesprochen hatte. Es sonderten sich die Weiber und die Männer, jene um die Lichter anzuzünden, diese, in ihrer Mitte sogar der gute Wachtmeister, um in Schul zu gehen. Kerkow, der Bösewicht, blieb allein bei den Zeugnissen seiner verruchten Tat. Mit seinem Zaun hatte er eine große Idee zertrümmert, eine Einheit zerstückelt, ein Gebiet der Ganzheit zerbröckelt in einhundertsiebenzehn Separat-Territorien vereinzelter Häuser der Stadt F. ...
In der wunderreichen Mikwe wirkte das große Ereignis des Tages für den Augenblick sehr verschiedenartig auf die Personen.
Reb Chaim, als er hörte, was geschehen, schlug noch einmal den Sch'loh hakodausch auf, legte die Hand auf ein Blatt und sprach gelassen und feierlich wie jemand, der die Schatten der kommenden Dinge lange vorher gesehen: »Hier steht es geschrieben! Das ist alles das Werk Altensteins!«
Die gute Golde war vom allgemeinen Schreck so eingenommen, daß sie das beste Stück Fisch, welches sie eben für den Zempelburger zurechtlegte, zur Erde fallen und einen Raub der Katze werden ließ, die sich dies Ereignis zunutze machte.
Mit Vögele aber war es ganz sonderbar. Sie hatte kaum vernommen, was geschehen, und sie sprang lachend auf, griff nach einem frischen Paar Gabel und Messer und putzte dies mit einer Hast und Gelenkigkeit, daß es nur so blitzte, noch ehe der Schabbos über die Welt kam.
»Vögele leben«, fragte Golde ganz erschrocken, »was machst du denn, du hast doch schon vier Paar geputzt?«
»Guck!« rief Vögele statt einer Antwort und spiegelte ihr schalkhaftes Gesicht im blanken Messer, »guck, so glitzern die Augen von mein Kosminer Chorifchen!«
Und der Schabbos war über die Welt gekommen; nicht ein Freund der Reichen allein, sondern ein Freund auch des Ärmsten der Armen. Die Hand des Friedensengels fuhr über das sorgenvolle Antlitz der Männer, sie verschönend, über das früh alternde Antlitz der Weiber, sie verjüngend. Mit reichem Segen beladen gingen die Heerscharen des Allmächtigen, trotz des zerstörten Eruw, von Haus zu Haus, von Stübchen zu Stübchen, von Kämmerchen zu Kämmerchen, wo auch nur zwei arme Schabboslämpchen, zwei Lichtstümpchen, brannten. Wo mehr der Flämmchen den engen Raum erleuchteten, da glänzten zumeist auch mehr der Kinder Köpfe; und auf dem Haupte jedes Kindes sahen die Engel des Schabbos die Hand des Vaters und die Hand der Mutter eine kleine Weile ruhen, und legten zu deren Segensspruch auch den ihrigen darauf nieder.
Aber alle Engel, die herumschweiften durch das ganze Städtchen, sie fanden keinen lichteren Raum mit lichteren Seelen, als die in dem engen, ärmlichen Stübchen der Mikwe. Auf Goldes Antlitz lagerten sie in rosigen Scharen, und Vögeles Wesen umschwebten sie von allen Seiten, als wüßten sie gar nicht, wo an ihr das liebste Plätzchen zu finden. So gedrängt voll war das kleine Stübchen von ihnen, daß der gute Reb Chaim glaubte in Wronke zu sein, und der Zempelburger – denn er saß am Tisch, Golden gegenüber – sich fühlbar von ihnen angehaucht empfand. Sein sonst bleiches Angesicht rötete sich; sein sanfter Blick strahlte lebhafter und sein Herz bewegte sich in Rhythmen, die zwischen Wehmut und Jubel mitten inne schwebten.
Wie sich's gebührt, hatte man singend die Engel mit dem Liede »Scholaum alechem« »Friede mit Euch«. begrüßt, den Segen über den Becher gesprochen, für die Sabbatheiligung gedankt, die Hände gewaschen, das Sabbat-Brot aufgeschnitten, die Speisen herumgeteilt und auch schon davon genossen; aber alles in tief stiller Weise. Wären nicht Vögeles Augen zuweilen gar so lebhaft, man hätte glauben mögen, einen schönen Traum zu sehen.
Nur über Reb Chaims Antlitz lagerte noch der stille Gram der Tauchecho.
Er warf einen Blick auf seinen Gast und sah dessen Auge am Angesicht Goldes hangen, die still vor sich hinsann. In der guten Seele des Reb Chaim dämmerte die Hoffnung auf, daß wohl der Zempelburger auch an die Triumphe seiner lieben Kinder in Wronke denken möge, er richtete deshalb an ihn die leise Frage: »Bochur, seid ihr schon einmal in Wronke gewesen?« Als jedoch der Zempelburger diese Frage verneinte, wendete sich Reb Chaim, wie jemand, der aus einer bittern Gegenwart sich gewaltsam flüchten möchte, an seine älteste Tochter, die bei dem Namen dieser idealen Stadt mit einem ängstlichen Blick zu ihm aufschaute.
»Golde, mein Kind«, sagte er bittend, »willst du heut nicht einmal den »Menucho weßimcho »Ruhe und Freude«, Tischlied für den Freitagabend.« singen, den der Wronker Chason Synagogenvorsänger. von dir gelernt hat?«
In einer Seelenpein, für die sie kein Wort finden konnte, wendete sie ihr Gesicht um Schonung bittend dem Vater zu; dieser aber fühlte sich hierbei schmerzlich zurückgewiesen, und von dem eigenen Kinde zurückgewiesen. Mit der Hand durch die Luft fahrend, als ob er Altenstein und die Tauchecho von sich abwenden möchte, ließ er den Kopf sehr betrübt und sehr resigniert sinken. – Vögele sah dies alles und sann nur ein Weilchen darüber nach und sofort flammte die Munterkeit blitzartig in dem Kinde auf und entzündete in ihr mit einem Male einen vollen Schlachtplan der siegreichsten Taktik.
»Bochur!« rief sie aus, so hell, so frisch und munter, daß alle wie aus einem Traume aufwachten: »Bochur, wollt Ihr mir nicht eine Weiber-Frage beantworten?«
»Warum nicht?« sagte der Zempelburger mit Lächeln, »wenn Euch nur eine Männer-Antwort genügen kann.«
»Nun sagt mir«, rief Vögele: »Warum singt man in der heiligen lieben Schul gar nicht beim Herausheben der Tora und warum singt man so viel, »Jekum purkon«, »Mi scheberach« und gar »Rauschchaudesch-Benschen« vor dem Hineinheben derselben?«
Der Zempelburger wußte nicht, wo das hinaus sollte und sagte mit unsicherer Stimme: »Das ist ein alter Brauch, der –«
»Geht doch«, rief Vögele, ihn unterbrechend, »Ihr wollt mir nur mit einer gelehrten Männer-Antwort kommen, daß wir Weiber sehen, wie wir Euch gar nicht begreifen. Ich will Euch erst einmal die Weiberantwort sagen, die ich in meinem »Zeno ureno« gelesen hab'!«
»Nun?« lächelte der Zempelburger.
»Ehe man Gottes Wort hat gehört«, sagte sie, »ist die Neschomo still, und will nur aufhorchen und kann gar nicht singen. Hat sie aber Gottes Wort aus der heiligen lieben Tora vernommen, da wandelt sie Gesang an voll Erlösung und voll Segen! – Was haltet Ihr von dieser Antwort?«
»Sie ist so wahr und richtig wie Gottes Wort«, sagte der Zempelburger; man möcht' nach ihr gar einen Lobgesang anstimmen!«
»O nein«, rief Vögele: »so leichten Kaufs kommt Ihr bei mir nicht fort! Nicht wahr, lieb Vater?«
Reb Chaim war wieder voller Bewunderung und bejahte lächelnd die Frage des Kindes. In seinem Herzen sagte er: »Die Wronker Rebbezen hatte doch recht! Golde ist gar nicht mit mein Vögele zu vergleichen. Sie hätte nur müssen ein Jung' sein!«
Vögele aber fuhr munter fort: »Wie soll wohl meine Golde »Menucho weßimcho« singen, wenn Ihr, Bochur, uns noch gar kein gleich Wörtchen gesagt habt aus der heiligen lieben Tora?« Nicht wahr, Goldeleben?«
Goldes Blick drückte der Schwester tausendfachen Dank aus, und schweifte über den Zempelburger hin, so rührend und bittend, daß dieser sich sofort rüstete, der Aufforderung gebührend Genüge zu leisten. Denn so ist es nach der Väter Ausspruch Sitte in allen guten Häusern, daß wo da essen auch nur zwei an einem Tisch, gehört werde ein Wort der Lehre; und zumal ein guter Gebrauch in jeder frommen Gemeinde, daß der Bochur als Schabbosgast ein Wörtchen sage aus dem Wochenabschnitt, welches das Herz des Gastgebers stärke und erfreue.
Und so begann der Zempelburger wirklich von dem Wochenabschnitt der Tora zu sprechen; aber der Abschnitt gerade dieser Woche, war er nicht das Schmerzlichste, das hier berührt werden konnte? Er blickte auf Reb Chaims Antlitz und sah es wieder trübe verschleiert; auf Golde, ihre Augen blickten schwermutsvoll auf den alten Vater. Er fragte forschend in Vögeles Angesicht; ihre Augen sprachen, aber er verstand die Sprache nicht.
»Was will sie?« fragte er sich, während er zerstreut den ersten Vers des Wochenabschnittes »kis fowau« als Text seines »Wörtchens« rezitierte.
Aber Vögele ließ ihn gar nicht weitersprechen. »Guter Bochur«, rief sie aus: »nun müßt Ihr mir noch eine Weiberfrage erlauben!«
»Die Ihr wieder besser beantwortet?« lächelte er.
»Das wollen wir einmal sehen!« rief sie aus.
Reb Chaims Augen waren wieder voll Bewunderung.
»Erklärt mir doch einmal«, fragte Vögele mit vielem Nachdruck, »warum der Wochenabschnitt vom vorigen Schabbos mit einem Weibe beginnt und der Wochenabschnitt vom nächsten Schabbos wieder schon der Weiber im zweiten Vers gedenkt und weshalb gerade der heutige nicht?«
Der Zempelburger war wiederum verlegen, nicht um eine Antwort, sondern weil er nicht wußte, wo das hinaus soll. »Lasset mich«, sagte er deshalb, »erst Eure Weiberantwort hören und wenn sie falsch ist, sag' ich Euch die rechte!«
»Gut«, sagte Vögele, »gut! Ihr sollt die Weiberantwort hören!«
Sie erhob sich vom Stuhl und sprach in einem Ton, dem man es anmerkte, wieviel ihr auf das, was sie beabsichtigt, ankomme. »Wir armen Weiber«, sagte sie, »uns hat Gott, gelobt sei er, ein schwach Gemüt gegeben, darum hat er uns nicht hingestellt, um ein hart Wort an uns zu richten. Euch Männern aber hat er ein fest Gemüt gegeben, das sich nicht beugen soll bei Strafred, denn die Strafred von Gott sind wie Vaterred, die aufrichten sollen! Darum steht ihr allein dabei! Wär ich ein Mann«, fuhr sie ohne Unterbrechung fort, »wär ich ein Mann und ein solcher Lamdon »Lerner«, in der Lehre Bewanderter. wie Ihr seid, ich träte hin und sagte: Was predigt Ihr Strafred solch einem greisen Haupte, dem sein Gemüt nicht mehr so fest ist? Mich ruft auf zur Tora, ich weiß, was da gesagt hat Schlaumau hammelech, olow hascholaum König Salomo, Friede mit ihm. ›die Straf' von Gottes Mund ist Balsam für die Wund'!‹ und morgen nachts wollt' ich inmitten des Beshamidrasch vor allen Bachurim und allen Gelehrten beweisen, daß ich recht getan!«
Reb Chaim war einen Augenblick starr vor Staunen über die Weisheit seiner Tochter, dann richtete er sich hoch auf von seinem Stuhl und war nahe daran, sich zu bücken vor ihr. Seine Hände und seine Stimme zitterten.
»Das ist der Maggid! der große Maggid, mein Ältervater, olow hascholaum. – Vögelche, mein Kind! Hast du das geredt oder hat ein Maloch Bote, Engel. dir alles gesagt? Komm her«, er breitete die Arme aus »daß ich dich noch einmal heut bensche.«
Vögele konnte nicht allein dem Aufruf folgen, denn Golde war aufgesprungen, hatte sich der Schwester ans Herz geworfen und sie mit ihren Armen umklammert. Der alte Vater mußte beide Kinder in seinen Armen aufnehmen. Von der unvermuteten Aufregung sehr angegriffen, sank er, mit dem rechten Arm Vögele, mit dem linken Golde umfassend, auf seinen Sitz zurück.
»Reb Chaim«, begann jetzt der Zempelburger nach einer Pause, »ich glaube, ein Maloch von Gott hätte nicht wahrer, nicht klarer sprechen können, als Euer Kind. Ich schäme mich, diese Wahrheit nicht längst gefunden zu haben, und bitte Euch, daß Ihr mich zu morgen sollt mechabbed sein Beehren. mit Eurer Alijo Das Hintreten zur Torarolle während der Verlesung.«
Der Alte wiegte den Kopf hin und her, wie Jemand, der vor Verwunderung keines Wortes mehr mächtig ist; dann blickte er um sich, wie Jemand, der sich dessen versichern will, daß alles, was er sieht und hört, kein Traum sei, und endlich zog er die Arme von den Kindern fort und bedeckte mit beiden Händen sein Gesicht, wie jemand, der sich scheut zu zeigen, was die Augen nicht mehr bergen können. Nach einer Weile erst, nachdem zwei große Tränen bis auf seinen grauen Bart hernieder gerollt waren, streckte er die rechte Hand dem Zempelburger hin, in welche dieser einschlug.
»Bochur«, sagte er mit sehr bewegter Stimme, »Gott, gelobt sei er, rufe ich zum Zeugen an. Auf der Welt könntet Ihr mir nichts mehr bieten, als Ihr getan, und auf der Welt kann ich armer Mann Euch nichts geben, was ich Euch nicht sonst auch gern gegeben hätte. Aber auf jener Welt, wenn mich Gott wird abgerufen haben und wenn ich werd' gereinigt sein durch Jissurim »Züchtigungen«, sühnende Leiden. von all meinen Sünden und ich werde gebracht werden von dem Maloch in den lichtigen Gan-Eden Paradies., daß ich soll bekommen meinen Anteil in jener Welt, dann werde ich gehen zu all den lichtigen Zaddikim Frommen. von Mausche rabbenu »Unser Lehrer Mose«. an, dessen Antlitz leuchtet wie die Sonne, bis zum Sch'loh hakodausch, der seinen Sitz hat mitten in dem siebenten Himmel und ich werd' für Euch Fürbitte tun, daß Ihr und alle, die Euch angehören, sollt beglückt werden bis hundert Jahr, wie Ihr mich habt beglückt an dem heutigen lieben Schabbos kaudesch!«
Golde war auf ihren Stuhl gesunken und verbarg ihr Angesicht, und auch in Vögeles Augen flimmerten Tränen, wie sehr sie dieselben zurückzuhalten bestrebt war.
Und als die Engel des Sabbats sahen, daß es Wehmutstränen waren, die in aller Augen schwebten, und als sie wahrnahmen, wie in jeder Träne neue und neue Sabbatlichter brannten, da begannen sie den stillen Reigen wieder zu tanzen um jedes Haupt und um den Tisch und ringsum in der ganzen Stube, und bald waren ihrer wieder so viel, daß der Raum zu eng ward in dem Stübchen, und all die, welche noch immer hinzuströmten, den dunkeln Flur füllten und bis zur Haustür hinaus, in welche der Mond gar hell hineinleuchtete.
Aber nach einer ganzen Weile, da horchten sie alle auf, denn Vögele begann mit ihrer zarten Stimme das Sabbatlied »der Ruhe und der Freude«, sie begann »Menucho weßimcho« zu singen mit der Melodie, die der Vater heute erbeten. Sie sang allein, leise, wie es so recht zum Mitgesang einladet. Und als sie an den Vers kam:
Schemej schomajim erez wejammim,
kol z'wo moraum gewauhim werammim.
Der Himmel Himmel, Erd' und Meer
Das ragend hohe Engel-Heer
da trennten sich die Engel zu zwei Scharen; denn die des Sanges umringten Goldes Haupt, die mitzusingen begann, während die des Wortes sich treu zu Vögele hielten. Die Stimme Goldes klang so glockenvoll, so glockenrein, so warm und so aus der Herzenstiefe, daß jeder, der auch nur einen Ton ihres Mundes gehört, ohne ihr reines Gesicht zu sehen, zu ihr hätte die Worte des Hohen Liedes (2, 14) sprechen mögen;
Wie süß die Stimme dein,
so hold muß dein Antlitz sein.
Am reich gedeckten Tisch des Reb Noach Brall saß um dieselbe Stunde der Kosminer mit Flammen der Verlegenheit im Antlitz; denn Täubchen, die stattliche Frau, hatte ihn heute mit einer Zuvorkommenheit aufgenommen, wie sie ihm noch in keinem Hause widerfahren. Solcher Aufmerksamkeit in reichen Häusern nicht gewohnt, war er schon hierdurch ein wenig eingeschüchtert; aber die liebe Frau hatte weit mehr als es sonst Sitte ist, sich mit Fragen, seine Person betreffend, an ihn gewandt und lächelte zuweilen, wenn er in Verwirrung zu sein schien. Dem Scharfblick des Kosminers entging es nicht, daß Reb Noach heute ernster war, als er ihn sonst gesehen, und daß er das Benehmen seines Weibes gegen ihn nicht billige. Wenn er verlegen die Augen senkte und dann mit seinem schnellen Blick aufsah, überraschte er mehrere Male die stattliche Hausfrau, wie ihr Blick in seinen Mienen zu lesen suchte, und erschrak, wenn er hiergegen einen klugen forschenden Blick von Reb Noach Brall entdeckte, der auf ihm und zuweilen auch mit Spannung auf seiner Frau haftete.
Welche Flammen schlugen aber über ihn zusammen, als Täubchen folgende Worte an ihn richtete: »Bochur«, sagte sie, »Ihr seid mir gewiß ein gar lieber Gast, und ich habe mich gar sehr auf morgen mittag gefreut, wo ich hoffte, Ihr werdet uns vom Worte Gottes etwas zum besten geben, das auch ein Weiberherz versteht. Allein, Ihr wißt, was heute geschehen; der Eruw ist poßul Ungültig.; ich kann mein Mittagessen nicht ins Haus bringen lassen. Es steht in Reb Chaim Mikwenitzers Ofen. Wir hier werden uns behelfen müssen; wäre es aber Euch wohl recht, wenn ich Euch bitte, dort Euern Mittagstisch zu nehmen? Ich will Vögelchen sagen lassen, daß sie Euch bediene!«
Der arme junge Mensch! Wie sollte er auch nur ein Wort hervorbringen bei solchem Flattern seines Herzens, bei solcher Glut, die er auf dem Angesicht fühlte, bei solchem Beben, das ihn durchfuhr? Er stotterte ein paar Worte heraus, so verworren und unverständlich, daß er mitten innehielt, als er wiederum ein Leuchten in Täubchens Augen und im Angesicht Reb Noachs einen Ernst bemerkte, der wie eine Wolke darüber lagerte. »Ich werd' das morgen mit Reb Chaim in der Schul abmachen«, sagte der Hausherr mit ruhiger Strenge, und überhob ihn so einer Antwort. Nach einer Pause fuhr Reb Noach fort: »Ich bin müd', lieb Weib, ich bin«, setzte er mit einer erzwungenen Ruhe hinzu, »ich bin zu alt geworden für die schwere Freitagsarbeit! Wir wollen benschen Segnen; hier: den Tischsegen sprechen.!«
Mit diesen, in kurzen Absätzen gesprochenen Worten begann er denn auch sogleich nach einem flüchtigen Seufzer: »Boruch hu uworuch sch'mau«, »Gelobt sei Er und gelobt sei sein Name, der da speiset die ganze Welt in seiner Güte«, und fuhr fort im Tischgebet, mit ruhigerer und lauterer Stimme und Stimmung.
Nur bei einem Satze im eingelegten Sabbatgebet, nur bei den Worten:
»Und in deiner Gnade gewähre es uns, Herr, unser Gott, daß nicht komme Gram und Leid in unsere Ruhe«, nahm die Stimme wieder bei ihm einen leisen Anflug, als ob heute gerade seine Andacht eine tiefere Beziehung hätte.
Was regte sich denn in ihm? – Eifersucht?! – o wie kommt dieser Unhold in die Brust des klaren Mannes, des Gatten eines so liebetreuen Weibes! Aber ein Schatten war es doch, wohl nur ein »flüchtiger Schatten«, wie die Schrift es nennt; und der Talmud erklärt dies Wort: »Nicht wie der Schatten einer festen Mauer, nicht einmal wie der Schatten eines schwankenden Baumes, sondern wie der Schatten eines flüchtigen Vogels, der im Sonnenlicht vorüberzieht.« Solche Schatten ziehen an wolkenfreien Tagen auch über lichte Gefilde und durch reine Herzen! Und so sehr war es ein flüchtiger Schatten, daß Täubchen, die sonst so zartfühlende Gattin, nichts merkte, ja, daß sie nach dem Tischgebet sich wieder an den Bochur wandte: »Bochur, wollt Ihr nicht doch im Vorübergehen Vögelchen meinen Gruß bestellen und ihr sagen, daß sie sich auf Euch einrichten soll?«
Reb Noach stand vom Tische auf, der Kosminer eilte mit flüchtigem Gruß davon und in der Stube war es still.
Da blickte Täubchen zu ihrem Manne auf, und ihr Auge sah zum erstenmal jenen flüchtigen Schatten über seinem Antlitz.
»Noach leben«, sagte sie mit ihrer frischen Stimme, »bist du denn so gar müde heut?«
»In meinem Alter«, sagte Reb Noach ernst.
»In welchem Alter? mein Herzmann!« lächelte Täubchen und schüttelte den Kopf.
Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und sprach mit einer Strenge, die ihm sonst wohl eigen war, aber dem geliebten treuen Weibe gegenüber fremd: »Was hast du das Bochurchen heut so in Verlegenheit gesetzt?«
Sie schüttelte noch immer den Kopf; aber sie lächelte dabei und rückte mit ihrem Stuhl ihrem Manne näher. »Erkennst du denn die Flammen gar nicht, die im schönen Ponim Gesicht. dieses Bochurchen geleuchtet? Das ist so voll von Liebe jetzt, wie deines immer geleuchtet hat!«
Der Schatten des fliehenden Vogels ging wieder über das Antlitz; sein Auge forschte, aber sein Mund war stumm.
Das Weib aber sprach mit lichtem Lächeln: »Noach, mein Herz, wenn ich dir's erst gesagt haben werde, was ich gestern abend in der Mikwe drüben erfahren –«
Bei diesen Worten kamen zwei Schabbos-Engel aus dem Hintergrunde des Zimmers hervor, wo sie so lange ganz still geweilt, und setzten sich ganz, ganz dicht an beide Seiten der Gatten.
»Gestern?« fragte Reb Noach, und der Schatten war weit, weit weg; sichtbar noch, aber doch verschwindend. Der Engel an seiner Seite aber drängte sich so dicht an ihn, daß er sich zu seinem Weibe hinneigen mußte, und der Engel an ihrer Seite flüsterte ihr etwas ins Ohr, und das muß wohl so liebevoll gewesen sein, daß sie gar nicht anders konnte. Sie schlug mit einem Male beide Arme um seine breite Brust und versteckte ihr Angesicht an seiner Schulter.
»Als ich heimkam, saßest du über deinen Büchern und bereitetest sie vor zu deiner so schweren Freitagsarbeit, guter Mann! Und ich, ach ich war wieder von allem, was ich dort gehört und gefühlt, so voll, voll Gemütsbewegung, wie ich gar nicht sein soll.«
Und sie war wieder so, wie der Kreisdoktor meinte, sie solle nicht sein, wie sie aber immer sein mußte, wenn sie Täubchen bleiben wollte.
Reb Noach hob ihr am Kinn das Antlitz in die Höhe und blickte hinein in das Auge und weidete sich an dem Lächeln ihres Mundes und dem Erröten ihrer Wangen; und fort, fort, weit fort, auch nicht in einer Spur mehr zu sehen war der flüchtige Schatten.
»Ich muß dir noch alles erzählen«, sagte sie, »von Golde und dem Zempelburger Bochur und von dem liebherzigen Vögelchen und dem Kosminer Bochur, des Flammengesicht du leuchten gesehen. Ach, das ist so lieblich und so duftig, wie eine Geschichte in Tausend und Eine Nacht.«
Und schon wieder war sie, wie sie nach dem Kreisdoktor nicht sein sollte, und das fühlte Reb Noach, an dessen Brust sie das Haupt wieder lehnte bis in sein liebendes klares Herz hinein. Er neigte sein Angesicht zu ihrem herab, so daß die Engel über der Gatten Häupter sich ansehen konnten. Sie lächelten beide.
»Schöne Scheheresade«, sagte Reb Noach. »Erzähl' nur alles, denn ich hab' dich lieb, wie ich dich geliebt hab' schon lange Zeiten, als du noch ein halb Kind warst, vor Tausend und Einer Woche!«
Die Gatten erhoben sich, zwei stattliche Gestalten, aneinandergelehnt schritten sie langsam aus dem Zimmer; die Engel blickten ihnen nach, lächelten und zogen von dannen.
Und draußen über dem Städtchen fanden sie Mondnacht und Sabbatstille gelagert und viele, viele Engel, die heimzogen nach der Höhe: denn die des Sabbatabends sind nicht die des Sabbattages. Jene sind lichter und lauter, diese weiser und stiller; jene lächeln, diese sinnen, jene lieben, diese lehren!
Nur in dem engen dunklen Hausflur der Mikwe drängten sich noch viele, viele Abendengel durcheinander; denn drinnen war das Stübchen noch immer voll, weil Golde Sabbatlieder sang und immer wieder von neuem anfing, sobald nach tiefer Stille die Stimme Vögeles anstimmte.
Warum hat Vögele ihren Stuhl verlassen und sich an Golde eng angeschmiegt auf ihrem Bänkchen? Sie wußte es nicht klar; aber die Engel des Sabbats wußten es, denn sie flüsterten das Synagogenlied »Lecho Daudi«, das gehört wird, so weit Israel den Sabbat grüßt:
»Komm, Geliebter,
zur Braut gegangen;
des Sabbat Angesicht
wolln wir empfangen.«
Und er kam.
Als der Kosminer in die Tür eintrat, da kehrte ihm Vögele das Antlitz nicht zu; sie raunte vielmehr Golden ins Ohr: »Guck du ihn an, wie das leuchtet in Aug' und Löckchen und Angesicht. Ich könnte schier blind werden!« Aber ihre Hand zog von unter dem Tischtuch Messer und Gabel hervor, das sie schon für ihn zu morgen geputzt, als sie eben nur gehört, daß der Eruw ungültig sei, und sie spiegelte alle Schabboslichter in der blitzenden Klinge wieder, daß die Augen des Kosminerchens auch schier geblendet wurden. Er machte seine Bestellung an Reb Chaim ab und trug sich als Gast zu morgen Mittag im Namen Reb Noach Bralls an, und obwohl es sie gar nicht überraschen konnte, zuckte doch der Arm Vögeles, den sie um Golde geschlungen hatte, so voll Lust und Entzücken und Schalkhaftigkeit, daß Golde wirklich von all dem angesteckt wurde.
Der glückliche Reb Chaim nahm seinen neuen Gast mit Freude und Ehre auf.
»Setzt euch, Bochur,« rief er, »da auf Vögelchens Stuhl, die Kinder sitzen ganz gut beieinander. Ihr kommt ja wie gerufen, wir können nun mesummen benschen Den Tischsegen zu drei Männern, mit der dafür vorgesehenen Einleitung, sprechen..«
Während des Gebetes, wo der Kosminer das Antlitz Vögeles nur von der Seite sah, flackerte es in dem armen Menschen wieder wie die große Verzweiflung auf. Aber als sich alle erhoben, da war's ja gar nicht anders zu machen, und die beiden Pärchen sahen sich so voll und liebend in die Augen, daß die Engel gar nicht wußten, wem sie folgen und wo sie bleiben sollten, als endlich die Gäste Abschied nahmen.
Es war schon spät, als die Mädchen durch den finsteren Flur hinaustraten in die Mondnacht, um in der milden Abendluft ihr glühend Angesicht zu kühlen. Golde schweigend, Vögele in der ganzen Überschwenglichkeit ihres Wesens.
»Golde!« rief sie und preßte leidenschaftlich die Hand der Schwester in die ihrigen. »Glückselige Golde, die du einen Jubel in dein treu Herz kannst einschließen, und so ganz, ganz allein für dich!«
»Und nicht für ihn?« fragte Golde still.
»Ja«, rief Vögele, »und für ihn! Das ist ja auch für dich. Ich aber, Golde Herz, mir geht's über alle Sinnen, daß ich's gar nicht aushalt über Schabbos, wenn nicht die ganze Kehilla gleich weiß, daß ich sterben möcht' für jed' Löckchen in dem glänzedigen Penemchen Gesichtchen. meines Kosminers!«
Aber welch ein Erschrecken folgte diesem Ausruf! Auf dem Stein vor der Mikwe, seitwärts der Tür, im Schatten, saßen die beiden Bachurim noch und hatten Alles, Alles gehört. Sie sprangen hervor. Golde, dem Umsinken nahe, wurde vom Zempelburger aufgefangen, Vögele, mit einem Schrei aufspringend, stand dem Kosminer einen Augenblick fast drohend zornig gegenüber. Was sie der ganzen Welt eben gestehen wollte, das sollte er, das durfte er aus ihrem Munde nicht so erfahren. Aber er hatte sie trotzdem mit beiden Armen umfaßt, so daß ihr nichts übrigblieb, als die schnell wiedergekehrte Schalkhaftigkeit ihres ganzen Wesens.
»So?« rief sie und versuchte nur schwach, sich aus seinen Armen zu befreien, »was seid Ihr mir für ein frommer Bochur, daß Ihr uns Mädchen so erschreckt, als wär's eine Sünde, wenn wir herauskommen, um auch einmal die Lewono mekaddesch zu sein Den neuerschienenen Mond mit dem üblichen Gebet weihen, was aber nie am Sabbat geschieht.«
»Am Schabbos!« lachte der Kosminer und hielt nur um so fester umschlungen.
»Chorifchen »Scharfköpfchen«.«, entgegnete sie spottend, »seid Ihr so fromm, wie dürft Ihr am Sabbat versuchen, die Flamme der Schmeichelei in meinem Herzen zu entzünden!« Am Sabbat darf kein Feuer entzündet werden.
Der arme Bochur, er fühlte sich zurückgeschlagen; durch einen Scherz zwar; aber er sah, daß er solchem Wesen gegenüber von der Kraft seines Arms keinen Gebrauch machen kann. Er ließ sie nun frei und sprach im Tone ernster Anbetung:
»Lichtiges Wesen, mit meinem Arme kann ich dich zwingen und halten; aber wie fasse ich, halte ich deinen Geist, der so hell ist wie die Sonne!«
»Oh, geht doch«, sagte Vögele sanftmütig: »Gegen den Mond habt Ihr schon gesündigt, und nun vergeht Ihr Euch gar auch gegen die lichtige liebe Sonne«.
»Ach!« rief er aus: »ich weiß nicht, ob ich mich nicht gegen alles, alles versündigen könnt'!«
»Da soll ja Gott im siebenten Himmel sich erbarmen! Ihr sprecht ja, daß man Euch müßte den Mund zuhalten!«
Und hierbei kam ihr Händchen dem Munde so nahe, so nahe, daß er es ergriff, und es mit Inbrunst an die Lippen preßte.
Was half's? Ein sündiger Mund ist gar nicht so leicht zu stillen. Wohl hatte sie es schon mit beiden Händen versucht; aber die sündhaften Worte gegen die gute Sonne, gegen den lieben Mond, gegen alle lichtigen Sterne, gegen den großen Himmel, gegen die weite Erde, wollten gar kein Ende nehmen; und als er einmal ihre beiden Hände wieder gefaßt hatte, und mit einem Beben, das aus den innersten Stürmen einer in Flammen geratenen Seele entsprang, ausrief: »Wenn ich deinen Namen nenne, möcht' ich hinfallen auf die Knie, wie all die Priester und all das Volk, wenn sie hörten aussprechen den Einen Namen, den erhabenen, den heiligen und den reinen Am Versöhnungstage, wenn der Hohepriester den Gottesdienst im Tempel zu Jerusalem verrichtete.!« Da erschrak die Arme so wegen dieser Sünde, daß sie mit Beben den Mund des Frevlers schloß, und so schloß, daß er der Sprache und der Sinne für eine Weile gar nicht mehr mächtig war, und als er dann aufblickte, nur sah, daß sie ihm entflohen war.
Der Zempelburger geleitete Golde noch einen Schritt in den Flur hinein.
»Und du glaubst so ganz an mich, du herziges Herz?« fragte er sie mit einem Händedruck.
»Ja!« sagte Golde, »ganz, ganz glaub ich an Euch!« Dann entzog sie ihm sanft die Hand und folgte ihrer Schwester.
Ein alter Bibelspruch lautet:
»Gott hat die Menschen gerade gemacht; und sie suchen die vielen Exempel.« Eine werkwürdige rabbinische Erklärung hierauf lautet: »Gott hat die Menschen gerade gemacht« – dies sind die gewöhnlichen Volksklassen; »und sie suchen die vielen Exempel« – dies sind die Schüler von Weisen.
Der Sabbattag in der frommen Kehilla F., der in unserer Geschichte dem Sabbatvorabend folgte, hatte offenbar die Tendenz, den rabbinischen Ausspruch zu bewahrheiten. Er entwickelte so viele gesuchte Exempel der »Schüler der Weisen«, daß er zu den denkwürdigsten unserer guten Stadt gehörte.
Wir haben bereits den Frankfurter Rabbiner vor dem gestrengen Herrn Senator Jenichen mit Wort und Daumen sehr instruktiv das Wesen des Eruw erklären hören; wir hoffen, daß unsere Leser eingesehen, wie dies Vorbild elektrischer Telegraphenleitung infolge sehr scharfsinnig berechnender Gleichungen höhern Grades ganz gleich sei einem Torweg, einer Mauer und einem Hause. Wem dies einleuchtet, dem wird aber auch folgendes verständlich werden.
Daß man am Sabbat keine Lasten tragen darf, das versteht auch das gewöhnliche Volk, der »Am hoorez«. Was aber eine Last ist? das haben die Schüler der Weisen, die »Talmide chachomim«, herausgefunden. Daß eine große Kiste von Zentnerschwere eine Last sei, ist nicht schwer einzusehen; aber die Entdeckung, daß eine Kiste so gut sei wie ein Kasten, und ein Kasten so gut sei wie eine Schachtel, und eine Schachtel so gut sei wie eine Tabaksdose, das läßt sich freilich erst aus »den vielen Exempeln« herausfinden, die gesucht sein wollen.
In der frommen Kehilla F. war es nicht mehr nötig, dergleichen zu suchen; es war längst herausgefunden. Die Tabaksdosen waren für den heutigen Sabbat, wo der Eruw gesprengt, die Einheit des Territoriums zerrissen und ein Schritt über die Hausschwelle einer Reise von Gebiet zu Gebiet gleich war, in die Behausungen der Besitzer gebannt.
Anders verhält es sich mit den Schnupftüchern. Zwar ist es ausgemacht, daß ein Schnupftuch so gut ist wie ein Laken, und ein Laken so gut ist wie ein Stück Leinwand, und ein Stück Leinwand so gut ist wie ein Ballen Ware. Es konnte demnach kein Zweifel darüber herrschen, daß der Transport eines Schnupftuchs über die Straße für heute eben so zu den Unmöglichkeiten gehört, wie der Transport von Warenballen in der Rocktasche aus einem Ländergebiet ins andere. Dahingegen genießt das Schnupftuch das große Vorrecht vor den Tabaksdosen, daß es nicht als Defraudation angesehen wird, wenn man dasselbe unter veränderter Beschaffenheit über die Straße bringt. Bindet man sich nämlich in seiner Behausung das Schnupftuch um den Leib, so hört es auf Schnupftuch zu sein und wird Leibgurt. Ein Leibgurt ist aber ebensogut ein Kleidungsstück, wie eine Hose, und da es ausgemacht ist, daß eine Hose, an ihrem Bestimmungsort getragen, keine Last sei, so kann ein als Leibgurt verkleidetes Schnupftuch ebenfalls keine sein.
Hiernach sollte man nun freilich meinen, daß alle Schnupftücher der Welt so hinreichend begünstigt seien vor den unglücklichen Tabaksdosen, daß es keiner Seele einfallen sollte, zugunsten derselben noch irgendeine Art erlaubten Transportierens zu ersinnen. Aber der sündige Mensch ist einmal so, daß er nicht Maß zu halten weiß, sobald man ihn mit Erleichterungen in dem Gebote entgegenkommt, und es ist eine Tatsache, die nicht in Abrede gestellt werden kann, daß ein Teil der Kehilla etwas darauf setzte, die Schnupftücher nicht in Form von Leibbinden oder Gürteln, sondern unter der Form von Handschuhen über die Straße zu transportieren!
Wir sind weit entfernt von der Annahme, daß hierdurch, wie einige behaupten, eine Boshaftigkeit an den Tag gelegt worden, die der Kerkow's gleichkomme. Gleichwohl wollen wir nicht leugnen, daß es verfänglich ist zu behaupten: ein um die Hand gewickeltes Schnupftuch sei so gut wie ein Handschuh, und ein Schuh für die Hand sei so gut wie ein Schuh für den Fuß, und da dieser ein erlaubtes Kleidungsstück, so könne ein Schnupftuch um die Hand gewickelt nicht als Last, sondern müsse als Kleidung betrachtet werden. Wir sagen: es ist verfänglich, da man auf gleicher Basis leicht dahin gelangen könnte, einen Regenschirm als einen Hut mit breiter Krempe anzusehen, während er bekanntlich nach allen Autoritäten der »Berechner« ganz und gar den Gesetzen eines »Zeltes« unterworfen ist!
Nicht zur Rechtfertigung, wohl aber zur Entschuldigung derjenigen, welche in unserer Kehilla am Sabbatmorgen mit den Schnupftüchern um die Hand gewickelt in die »Schul« gingen, müssen wir des einen Umstandes erwähnen, daß sich in unserer frommen Kehilla hierüber keine sichere Praxis hatte herausstellen können. Der Eruw war seit vielen Jahren nicht ungültig geworden; ja die Achtung vor demselben stand so hoch in den Augen sämtlicher Bauern, die am Freitag zu Markte kamen, daß sie lieber ihre Peitsche am Eruw hängen ließen, wenn sie durch einen unglücklich geführten Hieb sich daran verwickelte, als daß sie durch Zerren sich hätten der Gefahr aussetzen mögen, den Draht zu sprengen und ihrer Kundschaft ein so bitteres Leid zuzufügen.
Aus jenen längstvergangenen Zeiten nun, wo es zuletzt geschehen war, daß der Erew ungültig wurde, waren dunkle Sagen freilich in die Nachwelt gelangt, daß damals bereits mehrere sehr fromme Einwohner von F. ihre Schnupftücher um die Hand gewickelt, also als Handschuh transportiert hätten. In neuern Zeiten waren Zerstörungen des Eruw fast gar nicht geschehen, und hauptsächlich seit den Zeiten, daß Reb Jizchak Reb Simchas auf dem Lehrstuhl saß, hatte er noch gar keine Gelegenheit, die Schnupftuch- oder richtiger die Gürtel- oder Handschuh-Frage zu erörtern und zu entscheiden. Somit müssen wir denn freilich in diesem Mangel einer festen sichern Praxis einen Entschuldigungsgrund für diejenigen finden, die sich in diesem Punkte einer jedenfalls leichtsinnigen Auffassung des biblischen Verbotes, Lasten am Sabbat von einem Gebiet ins andere zu tragen, zu schulden kommen ließen.
Aber unser milderes, durch historische Betrachtungen objektiv gewordenes Urteil, konnte an jenem Tage, wo Kerkows Schandtat noch gar zu sehr die Gemüter rege hielt, auch nicht im entferntesten bei all denjenigen Eingang finden, die ihre Schnupftücher als Gürtel um die Leiber trugen und demnach in den Handschuh-Trägern fast Genossen Kerkows sehen wollten. Bei der an Mündlichkeit und Öffentlichkeit gewöhnten Bevölkerung war es nicht wunderzunehmen, daß fromme Glieder der Gemeinde nicht, wie jetzt üblich, durch Inserate in der Zeitung ihre Gesinnungen darlegten, sondern das freie Wort hier walten ließen, und somit schon beim Hineingehen in die Schul Stichelreden fielen, die den »Eingesandts« unserer Zeitungen Ehre gemacht haben würden. In der Schul selbst aber wuchs die Aufregung derart, daß Reb Jizchak Reb Simchas vor dem Leinen Tora-Verlesung. ausrufen ließ, er werde zum Schluß des Gottesdienstes in einer Deroscho rabbinischer Vortrag. die Angelegenheit erörtern und in Ordnung bringen. Diese Aussicht hielt nun die Gemüter in Ruhe, verursachte, daß man der Vorlesung aus der Tora die gebührende Aufmerksamkeit schenkte und sich erinnerte, daß heute der Schabbos sei, wo die »Tauchecho« geleint »leinen«: aus der Tora verlesen. wird.
Aber gerade dieser Umstand sollte der Aufregung nur wiederum Nahrung geben. Reb Noach Brall, der neben der Torarolle als Vorsteher dastand, stutzte, als er erfuhr, daß der Zempelburger Bochur sich freiwillig zur Alijo Hintreten vor die Tora bei ihrer Verlesung. für die »Tauchecho« gemeldet; allein er ahnte nach dem, was er am gestrigen Abend noch von seinem lieben Weibe erfahren, den Zusammenhang und gestattete mit einem Lächeln, das dem Schammes Synagogendiener. nicht gefiel, diese Neuerung. Als daher der Chason statt Reb Chaim den Bochur zur Tora aufrief und dieser dem Rufe mit aller Ruhe folgte, erhob sich ein solches Murren während der Vorlesung, daß der in üblicher Weise mit sehr leiser Stimme gehaltene Vortrag all der Strafandrohungen fast völlig dem Ohr der Gemeinde verloren ging.
Unter diesen Umständen war die herrschende Stimmung in der Gemeinde auf die vom Rabbi angekündigte Deroscho ganz besonders gespannt; und wir dürfen versichern, daß Reb Jizchak Reb Simchas mit Ehren die großen Anforderungen auch heute erfüllte, die der Stolz unserer Kehilla an ihn zu stellen berechtigt war.
Der unsterbliche gelehrte Mann gab ein Kunstwerk zum besten, das leider der Nachwelt nicht in unveränderter Form erhalten worden ist, welches sich aber würdig all den Produkten seiner Zeitgenossen anreiht, deren höchster Genuß darin bestand, unerklärliche Fragen über unerklärliche Bibelverse übereinander aufzugipfeln, bis ein ganzer Turm unerklärlicher Bibelverse daraus entstand, der dann endlich ebenso künstlich auseinander und zurechtgelegt wurde zum Ergötzen all derer, denen nichts in der Welt über ein »gleich Wörtchen« ging.
Der gute Rabbi machte sich die Sache nicht leicht. Er fing an mit der Rotte Korahs, die von der Erde verschlungen wurde, und fand es höchst auffallend, weshalb sie gerade an Zahl zweihundert und fünfzig Mann ausmachte? Von dieser unbeantworteten Frage ging er direkt auf den Felsen über, dem Moses mit seinem Stabe das Wasser entlockt, und ließ nicht früher, als bis er auch diesen Fels in einen unlösbaren Widerspruch mit einem Stück Midrasch verwickelte. Sodann warf er sich auf die Eselin, die Bileam geritten, und bewies unwiderleglich, daß dieses gescheite Tier im Augenblick, wo es sich zwischen zwei Zäunen quetschte, ein ganzes Stück im Talmud übersehen habe. Nunmehr ließ er das Tier in völliger Verlegenheit hinter sich und wendete sich an den Regenbogen, der nach der Sündflut erschien, um an ihn die Frage zu richten, warum er nicht wie der Bogen eines Schützen mit der konvexen Seite zur Erde gerichtet dastand, um seinen bedrohlichen Charakter besser ans Licht treten zu lassen. Nicht minder erschienen dem gelehrten Redner viele andere Wunder der Vorwelt höchst verfänglich, insofern bei ihrer Darstellung in der heiligen Schrift irgend ein Wort hätte anders lauten können oder lauten sollen. Die Gemeinde wurde durch diese von allen Seiten sich sehr häufenden Schwierigkeiten, die offenbar gar keinen Ausgang aus dem Labyrint erblicken ließen, außerordentlich angeregt. Da aber eröffnete er mit einem Male eine schmale Pforte in einer Stelle aus den »Sprüchen der Väter«, die von den zehn Sachen erzählt, die bei der Schöpfung der Welt mitten im »Begegnungsmoment«, wo der Freitag aufhört und der Sabbat anhebt, geschaffen wurden; und von welchen zehn Dingen merkwürdigerweise gerade die beregten Bibelstellen handeln, die samt und sonders den Stoff der aufgebauten Unerklärlichkeiten der heutigen Deroscho bildeten. Der gelehrtere Teil der Gemeinde sah schon, wie hier ein Licht eindrang durch diese schmale Pforte, das alle Dunkelheiten zu beleuchten bestimmt sei; als aber der Rabbi mit großer Lebhaftigkeit die Stelle zitierte, in welcher es heißt, daß in jenem verhängnisvollen Schöpfungsmoment auch eine Zange geschaffen wurde, da lief ein Lichtstrom der Lösung aller Schwierigkeiten über die Geister der ganzen Gemeinde hin; denn jene Zange des Talmud, geschaffen am Erew Schabbos ben haschmoschaus Am Sabbatvorabend in der Dämmerstunde., stand offenbar im engsten Bezuge zu der Zange, mit welcher der Bösewicht Kerkow gerade auch Erew Schabbos ben haschmoschaus sein Vernichtungswerk vollbracht; zumal der Talmud selber die Worte hinzufügt, daß eine Zange immer mit Hilfe einer anderen gemacht wird, es also ebenso einer ersten Zange bei der Schöpfung bedurft habe, wie alle jetzt existierenden Zangen nur Nachkömmlinge jener ersten sein!
Und in der Tat, es befanden sich der Rabbi und seine Deroscho in höchst überraschender Weise so recht im Mittelpunkt der Tagesfragen unsrer guten Kehilla, obwohl sie eben erst in sehr fernen Gefilden zu verweilen schienen und gar nichts ahnen ließ, wo denn Kerkow weltgeschichtlich an den Pranger gestellt und in welcher Weise heute die Gegenwart an die Vergangenheit geknüpft werden solle. Einen herrlichern Aufschwung konnte die Deroscho nicht nehmen, denn noch weiter und bis über die Schöpfung hinaus darf sich zwar die Kabbala Geheimlehre. wagen – und der Rabbi soll zuweilen solch kühne Ausflüge gemacht haben –, aber es ist verboten, dergleichen in Gegenwart von zwei Personen zu betreiben, geschweige denn davon in der Deroscho zu sprechen.
So auf den Gipfel aller berghohen Unerklärlichkeiten schwang der Rabbi mit einer noch weit größeren Virtuosität als der Bösewicht Kerkow, lehawdil es sei unterschieden!, die Mutterzange aus der Schöpfungsgeschichte zog mit ihr nach und nach alle Haken und Nägel heraus, mit welchen er eben erst sämtliche Weltwunder in Verlegenheit gesetzt hatte, und rechtfertigte dann mit einem höchst genialen Umschwung nicht bloß die Rotte Korahs, den Felsen des Moses, die Eselin Bileams und den in Gestalt eines krummen Eruw erscheinenden Regenbogen, sondern legte auch den Stab Ahrons und den Widder Abrahams ins Gleichgewicht mit einer ganzen Masse geheimnisvoller Midroschim, von denen viele behaupteten, sie seien so geheimnisvoll, daß man sie in keinem Exemplar des Midrasch auffinden könne.
Wir haben zur größten Genugtuung den kleinen Mann mit seinem langen, schwarzseidenen Gewand schon in dem großen erschütternden Moment der Vernichtung gesehen, wie er den Sturm einer Kehilla mit wenigen drastischen Worten beschworen; ihn heute mit beiden Händen unerklärliche Bibelverse, geheimnisvolle Midroschim spielend um sich werfen und durcheinander jagen zu sehen, und sodann wieder alles, Schlag um Schlag, eine ganze Welt voll Wunder ins Reine zu bringen, das war ein Genuß, dessen die Jetztwelt und die Nachwelt nicht mehr würdig zu sein scheint.
Und nun, noch inmitten des großen Entzückens der Gemeinde, kam die moralische Nutzanwendung nur um so schlagender ans Licht. Vor allem tat er überzeugend dar, daß Kerkows Tat nur eine Folge der Gottlosigkeit unserer Zeit sei, die sich dadurch kund gebe, daß einige verheiratete Frauen in Posen, Thorn, Bromberg und Culm mit künstlichen Scheiteln gehen. Er schrie diese Übeltäterinnen, weil sie nicht das Glück hatten, zugegen zu sein, mit sehr lauter Stimme an und verkündete ihnen drohend, daß noch schlimmere Folgen die Welt treffen würden, wenn sie nicht die Scheitel ablegten. Sodann bewies er, wie auch die gute Kehilla F. müsse Techuwo Umkehr. tun, und wie der zerstörte Eruw nur eine Mahnung sei, daß wir im Golus Verbannung, Exil. sind; denn wären wir nicht im Golus, sondern in Jeruscholajim, so würden wir eine Mauer haben und keinen Eruw brauchen. Endlich warnte er sehr drohend vor dem Leichtsinn mit den Schnupftüchern, die man um die Hand binde, und bewies, daß dies eine Sünde sei, wegen welcher man sich am Jom Kippur Versöhnungstag. ans Herz schlagen müsse. Schließlich aber ließ er noch einmal Kerkow vortreten und versicherte die Gemeinde, daß sein Ende nahe sei, denn es steht geschrieben: »Wer den Zaun umreißt, den wird die Schlange beißen! Prediger 10.8.«
Die gute fromme Kehilla! Seit langen Zeiten war kein Ereignis von solch erschütternder Wirkung daselbst vorgekommen, und von solch wohltuendem Einfluß war lange Zeit keine Deroscho gewesen. Schon beim Heimgang aus der Schul war keine Seele mehr da, die die Sünde, um welche man am Jom Kippur sich besonders an die Brust schlagen müsse, begehen mochte. Schnupftücher, die auf dem Herwege noch Handschuh spielten, wurden jetzt samt und sonders Gürtel. Der Eruw war zwar poßul Ungültig., die Einheit des Gebietes zerrissen; aber die Einheit des mit Schnupftüchern der Frömmigkeit umgürteten Israel war durch die Macht des Wortes unseres Rabbi wiederhergestellt.
Niemand aber kehrte aus der Schul seliger heim als Reb Chaim. Sein altes Antlitz leuchtete derart, daß Golde sich nicht der Tränen enthalten konnte, als er sie benschte segnete.. Auch Vögele war sehr erschüttert, als sie den Vater eilig nach dem geliebten Sch'loh hakodausch greifen sah, um seine Rührung zu verbergen.
Der gute Reb Chaim! Er hatte in seinem dicken Sch'loh alles gefunden, was er je gesucht; er war fest überzeugt, daß auch sein wahrster Wohltäter, der Zempelburger, irgendwo im Sch'loh hakodausch stecke, und daß er ihn nur jetzt nicht finde, weil ihn die Freudentränen verhinderten, die rechten Worte zu lesen! Es war rührend zu sehen, wie eifrig er sich die Augen wischte, und wie beharrlich er ihn suchte, und wie er sich endlich sagte: »Ich werde heute die ganze Nacht Blatt für Blatt durchgehen, und mit Gottes Hilf werde ich ihn schon auffinden!« O gewiß, du guter Reb Chaim, du findest ihn recht bald auf!
Draußen vor der Mikwe traf Reb Noach Brall mit seinem Weib Täubchen beim Heimgang aus der Schul zusammen. Das stattliche Ehepaar nahm sich immer vortrefflich aus, und heute im prächtigen Sabbatstaat ganz besonders; aber es schwebte noch außerdem ein freundlicher Geist über ihnen. »Da will ich doch tausend Schwuaus Schwüre. darauf tun, daß das wieder ein Stückchen von Vögele ist, um Golde glücklich zu machen!« sagte Täubchen voll Heiterkeit. »Ich muß dem Maggid da nur gleich den Poßuk drüber leinen den Schrifttext drüber lesen..«
Reb Noach lachte: »Das Kind hat ein Köpfchen auf sich, daß es könnt die ganze Kehilla umkehren!«
»Du, Maggid«, rief Täubchen der eben in der Haustür erscheinenden Vögele entgegen. »Komm du nur her! Ich werd' dich beim Rabbi verklagen, daß du ihm die Bachurim verführst! Was hast du mit dem Zempelburger da angestiftet?«
»Ich?!« sagte Vögele etwas verlegen wegen des sonst ernsten Reb Noach; aber sie sah das wohlwollende Lächeln seines Angesichts und fügte hinzu: »Ich hab' ihm ein'n Poßuk geteutscht eine Schriftstelle ausgelegt (verdeutscht).!« Und wieder hielt sie mit einer so verschämten Schalkhaftigkeit inne, daß Reb Noach nicht umhin konnte, zu fragen: »Nun, was ist das für ein Poßuk! Du Maggid?«
»Der Poßuk«, lachte Vögele, »ist von Schlaumau hammelech olow hascholaum König Salomo. Friede über ihm!. Hat er denn in seinen Sprüchen nicht geschrieben: ›besser offne Strafrede als heimliche Liebe?‹ und das ist teutsch: ›es ist besser, sich die Tauchecho vorleinen zu lassen, als eine heimliche Liebschaft zu haben‹.«
Reb Noach Brall, trotz der Würde, die ihm so wohl stand und die er auf der Straße am allerwenigsten gern preisgab, schlug ein so schallendes Gelächter über diese witzige Anwendung des Bibelverses auf, daß sich im Nu ein Kreis Neugieriger einfand. Aber der würdige Mann faßte sich sofort. Er ging mit Täubchen am Arm nur einen Schritt der lieben Golde entgegen, die eben, durch das helle Lachen angelockt, aus der Haustür trat, bot ihr mit einer Herzlichkeit seinen »guten Schabbos«, der ihr Gesicht nur noch glühender erröten ließ, als es bereits der Fall war, und begab sich eilig in sein Haus, um sich in den Lehnstuhl zu werfen und noch einmal herzlich über Vögele lachen zu können.
»Das heißt eine Mad! Das heißt ein Maggid!« rief er aus, indem er mit der Hand auf den Tisch schlug. »Ich soll mich nicht versündigen, Täubchen leben, das ist eine Mad, wo man könnt das Kosminer Bochurchen mekanne sein Beneiden., wenn ich dich nicht, mein Herztäubchen, leben hätte.«
Täubchen lachte über den so seltenen Enthusiasmus ihres braven geraden Mannes hell auf, ließ sich von ihm dem soeben gehörten und für sie doch zu gelehrten Witz Vögeles erklären, und nahm nun so herzlich an seinem Entzücken teil, daß ihre Augen schon wieder voll Tränen der Begeisterung für die Kinder in der Mikwe waren.
»Liebherziger Noach leben!« sagte sie, »hast du denn auch Goldes Ponim Gesicht. so recht angesehen?«
»Ob?!« sagte er, »sie sieht aus wie eine Kallo noo z'nuo wachassudo eine Braut, lieblich, züchtig und fromm. – Ach!« setzte er mit einem leichten Seufzer hinzu, aber er brach ab und sagte: »Es sind liebe Kinder!«
»Noach leben!« sagte Täubchen, und lehnte sich voll innerster Seelenbewegung auf die breiten Schultern des geliebten Mannes. »Ich hab' ein Neder Gelübde. getan, wenn mich Gott boruch hu »er sei gesegnet.« möcht chaunen sein begnaden..« Sie verbarg ihr Gesicht an dem seinigen und schwieg.
»Täubchen leben, du machst dir doch schon wieder Gemütsbewegung!« mahnte sie der Gatte.
»Ach Ribbaunau schel aulom Herr der Welt.«, rief sie leidenschaftlich betend aus, »wenn es dein heiliger Wille ist, zu gedenken deiner Magd, so weißt du doch, daß du ihr gegeben hast dies bewegte Gemüt und daß meine Neschomo Seele. nicht wird aufhören zu zittern vor Gebet, bis sie wieder eingehen wird in deine Hand!«
Reb Noach erhob sich ernst und richtete sein schluchzendes Weib mit auf: »Täubchen Herz«, sagte er mit ruhiger Festigkeit: »es ist heut Schabbos, und darum faß dich und vertrau auf Gott. Aber hör mich an, was ich da sag. Ich weiß, was du hast für ein Neder getan. So wahr heut Schabbos kaudesch heiliger Sabbat. über der Welt ist, was du auch tun wirst für die beiden Kinder: so will ich doppelt das Doppelte dazulegen!«
Im Stübchen der Mikwe herrschte heute eine Fülle von Segen an Tisch und Stimmung, wie es nur in den seltensten und gesegnetsten Stunden guter Menschen der Fall ist. Reb Chaim hatte wirklich im unübertrefflichen Sch'loh hakodausch auch den Zempelburger herausgefunden oder, was dasselbe ist, hineingelesen, und nachdem dies einmal fest stand, gab es keine Grenze seiner Verehrung für diesen Gast. Golde sah aus, wie Reb Noach Brall sie schilderte, und der Zempelburger war wie verklärt in Glückseligkeit. Zwischen Vögele und dem Kosminer dagegen spann sich in abgerissenen Worten, in Blicken voll Leidenschaft und Glut, in stummem Entzücken, in Necken, Schmollen, Grollen, Aufwallen und Überwallen all das Spiel einer Liebe ab, wie es nur in so jungen, regen und überschwenglichen Seelen möglich ist.
Anfangs grollte der Kosminer mit sich und der ganzen Welt. Warum hat der Freund diesen Liebesdienst für Reb Chaim tun dürfen und nicht er? Er hatte auch gehört, daß sein Vögele etwas dem Reb Noach Brall gesagt, worüber dieser so ungewöhnlich hell auf offener Straße gelacht. Was mag sie gesagt haben? Warum sagt sie das nicht auch ihm? Sie schien ihm so geistreich, daß er sich einbildete, sie halte ihn für einen Toren. Hat sie gar über ihn gespottet, wie es gestern Täubchen getan?! Der arme junge Mensch! Sein Herz krampfte sich bei diesem Gedanken so zusammen, daß ihm sogar Kotzebues Verzweiflung höchst flach und lächerlich gegen die Verzweiflung dieses Gedankens vorkam. Als sie sich an den Tisch gesetzt hatten, sah ihn wieder Vögele nicht an, sondern spielte mit einem blanken Messer und raunte immerfort Golden etwas ins Ohr. Reb Chaim nahm den Zempelburger allein in Anspruch; der Kosminer wähnte sich nicht nur gottverlassen, sondern, wie er sich voll Zorn sagte: in Cherem Bann. getan, und war nahe daran, einen Eid zu schwören, nie, nie in seinem ganzen Leben, auch nicht einen einzigen Blick mehr auf Vögele zu werfen.
Als jedoch Vögeles Händchen ihm Messer und Gabel zuschob, und gerade das blanke, blitzende Messer, mit dem sie gespielt, da blickte er ihr doch ins Gesicht, und wie sonderbar oft ein Blick wirken kann, da fuhren ihm wieder ganz andere Gluten durchs Herz, und er hätte, wenn es tunlich gewesen wäre, gerade das entgegengesetzte eidliche Gelübde abgelegt, nämlich: nie, nie in seinem ganzen Leben, auch nicht einen einzigen Augenblick, ohne dieses Händchen, und ohne dieses Gesicht, und ohne dieses Herz-Vögele existieren zu wollen!
Und nun gar, als Vögele sich die Ärmel aufschürzte und erklärte, sie habe den Auftrag, heute Madam Täubchens Rolle zu spielen, ihn ganz allein zu bedienen, und dafür solle er ihr auch ganz allein sein »Wörtchen« sagen; als sie wirklich mit diesen halb aufgeschürzten Armen das Scholent Sabbatgericht. von Reb Noach Brall auftrug und Golde neckte, daß diese ihren Bochur lange nicht so prächtig bedienen könne; als sie gar die »Kugel« für die musterhafteste von der Welt pries und von ihr rühmte, daß sie ganz allein einen »Mischeberach »Der gesegnet hat ...«, Anfang einer Bitte um Segen für andre, im Volksmund für »Kompliment« gebraucht.« verdiene und dabei mit ihren eigenen zwei Händchen – und andere hatte sie doch einmal nicht! – ihm vorschnitt, und ihn mit ihrem Mündchen – und sich eines Dolmetschers zu bedienen, war ja gar nicht möglich! – bat, doch ja nicht die geliebte Madame Täubchen in ihrer guten Schabboskugel zu verschmähen, guter, guter Gott, das Herz dieses Kosminerchen hätte müssen ein unerhört harter Felsen sein – und dazu hatte es nicht die allergeringste Anlage –, wenn es dabei nicht hätte in einen unabsehbaren Taumel von Seligkeiten schwelgen sollen.
Und Golde? – Sie hatte sich die Ärmel nicht aufgeschürzt und pries das Essen auch nicht, ja sie sprach fast kein Wort, und doch bediente sie den Zempelburger und den Vater mit einer Lieblichkeit, die tausend Zungen nicht hätten genug preisen können, denn wer will den Liebreiz malen, in welchem sich innige Bräutlichkeit, innige Züchtigkeit und unendliche Hingebung paaren?
Und du, o guter, glückseliger Reb Chaim! Mit zwei solchen Kugeln war noch nie dein Tisch, mit zwei solchen Pärchen noch nie dein Stübchen, mit zwei solchen Tränen noch nie dein Bart geziert! Ja, großer Altenstein! Wäre es dir doch vergönnt gewesen, dieses gutmütigste, seligste, mit der ganzen Menschheit versöhnte Angesicht dieses Reb Chaim, des Opfers deines Eigensinnes, mit eigenen Augen zu sehen, du würdest geahnt haben, daß, wo die Religion, auch die Liebe ist, und du würdest ausgerufen haben: Wäre ich nicht Staatsminister von Altenstein, so möchte ich Reb Chaim den Maggids sein!
Und nach Tische!
So wie die stolze Wissenschaft der Sprachforschung zeither immer noch an dem oft unternommenen Versuch gescheitert ist, das Wort »Scholent« zu erklären, ebenso vergeblich hat die noch stolzere Naturwissenschaft der Neuzeit danach gestrebt, die einschläfernde Wirkung der Schabbos-Kugel zu erläutern. Es gibt – man sollte sich des Geständnisses nicht schämen – ebenso Religionsgeheimnisse wie Naturgeheimnisse, vor denen selbst neuere Rabbinen, die als Doktoren der Philosophie alles wissen, wie vor einem verschlossenen Garten stehen. Was Scholent ist, kann nur erfahren, nicht erklärt werden; das gestehen sogar Frevler ein, die nach dem Grundsatz: »Dem Reinen ist alles koscher« den Erfahrungswissenschaften dieser Art in ganz unbegrenztem Maße huldigen. Der Schlummer nach der Schabbos-Kugel ist eine Tatsache, die die physiologische Chemie selbst mit Hilfe des allvermögenden Stoffwechsels anstaunen, aber nicht begründen kann.
Wenn wir hiernach sagen: die Kehilla schläft, so bitten wir dies als Bestätigung allgemeinen Kugelgenusses wie eine unleugbare Tatsache hinzunehmen. Selbst der glückselige Reb Chaim konnte dem Zauber zweier Kugeln auf seinem Tisch bald nach dem Benschen nicht mehr Widerstand leisten. Sein alter Kopf liegt auf dem aufgeschlagenen dicken Folianten, »in dem alles steht«. Gegenwärtig hat sich sogar sein Käppelchen etwas verschoben und sich viel ungezwungener in den Text des Sch'loh hakodausch hineingestellt, als all die andern Dinge, die Reb Chaim hineinzustellen versuchte.
Auch die Liebe widersteht dem allgemeinen Zauber nicht ganz. Sie schläft nicht, aber sie träumet, wie es denn von ihr im Hohen Liede heißt: »Ich schlafe, aber es wacht mein Herz!« Begreift ihr den lieben Vers nicht, oh, so habt ihr nimmer geschlafen mit wachem Herzen, so habt ihr nie geliebt, nie geträumt!
Wollet ihr aber den Sinn fassen, so sehet zwei Traumgebilde!
Der Zembelburger sitzt im Stuhl. Er hat um Golde, die neben ihm steht, den Arm geschlungen. Sie aber, sie lehnt sich nur leicht an seine Schulter, sie steht so sicher, so vertrauend und doch so gehoben, als wäre der andre Vers nur auf sie gedichtet: »Wer ist sie, die emporsteigt aus der Wüste, lehnend an den Geliebten?«
Und Vögele? Sie spricht nicht; auch nicht ein einzig Wort! Sie sitzt im Stuhl am niedrigen Fenster, und auf einem Bänkchen zu ihren Füßen ruht, liegt der Kosminer, den Kopf an ihren Schoß gelehnt. Ihre Hände kühlen sein glühend Angesicht, und die Finger wühlen zuweilen in seinen Löckchen! Die Augen beider hangen aneinander. Es spricht das seine: »Du hast mich entherzt mit einem deiner Blicke«; und das ihre erwidert: »Oh, lege mich wie einen Siegelring an dein Herz, wie einen Siegelring an deinen Arm! Denn gewaltig wie der Tod ist die Liebe!«
Auch der gute Reb Chaim sieht auf einen Augenblick das Traumgebilde. Er erhebt das Haupt von seinem Sch'loh hakodausch, rückt sich sein Käppelchen zurecht, wundert sich, wie doch der Wronker Chason so merkwürdige Ähnlichkeit hat mit dem Zempelburger, und noch mehr, wie die Wronker Rebbezen dem Kosminer Bochur ähnlich sieht; aber sein Kopf sinkt wieder auf den Sch'loh hakodausch nieder. – Schlafe ruhig, du alter guter Freund! Über deinen Kindern wacht die Seelenreinheit, der Väter Tugend, der Mütter Sitte.
Die Kehilla schläft, denn es ist Schabbos-Nachmittag; nur der gute Wachtmeister, das Auge der Obrigkeit, wacht. Er geht jetzt über die vollkommen einsame Gasse, um seines Amtes willen. Er muß den Schulklopfer wecken, weil es Zeit ist, daß er zur Mincha ruft.
Die Kehilla wacht! Und daß sie wacht, das zeigt erst das rege Leben im ganzen Städtchen nach Mincha!
Erschütternd ist es, wenn ein gemeinsames Mißgeschick die Massen in gemeinsamen Impulsen bewegt; erhebend ist es, wenn in gemeinsamen Geschicken ein gemeinsamer Mut die Massen belebt; und was die Gemeinsamkeit in solchen Zeiten, nach solcher Deroscho und in solcher Kehilla zu leisten vermag, das bewies die Einmütigkeit dieser frommen Masse, die nach dem Gebete wie ein Mann spazierenging.
Elender Kerkow, du hast die Einheit der Häuser, der Mauer, des Tores, des Eruws zertrümmert; die Einheit der Seelen spottet dein! Du triumphierst über Tabaksdosen, die daheim bleiben müssen; die Schnupftücher aber sind einmütig jetzt und sprechen, ein Glaubensgurt um jede Lende, deinem Frevel Hohn!
Und wie machtvoll eine Gemeinsamkeit ist! Nie, nie würde die Welt geahnt haben, daß eine Kehilla soviel Schnupftücher überhaupt habe! Mann und Weib, Jüngling und Jungfrau, Kind und Säugling, niemand bleibt daheim, dem Bösewicht zum Trotz; und jedes hat ein Schnupftuch um den Leib, zum Hohn des Frevels. Selbst Leeser Schlapp, jahraus, jahrein ein abgesagter Feind aller Tücher, heute hat er sich von seiner intimsten Freundin Ester-Malke-Jüdels eines geliehen; denn sie ist eine wackere Frau, sie wirft ihm regelmäßig beide Pantoffel an den Kopf, ehe er noch dazu kommt, ihr seinen einzigen zu verehren. Sieh, er trägt wie ein Ritter im Turnier die Farbe seiner Dame, ein rotes Tuch von ihrem Kopfbund als Gürtel um seinen Wams.
Nicht wie gestern im Sturm wilder Aufregung, nein, mit Sabbatbehagen und im Sabbatschritt sieht die niedersteigende Sonne eine Gemeinde dahinwallen, herdenweise, gruppenweise, familienweise wohlgeordnet. Umgürtete Männer, umgürtete Frauen, umgürtete Kinder, soviel das in einhundertundsiebzehn Einzelterritorien zersprengte Städtchen nur aus den Häusern treiben kann.
Da wurde vom Ende der Kehilla her ein Ereignis angekündigt, das allen wunderbar erschien.
»Die Schlange hat ihn schon gebissen!« So lautete ein Gerücht von Kerkows Haus her. Aber es war nur ein Gerücht. Als die verzweigten Ströme der Spaziergänger sich vor dem Hause Kerkows sammelten, ergab es sich, daß es noch keineswegs so weit mit ihm sei.
Es war weder im Haus, noch im Hof, noch in seinem Garten etwas von ihm zu finden. Aber der gute Wachtmeister hatte ein beschriebenes Blatt in der Hand, das Kerkow an ihn gerichtet, und das er der versammelten Gemeinde vorlas, nur von Leeser Schlapps Bemerkungen unterbrochen, die sich wie ein Kommentar sehr enge dem Text des Schreibens anschlossen.
Das Schriftstück von Kerkow lautete:
»Wachtmeister, ich will nicht mehr unter den Juden leben!«
»Laß er nicht leben unter den Gojim Nicht-Juden.«, bemerkte Leeser Schlapp.
»Ich bin erst siebenundzwanzig Jahr alt.«
»Nimmer älter!« paraphrasierte Leeser.
»Ich wandre aus!«
»Laß er gehn zu der Schlang', dann braucht sie nicht in die Kehilla hereinzukommen!«
»Ich will nicht mehr Grobschmied, auch nicht Schlosser, auch nicht Uhrmacher sein, ich will noch was ganz anders werden.«
»Eine schöne Kappore Sühne für andre durch eignes Leiden. kann er werden!«
»In England baut man einen Wagen mit einem Schornstein, wo man kein Pferd zu braucht. Das muß ich auch lernen!«
»Auf Kischuf Hexerei. will er sich auch noch legen.«
»Verkauft mein Haus an die Kehilla für 150 Taler, dann könnt Ihr Euch zehn Taler behalten und schickt mir das übrige, wohin ich Euch schreiben werde.«
»Schickt's ihm nach dem Gehinnom Tal Hinnom, Hölle..«
»Sagt der Kehilla, ich bin gar nicht so boshaft. Lebt wohl, Euer Kerkow.«
»Jimmach schemau »Ausgelöscht sein Name!«!« schloß Leeser. »Ich meine«, schrie er, »die Schlang' hat ihm schon einen Biß gegeben! Davon ist er meschugge von Sinnen. geworden und läuft in alle wilde Wälder, wo die Schedim Dämonen. und die Schlangen wohnen!«
Auf diesen Ausspruch Leesers gründete sich das Gerücht, daß Kerkow schon den ersten Schlangenbiß fort habe; wir wollen vorgreifend nur erwähnen, daß das Geschick eine edlere Rache an ihm nahm. Kerkows Hand war verurteilt, tausendfach gut zu machen, was sie verbrochen! Er ging in die Welt, wurde wirklich Lokomotivführer, später warf er sich auf die Mechanik und jetzt – baut er Telegraphenleitungen, Stangen mit Drähten, lauter, lauter Eruws durch die ganze Welt!
Die untergehende Sabbatsonne sah der Spaziergänger sehr viele, die sich lebhaft von den Ereignissen des Tages unterhielten. Unter diesen wanderten auch Golde und Vögele Arm in Arm in tiefem Gespräch; und fern von beiden der Zempelburger und der Kosminer in eifriger Unterhaltung.
»Golde Herz«, sagte Vögele in ihrer Lebhaftigkeit, »ein Stück von meinem Leben schenkte ich darum, wenn ich deine fromme Ruhe hätte! Sieh nur, in mir flackerts immerfort. Ich möcht immer und immer wissen, was er denkt und was er sagt und was er da so mit seinem Händchen beweist und über was er da so disputiert mit seinem Köpfchen und mit seinen Löckchen und mit seinem blitzediken Ssechel Blitzende Vernunft.. Warum ist dir gar nicht so?«
»Ich weiß nicht!« sagte Golde träumerisch vor sich hin. »Ich meine immer, daß ich ihn lieber hab', wenn ich gar nicht all die Chochmo Weisheit. fassen kann, die so ein feiner Bochur herauslernt aus all die guten Sforim.«
»Lieber!?« fuhr Vögele auf, »lieber haben, was ich nicht versteh?! Sieh, Golde, wenn ich nicht wüßte, wie du deinen Zempelburger mit deinem ganzen frommen Herzen und mit deiner ganzen guten Neschomo Seele. lieb hast, ich möcht's gar nicht glauben. Ich kann gar nicht lieb haben, was ich nicht ganz klar seh' und hör' und weiß und hab'! Dann ist es doch gar nicht so mein, mein! so ganz mein!« Und hierbei preßte Vögele ihre Hand voll Leidenschaft an ihren Busen.
Golde schwieg eine ganze Weile, dann aber sprach sie, so ruhig und so hold, als ob die heftigste Liebe in ihr nie zur Leidenschaft werden könnte: »Vögelche, mein Herz, verstehst du denn unsern lieben Gott boruch hu Er sei gesegnet. in seinem siebenten Himmel und all sein Werk in der Höhe und in der Tiefe, kann ihn denn ein Auge sehen und ein Ohr hören und ein Ssechel messen; und haben wir ihn nicht so lieb und so ganz lieb und sagen alltäglich: ›Se eli‹ –: das ist mein Gott, was er ist mein und mein Neschomo ist sein!«
Vögele stand betroffen still und nötigte die Schwester ebenfalls im Gang anzuhalten. Dann zog sie dieselbe beiseite, wo kein Auge die Schwestern beobachten konnte, und hier fiel Vögele der Schwester um den Hals und küßte sie und weinte an ihrem Herzen. »Golde, Golde Herz!« rief sie, »hör zu, was ich dir sag'. Du bist schöner wie ich! Das weiß die Welt! Du bist besser wie ich; das hab' ich immer gewußt! Du bist aber auch klüger wie ich! Davon kann ich sagen wie Awrohom Owinu unser Vater Abraham 1. Mose 12,11.: Siehe, nun erst weiß ich es!«
»Ich weiß es nicht, liebe Schwester!« sagte Golde. Es war in ihrem Wesen nicht, ihren Wert gegen den anderer zu messen.
Vögele aber fuhr bewegt fort: »Deine Neschomo ist wie dein Name, wie Gold so rein, so fest und so weich und so ohne Sprenkelchen Falsch. Ich, meine gute Schwester, meine Neschomo ist nur ein Vögelchen, das fliegt auf, einmal in die Sonne und einmal in den Schatten, und auf einen Baum und an ein Wasser, und springt ein bißchen und singt ein bißchen und guckt in sein Nest und guckt in die Welt, bis es flattert mitten in ein Netz hinein, wo es fest sitzt und gar nicht ab kann. Ach, frommes Golde Herz, faß nur da her und sieh wie das da flattert und gar nicht ruhen will!«
Das arme Kind! Sie preßte die Hand der Schwester an ihr pochendes Herz!
Golde wurde fast beängstigt von dem Wogen, das ihre Hand fühlte, dann aber sah sie wieder ruhigen Blickes in das Auge Vögeles und sagte: »Schalkhaftig Vögelchen! Schmähe dich doch nicht! Bleib nur, wie Gott, boruch hu, dich gemacht hat, und du bist viel, viel besser, wie du meinst und wie du sagst.«
Und so ist es auch!
Anderer Art war das Gespräch zwischen dem Zempelburger und dem Kosminer.
»Mich«, sagte der Zempelburger, »treibt es fort aus der Kehilla und aus der Jeschiwo Schülerkreis um den Rabbi., ich will ein ordentlicher Lehrer werden, mein Examen ordentlich machen und meine Golde heimführen, um der frommen Neschomo ein Leben in der Stille zu bereiten, wie sie es verdient. Sie wird beglückt werden, und ich bin es!«
»Und ich«, sagte der Kosminer, »ich ringe mit mir, und weiß gar nicht, wie ich solch ein Wesen verdienen soll. Ich möcht' ein Stück der Welt erobern, um es ihr zu geben. Nicht lernen mehr möchte ich!« rief er voll Leidenschaft, »und wenn ich die Kol Tauro kulloh Die ganze Lehre allesamt. habe, bin ich doch nicht, was sie ist. Tun, schaffen muß ich etwas, was ihr Herz erfaßt und was sie hinstellt so frei und so ganz vor alle Welt, wie sie es verdient!«
Der Zempelburger blickte besorgt auf seinen Freund; dann faßte er dessen Hand und sagte zu ihm: »Vögelche selber wird am richtigsten sagen, was du beginnen sollst. Auf sie kannst du dich verlassen!«
Die Sabbat-Sonne war längst untergegangen, und es kamen die Sterne der Woche heraus am Himmel. Die Männer trennten sich von den Frauen. Jene, um einen herrlichen Psalm Davids, diese um das Frauenlied zu singen:
Gott von Awrohom, Jizchok und Jakauw
Behüt dein Volk Jisroel in deinem Laub
Die sieben Täg', daß sie uns bekommen
Zu Heil und Gut und allem Frommen.
Der liebe Schabbos kaudesch geht dahin usw.
Und der liebe Schabbos kaudesch war dahingegangen.
In der mondhellen Nacht trat der Kosminer nach dem eben verrichteten Chazoß mitternächtliche Klage über das zerstörte Jerusalem. heraus aus dem Beshamidrasch; der Zempelburger folgte ihm.
»Sieh«, sagte der Kosminer und deutete auf das Fensterchen der Mikwe, »sie haben schon ihr Lämpchen ausgelöscht.«
»Sie wachen aber noch im Mondenschein.« –
Sie gingen vorüber.
»Was machst du da?« fragte der Zempelburger.
Der Kosminer hatte Kotzebues Verzweiflung aus der Tasche gezogen und zerriß die Blätter in kleine Fetzen.
»Ich will das nur in alle Winde zerstreuen«, sagte er, »das sind ganz leere Reden, das weiß ich erst jetzt, wo mein Herz voll geworden ist.«
Er warf die Fetzen in den Wind. »Ich weiß gar nicht, wie ich das hab bei mir tragen können über Schabbos ohne Eruw«, lächelte er.
Und die Fetzen flogen hin vom Winde getragen über Dächer und um Schornsteine und an Zäunen und über die Gasse, ein paar wirbelten um die heilige liebe Schul herum und jagten davon, und ein größeres Stück Verzweiflung tanzte ganz lustig mitten auf dem Markt, wie das nur ein so gemachtes Stück Verzweiflung zustande bringen kann.
Die Bachurim lachten dazu, drückten sich die Hände und gingen wieder ins Beshamidrasch.
Und es war, wie der Zempelburger gesagt hatte.
In der Mikwe wachten die Schwestern noch. Golde lag in ihrem Bette; Vögele war aus dem ihrigen gestiegen und hatte sich auf das Bett der Schwester gesetzt.
»Ich kann gar nicht mehr schlafen, liebe Golde!« sagte Vögele, »mein Herz will wachen und immer wachen, und immer wachen!«
Golde setzte sich im Bette auf und nahm die Schwester in den Arm.
»Golde Herz«, sagte Vögele, die sich wie ein Kind an sie schmiegte, »Golde Herz, hast du unsre liebe gute Mutter, oleho hascholaum Friede mit ihr., gekannt?«
Nach einer Weile sagte Golde: »Gekannt?! Ich glaub', man kennt die Mutter erst, wenn man Mutter ist!«
»Hast du sie denn so recht gesehen?« fragte Vögele nach einer Weile.
»Ja!« sagte Golde mit tiefer Regung, »so recht hab' ich sie gesehen! Nicht wie man sieht ein Menschenangesicht! Nein, ›so wie man sieht ein Angesicht des Engels‹ 1. Mos. 33,10. und man weiß und weiß wieder nicht, wie das aussieht!«
Und beide Kinder weinten.
Nach einer Weile fragte Vögele leise: »Golde Herz, sag mir nur, war das recht, daß der Kosminer heut meinen Mund geküßt?«
»Es war kein Unrecht!« sagte Golde ruhig.
»Und gestern«, rief Vögele leidenschaftlich, »hab' ich ihn gar zuerst umhalst und ihn geküßt! War es kein Unrecht, Golde Herz?«
»Es war kein Unrecht! Schwester!« antwortete Golde ruhig.
Vögele barg sich wie ein Kind an den vollen Busen der Schwester. Nach einer Weile richtete sie sich auf.
»Golde Herz!« rief sie, »und deine reinen Lippen haben das noch nicht gekostet!«
Golde schwieg; und Vögele mißverstand dieses Schweigen der Schonung nicht.
»Golde Herz!« rief sie, »hast du denn noch nicht verstanden den flammedigen Poßuk feurige Schriftstelle (Hohel. 1, 2).: Er küsse mich von den Küssen seines Mundes!«
»Lieb' Vögele«, sagte Golde und drückte die Hand der Schwester an ihr Herz: »ich versteh' ihn.«
»Und warum hat er dich noch nicht geküßt?«
»Und wenn er dich hätt' gefaßt und hätt' dich geküßt?« fiel Vögele ein.
Golde nahm beide Hände an ihren Busen und lächelte und sprach: »Er hätte auch dann recht!«
Und wieder lagen die Schwestern Brust an Brust. Nach einer ganzen Weile, während sie beide den Tönen aus dem Beshamidrasch gehorcht hatten, sagte Golde:
»Komm', Vögele lieb, laß uns nicht so herumfliegen mit unsern Gedanken an Schabbos zu Nacht wie nichts rechts, leg dich da bei mir, ich sing' dir auch den Poßuk ›Wihi nau'am‹ Psalm 90. 17. der beim Nachtgebet gesprochen wird. sieben mal und dann schläfst du ein!?«
Vögele gehorchte wie ein Kind, und Golde sang mit ihrer vollen tiefen Stimme in ganz eigner, eigner Art, wie sie vor keinem, keinem Menschen singen kann:
Und Gottes Huld komm' auf uns herab! Und unser
Händewerk richte du auf hoch über uns, und
unser Händewerk richte und baue du es auf!
Sie sang es siebenmal, immer anders, immer eigentümlicher, immer tiefer, immer seelenvoller. Dann horchte sie, stieg behutsam aus ihrem Bette, um Vögele nicht zu wecken und legte sich auf deren Lager zur Ruhe.
Heilige Golde!
Vier Wochen nach diesen Begebenheiten, und es war am vierten Tage Chaul hammaued schel Sukkaus Halbfeiertage des Hüttenfests.), da saß Reb Chaim den Maggids in seiner Sukko Laubhütte. und richtete an den Sch'loh hakodausch wiederum die wichtige Frage wegen der Pacht; denn der liebste Gast der Mikwe war noch nicht wieder erschienen. Der gute Sch'loh hakodausch schien um die Antwort in einiger Verlegenheit, aber das dauerte nicht lange; denn die schwarze Ssoro kam und legte einen harten Taler auf den Sch'loh und bestellte, daß Täubchen bitten lasse, es möchten doch die Mädchen zu ihr kommen.
Der gute Reb Chaim! er nahm den Taler von dem Sch'loh mit einer Andacht herab, als käme er direkt, eine höchst befriedigende Antwort auf die gestellte Frage, aus der heiligen Hand seines heiligsten Schutzgeistes. Er stand auf und bestellte den Kindern, was ihnen Täubchen Reb Noach Bralls sagen ließ.
Was war doch den lieben Kindern? Sie lächelten, erröteten, sahen sich an, wurden ganz rot, lachten, schlugen in die Hände, fielen sich in die Arme, küßten sich, weinten, sahen sich nochmals an, küßten sich und lachten und sprangen und tanzten gar in dem Stübchen herum, daß alle an ihren Dochten aufgehängten frisch gezogenen Lichte für die heutige Hauschano-Rabbo-Nacht Siebenter Tag des Hüttenfests, dessen Nacht durchwacht wird. mit zu tanzen anfingen, als ahnten sie auch, was Gott, gelobt sei er, getan hat an der liebherzigen Täubchen Reb Noach Bralls.
Golde hielt zuerst inne und faltete die Hände: »Mir sagt's mein Herz, es ist erhört ihr Gebet! Aber laß uns still sein und hoffen auf Gott boruch hu, denn er tut es!«
Vögele aber rief: »Nein, Golde Herz, es ist! es ist! Wie die beglückte Mutter Hannah ruf ich aus für unser Täubchen: Aufgeht mein Herz in Gott boruch hu, es jauchzt meine Neschomo in ihm 1. Samuel 2. 1.!« und wieder klatschte sie in die Hände und tanzte mit ihrem Schemel in dem Stübchen herum, bis sie erschöpft innehalten mußte.
»Komm, Vögelchen«, sagte Golde, »laß uns gehen; aber laß uns ganz ruhig hintreten vor unsere gute Beschützerin und Helferin.«
Und doch blieben die Angesichter so leuchtend, als sie über die Gasse gingen, daß der Zempelburger und der Kosminer, die sie vom Fenster des Beshamidrasch aus beobachteten, ganz geblendet waren, und Reb Noach, der sie von ferne kommen sah, zu Täubchen sagte: »Da kommen die Kinder an mit ein paar Penemchen Gesichtchen. wie die Malochim Boten, Engel., welche Beßuraus tauwaus gute Botschaften. bringen!«
Und wie ein Engel guter Botschaften stand in lichter Röte auch die stattliche Täubchen da; und als sie die beiden Mädchen mit beiden Händen hielt und Reb Noach sie so zu dreien sah, da wurde ihm so warm um das Herz wie am Tage, da unser Ältervater Abraham gesessen im Eingang seines Gezeltes.
Täubchen nahm beide Schwestern an ihr Herz und stand lange so; Reb Noach ward es, als müßte er wie Abraham vor den Engeln sich vor ihnen bücken zur Erde.
Endlich lächelte Täubchen und sprach munter: »Du, Maggid! was gucken deine Augen mir so tief in mein Herz hinein! Und du, Golde Herz, schlägst die Augen nieder! Ich hab' euch gerufen, daß sich mein Herz soll heut tauwel sein tauchen. in eurer Lieblichkeit, liebherzige Kinder!« Und Täubchens Angesicht ward dabei wieder umflossen von dem züchtigen Leuchten der eigenen Lieblichkeit.
Nach einer Pause trat Reb Noach zu den dreien und sprach mit seiner festen sichern Stimme, als wollte er sich selbst ermuntern: »Täubchen leben, ich hab' dir die Kinder kommen lassen, daß du sollst mit ihnen fröhlich plaudern, wie es dein Herz begehrt. Vorerst aber laß Golde bei dir bleiben, und ich will mit Vögelche meinen Poßuk Schrifttext. ganz allein abreden.« Er nahm Vögeles Hand.
»Laß sie mir noch ein bißchen«, bat Täubchen und lächelte ihren Liebling an. Vögele aber raunte ihr halblaut zu: »Das ist das Lachen, wonach ich hab' geblickt in Euer Herz hinein, das Lachen, was Gott gemacht hat unserer Ältermutter Ssarah. Nun geh ich mit Eurem Mann und ruf' Euch zu frohlockendig: Ich komm zurück zu Euch 1. Mos. 18. 10.!«, und mit heiterm Blick folgte sie Reb Noach in das Nebenzimmer.
Hier ließ sich Reb Noach in seinen Lehnstuhl am Tisch nieder und zog einen zweiten Stuhl an denselben. »Setz dich! setz dich! du Maggid! ich will mit dir da kurz und scharf reden!« sagte er mit einer Lebhaftigkeit, die mit seinem sonstigen, etwas steifen und förmlichen Wesen keineswegs stimmte.
»Ich stehe gern vor Euch!« sagte Vögele mit Ruhe; aber in ihrem Gesichte und in ihren Augen spielte ein ganzes Heer von Plänen und Gedanken durcheinander; und all das regte sich nur noch lebendiger und strahlender, als sie mit einem flüchtigen Blick durchs Fenster den Zempelburger und den Kosminer drüben in der Gasse langsam dahinwandernd bemerkte.
»Maggid!« sagte Reb Noach, der ihr Gesicht beobachtete. »Ich meine, du weißt schon alles, was ich dir zu sagen hab'.«
»Ich weiß nur«, sagte Vögele mit der ganzen Bewegtheit ihres Wesens, »was ich Euch zu sagen hab', Reb Noach!«
Reb Noach schüttelte verwundert den Kopf und sagte: »Nun! gut! red' du!«
Vögele aber fuhr mit Sanftheit und Bestimmtheit fort: »Was ich weiß und Euch zu sagen hab', ist: Ich geh' nicht früher aus Eurem Haus, bis Gott boruch hu geschickt hat die Jeschuo Das Heil., daß ›jedweder, der es hört, frohlocken wird mit uns 1. Mos. 21. 6.‹!«
Reb Noach schlug mit beiden Händen so kräftig auf den Tisch, daß Täubchen und Golde herbeieilten.
»Täubchen leben!« rief er, »meinst du, ich hab' dem Maggid gesagt, was ich will und daß der Kreisdoktor auch gesagt hat, wir sollen sie zu uns ins Haus nehmen? So wahr soll Gott boruch hu uns unser Masol Glückgestirn, Glück. bescheren, ich hab' kein Wort gesagt, und sie hat alles schon gewußt!«
Vögele aber fuhr sanft und heiter fort, als ob sie gar nicht unterbrochen worden wäre: »Ich werde Euch dienen wie eine Magd und an Euch tun wie eine Tochter und Euer Sorg' tragen wie das Herz von einer Mutter, und ich will lachen durch den ganzen Tag, und ich will sinnen für Euch durch die ganze Nacht. Und ich werd' machen, daß die Monate werden hingehen und Ihr wie Jaakauw Owinu unser Vater Jakob. sagen werdet, sie sind ›wie ein paar einzelne Tage!› – Und Golde, meine heilige Golde«, hier faßte sie die Hand der Schwester, »sie wird arbeiten daheim doppelt wie sonst, und wird wachen daheim in der Nacht doppelt wie sonst, und wird für Euch beten zu Gott doppelt wie sonst. Und Gott boruch hu wird uns alle beisammen erhören, wie er geredet hat: ›Und ich werd' begnaden, wen ich lieb habe.‹«
»Aber Reb Noach Brall!« fuhr Vögele mit noch sanfterer Stimme fort. »Ich bitt' Euch! Es hat ausgetracht' mein Herz eine gute Sache; darum höret mich an, und höret ganz an, was ich tu' reden!«
Sie hielt inne und lehnte sich an Golde, die, das Haupt gesenkt, neben ihr stand.
»Red, red, Du herziger Maggid!« sagte Reb Noach. »Täubchen leben«, fügte er nach einer Pause hinzu, »setz du dich da neben mich her; und jetzund red und red nur lustig und red behendig, wie es mein Täubchen hören mag!«
Vögele fühlte, wie ein leises Zittern durch die zarte Seele Goldes zog. Sie blickte auf Täubchen, und sah die Rührung ihres ganzen Wesens in ihrem Antlitz, und mit einer leichten Wendung ihres Kopfes schüttelte sie plötzlich all die sanfte Feierlichkeit, mit der sie bisher gesprochen, von sich ab und hob nach einer kleinen Pause im heitersten Tone ihrer Schalkhaftigkeit also an:
»Reb Noach, ich will Euch eine Kaschje Schwierigkeit. fragen: Warum hebt die heilige Schrift Gottes an mit den Worten: »Bereschiß Im Anfang.«, und warum endet sie nicht mit dem Wort »Tachliß Ende, Zweck, Ziel, In diesem letztern Sinn muß es in der folgenden Rede Vögeles verstanden werden, die eine »Tachliß-deroscho eine auf praktische Ziele hinlenkende Rede halten will.«?
»Täubchen leben!« lachte der Gefragte: »Hör nur den Maggid! Das wird doch da eine ganze Deroscho Rabbinische Rede., wo sie uns alle miteinander hineinstellt in den Text!«
»Soll ich leben!« rief Vögele, »ich stell' euch und Euer geliebt Täubchen und Euer Haus und uns beide Schwestern und die zwei Bachurim dort und unsere Mikwe und alle, alle Kehilla-Kinder und die Frankfurter Messe und die schöne Stadt Berlin und ein ganz Stückchen Welt hinein in meinen Text!«
Reb Noach klatschte vor Lachen auf seine Knie, und Täubchen rollten die Tränen aus den Augen; denn solch ausgelassene Lustigkeit hatte sie bei ihrem Manne lange, lange Jahre nicht gesehen.
Selbst Golde lächelte und überwand für einen Augenblick das Gefühl der Furcht, es gehe das Genie ihrer Schwester hier schon über die zarte Grenze des Schicklichen hinaus.
Vögele aber stand so fest und so ruhig da, und in ihren Augen blitzte hinter aller Schalkhaftigkeit eine solche lebendige Regung ernster Gedanken, daß sie die Stimmung wieder vollkommen beherrschte, als sie nach einer Weile mit ihrer sanften Heiterkeit begann.
»Unsere heilige, liebe Tauro ist gerecht, wie Gott boruch hu gerecht ist, der sie hat gegeben. Sie will uns sündige Menschen lehren, was wir zu tun haben; und darum sagt sie also: Im Anfang halt dich an mir, da steh ich für dich da; denn ich heb' an mit ›Bereschiß‹ und: ›Anfang aller Weisheit ist Gottesfurcht Psalm 111. 10.‹. Tachliß aber, Ende und Zweck, mußt du bei mir nicht wollen. Ich will nicht sein ein ›Spaten, damit zu graben Vätersprüche 4, 5.‹. Willst du Tachliß suchen, du Mensch, da mußt du dir allein helfen!«
»Ein fein Wörtchen!« rief Reb Noach in vollstem Ernst. Vögele aber fuhr fort: »Und darum will ich reden von Tachliß.«
»Red, red, du lieb Kind«, fügte Reb Noach hinzu, als sie einen Augenblick eine Pause machte.
»Vor fünfzehn Jahr«, begann Vögele ruhig wieder, »hat man geschlossen das Cheder jüdische Kleinkinder-Schule. von Reb Chaim den Maggids. Und die Kehilla hat aufgebaut ein Beshamidrasch und hat sich genommen einen guten Rabbi und es lernen darin die Bachurim gar mächtig Tauro bei Tag und bei Nacht. Aber die heilige liebe Tauro ist ›im Anfang‹ und will nicht sein ›Tachliß‹! Hab' ich recht, Reb Noach?«
Reb Noach wiegte noch etwas zweifelhaft den Kopf. Vögele fuhr fort: »Und da gehen herum die Kinder von der Kehilla, Jüngelchen und Maden, und haben kein jüdisch Cheder und kein teutsche Schul, wie es sich gehört, und lernen nichts für die Welt und nichts für jene Welt! Das ist auch kein Tachliß!« »Emes! emes! emes! Wahr!« rief Reb Noach.
»Und an der Mikwe hatte sich ein Neß Wunder. bewiesen, daß sie ist nicht abgebrannt und es wohnt in ihr Reb Chaim den Maggids mit seinen zwei Mäden. Wie lang aber wird es dauern, und es wird noch ein größer Neß sein, wenn das Haus übereinander fällt und Gott boruch hu wird Reb Chaim und seine Kinder mazzil sein erretten., daß sie herauskommen mit dem Stückchen Leben! Nicht wahr, Reb Noach, das ist auch kein groß Tachliß!«
»Sie ist gerecht, wie Gott gerecht ist!« sagte dieser.
»Zwei Bachurim«, fuhr Vögele mit bewegterer Stimme fort: »gehen ein und aus in dem Beshamidrasch, und Gott boruch hu hat es gemacht, daß die zwei Mäden von Reb Chaim den Maggids haben gefunden Chen Gunst, Wohlgefallen. in ihren Augen. Der eine Bochur, der ein Lamdon godaul ein »großer Lerner«. ist, hat geworfen sein Aug' auf meine liebherzige Golde, und es ›hängt ihr Gemüt an seinem Gemüt!‹ – Und da ist das andere Bochurche, ein Chorifche ein »kleiner Scharfsinniger.«, ein Chorifche! ach ein Chorifche! sag ich.«
Vögele hielt inne und bewegte ihre zwei Arme mit einem Entzücken durch die Luft, daß es aussah, als ob sie dieselben wie zwei Flügel gebrauchen wolle, um sich zur Höhe aufzuschwingen, wohin ihr glühend Antlitz und ihre Augen gerichtet waren. Aber nur einen Augenblick stand sie so, ein Bild der Verliebtheit und des Entzückens; im zweiten Moment schon hatte sie die Hände gefaltet und sagte mit der trockensten Treuherzigkeit von der Welt:
»Reb Noach, wenn wir noch zwanzig Jahr für unsere Bachurim die Lichter machen, und jene Nacht für Nacht zwanzig herbe Rambams Schwierige Stellen im Maimonides. im Beshamidrasch zurechtlegen, dann sag ich doch: es ist kein Tachliß und ist kein Tachliß und ist kein Tachliß! – und für den Maggid da ist es gar kein Tachliß!« setzte sie mit drolliger Heftigkeit hinzu, und zeigte mit dem Finger auf sich selbst.
»Was sagst du zu der Mad?!« rief Reb Noach lachend, indem er sich zu Täubchen wandte. »Mir steht mein Ssechel Verstand. still!«
»Und nun, Reb Noach leben«, sagte sie wieder mit feierlichem Ernste, »nun wollen wir uns umsehen in Eurem lieben Haus! Gott boruch hu hat Euch gebenscht gesegnet. mit Kowaud und Auscher Ehre und Reichtum., und er wird Euch benschen, daß jeder wird von Eurem lieben Weib den Poßuk sagen Jesaias 54. 1. 2.: Jauchze, die noch nicht hat geboren! Breite aus den Ort deines Gezeltes und die Teppiche deiner Wohnung weite! – Aber nicht Euer Haus allein wird sich ausweiten! Es wird sich müssen erweitern Euer Speicher und Euer Laden; denn Ihr werdet nicht mehr sprechen zu Gott boruch hu, wie Awrohom Owinu unser Vater Abraham.: Wozu gibst du mirs, und ich geh kindlos umher?«
»Wie schön möcht' es sein, Reb Noach, wenn Ihr werdet bald sein, wie unsere Chachomim Weisen. gesagt haben ›ein Funfziger tauglich zum Ratgeben‹ Sprüche der Väter 5. 21., daß einer noch bei Euch ist, ›ein Zwanzigjähriger zum Betrieb‹ Sprüche der Väter 5. 21., der da lauft treppauf und treppab im Speicher, und der da packt und schnürt und bindet in Eurem Laden, und schreibt und rechnet und arbeitet, bis die Kinder werden aufgewachsen sein ›wie lichtige Bäumchen, die da sind gepflanzt um Euren Tisch‹ Psalm 128. 3..«
»Reb Noach leben, war das nicht ein echter Tachliß?« Der würdige Mann blickte das Mädchen mit so tiefem Sinnen und so vollem Staunen an, daß er gar nichts sprechen konnte. Das waren ja die ernsten Sorgen, die ihn in den letzten Nächten beschäftigt und ihn bei all dem Jubel seiner Seele bedenklich gemacht hatten! Er schwieg und schüttelte nur fortwährend den Kopf hin und her, die Augen auf Vögele gerichtet.
Aber wie ein Jubellächeln fuhr es über das Antlitz Vögeles, und sie preßte beide Hände ineinander und rief mit Innigkeit: »Es hat ausgetracht' mein Herz eine gute Sache, und das will ich Euch sagen in meiner Deroscho, und die wird sein mit Gottes Hilf ein Tachliß für alle!« Sie hielt inne.
»Red', du lichtiger Maggid von Gott!« sagte Reb Noach fast demütig: »ich höre, als wenn da möcht' reden ein Nowi Prophet., denn du redest Gedanken aus den Winkeln von mein Herzen heraus.«
Eine ganze Weile blieb Vögele ruhig, dann plötzlich sagte sie mit munterer frischer Stimme: »Reb Noach leben, borgt mir Euer Fuhrwerk!«
»Was?« sagte dieser ganz erstaunt: »mein Fuhrwerk? mein Pferd und Wagen?«
»Ja!« sagte sie, »ich muß es auch hineinstellen in meinen Text.«
Der barocke Sprung machte den würdigen Mann wieder so hell auflachen, daß alle die leisen Wolken der Sorge auf seinem Antlitz wie fortgewischt waren.
Vögele ließ sich gar nicht stören, sondern fuhr in dem muntern Tone fort:
»Von heut über vierzehn Tag ziehen wir heraus Pferd und Wagen aus dem Stall; denn Ihr fahret zur Messe nach Frankfurt. Und auf den Wagen setzen wir hinauf die zwei liebe Bachurim neben Euch. Und wir drei Weiber gehen mit Euch hinaus zum Geleit bis in das Wäldchen, und wenn wir uns werden haben gesegnet Verabschiedet., fahret Ihr zu, und wir drei werden stehen und Euch nachsehen bis um die Ecke herum und werden Euch nachbeten: ›Jeworech'cho »Es segne dich ...« (IV. M. 6. 24.)‹ mit ganzem Herzen!«
»Und wenn Ihr werdet gekommen sein nach Frankfurt und dort gemacht habt Euer Geschäft zu Masol und Brocho zu Glück und Segen., dann sollt Ihr nehmen die zwei Bachurim an die Hand und sollet sie führen zu all die Ssochrim Kaufleute von der großen Stadt Berlin und sollet sprechen zu diesen also: Es ist bekannt von Eck Welt zu Eck Welt, daß ihr Berliner seiet große Gojim d. h., daß sie einen nichtjüdischen Lebenswandel führen., aber ihr habt gute, jüdische Herzen und helfet auf allen armen jüdischen Kindern, die da kommen zu euch, um was Gutes zu werden. Da habe ich den einen Bochur, den Zempelburger, der will werden ein guter Lehrer; aber ein ganz guter; denn er ist ein großer Lamdon, und er hat auch schon gelesen ganz gute schwere deutsche Bücher, wo er den Pschat Sinn. ganz allein herausgefunden. Und da ist noch ein Bochurche, ein Chorifche, was sein Köpfchen ist gar nicht mehr zu gefinden auf der Welt; und der soll lernen bei Nacht alle Chochmaus Wissenschaften., was die Chachme Umaus hoaulom die Weisen der Weltvölker. ausgeklagt haben; und bei Tag sollt ihr ihn machen zu einem guten Ssaucher Kaufmann.; denn er hat einen Ssechel Verstand., daß er wird in einem Jahr mehr lernen wie ihr in sieben Jahr! Und ihr sollt geben den beiden ›Stuhl und Tisch und Bett und Licht‹ und ein ›bißchen Brot zu essen und ein Gewand anzuziehen‹. Und drei Jahre sollen sie bleiben bei euch und dann werden sie euch Kowaud Ehre. machen in der Welt!«
»Und, Reb Noach leben, wenn Ihr werdet also reden min halew aus dem Herzen., werden Eure Worte auch hineingehen in die gute Herzen von den großen Gojim. Und die Bachurim werden sein in Berlin drei Jahr, und wir werden hier sein!«
Vögeles Stimme zitterte ein wenig; sie hielt inne und wischte sich nach einer Weile den leisen Hauch aus den Augen, der ihren Blick umflort hatte. Um so munterer aber fuhr sie fort:
»Von heut über drei Jahr kommen die zwei Bachurim heim, und Reb Noachs Haus wird sein gebenscht. Und Reb Noach wird erfüllen, was er gelobt hat vor Gott und wird auftreten und geben das erste Geld zum Bauen einer Schule für jüdisch und für deutsch, für alle Kinder der Kehilla; und die Schule wird man bauen zweistöckig auf den Platz von der Mikwe. Und wenn die Welt wird sehen den Zempelburger mit seinen guten Attesten von der Regierung und von Altenstein, dann wird man wissen, daß da vorhanden ist Tauro und Derech erez jüdische Lehre und Bildung des Landes.), daß da ist Anfang und Ende! Und meiner Golde Herz wird beglückt werden ohne Ende, daß sie wird ihren Lohn haben für all ihre Gutheit und all ihre Frommheit und all ihre Heiligkeit.«
Sie hielt wieder inne und preßte Goldes Hand an ihr Herz. Dann aber fuhr sie fort:
»Und wenn ich werde gedient haben drei Jahre in Euer Haus wie eine Magd, was nicht anders Euch will dienen, als wie man Gott boruch hu dienen muß, ›nicht um Lohn zu bekommen Sprüche der Väter 1. 3.)‹, und es wird heimkehren mein Erlöser, ein lichtiger Mensch mit lichtigem Herzen, und er wird sagen: Reb Noach, Ihr seid ein ›Fünfziger‹, der da ist zum ›Ratgeben‹; ich aber bin ein ›Zwanziger‹, der da ist ›zum Betrieb‹, nachzueilen der Parnoßo Erwerb. – dann wird Gott, boruch hu Euch beide zusammen beglücken, und mein zittrig Herz wird freudig sein mit Euch!«
Sie hielt jetzt lange, recht lange inne. Dann aber sprach sie wieder ganz ruhig: »Reb Noach, das ist meine Tachliß-Deroscho!«
Reb Noach sprach eine ganze Zeitlang kein Wort, sondern drehte seinen Kopf immerfort hin und her, wie jemand, der seinen Sinnen nicht trauen mag. Dann endlich legte er seine breite Hand auf den Tisch und sprach mit tiefstem Ernst:
»So wahr wie morgen noch ist ein Jom Hadin »Gerichtstag«; der siebente Tag des Hüttenfestes wird als Tag des Gottesgerichts gefeiert., und so wahr uns Gott, boruch hu, ein gutes Gericht soll besiegeln, es wird bei mir nicht ein Wort von all dem, was du da gesagt hast, fallen zur Erd'!«
Wieder hielt er inne und sann. Es waren viele Lebenspläne, die Vögele hier gezeichnet, und sie waren klar, bestimmt und sicher, und griffen in das Geschick aller, ja der ganzen Gemeinde ein! Der schlichte Mann bekam zum erstenmal im Leben eine dunkle Ahnung davon, das Wesen solcher Art in großen Zeitverhältnissen und unter begünstigenden Umständen herrschend und Schicksale bewältigend auftreten können, und daß das Kind, das soeben gesprochen, verwandter Natur mit den großen Geistern sein möge, die man Propheten Gottes nennt. Er schüttelte immerfort den Kopf und suchte nach einem Wort, einem Gedanken für das, was er empfand. Endlich sah er auf Golde; es war ihm nicht entgangen, wie in ihrem Antlitz während der Reden Vögeles gar häufig Farbe und Ausdruck gewechselt, und jetzt sah er einen Glanz der Freude dasselbe umschweben. Sind doch die beiden Kinder, sprach er in seinem Herzen, wie »Urim und Tummim«Zwei Tafeln am Brustschild des Hohen Priesters, die auch als Orakel gebraucht worden sind., die eine wie »Licht« und die andere wie »Wahrheit«. Darum mußte er auch von Golde etwas hören.
»Golde«, sagte er mit treuherziger Ruhe, »Golde, mein Kind, komm her zu mir.« – Sie kam.
»Golde«, sagte er nach einer Pause, »was ich zu tun hab', weiß ich, und werde ich tun, und noch mehr mit Gottes Hilfe, als die da gesagt hat. Aber sag du mir, du mit deiner Wahrhaftigkeit, sag, versündigt man sich denn nicht, wenn man anhebt zu glauben an die Worte von deiner Schwester, wie an Newius Prophetie.? Red doch, gute Golde! Es bewegt sich ja dein Herz, daß man's dir ansieht im ganzen Angesicht. Red doch nur, sag mir all deine Gedanken und was ich denken soll.«
»Was Ihr denken sollt«, sprach Goldes ruhige, klare Stimme, »das weiß ich nicht; aber was da in mir lebt, das will ich Euch sagen. Wenn ich mein Vögelchen seh, wie sie so geschwind ausfliegt mit all den Flügeln ihrer Neschomo, dann wird mir wie der Mutter, wenn sie das Kind lustig auslaufen sieht, und kann nicht nach und kann nicht einmal sehen, wo da an den Ecken ein Stein liegt. Sie kann nur beten zu Gott, boruch hu, daß er seine Malochim Engel; das Ganze nach Psalm 91. 11. 12. befehlen soll, das Kind zu hüten, daß sie es an den Händen tragen, damit der Fuß nicht strauchelt. Aber wenn das Kind so fliegedig wieder umkehrt und heimkommt, breitet die Mutter die Arme aus und nimmt's ans Herz und ›freut sich mit Zittern‹ Nach Psalm 2. 11. weil es hat nicht gestrauchelt! Ich hab‹ gezittert; aber ich freue mich: sie hat heute nicht gestrauchelt!«
»Und morgen?« fragte Reb Noach.
»Man betet ja zu jeder Nacht, daß Gott die Malochim soll befehlen, daß keiner strauchele!«
Wieder saß Reb Noach ganz still und sann in sich hinein.
Täubchen aber erhob sich jetzt in der vollen Bewegtheit ihrer Seele, mit der sie die ganze Zeit vergeblich gerungen. »Noach leben«, rief sie, »sei nur nicht bang, ich hab' keine Gemütsbewegung, ich hab‹ schon seit vier Wochen keine Gemütsbewegung, das ist nur das Lachen der Neschomo, die in mir so lichtig wird, wenn dieser Maggid redt. Komm, komm nur zu mir, mein Vögelchen! Weißt du, Noach leben, das ist doch wie Ssimchas Tauro Fest der Tora-Freude., wo man nimmt ein Licht vom Omed Vorbeterpult.) und stellt es hinein in das liebe Oraun hakaudeschder Schrein, in dem die Tora-Rollen in der Synagoge bewahrt sind., wo man die Sforim Tora-Rollen. alle herausgenommen hat, um damit zu tanzen! Komm, du Licht vom Omed, komm du an mein Herz!«
Vögele lag am Herzen der geliebten Frau; aber nur einen Augenblick. Dann richtete sie sich auf und sprach, in feierlicher Begeisterung den Arm nach Golde ausstreckend:
»Ein Licht vom Omed! Es brennt lichtig vor den Leuten und auch vor Gott boruch hu und hat auch die Sechije Ist gewürdigt., für kurze Zeit hineingestellt zu werden in den Oraun hakaudesch! Aber man zündet's erst an, wenn man kommt, und löscht es aus, wenn man geht! Ein ander Licht brennt noch in jeder lieben, heiligen Schul, das brennt nicht für die Leut', die es nicht sehen, und leucht' nicht, wenn andre Lichter leuchten. Aber es leucht' in seinem stillen Schrein durch Tag und durch Nacht, wie da geschrieben steht: ›Es soll nicht verlöscht werden!‹ Denn es soll sein ein Ner tomid »ein beständig Licht.«), was leucht' allen Neschomaus, die durch die Schul gehen bei Tag und bei Nacht, wenn die Leute nicht drin sind! Das ist ein Licht für alle Lichter, das da brennt für sich und man zündet in daran, was da leucht' vor der Welt!«
»Golde! Mein Ner tomid«, rief Vögele laut weinend, »nicht wahr, ich hab' heut nicht gestrauchelt!«
»Nein! nein, mein gut Herz, nein, du hast noch gar nicht gestrauchelt!« sagte Golde.
»Aber zittern hab' ich dich heut gemacht?«
Golde schwieg.
»Und gebetet hast du für mich?«
Golde schwieg.
»Und immer, immer wirst du für mich beten?«
»Ja, meine gute Schwester!«
Und Golde nahm Vögele in ihren Arm, während Täubchen an der Brust des geliebten Mannes schluchzte.
Was sollen wir noch viel erzählen?
Wir können nach der Rede unseres Maggid nur mit der Schrift sagen: Und es ward also!
Nach drei Jahren kamen zwei herrliche junge Männer aus Berlin. Der Zempelburger, ein Lehrer, wie er selten gefunden wird, voll Liebe und Herzenstreue für seinen schönen Beruf, und der Kosminer, ein eifriger Kaufmann, voll vortrefflicher Sachkenntnis für sein Fach und nebenher ausgerüstet mit einem höchst schätzenswerten Sinn für alles Gute und Schöne im Bereiche der Kunst und der Literatur. Täubchen kam ihnen entgegen, einen lieblichen Knaben an der Hand und eine neue Hoffnung unter ihrem Herzen, und versicherte schluchzend aller Welt, sie habe gar keine Gemütsbewegung!
Reb Noach wurde es nicht schwer, sein Gelübde zu erfüllen. Er griff tief in seine Tasche, um die Mikwe zu einem recht ansehnlichen Schulhaus umzubauen. Die Gemeinde wußte es ihm Dank, und Gott segnete sein Haus und seine Geschäfte, daß es sich unter der rüstigen Leitung des Kosminers bald vielfach vergrößert emporschwang.
Sollen wir von Vögele erzählen? Oder gar von Golde? Wie jene Buchhalterei und deutsche Literatur bei ihrem Kosminer studierte; diese gläubig zu Gott und ihrem Zempelburger aufsah und ihre Hände nicht ruhen ließ im Schaffen und Wirken für alle? Wir müßten ein eignes Buch hierüber schreiben!
Und sollten wir die Hochzeit beider Paare im Sommer des darauffolgenden Jahres schildern? Sollen wir erzählen, wie Täubchen ihre goldene Kette um Goldes Hals schlang, wie ihre zitternde Hand den geliebten Maggid schmückte? Sollen wir erzählen, wie Reb Noach die Wohnung für den Zempelburger und Kerkows Haus für den Kosminer, seinen Kompagnon, aus eignen Mitteln ausstattete und sogar mit eigner Hand schmückte? Oder sollen wir den Zug durch die Gasse bis auf den Schulplatz beschreiben, wo die Chuppo Trauzelt. stand? Erzählen von der Gemeinde, in der kein Auge trocken blieb, als die Schwersenzet Klesmer Musikanten. zum Chuppo-Gang das echte Chuppo-Menuett aufspielten? Oder wie alle, alle jauchzten, als man ein zweifaches »Masel tow« Gut Glück! rief? Sollen wir ein Bild geben von der Lustbarkeit nach Tische im Hause Reb Noachs, als die »lange Mindel« und die »kleine Chaje« einen eignen Tanz »Lulow und Esraug« aufführten? Sollen wir's beschreiben, wie die alte reiche Genendel ihren goldbetreßten Festtagsrock aufschürzte, ihre hochhackigen Pantoffeln auf die Hände steckte und auf ihren bloßen Strümpfen einen Brauttanz aufführte, zu dem sie mit den Pantoffeln und alle Weiber mit den Händen den Takt klatschten? Oder sollen wir zeigen, wie vor dem »Leigen-Führen« Reb Jizchak Reb Simchas in eigener Person das Taschentuch aus seiner Tasche zog und zwei Zipfel beiden Bräuten in die Hände gab und an einem Zipfel selber anfaßte, um mit abgewandtem Gesicht einen Mizwo-Tanz Pflichttanz. zu tanzen, bei dem der Schwersenzer Klesmer jedesmal einen gewaltigen Strich auf seiner Fidel tat, wenn der Rabbi gegen die Wand einen Knix machte? Sollen wir euch den lieblichen Felix, den ältesten Sohn Täubchens, zeigen, wie ihm der Wachtmeister seinen langen Säbel umschnallte und ihn mitten auf den Hochzeitstisch stellte, daß alle lachten, bis ihnen die Tränen aus den Augen liefen? Oder sollen wir's versuchen zu schildern, welch ein Jubel entstand, als ein Wunder unerhörter Art geschah und Reb Rephoel Baal-Neß plötzlich erschien und einen kabbalistischen Kosak tanzte, bei dem die lebhafte Gitel Aseks schrie: »Den Kosak mög' man einschreiben!« Oder soll ich euch das größere Wunder noch beteuern, daß die schwarze Sloro mit Leeser Schlapp in der Küche einen Friedenstraktat bei einer und derselben Gänsebrust abschlössen, laut welchem »ewiger Friede« zwischen diesen zwei Mächten herrschen solle?
Es wäre all dies und noch mehr, wovon man Bücher vollschreiben könnte, doch nichts, gar nichts, wenn ich euch zeigen könnte Reb Chaims altes Antlitz, wie er seine Kinder benscht, Reb Noach und Täubchens Antlitz, als er zu ihr sagte: »Weißt du, mein Herzweib, heut hab'‹ ich auch die Gemütsbewegung!«, Vögeles Antlitz, als sie ganz wortlos am Halse des Kosminers hing, und – dein Antlitz, heilige Golde, im Arme deines Gatten!