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In diesem Augenblick verließ der Verfasser von Taulers Leben die Nationalbibliothek und schritt die Rue de Richelieu hinab, während die schon schräge Sonne den Staub vergoldete. Den ganzen Tag lang hatte ein unerbittlicher Dunst, brennend wie der Anhauch eines Backofens, auf die Stadt gedrückt. Nun reckte sie sich wie ein Fabeltier, brauste sanfter, tastete mit banger Begier, mit geheimem Mißtrauen nach dem Schatten; denn die Städte rufen und fürchten die Nacht, ihre Mitschuldige. Unterdes schritt der Abbé Cénabre mit seinen großen gleichmäßigen Schritten dahin, ebenso gleichgültig gegen dies grobe Behagen, wie er es gegen den leuchtenden Wirrwarr des Nachmittags oder gegen den herzzerreißenden reinen Atem der Morgenfrühe gewesen wäre, die sich wie ein verwundeter Vogel in die Steinwüste verirrt. Denn schon seit langem fand das Denken des Abbé Cénabre keinen Weg mehr nach außen, und er kostete diesen Übelstand mit bewundernswerter Grausamkeit aus.
Vor sechs Monaten, nach seiner Rückkehr aus Deutschland, wohin er geflüchtet war, nach Überwindung der ersten Angst, hatte er ohne Kampf, gleichsam auf ebenem Wege, den tiefsten Frieden gefunden. So wenigstens hatte er ihn genannt; denn er gab ihm die Illusion der vollkommenen Stille, die dem Sturme folgt, einer endgültigen, unbeweglichen Ruhe. Dunkle Kräfte, deren Macht und Zahl er kaum zu ermessen wagte, hatten sich nach ihrem Zusammenprall in einem furchtbaren Chaos, in dem er seine Seele untergehn fühlte, nicht nur beruhigt, sondern verschmolzen, schienen ein furchtbares Bündnis mit einander geschlossen zu haben. Wie die arme Menschheit ihre elenden Zelte zwischen den Hügeln aufschlägt, die einst in einem unerhörten Ausbruch dem Boden entsprungen sind, wie sie, um zu essen, die erkaltete Haut dieses Sternes aufkratzt, indessen in den Tiefen noch der Abgrund brüllt, hatte auch er sich gleichsam im Mittelpunkte seiner eigenen Widersprüche niedergelassen. Dort lebte er einsam und ungesellig, fern von den Menschen, fern von seiner furchtbaren Vergangenheit, die jetzt geheimnisvoller, furchtbarer geworden war als die Zukunft, jene Vergangenheit, der er durch ein Wunder entronnen war, die er aber aus seinem Zufluchtsorte noch grollen hörte, wie ein wildes Tier, das seine Beute heischt. Nichtsdestoweniger schien der Bruch vollkommen.
Ein solcher Bruch kommt nicht so selten vor, ist aber gewöhnlich das Ergebnis besonderer unvorhergesehener Umstände, einer Empörung der Sinne oder des Stolzes oder der Vernunft, die mit einem Schlag jedes Hindernis wegfegt und eine so schmerzhafte Enttäuschung hinterläßt, daß der Wille davon für immer geschwächt bleibt und die Sehnsucht nach diesem, ihm entrissenen Teil seiner selbst insgeheim bewahrt wie einen Todeskeim. Dann lebt der tückische Zweifel wieder auf, hartnäckiger als vorher; denn in dem günstigen Nährboden völliger Zersetzung gedeiht er. Wenige Menschen entrinnen in einer solchen Lage der doppelten Falle einer zweideutigen, sehnsüchtigen Zärtlichkeit für das, was sie verleugnet haben, oder eines unfruchtbaren Hasses, der nur eine andere Form ihrer Gewissensbisse ist und sie gänzlich herabwürdigt. Niemand wird von ihren Heftigkeiten betrogen. Alle sehn diese Leute mit Schaum vor dem Munde um das Brot betteln, das sie soeben weggeworfen haben und nach dem sie ewig hungert. Was liegt daran, wenn sie sich in ihrem Hochmut schmeicheln, befreit, fortan einzig, einsam zu sein? Sie hegen vielmehr ein ungeheueres Bedürfnis nach den andern. Sie sind nur um ihre Habe gebracht.
Doch der Abbé Cénabre hatte der Unordnung ihren Teil überlassen wie ein Heerführer, der sich in guter Ordnung zurückzieht und sich nicht angreifen läßt. Die Sinne waren unverletzt, – unverletzt, unzugänglich auch sein Stolz, den bis dahin noch keine schwere Enttäuschung verwundet hatte. Selbst den Anfall von Angst, der den letzten Abschnitt seiner langsamen, fast zielbewußten Trennung von den Menschen darstellte, betrachtete er nun als einen zweifellos entscheidenden, doch an sich unbedeutenden, unnützen Zwischenfall. Der Beschämung, die er anfangs darüber verspürte, hatte er rasch ins Auge geschaut und sie beseitigt. Mit außerordentlicher Klugheit vermied er sogar, wie so viele andere, Eitelkeit aus einem tragischen Kampfe zu saugen, und gewiß wäre er unfähig gewesen, einen Stoff für literarische Arbeit daraus zu gewinnen. Instinktiv, aus seiner tiefsten Natur heraus, wie zwei Rassen einander hassen, verabscheute er Renan, oder besser, er verachtete ihn.
Dieser Zug kann überraschen: er ist bezeichnend. Wer den geheimen Grund dieser Verachtung nicht sucht, dem wird der Abbé Cénabre immer fremd bleiben. Renans Widersprüche, seine weibische Empfindsamkeit, seine Gefallsucht, seine heimtückische Selbstsucht, seine plötzliche Gerührtheit, das alles kennzeichnet eine Seele, die sich der absichtlichen Verschwendung entzieht. Dies beständige Sichentziehen zeugt von Gott, ungefähr wie der Zickzacklauf eines verfolgten Tieres von der Gegenwart eines unsichtbaren Jägers. Das Leben des Abbé Cénabre ist im Gegenteil eins der seltenen und vielleicht das einzige Beispiel vollständiger Abwendung. Um einen Begriff von einer so verlassenen, unfruchtbar gemachten Seele zu geben, muß man an die Hölle denken, wo selbst die Verzweiflung regungslos ist, wo das uferlose Meer weder Flut noch Ebbe hat. Und gewiß kann man nicht glauben, daß dieser seltsame Mann unter dem Zeichen eines so furchtbaren Fluches geboren wurde. Welchen Anteil seine Jugend auch der Lüge eingeräumt hat, eine Stunde ist unter allen Stunden gekommen, wo die Gleichgültigkeit sich zu einem absichtlichen, überlegten, klaren Verzicht gemausert hat; aber diese Stunde kennt man nicht.
Er kannte sie ebensowenig. Mit den schmerzhaftesten Symptomen seines Leidens war, wenigstens scheinbar, auch der Zorn verschwunden, der ihn einen Augenblick lang so gewaltig geplagt hatte. Dieser Zorn schlief. Sein Gewissen sprach übrigens keinen Vorwurf aus, und er fühlte nie Gewissensbisse. Die Wunde hatte sich geschlossen, sobald er gewagt hatte, sich ins Gesicht zu blicken, sich ein für allemal zu deuten. Er glaubte nicht mehr. Er hatte den Glauben völlig verloren. Seine große Geschicklichkeit – denn seine List ist der Kraft nicht unebenbürtig – hatte darin bestanden, daß er der Versuchung widerstand, die notwendige Operation aufs unbestimmte hinauszuschieben, indem er die Symbole, die er vorher jedes Inhalts beraubt hatte, nicht völlig verwarf. Er hatte den Kontakt abgebrochen, und zwar derart, daß die Umkehr unmöglich, ja nicht einmal denkbar war. »Der metaphysische Sinn«, gestand er eines Tages, »ist bei mir wie vernichtet.« Und das war noch nicht genug gesagt. Eine kleine Anzahl seinesgleichen hat es verstanden, sich dem Zauber eines verfeinerten Spiritualismus zu entreißen, um an den herberen Ufern des Agnostizimus zu landen. Auch dort leben sie unbewußt noch inmitten vertrauter Gesichter. Der Abbé Cénabre glaubte, daß ihm der kühne Schlag gelungen sei, sich mit einem Male nicht nur jeglichem Glauben, sondern auch jeglicher Hoffnung zu entreißen. Am Ende seiner Anstrengung gibt es nichts mehr. Dieser Gedanke erhob ihn; er empfand ihn beständig, wie man in seinem Gedächtnis eine köstliche, allen unbekannte Erinnerung tausendmal hin und her wendet. Diese Seele, die durch ihr altes Verbrechen schon längst der Einsamkeit geweiht war, gab sich ihr endlich hin, verlor sich in ihr ohne Rettung. »Zwischen dem Nichts und mir«, sagte er sich, »liegt nur dies zögernde Leben, das ein Hauch, das Zerreißen einer kleinen Ader vernichten kann.« Und alsbald fühlte er sein Herz von Flammen umzüngelt.
Das Nichts wird nach dem Zusammenbruch aller andern Hypothesen meist als die einzig mögliche angenommen, und zwar, weil diese Definition nicht nachzuprüfen ist, dem Verstand unzugänglich bleibt. Man nimmt sie mit Verzweiflung, mit Widerwillen an. Er aber schenkte in Wirklichkeit dem Nichts seinen Glauben, seine Kraft, sein Leben. Er wollte es so, wollte nur sich. Bei dieser außerordentlichen Wahl, bei dieser übermenschlichen Bevorzugung erkannte er nicht den Anteil eines in jahrelangem Zwange angesammelten Grolles. Eine solche Entdeckung hätte ihn tief gedemütigt. Er glaubte sich vielmehr sicher, ohne Leidenschaft gehandelt, sich männlich in das Unvermeidliche gefügt zu haben, setzte seine Ehre darein, sich keinerlei Schuld gegen irgend etwas beizumessen, weder in Haß noch in Liebe.
Dennoch wußte er sich einer Schwäche schuldig, der einzigen, die unbegreiflich geblieben war, daß er nämlich den Abbé Chevance gerufen hatte. Da er jetzt im Alleinbesitz seiner selbst war und aus völliger Einsamkeit Leid oder Freude schöpfte, war jene Erinnerung ihm unerträglich. Wie ein Geizhals, der sich nicht mehr an seinem Schatz erfreut, weil man ihm einen Bruchteil davon genommen hat, und seine seltne, köstliche Wonne in dem Wunsche nach etwas vergeudet, was er nicht mehr besitzt, blieb der Abbé Cénabre untröstlich darüber, daß er sich aus Versehn etwas von seinem Leben hatte nehmen lassen. Eine Lücke klaffte. Eine gewisse Ahnung reizte ihn.
Bis auf diese Unruhe fühlte er sich seiner sicher, denn nie hatte er etwas dem Zufall überlassen, noch sonst eine andere Unklugheit begangen. Bei seiner Rückkehr aus Deutschland hatte er sich eingeschlossen, um sich einige Tage Überlegung zu gönnen, und die Weisung gegeben, er sei krank. Aber selbst da faßten die wenigen Vertrauten, die ihm nahten, gewiß keinen Verdacht. Übrigens stand sein Entschluß von diesem Augenblick an fest: er hatte sich vorgenommen, die äußere Ordnung seines Lebens nicht zu ändern, als Priester zu leben und zu sterben.
Es kann zweifellos seltsam erscheinen, daß er, nachdem er lange seinen Zaum benagt hatte, die Gelegenheit zur völligen Befreiung nicht für gut hielt. Doch er hatte sich ja von sich selbst befreien wollen; vor sich selbst wollte er nicht mehr erröten. Nachdem er seine Auflehnung zu Ende geführt hatte, schränkte die notwendige Verstellung die wiedererlangte Freiheit nicht nur ein, sondern machte sie ihm nur noch fühlbarer. Gewiß hätte er sich gewundert, hätte man ihm zu erkennen gegeben, daß der Beschluß, den er gefaßt hatte, die Ursache mehrerer tragischer Ereignisse war, die seine Weisheit nicht voraussehn konnte, deren Annahme sein gesunder Verstand sogar abgelehnt hätte. Er sah die Gefahr dieser Verstellung nicht, empfand ebensowenig Beschämung darüber, seit er sich mit seinem Stolz abgefunden hatte. Vielmehr entledigte er sich all seiner Standespflichten mit unnützem Eifer, doch pünktlich, mit größerer Würde, mit einem Ernst, ja mit einer Traurigkeit, die auch die Scharfsinnigsten irre führen konnte. So las er jeden Morgen in der Kapelle der Marienschwestern die heilige Messe; der alte Sakristan, der ihm schon seit so vielen Jahren beistand, hatte ihn noch nie so andächtig gesehn.
Der fünfte Band der Florentinischen Mystiker war soeben erschienen; nichts unterschied dies Buch von den vorhergehenden, wenn nicht eine noch behutsamere kritische Methode, eine noch peinlichere Sachlichkeit. Der leichte Spott bei der Erörterung der strittigen Punkte, der Einschlag von etwas düsterer Komik, die Gereiztheiten und Keckheiten waren nicht mehr darin. Das Imprimatur war in kürzester Frist bewilligt worden, und trotzdem hatte er wie gewöhnlich die Glückwünsche einer großen Anzahl von Priestern erhalten, die der Ruf seiner Kühnheit und sein Modernismus begeisterte, wie sie es in ihrer naiven Ausdrucksweise und auch in geschickter Andeutung nannten. In Wahrheit hatte er die letzten Kapitel in großer Hast geschrieben, nur von dem Wunsche beflügelt, zum Ende zu kommen. Seine Lust am Streit war mit den letzten Gewissensbedenken wie durch Zauber verflogen. Er faßte den Plan, sich fortan auf seine Tätigkeit als Historiker zu beschränken und seine Notizen zu verwenden. Er wartete.
Er wartete aber nicht, wie man glauben könnte, auf eines jener unverhofften Ereignisse, die plötzlich das Gleichgewicht eines gestörten Lebens wiederherstellen, die Schein und Wirklichkeit in Einklang bringen und einer Lüge die Weihe geben. Nein, nichts derartiges erwartete er. Vielmehr war er sehr stolz darauf, daß es ihm gelungen war, an seine alten Gewohnheiten wieder anzuknüpfen, ohne ihr zartes Netz zu zerreißen und sich dabei so wohl zu befinden, wo doch so viele andere zweifellos der blinden Begier nachgegeben hätten, alles um sich zu zerreißen und sich so für ihre überstandenen Ängste zu rächen. Sein Schicksal stand vielmehr fortan fest; seine Lebensbahn war vorgezeichnet bis zum Tode, den er weder herbeiwünschte noch fürchtete. Trug er doch das Bild des Todes schon eigenartig in sich selbst; er war bereits seine Gewißheit und seine Ruhe. Was er erwartete, läßt sich nicht leicht sagen; wenigstens lag es ihm sehr fern, sich einzubilden, daß sein Vorhaben kaum begonnen sei. Übrigens gehörte es wahrscheinlich zu jenen Dingen, die keinen Anfang und kein Ende haben. Die Entdeckung der Einsamkeit, in die er gesunken war, hatte ihn anfangs berauscht, mit Vertrauen, Kraft und Verachtung erfüllt. Es war doch genug, so vollständig mit den übrigen Menschen zu brechen, nur für sich und durch sich zu leben; er hatte ehrlich geglaubt, nie eine gleich herbe und seltene Lust auskosten zu können. Doch schon mußte er sie suchen, sie immerfort verspüren, und sie schenkte ihm nur noch eine geizige Freude, die langsam kam. Er begann zu fühlen, daß die Verachtung sich nicht selbst genügt, daß sie sich in einem vollkommeneren Gefühl stählen und erneuern muß. Aber in welchem? Er war nahe daran, die Art dieses Gefühls zu erraten, wiewohl er erbärmliche Kunstgriffe gebrauchte, um nicht seinen Namen auszusprechen. Fühlte er doch, daß das neue Ungetüm, das in ihm geboren war, nur einmal erblickt und gestreichelt sein wollte, um sich ins Entsetzliche auszuwachsen, um in der zerstörten Seele allein zu bleiben, wie ein Krebs sich völlig dem zerstörten Gliede anpaßt und ihm für immer seine scheußliche Gestalt gibt. Zweifellos wäre er noch nicht fähig gewesen, sich klare Rechenschaft über unbestimmte Angstzustände, über Ahnungen, über all die blinden Dinge zu geben, die auf dem Grunde seines Gewissens krochen; er glaubte einfach, nur eine letzte Anstrengung machen zu müssen, um sich völlig zu befreien. Mochte er es nun so gewollt haben oder war er bloß ans Ziel einer schleichenden, aber unglaublichen Erniedrigung gekommen: sein ganzes Leben hatte seine Stütze im Stolz gefunden, und er schmeichelte sich, hier einen starken und sicheren Boden gewonnen zu haben. Merkwürdiger Irrtum eines Menschen, der noch nicht wußte, daß der Stolz an sich nichts ist, daß er nur der Name für eine Seele ist, die sich selbst verzehrt! Wenn diese widerliche Entartung der Liebe ihre Frucht gezeitigt hat, trägt sie fortan einen andern Namen, einen sinnreicheren und wesentlicheren: Haß.
Wie ein Liebender in der Tiefe dessen, was er seine Verzückung nennt, plötzlich mit Schrecken gewahrt, daß der Körper, den er umarmt, ihm nichts Köstliches mehr zu geben hat, daß er leer und schon verlassen ist, so fühlte der Abbé Cénabre zuweilen für Augenblicke die Fragwürdigkeit seines Triumphes, die Wertlosigkeit seines Besitzes. In solchen Augenblicken gab ihm die Ruhe, in die er versunken war, keine genügende Sicherheit mehr, setzte ihn vielmehr in Staunen. Wenn er sein Leben betrachtete, das dem früheren so ähnlich war, wenn er sich als gewissenhaften Priester, als ernsten Arbeiter sah, wenn er die gleichen Freunde besuchte und über alle Dinge die gleichen Gespräche führte, so fühlte er keine Gewissensbisse, sondern Mißtrauen. Er merkte, daß eine so mühelose Verstellung eine Falle bergen konnte und vielleicht nur ein Waffenstillstand war. Er hätte gewünscht, daß es ihm nicht im ersten Anlauf gelungen wäre, daß er seine neue Rolle mit Mühe und Fleiß hätte einstudieren, sich Gewalt antun müssen. Statt dessen fand er sich darin gleich behaglich, schien nie etwas anderes gekannt zu haben. Dies seltsame Bedenken war übrigens im Ganzen nur eine Form unbestimmter Ruhelosigkeit; aber manchmal kam es auch an die Oberfläche des Bewußtseins, traf ihn an einem der Lebenspunkte des Seins. Zum Beispiel bei einer jener Frühmessen, die er gewöhnlich mit völliger Gleichgültigkeit las, bei denen er nur auf die Bewegungen, auf die Worte achtete, die er sorgfältig, sogar leise aussprach, wie um sich nicht zu einer unnützen List herabzuwürdigen, seinen Zuhörern für ihr Geld etwas zu geben. Nachdem er einige Tage gezaudert hatte, sprach er jetzt die Worte der Konsekration nicht aus geheimer Lust am Sakrileg (wenigstens war er dieser Meinung), sondern weil es ihm seiner unwürdig schien, die alten Weiber, die gleich darauf am Tisch des Herrn niederknien sollten, auch nur durch eine harmlose Auslassung zu täuschen … Aber plötzlich ließ ihn dieser bohrende Schmerz verstummen, nagelte ihn für eine lange Minute gleichsam auf der Stelle fest, zuweilen in der unbequemsten Stellung, mit erhobenen Armen, während er die Hostie zum Kreuze emporhob oder seine Hand den Segen gab. Dann fuhr er auf wie aus einem Traume, beobachtete sich selbst, nicht mit Schrecken, sondern nur mit unendlicher Neugier. Unmöglich läßt sich diese Neugier beschreiben. Sie ist so pathetisch und zugleich so zart, daß man daran verzweifelt, ein unverfälschtes Bild von ihr zu geben. Nichts glich weniger irgendeinem noch so unbestimmten Reuegefühl, einer Regung der Gnade, oder bloß der Furcht. Ganz im Gegenteil, es schien ihm dann, daß alles Schmerzliche oder Empfindsame, was noch in ihm sein mochte, sich plötzlich verschloß, und in diesem Aufschub einer außerordentlichen Erwartung fühlte er sich versteinert. Erwartung ist hier sicherlich das zutreffende Wort, falls man es im unbedingten Sinne nimmt. Zugleich Handelnder und Zuschauer bei dieser merkwürdigen Erscheinung, wartete er auf irgend etwas, er wußte nicht was, etwas, das vielleicht aus seinem bis zum Wahnsinn gesteigerten, überspannten Stolze entstehn sollte. So wartete der Priester, der sich aufgelehnt hatte, im Angesicht seines verratenen Gottes mit starrem Blick auf eine neue, nahe Offenbarung, die aber aus ihm selber kommen sollte, nicht von dem kalten und stummen Bronzegesicht oder von der kleinen, weißen, gebrechlichen Scheibe, durch die er die Flamme der Kerzen tanzen sah … Was für eine Offenbarung? Warum verwünschte er in diesem Augenblick die unerhörte Ruhe, die klare Gleichgültigkeit, auf die er gewöhnlich so stolz war? Warum lehnte er sich gegen seinen Willen auf? Was wünschte er eigentlich? … Wer damals sein Gesicht aufmerksam beobachtet hätte, der hätte ohne Zweifel eine Antwort gefunden.
Diese seltsamen Anfälle wurden jedesmal heftiger, aber auch jedesmal plötzlicher und kürzer, so plötzlich und kurz, daß die Stimme des Priesters, wenn er zuweilen mitten beim Hersagen eines Verses überrascht wurde, kaum ein Nachgeben verriet. Und sofort vergaß er diese Anfälle, dachte nicht mehr daran, genoß unbewußt die Erschöpfung, die ihnen folgte, eine selige Mattigkeit, die seine Knie unter der Soutane erzittern ließ. Auch sah er, ohne es zu begreifen, den Schweiß auf seinen Händen perlen. Der Sakristan, der nach der Messe die Albe zusammenlegte, um sie in ein Schubfach zu tun, wunderte sich, daß sie von Schweiß durchnäßt war.
Er ging über den Karussellplatz und setzte sich einen Augenblick auf eine der Steinbänke, die in die Mauer eingelassen waren. Dann störten ihn die Vorübergehenden, und er setzte seinen Weg fast sofort, aber langsamer, fort. Seit sechs Wochen sammelte er Notizen, machte Auszüge, arbeitete emsig, stellte Kapitel für Kapitel mit gewohnter Genauigkeit den Plan seines Buches auf. Die Arbeit dünkte ihm jetzt langweilig; nur widerwillig setzte er sich daran. Und doch hatte er auf Monate friedlicher Arbeit und auf einen ruhigen Erfolg gehofft, so ganz anders als die früheren Erfolge, die von der Furcht vor Skandal, von theologischen Streitigkeiten und Zensuren vergiftet waren … Und nun entdeckte er, daß diese Furcht einen Teil seines Lebens, ja seiner Freude ausgemacht hatte! Mehr noch! Der Zwang, immerfort Listen zu gebrauchen, seine Aussichten sorgfältig zu berechnen, aus dem Hinterhalt anzugreifen, zur rechten Zeit eine Polemik abzubrechen, die ihn dahin bringen konnte, sich Blößen zu geben, die Listen des Jägers und zugleich des Wildes – das alles war ihm so lieb gewesen wie der Ruhm, und er empfand wieder bittere Sehnsucht danach. Zugleich hatte er die Gewißheit, daß dies für immer zerstört war, und daß er es mit eigenen Händen vernichtet hatte.
Er hatte seine Schritte noch beschleunigt, er rannte beinahe den verlassenen Kai entlang, fühlte den Wahnsinn in sich aufsteigen. In seiner schmerzlichen Ungeduld glich er einem Menschen, der lange Zeit fast unbewußt nach einer vergessenen Zahl, einem vergessenen Wort gesucht hat und der zugleich merkt, daß es aus der Tiefe seines Gedächtnisses emportauchen wird und daß von dieser Zahl oder diesem Worte sein Leben abhängt. Zahllose Gedanken stürmten auf ihn ein, begegneten sich in erstaunlicher Unordnung. Er glaubte zu wissen, wußte jetzt, daß diese Verwirrung wie mit einem Zauberschlage weichen würde, sobald er die Frage, die er sich gestellt hatte, beantwortete. Fast im gleichen Augenblick beschämte ihn eine derartige Erregung, und in einer jener plötzlichen Selbstbesinnungen, deren nur er fähig war und in denen er eine ungeheuere Kraft vergeudete, blieb er stehn, zwang sich, lange Zeit unbeweglich zu bleiben, kreuzte die Arme auf der Brüstung mit der ruhigen Miene eines Spaziergängers, der an einem Sommerabend dem Fließen des schmutzigen Wassers zusieht. Er versuchte, dieses scheußlichen Traumes Herr zu werden, indem er ihn aus seinem Dunkel in den hellen Bereich des Bewußtseins zwang, versuchte, ihn in verständlichen Worten auszudrücken, begann, sich mit leiser Stimme Frage und Antwort zu stehn, wie er mit einem Freunde gestritten hätte.
»Das ist sehr einfach: ich gebe mein Buch entschieden auf; ich verzichte auf dies Geschichtswerk und fange damit an, daß ich heute Abend meine Notizen verbrenne.« – »Wozu? Du bist dumm!« – »Offenbar fehlt es nicht an Stoffen, die mich noch vor einem Monat reizten. Ich werde nur die Qual der Wahl haben.« – »Warum bin ich so dumm? Warum sollte ich nicht den Mut zu dem Werke haben?« – »Ich glaube nicht mehr – schön – das stimmt. Ich glaube nicht mehr … Ich glaube an nichts mehr … an nichts … an nichts mehr. Ich …«
Er ertappte sich dabei, wie er diesen blöden Satz wer weiß wie oft mechanisch wiederholte. Zehn Schritte von ihm stand ein alter Mann, den Kopf auf die Schulter geneigt, der ihn traurig beobachtete und sich alsbald errötend entfernte.
Er verbarg sein Gesicht in den Händen, bemühte sich, das Gespräch da wieder aufzunehmen, wo er es fallen gelassen hatte, machte sich leise tausend Vorwürfe und ermutigte sich dann mit knabenhaften Ausrufen, wie: »Nur Mut! Nur Mut!« Er fand in der Tiefe seines Gedächtnisses die Kunstgriffe eines Musterschülers, der seine Aufmerksamkeit auf einen schwierigen Text zu richten sucht. Ach! warum sah er sich jetzt nicht, wie er war, in seinem tiefen Fall! »Nur Mut! Nur Mut! Rücken wir der Frage zu Leibe! Bleiben wir nicht in der Luft schweben! Habe ich nicht so viele Bücher mit Freude geschrieben? Ja, ja, ja, ja! Das steht doch fest. Warum wähnte ich, diese Stoffe aufgeben zu müssen – einen so reichen, unerschöpflichen Gegenstand? Halt! Aufgepaßt! – Das ist ein anderer schwieriger Punkt. Nun? Um die Sache an und für sich zu nehmen – oder vielmehr sachlich – sie von außen zu studieren, mit vollkommener Selbstlosigkeit – die Heiligkeit zum Beispiel … Nein! Nein! Tausendmal nein!« schrie er, diesmal mit lauter Stimme, und schlug mit der Faust auf den Stein. »Man muß Partei ergreifen! Ich muß Partei ergreifen!«
Mit einem flüchtigen Blick nach rechts und links vergewisserte er sich, daß niemand ihn gehört hatte. Bis zum Pont-Neuf war der Kai menschenleer. Die Sirene eines Schleppdampfers schrillte leise, dann schwoll ihr Todesschrei an, und der letzte herzzerreißende Ton verklang wie ein Zeichen für die Abenddämmerung.
Er machte eine kraftlose Gebärde und wachte auf. Der Himmel war rein und ganz tief, vom Osten bis zum Westen mit schwefelgelbem Dunst umrandet. Die großen Platanen am Ufer wiegten sachte ihre Äste. Hunderttausend Fenster, die dem Sonnenuntergang zugewandt waren, flammten zu einem roten Fanal auf, das fast sofort wieder erlosch. Und nun frischte der Wind auf.
Seine Uhr zeigte zehn. Er steckte sie rasch wieder ein, wie man einen peinlichen Zeugen ablehnt. Schon war der Kampf, der soeben zu Ende ging und in den er sich mit solcher Beklemmung verstrickt hatte, nur noch eine verworrene Erinnerung, die wie ein Traum zerging; er hatte nur noch das Bewußtsein der verlorenen Zeit. Übrigens war es bei allen vorhergegangenen Anfällen ebenso gewesen, aber noch keiner von ihnen hatte ihn so grausam geplagt, ihn so tief in seine innere Finsternis geführt. Keiner hatte ihn so zorngequält verlassen und so enttäuscht.
Er ging über den Pont-des-Arts, lenkte den Schritt in die Rue Bonaparte, bog rechts in eine menschenleere Straße ein, dann in eine zweite und dritte. Sein böser Traum war völlig verflogen und beschäftigte ihn nicht mehr. Er fühlte nur das Bedürfnis, sich zu ermüden, um die schmerzliche Erregung zu verdrängen, der er nicht Herr werden konnte. Instinktiv wählte er für seinen ziellosen Spaziergang die engsten und dunkelsten Gassen. Die letzte mündete auf den Boulevard Saint-Germain, der schon verlassen dalag. Fast gleichzeitig prallte er mit der Schulter gegen einen armen Greis, der in einer Türecke lehnte und zweifellos eingeschlafen war. Überrascht blieb er einen Augenblick stehn, dann sagte er wütend und in einem Tone, über den er sich selbst schämte: »Was wollen Sie haben?«
Doch der andere, ohne Zweifel schon seit langem an diesen Kniff gewöhnt, antwortete mit der bewunderungswürdigen Schlagfertigkeit der Bettler ohne jede Verwirrung:
»Der liebe Gott schickt Sie mir, Herr Pfarrer! Ave Maria! Dominus!«
Er schob seine Hand in ein Loch seines Kittels und zog ein schmutziges Papier heraus.
»Hier mein Zeugnis. Ich will Ihnen was sagen. Ich hatte auch ein Zeugnis des Kommissars mit meinem Entlassungsschein aus dem Krankenhaus, mit der Nadel drauf festgesteckt. Ach! Mein Pech! Ach! Bei Gott! Ich habe beide verloren, Herr Pfarrer. Ich Unglücksrabe! Ein Beweis, daß ich ein ehrlicher Mensch bin. Nur Pack und Schmarotzer haben Glück, das denke ich mir so.«
Er schob seine Hand sachte in ein anderes Loch, zog sie leer heraus und sagte bitter und ergebungsvoll: »Na also! Ich bitte nur um zehn Sous.«
Der Abbé Cénabre sah die kleinen grauen Augen zwischen zwei schmutzigen Wülsten leuchten; sein Herz drehte sich um vor Ekel. Aber zu seiner großen Überraschung antwortete er gleichsam wider Willen mit seltsamer Sanftmut:
»Haben Sie Hunger?«
»Ob ich Hunger habe! Ich habe immer Hunger! Schon von klein auf. Fragen Sie mich nicht, ob ich Hunger habe, ach, weh! Ja … ich habe … Hunger!«
Er erhob den Arm, öffnete seine schwarze Hand und rief den Himmel zum Zeugen seiner Redlichkeit an, spielte vortrefflich den Vergrämten, aber sein ganzes altes Gesicht war von einem Ungeheuern inneren Schmunzeln verklärt. »Ein Pfarrer für arme Schlucker«, sagte er sich. »Das ist gut.«
»Ich möchte etwas für Sie tun«, fuhr der Abbé Cénabre mild fort. »Ob ich Ihnen zehn Sous oder hundert Franken gebe, dadurch werden Sie nicht reicher. Wir müssen etwas besseres finden, mein Freund.«
Der Blick des armen Teufels drückte sofort nur noch unendliches Mißtrauen aus.
»Ich soll arbeiten«, versuchte er matt zu erklären. »Nur müßte ich mich vorher neu ausstaffieren. Schwach wie ein Kind, Herr Pfarrer. Keine Kraft mehr, fertig. Lieber krepiere ich.«
Er glitt von neuem in den Winkel und verschwand darin. Der Abbé Cénabre sah nur noch den unteren Teil des Gesichts, der im Lichte war. Der magere Unterkiefer krachte vor Enttäuschung und Zorn.
Der berühmte Geschichtsschreiber machte die enttäuschte Gebärde eines Dachshundes, der seine Beute verfehlt. Einen kleinen Augenblick zögerte er noch, beschämt über sich selbst. Doch er vermochte sich nicht loszumachen, gab allmählich einem unwiderstehlichen Zwange nach. Von Tag zu Tag, fast unbewußt, wurde ihm dies plötzliche Nachgeben vertrauter, weniger schmerzhaft, weniger beunruhigend für seinen Verstand. Er war an seine seltsame, stets gleichmäßige Wiederkehr schon gewöhnt. Der erste Stoß eines solchen Gedankens war weder vorherzusehn noch zu parieren. Er tauchte plötzlich auf, anscheinend harmlos, wich aber nicht mehr aus dem Bewußtsein, hemmte die Abfolge der Gedanken und Bilder wie ein Fremdkörper ein feines Räderwerk … Dann kam die äußerste Anspannung seines ganzen Wesens, seine Versunkenheit. Er war wie ein Mann, der stumpfsinnig eine Mauerecke anstarrt und den Blick nicht abzuwenden wagt, bevor er das verlorene Wort nicht gefunden hat … Endlich die Befreiung in einem Wutanfall, eine wilde Entspannung der gedemütigten Seele.
»Kleine Zwischenfälle ohne Belang«, sagte er zu sich selbst, sobald seine Ruhe wiedergekehrt war. Denn die Einfachheit und Regelmäßigkeit seiner täglichen Aufgabe, ihre gewollte, wohlüberlegte Eintönigkeit wiegten ihn in der Täuschung, daß diese Störungen nur der Rest, die letzten Symptome eines schon alten Leidens seien. Und doch waren sie sein Leben selbst. Sie setzten unbarmherzig ihren Lauf fort, suchten sich einen Weg und einen Ausgang wie ein unterirdisches Wasser. Dies Nachsinnen, das in Ängsten begonnen hatte, dann plötzlich unterbrochen, von den Höhen der Seele verjagt, aber nicht besiegt war, setzte sich im Dunkeln fort und tauchte plötzlich wieder auf, als hätte es, da ihm jeder andere Ausweg verlegt war und es in die Tiefen der Empfindung zurückgestaut wurde, seinen Weg heimtückisch durch das schmerzende Fleisch genommen und wäre den geheimnisvollen Netzen von Mark und Nerven gefolgt, um den Willen zu überrumpeln und endlich das Bewußtsein zu bezwingen.
Auch diesmal hielt ihn der gleiche törichte Starrsinn einen Augenblick gegenüber dem Elenden gebannt, dessen Augen er nicht sah, als ob er von ihm eine entscheidende Antwort erwartet hätte. Der Alte, den dies Schweigen beunruhigte, reckte sich leise in seinem Versteck, vergrub die Hände in seine Taschen, preßte sie gegen die Schenkel und hielt den Atem an. »Der Bruder hat einen Klaps«, sagte er sich philosophisch. Doch der Abbé Cénabre stand so nahe vor ihm, daß er sein Herz schlagen hörte … Da streckte er plötzlich die Hand aus, tastete über den schmutzstarrenden Tuchärmel, packte zu und zog den Biedermann ohne Anstrengung, ohne Derbheit, vielmehr langsam und gemessen aus seinem Schlupfwinkel. Dann betrachtete er ihn von neuem mit gesteigerter Neugier. Der alte Körper wog am Ende seines ausgestreckten Armes nicht mehr als ein Sack Federn, und er fühlte, daß die Haut sich frei über den Knochen bewegte. Jetzt sah er seinen Blick wieder. Er war tückisch und zugleich voller Schrecken, flehte demütig um Gnade, war seltsam naiv, ja kindlich. Zugleich versuchten seine Beine eine lächerliche, ohnmächtige Abwehrbewegung, als hätten auch sie zu einem glänzenden Spaß beitragen wollen. »Schlapp! Ich kann nicht mehr!« sagte der Leichnam mit fürchterlichem Lachen.
Das unbewegliche Gesicht des Abbé Cénabre rötete sich; er hätte nicht sagen können, ob aus Scham, Enttäuschung oder Zorn. Aber die Enttäuschung gab zweifellos den Ausschlag. Er hatte sich selbst ertappt bei dieser Art halbbewußter Raserei, in der seine Worte, Gebärden, ja Absichten einen Doppelsinn hatten, wie jene Texte, deren scheinbare Alltäglichkeit einen höheren, geheimen Sinn verbirgt, den nur die Eingeweihten kennen. Stets verschwand sein kurzes Delirium derart allzufrüh. Es streifte die Tollheit, ohne in sie einzudringen, hinterließ nur eine unbestimmte, wirre, undeutbare Erinnerung. Auch diesmal bemühte sich seine Vernunft, die einen Augenblick ausgesetzt hatte und gleichsam überrumpelt worden war, die Glieder der Kette wieder zusammenzufügen, erfand eine beruhigende Annahme, wie eine Spinne eine verdächtige Beute in ihr Gewebe einspinnt. Was war natürlicher und leichter erklärbar, als daß dieser Bettler ihn in seinem Sinnen gestört hatte, daß er einer Regung der Ungeduld oder gar einer unfreiwilligen Grausamkeit nachgegeben hatte? Solche Zerstreutheiten sind gar nicht selten; alle Träumer kennen sie gut. So sprach eine innere Stimme, die er jedoch als fremd empfand, die er verachtete, als er sie hörte, deren unehrlichen Ton er nur zu gut kannte … Er glaubte ihr nicht. Er tat nicht mal so, als ob er ihr glaube. Noch fehlte ihm der Mut, mit der armen Lüge fertig zu werden, aber sie würde beim nächsten Experiment zweifellos bald niedergeschlagen werden. Was wollte er mit diesem närrischen Kauz? Was erwartete er von ihm? Er hatte sicherlich keinen Begriff davon; er wußte nur, daß er diesen alten Hampelmann aus dem Dunkel gezogen hatte, als hätte er aus seinem elenden Herzen die lebendige Angst reißen wollen, an der er noch sterben würde, und die ihn jetzt mit dem gleichen begehrlichen Blick anstarrte, mit dem er sein eigenes Gewissen betrachtet hätte. Und wie sein eigenes Gewissen hätte er auch diesen Alten von sich schleudern mögen, weit weg, dann auf ihn treten, ihn unter die Füße stampfen, ihn zermalmen … Der ganze Auftritt währte nur einen Augenblick. Seine Finger entspannten sich.
»O weh!« sagte der Leichnam. »Besser gehts nicht! Zum Teufel! Was für eine Faust!«
Er kicherte furchtsam durch die Nase, bot demütig seinen schrecklichen Blick eines fünfzigjährigen Kindes dar, zeigte seine fahlen Augäpfel, deren stummen Ruf der Abbé Cénabre nicht ertragen konnte. Er drehte ihm den Rücken und ging langsam fort, langsam genug, daß der Alte ihn einholen konnte. Denn schon hörte er hinter sich den erst zögernden, dann entschlossenen Schritt seines dunkeln Gefährten. Und plötzlich sah er zu seinen Füßen, auf dem Pflaster des Bürgersteiges, den närrischen Tanz eines Schattens.
»Keine Flausen, meine zehn Sous her!« verlangte der Schatten mit einer Stimme, die sich bemühte, tapfer zu sein. »Nur zehn Sous, Herr Pfarrer, und ich hisse die Segel! Zehn Sous für den alten Strolch, der sich auf Späße versteht! Dann lasse ich Sie laufen, haben Sie keine Bange! Ich klebe nicht!«
»Nein, folgen Sie mir«, sagte der Abbé Cénabre. »Ich hatte nicht die Absicht, Sie ohne Hilfe wegzuschicken. Vielleicht kommen wir unterwegs auf etwas, das Ihnen hilft. Ich selbst werde erwartet, mein Freund.«
Er sprach sanft, lächelte sogar in das unruhige, zu ihm erhobene Gesicht. Die Gasse, in die sie einbogen, fiel schräg zur Seine ab. Sie begegneten nur einem schläfrigen Schutzmann, dessen Anblick den alten Possenreißer mit Bitterkeit erfüllte. Fortwährend prustend und hinkend – denn er schleppte ein Bein nach – war er schon mitten in Geständnissen, legte seinen Charakter dar, häufte gewaltige Lügen, die ebenso pfiffig wie treuherzig waren, und schaltete dazwischen ein: »Sie sind der rechte Mann, mich zu verstehn. Ich will Ihnen noch geradeheraus sagen … Bei Ihnen braucht man nicht den Mund vollzunehmen« usw. – Vor allem klagte er, daß ihm seine Familie die Schmach angetan habe, ihm den Namen Ambrosius zu geben, das wäre die Ursache seines Unglücks geworden. – »Ein dreckiger Name, Herr Pfarrer, ein Name für Schmierfinken, über den man grinst, ein Name für einen Hahnrei. Wie soll man bei so einem Namen geachtet werden! In der Schule nannten sie mich Amboß, und der Schulmeister konnte mich nicht ausstehn, auch weil ich Waise geworden war. In der Werkstatt war es der gleiche Toback. Gehn Sie in die Markthalle, Sie können von mir nicht reden, ohne daß sich alle Kumpane schief lachen. Mein Vater war ein tüchtiger Arbeiter, aber er hatte keinen Grips. Meine Mutter hatte Verstand, aber keine Sitten. Eines Tages ist sie mit einem Polizeiwachtmeister durchgegangen; der hat sie der Sittenpolizei übergeben, um sie loszuwerden. Eine schöne Kuh!«
Kaum konnte er folgen, denn der Abbé Cénabre schritt schneller aus, ohne zu antworten oder nur den Kopf zu wenden. – »Ich glaubte, ihm was vorzumachen, aber er legt mich vielmehr hinein«, dachte der arme Gauner voller Schmerz und bemühte sich tapfer, seine Gicht zu bezwingen, ohne zu ächzen. »Dreckiges Fischmaul!« Aber er hätte um nichts in der Welt locker gelassen, bevor er alles von der Leber herunter hatte, ohne Zweifel aus dunkler Sorge um ordentliche Arbeit, aus einer Art von Berufsgewissen, das ihm von unbekannten Vorfahren vererbt war, von zähen Bauern aus der Beauce – Hungerleidern, die er als freier Strolch zu verachten glaubte.
Aus welchem alten Sklaveninstinkt, aus welcher düsteren Hellsichtigkeit erriet er auch, daß dieser feierliche Priester, dessen scharfen Blick er kaum auszuhalten wagte, heimlich von ihm verlangte, von ihm erwartete, was ein Bettler für gewöhnlich seiner Kundschaft verbirgt, den schmutzigen Besitz, dem er den schrecklichen Namen »mein Kasperletheater« gab. Denn er hatte sehr rasch das gewöhnliche Programm der rührsamen Geschichten aufgegeben und schwatzte jetzt, was das Zeug hielt, erniedrigte sich wie zum Spaß in einer Art dunkler Gefallsucht, einem Zynismus, dessen unsinnige, kindische Verlogenheit das härteste Herz gesprengt hätte. »Der Bruder grinst innerlich«, sagte er sich, um sich zwischen zwei Rülpsen seiner schrecklichen Freude Mut zu machen. Und er fuhr fort, den Schelm zu spielen. Der Schlaf war ihm vergangen; er klammerte sich an seine Rolle, wie eine entkräftete Dirne die Lasterhafte spielt. – »Ach, diese Schindmähre!« dachte er. »Wenn ich ihn langweile, bin ich geleimt. Es gibt solche Kerle. Ich habe welche gekannt.«
Übrigens zeigte der Abbé Cénabre, wenn nicht Gefallen, so doch wenigstens ein gewisses Interesse. Bisweilen ermutigte er ihn durch eine kurze Antwort, ein unbestimmtes, flüchtiges Lächeln, an dem der Unglückliche sich weidete. Sie gingen in etwas langsamerem Schritt die Kais entlang bis zu dem fernen Bahnhof der Südbahn und sahen sein riesiges Auge im Nebel blinzeln. Der Uhrzeiger stand schon über Mitternacht, und noch konnte der Verfasser von Taulers Leben sich nicht entschließen, sich endgültig von seinem seltsamen Gefährten zu trennen. Das scheußliche Geschwätz begleitete ihn, verschmolz angenehm mit seinem eigenen Nachsinnen. Gern hätte er dies holde Gefühl für Mitleid genommen, obwohl er in keinem Augenblick seines Lebens weniger des Mitleids fähig gewesen wäre. Aber der strenge Zwang, den er seit so vielen Tagen gegen sich selbst übte, hatte sich eben unbewußt gelockert. Er genoß das, wonach der gefolterte Stolz gierig trachtet, die kurze, unsichere Auffrischung der Beschämung. Denn Demut ist nicht bloß, wie die Dummen sie verstehn, ein himmlisches Gut, für die gotterfüllten Menschen geschaffen. Auch die gefallene Natur, die die Demut haßt, kann doch ihre Quelle in den letzten Tiefen des Seins nicht ganz versiegen lassen, ohne sich selbst mit Unfruchtbarkeit zu schlagen. Es ist mit ihr wie mit den Elementen der strahlenden Materie, deren Analyse manchmal nur unmerkliche Spuren ergibt. Man hält sie schon für versiegt, da quillt sie plötzlich wieder hervor, unerwartet, unerkennbar, wie eine dünne Wasserader durch den Boden sickert und an der Oberfläche eine kleine Schmutzpfütze bildet, in die der elend Verdurstende noch seinen Mund drücken kann. Das volle Bewußtsein im Bösen ist nicht von dieser Welt. Der vollkommene, absolute Gewissensbiß würde im Menschen die Hölle aufflammen lassen und ihn auf der Stelle verzehren.
Der Abbé Cénabre genoß eine gewisse Art von Beschämung und empfand keinen Schmerz darüber, gab sich ihr sanft hin. Er genoß sie ohne Hintergedanken, voller Freude, für einen Augenblick seinem ständigen Gegenüber zu entgehn, der schweigsamen, tragischen Gegenüberstellung. Nach so vielen Jahren war es das erste Mal, daß er den Pakt einer strengen, unerbittlichen äußeren Zucht brach. Er wunderte sich kaum über seine Kühnheit, war sich ihrer kaum bewußt. Er suchte nicht mal mehr die dunkeln Straßen auf, zog vielmehr seinen Gefährten ins volle Licht, als hätte er einer Herausforderung entsprochen. Jetzt war es der arme Teufel, der sich nach Kräften dünn machte, sich an den Mauern entlang drückte, sein Lachen erstickte, ein Ende zu machen wünschte, sollte er dabei auch die Aussicht auf einen Schmaus preisgeben, die allmählich aus seinem Herzen wich. Doch es wäre wenig klug gewesen, hätte er den Abbé Cénabre in dieser Nacht betrüben oder rühren wollen.
Erinnerte sie ihn doch an eine andere Nacht, die schon tief in die Vergangenheit versunken, aber gleichwohl unvergeßlich war. Sie rief sie mit solcher Macht wach, daß sie sich sozusagen neben sie stellte, sie genau deckte, wiewohl beide Bilder nicht mit einander verschmelzen konnten, jenen feinen Zeichnungen vergleichbar, die durch eine unmerkliche Verschiebung der Linien oder ihrer Beziehung von dem gleichen Gesicht ein tragisches oder lächerliches Abbild geben. Wie er seinen Gefährten über die Schulter weg ansah, dachte er an den Abbé Chevance, seine traurigen Augen, sah ihn zu Boden kollern, hob sein abgerissenes Bäffchen auf. Da fühlte er in seiner Kehle das gleiche furchtbare Lachen rollen.
Unmerklich machte die Art ängstlicher Neugier, die ihn anfangs in dieses seltsame Abenteuer verstrickt hatte, einem anderen, viel tieferen Gefühl Platz, dessen unwiderstehliche Anziehung er sich nicht mehr verhehlen konnte. Er berührte ein neues Ziel, übte Vergeltung, schien sich an dieser unschuldigen Beute dafür zu rächen, daß er geglaubt hatte, wider Willen noch glaubte und immer noch hoffte, der gleiche geblieben zu sein wie vorher. – »Ich habe nur Gott verloren«, hatte er sich schon hundert Male wiederholt. »Ich habe also nichts verloren. Aber mein Leben beruhte auf dieser Voraussetzung, war ihre Funktion, erhielt von ihr seinen Daseinsgrund, seinen Ernst. Gott ist notwendig für meine Gewohnheiten, für meine Arbeiten, für meinen Stand. Ich werde also handeln, als ob Gott da wäre. Diesen Entschluß muß ich ein für alle Mal fassen.« Er hatte ihn gefaßt, und zu seinem großen Erstaunen war diese so einfach aufgenommene, so leicht bewahrte Haltung, gegen die sich weder sein Gefühl noch sein Verstand empörten, von einer unerklärlichen inneren Tätigkeit begleitet, einer langsam fortschreitenden Umbildung der geheimsten Kräfte des Wesens. Er war bar jedes Glaubens, ledig alles Vergangenen, frei von Gewissensbissen und Reue, stand an einem jener bevorrechtigten Punkte des sterblichen Lebens, wo der Mensch, wenn nicht Ruhe, so doch Unbeweglichkeit findet und nichts mehr zu verlieren hat, denn seine Gewinne sind ja vorgesehn, bis zum letzten Heller berechnet. Und doch fühlte er in sich stets dies unbestimmbare Hingleiten, dieses Hinfließen, – oder es wurde ihm doch durch die merkwürdige Anspannung seines Willens bewußt, wie ein Seemann in der Dunkelheit die Stärke einer Strömung oder das Auffrischen einer Brise an der Spannung der Ankerkette erkennt. Gott fehlte ihm nicht, denn er glaubte ja, er hätte den Glauben nicht abgelegt: der Glaube war plötzlich von ihm abgefallen. Also was war es?
Jeder andere als er hätte ohne Zweifel einem nächtlichen Spaziergang an der Seite eines Vagabunden durch ein Stadtviertel von Paris, das nach Mitternacht schon verlassen dalag, nur wenig Bedeutung beigelegt. Welcher Priester ist nicht oft derart angesprochen und verfolgt worden? Aber der Abbé Cénabre hat in seinem Dünkel stets mehr als bloßen Widerwillen, sondern Abscheu vor schlecht gekleideten Leuten empfunden. Er ist ja so vielen Gelehrten gemein, läßt sie in jedem armen Teufel ein Wesen unbekannter Rasse erblicken, das immer bereit ist, Bibliotheken zu verbrennen, Notizen zu zerreißen, mit den schweren Tritten benagelter Schuhe Laboratorien zu verwüsten. Beim Abbé Cénabre tritt zu diesem Vorurteil eines fleißigen Kleinbürgers noch ein hartnäckiger Groll auf eine heruntergekommene Herde, der er nur durch ein Wunder von Klugheit und Willen entgangen zu sein glaubt und der er nie ohne eine kindische Furcht naht, in der alle Demütigungen seiner armseligen Kindheit wieder aufleben, gleichsam die unbestimmte Angst, plötzlich wiedererkannt und beim Namen gerufen zu werden. Denn selbst bei den Größten hat der Stolz solche verblüffenden kindlichen Züge.
Der Mann, der mit zwölf Jahren um die Vergünstigung gefleht hatte, seine Ferien im Seminar verbringen zu dürfen, der, um die Vergünstigung zu erhalten, sinnreiche Lügen ersonnen hatte, die seine Lehrer hoch erbauten, einfach aus Ekel vor dem Vaterhaus, dessen Armeleutegeruch, jenen unvergeßlichen Geruch von grobem Samt und ausgelassenem Speck er, sobald er die Schwelle betreten hatte, nicht mehr einatmen konnte, ohne bis über die Ohren zu erröten, hatte die Armut tatsächlich nicht mehr kennen gelernt. Seit er vom Knabenseminar ins Priesterseminar gekommen war und von dort aus an die Sorbonne, seit er der Kaserne entgangen war, hatte er das Leben eines armen und stolzen Studenten geführt, der sich von seinen reichen Kommilitonen einschüchtern ließ, die andern verachtete, aber sich sorgfältig bemühte, seine Zu- und Abneigungen zu verheimlichen und nur mit seinen fleißigsten und bestangeschriebenen Nebenbuhlern zu verkehren, und geachtet, ja geliebt wurde, bis ein erster Strahl seines Ruhms die noch Zögernden gewann. Jeder seiner Schritte ins Leben war ein Bruch mit der Vergangenheit gewesen, mit seiner Familie, zu der jetzt nur noch ein paar Vettern mit vergessenen Namen zählten, mit der Provinz, durch die er nicht mehr, selbst nicht mit der Eisenbahn, gefahren war, ohne daß sein Herz sich schmerzlich zusammenkrampfte, mit der Diözese, der er entflohen war und deren greiser Bischof einer seiner unbestechlichsten und gefährlichsten Kritiker war. Von Tag zu Tag hatte er sich fester in sein arbeitsreiches, sittenstrenges Leben verschanzt, sich bemüht, keinen Neid zu erregen, hatte unter allen Verhältnissen die gleiche Vorsicht und jenen sehr sicheren Geschmack bezeugt, den er schon bewiesen hatte, als er sich nach und nach mit einem kaum sichtbaren Wohlstand umgab, mit seltenem Hausrat, mit jenen wundervollen Stücken, die nur von einem kleinen Kreise befreundeter Kenner geschätzt, von den andern aber kaum beachtet wurden. Alle Handlungen des Abbé Cénabre hatten bisher den gleichen Zug etwas grobschlächtiger, aber geduldiger, stetiger, planmäßiger Verschlagenheit gehabt, die auf die Dauer schließlich über alles Mißtrauen siegte oder es wenigstens einschläferte. Der einzige schwache Punkt einer so geschickten Verteidigung war lange Jahre hindurch die gewollte Zweideutigkeit gewesen, die er in sich nährte, die mit jedem Tag tiefere Gleichgültigkeit gegen Gott, der er endlich ihren wahren Namen zu geben gewagt hat. Von nun an wußte er, was er war: ein Priester ohne Glauben. Jetzt war er dessen gewiß, die Debatte geschlossen. Der Heuchler ist vor allem ein Unglücklicher, der seine Haltung andern gegenüber unklug zugibt, bevor er den Mut findet, sein Wesen sich selbst gegenüber zu bestimmen. Denn es widerstrebt ihm, sich so zu sehn, wie er ist; er sucht in sich nach Aufrichtigkeit, opfert dieser unmöglichen Wette sichere Vorteile und betrügt sich schließlich nur selbst. Um mit Nutzen zu lügen, wirksam und in voller Sicherheit, muß man seine Lüge kennen und sich üben, sie liebzugewinnen.
So hatte der Abbé Cénabre diesen entarteten Teil seines Selbst, der seit langem verurteilt und nunmehr tot war, sich mit wilder Gewalt ausgerissen. Sein furchtbarer, grimmiger Menschenverstand, den keine noch so große Angst völlig zerstören kann, hatte ihm eingeflüstert, das Experiment bis auf den Grund durchzuführen und es mit einem Schlag zu beenden. Da er oft über das unglückliche Schicksal berühmter Abtrünniger nachgedacht hatte, die in eintönigem, demütigendem Widerstreit enden, ohne sich völlig losreißen zu können, die ihren Gott, den sie schmähen, anscheinend wie einen Mitgefangenen an der Kette mitschleppen, hatte er sich das feierliche Versprechen gegeben, bis ans Ende, bis zum Tode undurchdringlich zu bleiben. Nicht ohne Grund meinte er, daß die Ungeschicklichkeit dieser ängstlichen und gequälten Gottesleugner darin liegt, daß sie nur ihr Gehirn befreit haben, während ihr Glaube endlos weiterlebt und langsam in den geheimsten, unzugänglichsten Falten ihres Gefühlslebens verfault. Ein solcher beständiger, tiefer Widerspruch quält sie um so grausamer, als sie außerstande sind, sich von ihm eine klare Vorstellung zu machen oder ihm Ausdruck zu verleihen, außer in vergeblichem, kindischem Haßgestammel. Sie haben keinen Teil mehr an einem Glauben, dessen wütende Sklaven sie bleiben. Was tut es, wenn sie glauben, ihn getötet zu haben? – »Sie bleiben an einen Leichnam gekettet«, sagte der Abbé Cénabre verächtlich von ihnen. Denn er schmeichelte sich, mit diesen unglücklichen Entgleisten nie das Geringste gemein zu haben, und um selbst dem Gefühl seiner moralischen Vereinsamung in gewissem Maße zu entgehn, beruhigte er sich mit dem Gedanken, daß die Zahl derer, die ihm glichen, in der Kirche zweifellos groß ist: jener wachsamen, starken, unbeugsamen Seelen, die imstande sind, ein Geheimnis zu bewahren.
Doch da hatte sein Stolz den härtesten Schlag erhalten.
Merkwürdig! Unglaubwürdig! Die Zweideutigkeit kehrte wieder, aber feiner, tückischer. Umsonst suchte er sich durch unwiderlegbare Gründe zu überzeugen, daß sein Wohl wie seine Würde, nachdem er entschlossen auf die nun zwecklos gewordene innere Zucht verzichtet hatte, ihm geboten, ihr trotzdem sein Leben anzupassen. Der Zwang war ihm bisher so leicht erschienen, so vollkommen im Einklang mit seinem Sinn für Ordnung, Ehrbarkeit und Arbeit; jetzt ertrug er ihn nur noch mit Mühe, suchte ihm heimlich zu entkommen. Erst waren es jene kleinen gewollten Nachlässigkeiten gewesen, die der Zerstreutheit ähneln, aber dem Blick eines Sekretärs oder einer Wirtschafterin niemals entgehn. Der Abbé Cénabre ließ seinen Bart wachsen, vernachlässigte seine schönen Hände, dehnte seine Mahlzeiten, seine Nachmittagsruhe aus. Es kam vor, daß er sich völlig angekleidet auf sein Bett warf, daß seine Haushälterin sich wunderte, es am Abend in Unordnung zu finden, daß die Steppdecke aus rotem Satin beschmutzt war und die Spuren seiner groben Schuhe zeigte. »Mein Herr wird unsauber«, vertraute sie ihren Freundinnen an. »Ein Mann, der sonst so auf sich hielt!«
»Wozu?« dachte er, ohne daß er sich einzugestehn wagte, daß dies düstere Wort, das im Anfang alles Sichgehenlassens steht, seine seltsame Verwandlung zweifellos nur zur Hälfte erklärte. Das Volk sagt in seiner Sprache von einem Menschen, der dem Herzenskummer nicht mehr widersteht: Er läßt sich gehn, er vergißt sich. Doch der Abbé Cénabre vergaß sich nicht, er entfloh sich absichtlich, oder wenigstens gab er nach und nach jenes Bild von sich auf, an dem er so geduldig gearbeitet hatte. Noch zaghaft und nicht ohne eine unklare Freude versuchte er es mit jener Unordnung, die er einst zu hassen vermeint hatte, weniger aus Ekel als aus Neugier, wie ein keusches Mädchen auf der Schwelle zu einem bösen Gedanken strauchelt, bevor es sie im Ernste betritt … Nach einem Tage der Trägheit blieb er ängstlich, gereizt gegen sich selbst oder von Verachtung gepackt, mit dem unsinnigen Wunsche, am nächsten Tage die gleiche schmerzhafte Muße zu finden. Übrigens hätte er andere, noch eigentümlichere Symptome bemerken können. So waren ihm gewisse seltene Bücher, die er besonders geliebt hatte, plötzlich unerklärlicherweise verhaßt geworden, als hätte der Luxus und die Pracht der Einbände, die Weiße der Ränder, der reine Duft des saubern, tadellosen Papiers ihn herausgefordert. Eines Abends hatte er törichterweise auf ein blütenweißes Vorsatzblatt aus Büttenpapier seinen fettigen Daumen gedrückt, wie man ein harmloses Insekt zerdrückt. Dann hatte er, zitternd vor Beschämung, das beschmutzte Buch mit der Geste eines Mörders in den Ofen geworfen.
Die Leute, die sich selbst mit bewunderungswürdiger Bescheidenheit Psychiater nennen, hätten darin ohne Zweifel die Vorboten einer großen sexuellen Verwirrung erblickt, die drohend auf den fünfziger Jahren lastet, und nach altem Brauch eine Reise nach Italien angeraten. Aber nur die Reise ins Reich der Schatten hätte dem Abbé Cénabre Ruhe und Frieden gebracht. Er bewegte sich in einer Art wirren Getöses, das selbst der Schlaf nicht völlig stillte. Es war ihm schon zu vertraut geworden, um ihn ernstlich zu beunruhigen, aber es trug dazu bei, in ihm eine dumpfe Gereiztheit zu nähren, die schließlich in plötzlichen Heftigkeiten ausbrach, deren er immer allzu spät und nur mit unerhörter Anstrengung Herr wurde. Solche Anfälle besänftigten für einen Augenblick das unermüdliche Gemurmel. Dann fing es sacht und vorsichtig wieder an, wie ein gefügiger Chor, der den Taktstock des Kapellmeisters sich erheben sieht … Und warum soll man auch das als Murmeln bezeichnen, was kein menschliches Ohr vernehmen kann?
Denn gibt man sich Mühe, die langsam fortschreitende Erniedrigung einer Seele, ihren schrägen Fall, Schritt für Schritt aus nächster Nähe zu verfolgen, so läuft man Gefahr, den Anschein zu erwecken, als übertriebe man die Bedeutung gewisser äußerer Anzeichen, die der Leidende selbst nicht bemerkt oder die ihn wenigstens nur halb verwirren. Der Abbé Cénabre war damals völlig außerstande, diesen verschiedenen Vorkommnissen eine wirkliche Aufmerksamkeit zu schenken. Sie verschmolzen gewöhnlich zu ein und demselben tiefen, aber erträglichen Unbehagen, das umso erträglicher ward, je mehr der Widerstand erlahmte. Man glaubt nicht leicht an seine eigene Verwandlung, wenn der fast ungebrochene Wille noch den Muskeln gebietet, die Bewegungen und die Haltung regelt. Doch eine andere Falle sollte dem Unglücklichen verhängnisvoll werden. Auch die abgefeimteste Bosheit hätte sie nicht zu entdecken vermocht, denn sie war an den unzugänglichsten und empfindlichsten Punkt seines eignen Wesens gestellt, gleichsam an die Wurzel seines Lebens. In Wirklichkeit verwandelte er sich nicht; er schien mehr zu seiner Vergangenheit zurückzuweichen als zu seiner Quelle hinanzusteigen. Er entdeckte keinen neuen Menschen; er fand den alten wieder, fand nach und nach wieder zu sich zurück. Das war die unerwartete, nicht vorherzusehende, übernatürliche Folge der vollkommenen, endgültigen Annahme der Lüge! Das starke Bild, das er von sich geformt hatte, die künstliche, trügerische Persönlichkeit, die alle – auch er selber – für den wirklichen, lebendigen Mann hielten, löste sich Stück für Stück auf, fiel in Fetzen von ihm ab. Es schien, als ob jene mühsame Schöpfung seines Fleißes am Punkt ihrer Vollendung zusammenstürzte, wie wenn die Art von Seele, die dies Scheinbild bisher belebt hatte, gerade in dieser Spur von Zweifel oder wenigstens von Zaudern bestanden hätte, in dieser verwünschten Zweideutigkeit, die er in der Front anzugreifen und zu zerschmettern gewagt hatte. Wie man am Abend eines Aufstandes von allen Seiten vergessene Menschen auftauchen sieht, die plötzlich von Kellern und Gefängnissen ausgespien werden und vom Licht geblendet, behutsam und verstohlen, mit leisen Schritten zu den Stätten des Lärms und der Feuersbrunst drängen, so hätte der Abbé Cénabre die tausend Gesichter seiner Kindheit eins nach dem andern erkennen und zählen können. In dieser mehr als alle andern gezeichneten Seele hatten Stolz und Ehrgeiz allzu früh ihre Herrschaft aufgerichtet, hatte ein unbeugsamer Wille die Trugbilder weniger besiegt als verdrängt, ins Dunkel zurückgestoßen. In allen dunkeln Winkeln wimmelte es von einem wilden keimenden Leben, von kaum entwickelten, aufs Wesentlichste beschränkten Gedanken, Wünschen und Begierden, deren Keim zwar schlief, aber lebte. Und dies kleine Volk von Ungeheuern, das plötzlich vom Rand des Gedächtnisses herbeikam, näherte sich schwankend den Grenzen des Bewußtseins, so schwer zu erkennen und zu benennen wie jene fünfzigjährigen, geschlechts- und alterslosen Zwerge, von denen besessene Maler heimgesucht wurden.
Ein Mann, der im reifen Alter oder im Greisenalter die rohe Jünglingszeit wiederaufleben sieht, weiß wenigstens, mit welcher Art von Feind er es zu tun hat, und kennt dessen Kraft. Dagegen stand diesem unseligen Priester nichts gegenüber, was man mit den Armen packen und niederringen konnte. Allerdings war er bisher noch nicht in Versuchung geraten, oder seine Versuchung hatte die leere Unbestimmtheit jugendlicher Neugier gehabt. Dieser so empfindliche und so offen daliegende Teil unseres Wesens, der zuerst berührt wird und dessen tiefe Gegenschläge, wenn unser Verstand nur Nutzen daraus zu ziehen wagte, uns zumeist veranlassen würden, vor den stärkeren und tückischeren Anfechtungen des Bösen auf der Hut zu sein, – das Fleisch blieb bei ihm kalt und unempfindlich. Wie man weiß, hatte sein ungemessener Stolz, mehr noch als sein arbeitsames Leben, seine Sinnlichkeit seit langem betäubt und abgestumpft. Dennoch erwachte sie wieder. Und das erste Anzeichen dieses Erwachens war ebenso schwer zu deuten und nicht weniger dunkel. Während er sich einst oft geschmeichelt hatte, seine höchsten Fähigkeiten nie ungeübt zu lassen, indem er stets, selbst auf seinen einsamen Spaziergängen, dachte und nachsann, ertappte er sich jetzt dabei, wie er heimliche begehrliche Blicke über so viele fremde, einst verachtete Dinge der Außenwelt hinschweifen ließ. Zuweilen suchte er mit einer Art Heimweh, einer unbeschreiblichen Zärtlichkeit das auf, was ihm einst sicherlich nur Verachtung oder Ekel eingeflößt hätte, etwa das fröhliche Treiben der Vorstädte in der Mittagszeit, das derbe, brüderliche Leben, das seine Ebbe und Flut hat. Es gab Augenblicke, wo er sich darein zu verlieren wünschte; dann bot er ihm Trotz, forderte es mit düsterer Wonne heraus. Einst hatte er die lärmende Menge gefürchtet, und diese alberne Furcht zu überwinden, gehörte zu seinem launischen Vergnügen. Der mißtrauische Blick eines Gefährten, irgendein Schimpfwort aus einer Garküche, das er anhörte, ohne mit einer Wimper zu zucken, das Lachen einer Dirne oder ihr zaghafter Lockruf, die tausend kleinen Abenteuer der Straße erregten ihn außerordentlich. Nie hatte er seine Vereinsamung stärker empfunden, nie heißer gewünscht, ihr zu entgehn, um jeden Preis den Zauberkreis zu durchbrechen, sich mit Leib und Seele auf Gnade und Ungnade zu ergeben. Es war wie einer jener jähen Windstöße, die den Atem bis in die Brusthöhle hinein rauben und die Knie knicken. Er hatte Lust, diesen glücklichen Leuten – wenigstens hielt er sie naiverweise für glücklich – entgegenzurufen: »Nehmt mich auf! Befreit mich! Oder beschimpft mich wenigstens!« Denn jeder Lügner hat das Bedürfnis, die Beschimpfung herauszufordern, die nicht ihn trifft, sondern den, der er scheint, den Schein, dessen Sklave er geworden ist, seine Maske.
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»Nein, Herr,« sagte der arme Schelm, »ich habe genug. Es ist vor allem von wegen meines gezerrten Nervs, der zwackt mich wie's Ungewitter … Sie lieben den Spaß, ich habe nichts gegen ihn – aber nichts für ungut! Ohne Flausen! Das ist keine Art von Christenmenschen, mich mit einem solchen Bein herumlaufen zu lassen wie 'nen Vollblüter. Ich kenne den Pfiff: das ist eine Geschichte zum Lachen, ein Jux für die Kumpane, wenn man sie erzählt. Ich kann nicht mehr, Herr.«
Seine elende Stimme zitterte nicht vor Zorn, sondern vor Erschöpfung. Er hatte sich an die Wand gelehnt und sein krankes Bein untergeschlagen wie ein unheimlicher Stelzvogel und blickte demütig auf den Abbé Cénabre, der ihn ganz in seinen großen Schatten einhüllte.
»Sie sind verrückt, mein Freund«, erwiderte der Priester rauh. »Ich mache mich niemals über Arme lustig. Übrigens habe ich unbedacht gehandelt; Sie hätten mich früher anhalten sollen, das ist alles.«
»Ich bin ja nicht beleidigt«, sagte der Mensch. »Sie haben mir immer nett geantwortet, man muß gerecht sein. Jawohl, ich kenne den Kniff von der Sache: der Priester, das ist immer ein wohlerzogener, ein höflicher Mann; der weiß, wie man sich abquält. Ich wollte, ich hätte Ihnen mehr Spaß gemacht. Aber ich bin nur mit halbem Herzen dabei; es ist ein Unglück! Gewöhnlich gibt es keinen größeren Hanswurst als mich. Die Leute stürzen auf mich los, wenn sie meine Fratze nur unter einer Laterne sehn. Ja, erst gestern in der Rue Richer, gegenüber den Folies-Bergère, habe ich zwei Amerikanern was vorgemacht; sie waren sternhagelvoll.«
»Schweigen Sie doch«, rief der Abbé Cénabre. »Ich verbiete Ihnen, zu denken …«
Sofort nahm er sich zusammen und setzte nur hinzu:
»Ich bedaure, mein Freund, daß Sie mich einer solchen Grausamkeit für fähig halten. Es war unrecht von mir, Sie aus Unbesonnenheit unnütz zu ermüden und Sie dazu diese verrückte Posse spielen zu lassen, als wäre ich ihr Narr oder Mitschuldiger.«
»Narr oder Mitschuldiger! Narr oder Mitschuldiger!« wiederholte gelehrig der arme Teufel mit idiotischem Grinsen. »Da können Sie lange suchen! Narr oder Mitschuldiger! Als ob man das sagen könnte!«
»Lassen Sie mich in Frieden, verstehn Sie!« schrie der Abbé Cénabre außer sich. »Wenn Sie es so weiter treiben, kriegen Sie keinen Sou; haben Sie begriffen? Da versuche ich nun dreiviertel Stunde lang ein vernünftiges, ehrliches Wort aus Ihnen herauszukriegen, und Sie erzählen mir nur Lügen, auf die kein Kind hereinfällt, oder gemeine Späße. Ich weiß, was ich wissen möchte.«
Er zog seine Brieftasche, nahm einen Hundertfrankenschein heraus und knitterte ihn mit den Fingerspitzen.
»Ich habe kein Kleingeld …«, sagte der unverbesserliche Bummler.
Er machte eine Bewegung, als wollte er seinen Witz wie eine Mücke im Fluge erhaschen. Als er aber an Stelle des erwünschten Scheines eine einfache Zehnfrankennote treten sah, starrte er den Priester an.
Und doch war es nur einer jener Bettlerblicke nach langem Harren, ein zynischer, völlig ehrlicher Blick. Trotzdem hüpfte dem Abbé Cénabre das Herz in der Brust. Es war keine Furcht, es war das, was der Furcht vorausgeht, gleichsam ein Gongschlag in der Nacht.
»Sie sollen nichts bekommen!« schrie er. »Ich schulde Ihnen nichts!« Und er kehrte ihm zum zweitenmal den Rücken.
Fast rennend erreichte er die Rue de la Harpe und stürzte sich wie ein Rasender ins Dunkel. Die Nacht war so milde, daß auf einem Kastanienbaum hinter einer Mauer ein erwachter Vogel eine Art von Lied anstimmte. Schon zwang die ziemlich abschüssige Straße den Priester, seinen Schritt zu verlangsamen. Er neigte ein wenig das Haupt. In der Höhe der Rue de Luynes fiel sein harmloser Feind in ungleichen Trab. Dann schlug er, zweifellos im Übermaß seiner Verzweiflung, eine Art von lahmem Galopp an.
Der Abbé Cénabre hätte fliehen können. Es hätte ihn nur wenig Anstrengung gekostet. Aber er verlangsamte im Gegenteil den Schritt und achtete wie das erste Mal nur darauf, sich nicht zu früh einholen zu lassen. Sein Zorn war keineswegs verraucht, aber er fühlte auch die Enttäuschung einer schonungslosen Neugier. Um diesen scheußlichen Vagabunden hatten sich für einen Augenblick die zerstreuten Bilder seiner Angst geballt, und in einem noch unerklärlichen Vorgang glaubte er in seinen schmählichen Geständnissen einige seiner geheimsten, unausgesprochensten Gedanken zu erkennen. Diese Schlammflut hatte ihn erleichtert, als ob sie aus seinem Innern herausströmte. Er wünschte, sie möchte noch weiter fließen. Er wollte noch andere Geständnisse mit sich nehmen, andere Lügen, die er auf dem dunkeln Grunde seines eigenen Bewußtseins noch nicht erreichen konnte. Ohne daß er es sich zu gestehn wagte, ja vielleicht ohne daß er es wußte, hatte er mit entsetzlicher Freude das verworfene Leben berührt, das sich ihm soeben enthüllt hatte. Er hatte es mit der Erfahrung und Sicherheit eines Kenners befühlt und gewogen. Durch die Prahlereien und blöden Aufschneidereien hindurch hatte er die Beweggründe und Absichten erfühlt, die plumpe Tücke. Er wünschte sie von neuem herbei.
Er ermaß die Erschöpfung des Unglücklichen an dem Schlürfen seiner Sohlen auf dem Asphalt. In der Stille hörte er sein wütendes, hartnäckiges Keuchen. Dann hörte er nichts mehr. Da wandte er den Kopf und sah den grotesken Schattenriß am Rande des Bürgersteigs in einem Stück Finsternis. Er ging mit kleinen Schritten langsam darauf zu.
»Das hat man davon, wenn man sich dumm stellt«, sagte er. »Ich wünschte, Sie nähmen sich das wenigstens zur Lehre. Es hat Ihnen nur einen kleinen unnötigen Laufschritt gekostet. Damit haben Sie den Rat nicht zu teuer bezahlt, künftig weniger schwatzhaft, weniger habgierig und höflicher zu sein … Sind Sie wirklich so außer Atem?«
»Ja, gnädiger Herr«, sagte der Strolch, übrigens ohne einen Schatten von Groll. »Nur der Brustkasten ist gut.« Er schlug auf seine magere Brust. »Es ist mein Nerv, stets mein Nerv! Er zieht mir bis ins Herz, der Halunke. Lieber Gott! Lieber Gott! Ach, gnädiger Herr!«
Er nahm den Hundertfrankenschein aus den Fingern des Abbé Cénabre und schob ihn unter das Hemd auf die bloße Haut. Dann schlug er die Absätze aneinander, grüßte militärisch und rief: »Stillgestanden!«
»Ich war Ihnen diese Art von Entschädigung schuldig«, sagte der Priester. »Jetzt sind wir quitt. Sie kriegen keinen Sou mehr von mir, unter keinem Vorwand. Merken Sie sich das wohl! Es ist zwecklos, mich künftig anzusprechen. Ich werde Sie ohne weiteres dem ersten besten Schutzmann übergeben. Verstanden?«
»Man hat Lebensart«, antwortete der alte Hanswurst trübsinnig und begleitete diese Verzichterklärung mit einer unausdrückbaren Fratze.
»Noch ein Wort,« fuhr der Abbé Cénabre fort, »ein einziges Wort. Versuchen Sie einmal in Ihrem Leben zu antworten, ohne zu lügen. Warum spielen Sie diese alberne Rolle? Warum erniedrigen Sie sich?«
»Ich erniedrige mich nicht«, sagte der Mann. »Ich zeige nur meinen Hanswurst.«
»Genug der Dummheiten! Sie werden morgen die Posse mit einem andern wieder beginnen, so oft Sie wollen. Mir liegt wenig daran! Versuchen Sie nur, eine Minute lang Ihr Bewußtsein wiederzufinden, falls Sie eines haben. Schauen Sie mir gerade ins Gesicht! Wir sind mehr als eine Stunde zusammen gegangen, ich habe Sie geduldig angehört, Sie sogar manchmal ausgefragt. Sie haben kein einziges Wort gesprochen – hören Sie? kein einziges Wort! – das mir ein wenig Mitleid mit Ihrem Elend hätte einflößen können. Sie versuchen nur anzuekeln. Nun also!«
»Ich sehe, was los ist«, sagte der Mann nach einer Pause. »Sie wollen mir meine hundert Franken wieder abnehmen.«
»Ich würde Ihnen lieber noch hundert geben, um aus Ihnen ein Wort herauszukriegen, das nicht reine Verworfenheit ist.«
»Verworfen, eingeworfen, hingeworfen«, sagte der Idiot.
Er kicherte in einer Art, die jeden andern entmutigt hätte, nur nicht den wütenden Priester, der sich wider Willen auf die Jagd nach dieser Seele gemacht hatte wie auf die Verfolgung eines Feindes. Und doch wünschte er, diese Seele niemals zu finden. Mit allen Kräften wünschte er, nur diesen Schmutzhaufen, diesen Leichnam vor sich zu haben.
»Sie verdienten ein paar Ohrfeigen«, sagte er.
»Das ist möglich«, antwortete der Alte mit großer Gelassenheit. »Wie könnte ich wissen, was Sie von mir wollen? Sie sind kein bequemer Kunde. Es gibt bequeme und nicht bequeme. Es ist meine bescheidene Sache, Sie nicht unzufrieden zu machen: davon gehe ich nicht ab. Aber ich frage Sie: kann man seine Natur zwingen? Das ist angeboren. Davon abgesehn, ist mit keinem Menschen leichter auszukommen als mit mir; keiner ist so dienstfertig. Ich habe immer Späße getrieben: das ist so meine Art. Auf dem Montmartre haben sie mir eines Nachts mein Liter Rum eingepumpt – eins, zwei – bis man sechs zählt. Dann habe ich noch auf den Händen die Runde um den Tisch gemacht, die Beine in der Luft, eine Untertasse zwischen den Zähnen, um Almosen einzusammeln: das ist einer meiner Tricks! Nur war ich damals unterernährt, leer wie meine Tasche, hohl wie ein Kinderballon. Ich wäre zerplatzt wie ein Fisch, wenn man auf mich getreten hätte. Damals wäre ich beinahe krepiert. Einverstanden, wohlgemerkt, solche Sachen soll man lassen. Gut, da oder anderswo hat man nie erlebt, daß Amboß kneift. Ich bin ein ruhiger Mann. Mit Gaunern, Weibern und der Polizei will ich nichts zu tun haben. Ich bin an die Gesellschaft gewöhnt, ich kenne die Höflichkeit, verstehe mich auszudrücken. Ich gehorche gerne. So steht es. Man bezahlt mich, schön, abgemacht. Man schlägt mir vor: hundert Tritte in den Hintern, pro Tritt hundert Sous: das ist ein Geschäft. Ich lasse meinen Kittel herunter und spiele den Toten. Halt! Ich, wie ich mit Ihnen spreche, habe im letzten Sommer frühmorgens vor der Porte Dauphine, mitten im Gehölz, als Zielscheibe für Tennisbälle gedient, wie sie es nannten – einem Kerl und seinen zwei Hennen. Piff, paff! kriegte ichs ins Maul – au Mutter! Sie hätten gelacht! Ich hatte Augen, dicker als Kartoffeln, blutete aus der Nase, überall. – Das geht fein! sagte der Kerl (er war reif, wie sichs gehört). – Noch einmal! noch einmal! riefen die Hennen. Gib ihm fünfzig, gib ihm hundert Bälle drauf! Eine war – guter Gott, was für ein Vogel! – ein rosiges Zuckerwerk, gnädiger Herr! – ganz jung, geschniegelt, eine Göhre, sag ich Ihnen! Sie wischte mich mit ihrem Seidentüchlein ab und dann – klitsch! klatsch! schlug sie am stärksten zu und traf gut. Sie sagte noch, ich gliche ihrem seligen Vater, wenn er betrunken war und sich mit seinen Kumpanen gekeilt hatte. Aber Sie werden lachen …«
»Sie lügen!« sagte der Abbé Cénabre mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. »Ich könnte Ihnen genau sagen, in welchem Augenblick Sie wieder angefangen haben zu lügen. Ich lese Ihre Lügen eine nach der andern ab, verstehn Sie! Ich sehe sie in Ihrem gemeinen Herzen, Sie Schafskopf! Behalten Sie Ihre schmutzigen Geschichten für einen andern als für mich! Doch halt! Ich bin mit Ihnen noch nicht fertig. Wenn es da drinnen noch etwas gibt,« – er stieß mit dem kräftigen Finger so stark gegen den noch keuchenden Brustkasten, daß der Unglückliche ein Ächzen nicht bezwingen konnte – »werde ich es herausholen.«
Er fühlte, wie der armselige, wehrlose Körper erbebte, und empfand doch kein Mitleid. Er bohrte seinen Blick in die fahlen Augen, die sich nicht einmal abzuwenden wagten und sich preisgaben, wie sie waren, wie die Augen eines geprügelten Hundes, der eifrig gehorcht und nichts begreift. Die Stumpfheit des alten Trunkenbolds, seine scheußliche Aufrichtigkeit nahm er nicht mehr wahr: er hatte nur noch Sinn für seine Erniedrigung, diese wirkliche, lebendige Form einer Verworfenheit, die er nie kennen gelernt, kaum erraten oder geahnt hatte, die er nun endlich entdeckte und deren schrecklichem Zauber er unterlag. Was galten angesichts dieses Schauspiels noch die Berechnungen, die scharfsinnigen Annahmen des psychologischen Geschichtsschreibers, der so stolz auf seine Laboratoriumsarbeiten gewesen war? Was konnten sie noch bedeuten? Die gleiche Ungeduld, die gleiche Sucht, den verschlossensten Teil des Seelenlebens zu erkennen, zu durchdringen und in Besitz zu nehmen, die gleiche Leidenschaft, die ihn einst so oft gepackt hatte, wenn er, auf dem Gipfel seiner wundervollen Ausführungen angelangt, seine heiligen Männer und Frauen vergebens befragte, gleich unfähig, sie zu verdammen wie sie zu rechtfertigen, diese Leidenschaft verwirrte ihn von neuem. Aber diesmal war die begehrte Beute nicht außer seiner Reichweite: er sah sie wie im Grunde seiner eigenen Seele; sie hielt ihn gebannt wie ein Widerschein in einem schwarzen Gewässer.
»Na nu! O la la! Schwerenot, ich sage Ihnen! Angenommen, ich hätte gelogen. Die Geschichte mit dem Ballspiel ist doch keine Flause. Sehn Sie mal! Sie ist eine gute Geschichte, eine Geschichte zum Platzen. Wenn ich nichts zu tun habe, nichts zu spintisieren, erzähle ich sie mir selbst; sie bringt mich zum Lachen. Ich bin ein armer Kerl, ein harmloser Mensch. Ich bin ohne Bosheit. Mein Geschäft (ich wiederhole es Ihnen) ist, zu gehorchen. Los, Amboß! Mit reichen Leuten, mein Fürst, muß man sanft umgehn. Aber trotzdem, gnädiger Herr, seien Sie gerecht. Ich kann mich nicht zweiteilen, um Ihnen Spaß zu machen.«
Er begann zu ächzen, stieß tiefe Seufzer aus und schluckste wie ein Kind. Dabei befühlte er mit behutsamer Hand das kostbare Papier unter seinem Hemd.
»Schneiden Sie keine Fratzen,« sagte der Abbé Cénabre, »Sie verstehn sehr gut, was ich Sie frage. Antworten Sie auf die Fragen, die ich stellen werde, und lügen Sie nicht! Zunächst, warum weinen Sie?«
»Weil … weil …« sagte der alte Strolch endlich schluchzend, »weil … ich kann nicht … ach, bei Gott! ich kann nicht … ich kann nicht … ach, verwünschter Dummkopf, der ich bin! … ich kann nicht mehr.«
»Was?«
»Ich fühle, daß ich lügen werde«, sagte er in unbezahlbarem Tone. »Das fährt ganz von selber heraus. Das fließt wie eine Quelle, man kann es nicht halten. Sie könnten mir die Fresse zerschlagen, Ihre hundert Franken wieder nehmen: ich würde Ihnen das Gleiche sagen. Ich bin ein unglücklicher Mensch, gnädiger Herr, ein armer kleiner Unglücksrabe. Einen zweiten wie ich – auf Ehre! einen zweiten fänden Sie in ganz Paris nicht … einen zweiten wie mich!«
Er schien die Riesenstadt als Zeugen anrufen zu wollen. Seine bleichen Augen, die denen des Abbé Cénabre auswichen, waren in diesem Augenblick sicherlich voll von den steinernen Häuserfluchten, von den zahllosen Straßen, auf denen er alles verloren hatte, selbst die Wahrheit, selbst seinen Namen.
»Ich will Ihnen ein wenig nachhelfen«, sagte der Priester mit bebender Stimme. »Kurz, alter Knabe, Sie sind einmal jung gewesen! Sie sind ein Kind gewesen!«
»Natürlich!« antwortete der Mensch in schrecklichem Ton.
Er streckte den Kopf vor, zog die Achseln hoch und schien tief nachzudenken.
»Nun gut!« fuhr der Priester unerbittlich fort, »Sie haben nicht immer auf den Bürgersteigen geschlafen, nicht immer aus Kehrichtkübeln gegessen oder des Nachts betrunkenen Weibern als Spielball gedient.«
»So was hat man mir schon mal gesagt«, versetzte der Unglückliche schließlich nach langem Stillschweigen. Und während er seine Erinnerungen mit unendlicher Mühe zusammenzusuchen schien, mit so lebhafter, scharfer Gebärde, daß der Abbé Cénabre sie eher erriet als sah, hatte seine hagere schwarze Affenpfote den Schein aus der Brust geholt und ihn in den Stiefelschaft gesteckt. Einen Augenblick lang drückte er ihn mit gleichgültiger, zerstreuter Miene zusammen. Kaum hörte man das leise Knistern des Papiers.
»Sie haben da eine ganz überflüssige Vorsichtsmaßnahme getroffen«, sagte der Abbé Cénabre ruhig. »Ich nehme niemals wieder weg, was ich geschenkt habe. Doch hören Sie: Sie können von mir vielleicht etwas anderes ähnliches bekommen, wenn Sie sich nur entschließen, wie ein Mensch und nicht wie ein Vieh zu reden.«
»Das stimmt«, sagte der Mann, und eine Art unerwarteter schrecklicher Röte überflog seine Wangen und seine Stirn, um fast unmittelbar zu verschwinden. Dann fing er an zu ächzen, erst leise, dann immer stärker, plötzlich so laut, daß der Abbé Cénabre ihm derb auf die Schulter schlagen mußte, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ein krampfhaftes Zucken schüttelte seinen alten Körper. Es war zweifellos halb gewollt, denn er schnitt eine außerordentliche Fratze, die ebenso Verschlagenheit wie Schmerz oder Schrecken ausdrückte.
»Ich bin unterernährt«, stöhnte er. »Solche Fragen sind keine Arbeit für einen Mann, der nicht satt zu essen hat. Was soll ich Ihnen denn von meiner Jugend erzählen, lieber Gott! Das Blut würde sich mir umdrehen, bevor ich so eine Geschichte in fünf Sekunden erfände … Hat man eine Idee! Zunächst, meine verstorbene Mutter war eine …«
»Sie wollen schon wieder lügen«, sagte der Abbé Cénabre mit seiner ruhigen Stimme.
»Ich will ver…« begann der Strolch und erhob seine Hand feierlich zum Schwur, aber er vollendete nicht: sein altes Gesicht verklärte sich in ehrlicher Überraschung. Er ließ den Arm wieder sinken. »Das ist sehr wohl möglich«, sagte er. »Darüber muß ich nachdenken …«
Er schnaubte sich noch einmal geräuschvoll, spie seine letzten Tränen auf die Erde und fuhr fort, wie von einer Ungeheuern Last befreit.
»Es war unrecht von mir zu weinen; ich bin zu empfindlich. Alles, was nicht zu meinem Handwerk gehört, Sie verstehn, hoher Herr, zerbricht mir den Kopf.«
Er seufzte von neuem mit einer Miene unsäglicher Erleichterung.
»Ich habe Kerle gesehn, Kerle gesehn … Aber Sie! … Ach! Sie! … Sie, lieber Gott! Sie haben mir das gleichsam mit der Hand herausgerissen. Ich bin ein anderer Mensch, ich bin wie neu.«
»Was soll diese Komödie?« fragte der Abbé Cénabre. »Herausgerissen? Was?«
»Die Geschichte mit meiner Mutter«, sagte der Vagabund mit lautem Lachen. »Das ist eine Flause. Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß nicht, ob sie eine Hure war oder nicht: sie ist tot. Damals lutschte ich noch an meinem Daumen. So! Nur habe ich die gleiche Flause immer wieder erzählt: das ist immer mein Hauptschlager, ein Elend! Wahres und Falsches, sehn Sie, gnädiger Herr, man mischt alles durcheinander. Kein Doktor fände sich da zurecht … Aber Sie! … Ach! Sie! … Sie haben sie mir herausgerissen wie einen Backenzahn.«
Er schwieg einen Augenblick, leckte sich die Lippen wie ein Feinschmecker, wahrscheinlich, um die höchste Anstrengung seines Lebens begreiflich zu machen, und schloß:
»Sie sind nicht mehr Pfarrer als ich: das denke ich mir. Die Pfarrer sind alle arme Schlucker.«
»Noch einen Augenblick«, bat der Abbé Cénabre. »Sie werden mir nicht weismachen, daß Sie die Vergangenheit so vergessen haben, daß Sie Falsches und Wahres nicht mehr unterscheiden können. Jawohl! Sie verstehn sehr gut, was ich meine! Was?«
»Ganz sicher! O la la!« antwortete der andere unbestimmt.
Übrigens hatte sein Gesicht alsbald seinen gewöhnlichen Ausdruck stumpfsinniger Bosheit angenommen, und er zupfte den Abbé Cénabre sacht am Ärmel, weil er fort wollte.
»Antworten Sie mir!« wiederholte der Priester. »Antworten Sie mir ruhig und anständig. Ich will Ihnen kein Leid antun. Wenn Sie meinen Wunsch erfüllen, wenn Sie ganz offen sprechen wie zu einem Freunde, werde ich es nicht dabei bewenden lassen, sondern mich Ihrer annehmen, verstehn Sie? Sie sollen zu essen und zu trinken haben und ein Bett, nicht ein- oder zweimal, sondern für immer.«
»Was denken Sie!« sagte der alte Hanswurst.
Trotzdem strich er sich mit zitternder Hand über Stirn und Nacken. Die eigenartige Grimasse, die die tausend Falten seiner Backen zur Nasenwurzel hin zusammenzog, löste sich langsam. Seit Jahren hatte sein finsteres Gesicht gewiß keine solche Besorgnis widergespiegelt. Er schien am Rande der schmutzigen Vergangenheit zu zögern; dann ließ er sich senkrecht hineingleiten. Der Abbé Cénabre glaubte zu sehn, wie sich über diesem leichten ausgezehrten Gerippe ein glattes, bleigraues Wasser schloß.
»Sie werden verstehn«, sagte der Unglückliche. »Ich muß Ihnen den Eindruck eines Lappens machen. Es ist nicht mein böser Wille: von Natur bin ich vielmehr gerissen, aber ich bin unterernährt, das ist mein Unglück. Ich habe Luft im Bauch und Därme von Seidenpapier … Was das Gedächtnis angeht, merken Sie sich's, fürchte ich niemanden. Nur habe ich mich so viel herumgetrieben, so viel herumgetrieben … Man hat nicht mehr seine wirkliche Farbe, wie Ihnen mein Überzieher verraten könnte. Mit dem da …«
»Wie alt sind Sie?« fragte der Abbé Cénabre.
»Steht auf meinem Schein: achtundfünfzig Jahre.« Plötzlich schien er von dieser hohen Ziffer betroffen, betrachtete seine zehn ausgestreckten Finger in einer Art von Entsetzen, schüttelte den Kopf und sprach ernst die wenig verständlichen Worte:
»Sie sind schön dumm, ohne Sie zu kränken … Ich hatte nicht darüber nachgedacht.«
»Können Sie lesen?« fragte der Priester plötzlich weiter.
Er zauderte.
»Bisweilen«, sagte er zuletzt vorsichtig. »So ein bißchen. Um gerecht zu sein: mir fehlt die Gelegenheit dazu.«
Der Abbé Cénabre zuckte die Achseln.
»Nun, entweder kann man es, oder man kann es nicht: erzählen Sie mir keine Flausen! Und wenn Sie lesen können, mein Freund, sind Sie in der Schule gewesen … ja … in der Schule … Sie sind ein Kind gewesen wie die andern auch. Es gibt keine Wilden in Paris.«
»Wilde! So ein Witz!« sagte der Strolch.
Schwankend trat er ein wenig zur Seite, die Hände wieder in die Taschen geschoben, mit gesenktem Kopf, gekrümmtem Rücken und vorgeschobenen Schultern, so dünn wie ein wesenloser Schatten. Er tat diesen ersten Schritt in eine geheimnisvolle Vergangenheit, wie er seit so vielen Jahren durch Straßen ohne Anfang und Ende gegangen war, die voll von Hinterhalten und unterirdischem Lärm waren. »Ich weiß, was das ist,« antwortete er mit dumpfer Stimme, »ich bin nicht so dumm. Sie sind einer, der mir mein Kasperletheater rauben will. Was kann Ihnen das verschlagen, ob ich jung gewesen bin oder nicht? Sie werden mir mein Kasperletheater nehmen, bei Gott! Ich kann mich nicht wehren, ich bin kein Mann. Um das richtige Wort zu sagen, ich … ich …«
Ihn fröstelte, als hätte ein eisiger Windstoß in sein Innerstes geblasen. Und weder der Abbé Cénabre noch irgend jemand erfuhr je dieses Wort.
»In der Schule, ich sage Ihnen, ein schöner Dreck. Ich hatte schon damals nichts zu beißen; aber ich wußte mir schon zu helfen. Ohne mich zu rühmen, ich lasse mich gern mißhandeln: das liegt so im Blut. Ich will nicht, daß man Achtung vor mir hat: Die Achtung, die hab' ich sonstwo. Da lach' ich drüber. Achte ich mich denn? Ja, Kuchen! Angenommen, ich achte mich, krepieren könnt' ich. Es ist ja auch nicht nur, um nicht zu krepieren, sondern auch zum Vergnügen. Gelt! Das gefällt mir. Was, gnädiger Herr? Also in der Schule, wie Sie sagen, da waren Jungens wie ich, arme Schlingel, die sich verkrochen. Das huschte einem zwischen den Beinen herum wie Ratten, hielt sich den Hintern mit den Händen von wegen der Stockschläge. Ach! die Ochsen! Ich hing mich immer an die Großen, an die Strolche, die lustigen Brüder. Es gibt immer was zu erwischen, es gibt immer einen Profit, man muß es nur verstehn, muß sich ducken. Ein paar, daß es klatschte, Sie hätten mich nicht mal stöhnen hören. Das war ihr Vergnügen. Und danach – Schmerzensgeld – Sie verstehn, gnädiger Herr? Hier ein Geldstück, da eine Kruste Brot, und noch anderes. Sie hatten mir einen Mädchennamen gegeben und einen Zunamen, den ich Ihnen nicht wiederholen kann, ohne Ihnen zu nahe zu treten. Da war auch ein gewisser Brust, Amadeus Brust, der Sohn eines Fleischers aus der Rue Haxo, ein rechter Strolch. Ich besorgte seine Bestellungen nach der Mädchenschule, und er stieß mir den Kopf auf den Boden, wenn seine Liebste ihn versetzte. Übrigens war er gutmütig. Er mopste seinem Alten Fleischstücke, die ich roh aß; das gibt mehr aus. Ein wahrer Gauner, sage ich Ihnen. Ein Kerl, auf den man hätte trampeln mögen. Einmal, Sie werden es nicht glauben, ließ er mich Tinte saufen – solche Späße! – Ich hatte davon einen Rachen wie ein Köter, und die Därme drehten sich mir um. Der Lehrer hielt schöne Reden, um mich sozusagen in Schutz zu nehmen: in was für Sachen ich mich denn einmischte. Das Mitleid, ich will es Ihnen erklären, so wie ich denke, gnädiger Herr: das ist nur ein Trick, um die armen Schelme mürbe zu kriegen, so denke ich.«
Das ungewöhnliche Wort hallte in der Stille wider und bohrte sich wie widerwillig in sie hinein. Die verzehrende Neugier, die dürre, erbarmungslose Begierde, die den Abbé Cénabre angesichts des schrecklichen und komischen Bummlers befallen hatte, verlor diesmal ihre Spannkraft, gewiß nicht aus Mitleid, aber sicherlich aus Überraschung und Bestürzung. Denn was er seit einer Stunde vernahm, dies für jeden andern lächerliche oder verächtliche Bekenntnis, besaß für ihn einen verborgenen Sinn, eine zwingendere und tiefere Wahrheit. Noch erkannte er nichts von seinem eigenen Elend in dem unüberwindbaren Mißgeschick dieses Unglücklichen, der sich selbst verloren hatte, aber seine plötzliche Enthüllung hatte einen Teil seiner Seele aufgewühlt, der bisher ruhig und gesichert war. Seine eigne Angst bemächtigte sich seiner nach und nach, verband sich eng mit ihm, dehnte ihn ins Unendliche aus, zwang ihm ihre Form und ihren Rhythmus auf. Doch das letzte Wort schien diesen tiefen Zusammenhang gebrochen zu haben.
»Kurz, er war Ihr Freund?« fragte der Abbé Cénabre sanft.
Der Stromer ließ den Kopf hängen, hob und senkte zweimal die Brauen und sagte schließlich mit vertraulichem Lächeln:
»Ein Freund? Was denken Sie?«
Und er versank aufs neue in seine Träumerei.
Jetzt war es der Abbé Cénabre, der hinter ihm herging; denn der Bettler entfernte sich mit kurzen Schritten, sein lahmes Bein hinter sich herschleppend, schwankend und stolpernd, aber lautlos wie ein Schatten. Mit unendlicher Bitterkeit betrachtete der Priester seine armselige Beute, die er unter Tausenden aufgescheucht hatte. Sie war bereits wehrlos wie ein erschöpftes Tier, wenn Opfer und Henker an der Grenze ihrer gemeinsamen Anstrengung schnaufend nebeneinander hertrotten und in langsamer feierlicher Verfolgung durch die endlose Ebene streifen, auf die schon die Nacht herabsinkt.
»Gnädiger Herr,« sagte er, »einen Mann wie Sie habe ich noch nie gesehn. Ich bin müde, Herr, gelt? Woher kommt es, daß ich so fertig bin? Achtundfünfzig Jahre, ja, Kuchen! Recht bedacht, ist das verdammt lang! Achtundfünfzig Jahre im Büro sind ein Quark! Was, gnädiger Herr? Aber bei mir, da sind sie grade aufs Gedärm losgegangen, ich habe sie nicht mal gemerkt.«
»Erzählen Sie mir wenigstens, was Sie wissen«, sagte der Abbé Cénabre. »Sie haben Recht: ich bin kein Mensch wie die andern. Mich interessiert das. Mich interessiert es gewaltig. Übrigens …«
Einen Augenblick legte er seine Hand auf die hagere Schulter; erfühlte, wie sie zitterte und unter seinen Fingern nachgab.
»Übrigens wird es Sie erleichtern, mein Freund.«
»Möglich«, sagte der Mann.
Er ging mit dem gleichen zaghaften Schritte weiter, stieß laute Seufzer aus und starrte zu Boden, vielleicht um im Staube noch ein paar verstreute Trümmer der Vergangenheit zu suchen, die er so seltsam abgeschafft, ausgelöscht, verloren hatte wie ein Schiff … Dann blieb er entmutigt stehn.
»Das möchte wohl heraus, aber es geht nicht.«
Der Abbé Cénabre spielte den Überraschten.
»Keine Flausen,« fuhr der Unglückliche fort, »ich komme nicht mehr den Abhang hinauf; es fällt mir zu schwer. Man muß glauben, daß ich ihn in einem Zuge herabgerutscht bin, auf dem Hintern. Sie lachen? Nehmen wir einmal an, ich hätte einen umgebracht oder gestohlen, daran würde ich mich erinnern, das wäre eine Sache. Aber ich bin nie so gesund gewesen, um ein Gauner zu werden. Die Gelegenheiten, die suche ich mir in den Müllkästen. Und was ich mir so ausdenke, ach Gott! da liegt der Knoten! Ich mache, was man will, ich sage, was man verlangt; man behandelt mich wie eine Gummipuppe, ich wechsle die Haut. Sie denken, ich schneide noch auf? Ich habe nichts Eignes, auf Ehrenwort! Wenn man keine Kraft hat, muß man gerissen sein, muß man sehn, wie man durchkommt. Es gibt Kerle, die Mitleid erregen wollen: ein Trick, der nichts einbringt, ein schlechter Trick. Ich habe keine Lust, mich in die Zugluft zu setzen und den frommen Josef zu spielen, bloß damit eine alte Elster mir einen Sou zuwirft, wenn sie aus der Messe kommt. Überhaupt die Armen – das sage ich Ihnen und wiederhole es – sind nicht gut miteinander, fressen sich auf. Für nichts und wieder nichts. Verstehn Sie?«
»Allmählich«, sagte der Abbé Cénabre. »Aber Sie können fortfahren. Ich werde immer besser verstehn.«
»Ich beobachte die reichen Leute«, fuhr der Stromer fort. »Ich sehe sie unter freiem Himmel. Ich gehe nur nachts aus. Nur bei Nacht kann man sich eine Meinung von der großen Welt machen. Bei Nacht frißt der Reiche den Armen auf, so meine ich.«
»Frißt den Armen auf?« wiederholte der Abbé Cénabre.
Der Alte betrachtete ihn mißtrauisch von der Seite. Dann lachte er stoßweise, ungläubig.
»Manchmal. Es stimmt schon! Und was treiben Sie, gnädiger Herr? Es gibt Leute, die sich mit meinem Kasperletheater begnügen. Sie dagegen, Sie brauchen Wahrheit, Sie brauchen Menschen. Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Was treiben Sie? … Wohlgemerkt, ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Ich möchte Sie zufriedenstellen. Nur fehlt mir die Gewohnheit, das ist hart, das macht mich baff. Lieber Gott! Ich kann nicht aus meiner Haut. Für gewöhnlich, das will ich Ihnen erklären …«
Sofort strahlte sein Gesicht von furchtbarer Freude.
»Es ist das erste Mal, daß ich mit einem Kerl von Ihrem Schlage zu tun habe. Sie haben mir Furcht eingejagt. Ich ziehe die lustigen Brüder vor. Bei Tage schlafe ich in der Nähe des Observatoriums. Gegen Mitternacht mache ich mich auf den Weg. Früher kroch ich ganz sacht zum Montmartre hinauf. Jetzt gehe ich lieber zum Konkordienplatz hinunter oder anderswohin: ich mache mir keinen Plan, sondern habe einen Riecher. Zuerst, gnädiger Herr, suche ich mir meine Leute aus. Die mit Weibern vor allem. Sind sie schwarz, desto besser! Das kommt aus den Tanzlokalen und ist erhitzt. Die Schwierigkeit, gnädiger Herr, ist, sich an sie heranzumachen. Beim ersten Anblick verderbe ich den Appetit. Aber bei Tagesgrauen, sehn Sie, hat der Kerl genug von Musik, Seide, Goldsachen und Parfüm, die Flasche zu hundert Franken: das dreht ihm den Magen um. Ein wirklicher Armer dagegen bringt ihn wieder hoch, macht ihm wieder Mut. Man ist zufrieden, daß der liebe Gott uns das Fell nicht zu kurz geschnitten hat und daß man sich darin wohl fühlt. Es ist besser, abzustoßen als Mitleid zu erregen: so ists. Und dann kommt die Überraschung. »Hallo, Liebster (wie die Hennen sagen), was für ein Drecksack! Wie er stinkt! Was für ein Graus!« Dann fange ich mit meinen Späßen an: das ist der richtige Augenblick. Habe ich ihnen mein Kasperletheater gezeigt, ei nun, dann gehn sie nicht weiter, dann verlangen sie mehr.«
»Sie reden immer von Ihrem Kasperletheater?« fragte der Abbé Cénabre. »Was ist das?«
Er zuckte verächtlich die Achsel.
»Das ist kein Einfall. Es kommt von selbst. Ich erfinde Worte, Geschichten, bin nie auf den Mund gefallen, lese an den Augen ab, was man von mir will. Lügen, Sie würden es nicht glauben! Zum Speien, gnädiger Herr! Aber wie ich mir das ausdenke, das kann man nicht sehn. Man muß es durch den Schmutz ziehen!«
Er streckte seine schwarze Hand aus wie zu einem höllischen Pakt.
»Das ist das Geschäft.«
Und er schwieg verwundert.
Einen Augenblick betrachtete ihn der Abbé Cénabre, ohne daß er den Wunsch gehabt hätte, das Schweigen zu brechen. Trotz dem uneingestandenen Hochmut seines Blickes zeigte der Vagabund seit einigen Augenblicken wieder eine Unruhe, eine Art ungeschickter, fieberhafter Ungeduld, ähnlich der Erregung, der unbestimmten Angst der Tiere vor einer unbekannten Gefahr oder dem Tode. Sichtlich befragte sich das entwürdigte menschliche Tier, ohne sich zu verstehn, wie ein Strandgut an die Oberfläche steigt, bevor es für immer versinkt.
Aber der Priester hielt nicht mehr an sich. Eine wilde Angst hatte ihn an der Kehle gepackt. Jedes Wort betonend, sagte er, wie man zu einem Tauben oder zu einem Wahnsinnigen spricht:
»Sie hatten mir doch versprochen zu erzählen …«
Er konnte den Satz nicht vollenden. Der schreckliche Alte begann an allen Gliedern zu zittern, Antlitz in Antlitz mit seinem Henker, während er seine fahlen Augen unter der Gewalt eines Leidens aufriß, dem er keinen Namen hätte geben können.
»Was soll ich Ihnen sagen!« schrie er. Ich weiß nichts. Ich bin ein ehrlicher Mann, verstehn Sie mich? Ich war geschützt, war ruhig. Ja, Herr, ich wäre ruhig krepiert! Ihnen erzählen? Was? Ich habe ein Recht auf mich. Ich habe ein Recht zu sein, was ich will; mein Kasperletheater und alles: das ist Gesetz. Ein armer Schelm, wie Sie mich sehn, hat keine Geschichte. Warum wollen Sie mir eine geben, he? Kadaverfratze! Da drinnen (eröffnete seinen Überzieher über seiner runzligen Haut), da regt sichs – lauter Lügen. Wie soll ich das auseinanderklauben? Es ist zu alt, bildet nur ein Ganzes, ballt sich zusammen. Mein Gott! … Achtundfünfzig Jahre!«
Er klammerte sich mit beiden Händen an die Soutane des Abbé Cénabre und schrie ihm ins Gesicht:
»Ich sollte Sie einsperren lassen, verstehn Sie mich?« Das Übrige verlor sich auf seinen Lippen in dickem Schaum. Offenbar schlug die Fallsucht ihre marmornen Fäuste um seine Lenden. Die Augäpfel wurden noch größer und erstarrten, dann drehten sie sich langsam um sich selbst. Und zu seinem Entsetzen sah der Priester die umzingelte, endlich bezwungene Seele wie in einem tief aufwallenden Strudel darin erscheinen.
Er fing den leichten Körper in seinen Armen auf. Der Kopf lehnte sich an seine Schultern, der Rücken ruhte auf seiner offenen Hand; er fühlte nur einen Augenblick das Zittern der steif werdenden Knie an seiner Wade. Die Füße ruhten auf ihren Absätzen mit ihrem doppelten, spitz zulaufenden Schatten auf dem einsamen, fahlen Bürgersteig. Eine lange Minute wagte sich der Priester nicht zu rühren; er lauschte. Das schwache, fast kindliche Röcheln wurde langsamer, dann hörte es plötzlich auf. Er vernahm nichts mehr als das kaum merkliche Schäumen des Speichels, das Zerplatzen der kleinen Luftblasen zwischen den zusammengepreßten Zähnen … Zwei Passanten, die sie eine Minute vorher überholt hatten, waren verschwunden: die Straße war leer. Weitab, am Ende des Botanischen Gartens, stieß ein unbekanntes Tier hin und wieder einen lächerlichen Schrei aus. Der Abbé Cénabre sah sich zum letztenmal nach allen Seiten um. Dann nahm er die leichte Bürde auf seinen Rücken und ging langsam weiter.
Als der Abbé Cénabre um drei Uhr morgens nach Hause kam, ohne Herrn Guirou gesprochen zu haben, fand er einen sorgfältig gefalteten Brief in einem Umschlag, auf den seine Haushälterin mit Bleistift geschrieben hatte:
» Dem Herrn durch einen Dienstmann um 8 (acht) Uhr überbracht. Eilig.«
Zuerst drehte er den Brief um. Der Umschlag war von der Art, wie man sie in den Schreibmappen ärmlicher Cafés findet; er war mit zwei viereckigen gummierten Papierstückchen verschlossen. Auf der Rückseite las er die hastigen Schriftzüge: » Äußerst dringend, eigenhändig abzugeben! Pernichon, 98 rue Vaneau. Paris.« Er zuckte die Achseln und warf den Brief auf den Tisch.
Er litt nicht mehr. Schon seit langem hatte er sich nicht so munter, so ungeduldig gefühlt, sich zu erforschen, seine Aussichten zu berechnen. Das Erlebnis der Nacht, seine grausamen und albernen Einzelheiten, ihre abscheuliche Verkettung, alles bis zum Schluß hatte ihn wunderbar frei gemacht. Das Ringen mit dem Vagabunden, der wütende, unerklärliche Kampf, den er mit schrecklicher Aufrichtigkeit, mit der furchtbaren Wut, nichts im Dunkeln zu lassen, zu Ende geführt hatte, erschien ihm jetzt wie ein Sieg über sich selbst. Als er unter dem Gelächter der Wachmannschaft in die Hände eines Schutzmanns das Häuflein Lumpen niederlegte, aus dem ein kindliches Wimmern drang, hatte er eine furchtbare Freude verspürt, wie er sie niemals erträumt hätte. Der Polizeisekretär, der wegen einer dringenden Sache noch anwesend war, hatte mit seinen von Schlaftrunkenheit und Langeweile geschwollenen Augen den berühmten Priester erkannt, bevor dieser seinen Namen genannt hatte. Schlecht verbarg er sein Staunen in einer Flut banaler Worte, bedauerte, daß ein solcher Vagabund, der der ganzen Polizei wohl bekannt war, einen so hervorragenden Mann, der Besseres zu tun hätte, von seinem Wege abgelenkt habe. – »Ein Strandgut, Herr Abbé, ein wirkliches Strandgut … Wir lesen es alle zwei bis drei Tage auf. Das Asyl will ihn nicht mehr haben. Sie müssen wissen, daß er uns eine Hundearbeit macht! Er hat seine Papiere verloren, er hat keinen Zivilstand mehr, verstehn Sie? Ihr Beruf … ja … kurz, ich will sagen, Ihr geistliches Amt … hat seine peinlichen Pflichten, unser Beruf ist noch viel härter. Und man scheint es drauf abzulegen, ihn uns noch schwerer zu machen. Es ist nicht zu glauben.«
Ohne darauf zu hören, starrte der Abbé Cénabre auf das Häuflein Lumpen, das immer noch wimmerte und zwischen einem Säbelkoppel und einer leeren Käseschachtel auf den Dielen lag. Er wartete darauf, daß von ihm irgendwas ausginge, ein noch schärferes Ächzen, vielleicht ein vernehmlicher Schmerzensschrei. Er beobachtete es mit halb geschlossenen Augen in tragischer Besorgnis. Am liebsten hätte er den Vagabunden wieder mitgenommen, ihn aufs neue in seinen starken Händen gehalten, ihn noch einmal ausgefragt, wie wenn der Unglückliche auf dem tiefsten Grund seiner Schande absichtlich, in einem entsetzlichen Schelmenstreich, den nützlichsten, seltensten Teil ihres gemeinsamen Geheimnisses, seinen magischen Teil verborgen hätte. Doch im gleichen Augenblick fühlte er, daß seine Befürchtung grundlos war, daß die verfehlte Gelegenheit sich niemals mehr bieten würde, wenn sie sich überhaupt jemals geboten hatte. Ihm blieb nur die bittere, verächtliche, ihm allein bekannte, nicht mitteilbare Freude, auf den Grund seines eigenen Gewissens gestoßen zu sein, seine Seele wundersam mißbraucht zu haben … Der letzte Blick, den er von der Schwelle auf seinen phantastischen Gefährten warf, war weniger ein Blick des Hasses oder des Mitleids als der gestillten Lust.
Über all diese Vorgänge sann er jetzt nach, während er die Beine ausgestreckt, die Füße auf ein silberumsäumtes Kissen gelegt hatte und die Arme so tief herabhängen ließ, daß die Fingerspitzen die Wolle des Teppichs berührten. Seine Ermüdung war ihm hold. Er fühlte kein Schlafbedürfnis. Seine Schläfen pochten in leichtem Fieber. So genoß er die Stille, die Einsamkeit, die wiedergefundene Sicherheit wie nach einer langen Reise. Es schien, als begänne er ein neues Leben, als hätte er in einigen Stunden eine ungeheuere Last von sich abgewälzt, wie ein lüsterner Wüstling nach der langen Qual der Enthaltsamkeit.
In Reichweite seiner Hand stand das linke Schubfach seines Schreibtisches halb offen. Zwischen zwei Haufen weißen Papiers sah in ihm ein Kästchen von verdächtiger Form hervor, das ihm wohl bekannt war, seine jetzt so harmlose Pistole. Merkwürdige Geschichte! Als er sie an jenem Abend heftig fortgeschleudert hatte, war das Schloß zersprungen, und er hatte sich manchmal mit seinen ungeschickten Händen bemüht, die zarten Federn wieder in Ordnung zu bringen. Doch bei jeder Bewegung gab das kleine zerbrochene Ding das Geklirr toter Mechaniken von sich. Der entzweie Abzug gab dem Druck des Fingers nach; der Hahn schnellte tief in die Nute hinein. Schließlich legte er die Waffe mit einem Freudenschauer wieder in ihr Futteral … Diesmal kniff er die Lippen heftig zusammen.
Selbst die Erinnerung an die Gefahr, die er einst an derselben Stelle bestanden hatte, konnte ihn nicht täuschen: Das Bild des Todes oder des Verbrechens konnte seinen Augen nicht die Mittelmäßigkeit des winzigen Weltalls verbergen, in das er sein Leben hatte einschließen wollen. Aber jetzt forderte er es heraus, fühlte sich stärker als es. Er war nicht mehr der Narr seiner Umwelt, irgendeiner Umwelt. Er betrachtete diese mit einem klarblickenden Ekel, dessen Wonnen er gewiß noch lange nicht ausgekostet hatte. Er schloß die Augen und stellte sich den Vagabunden vor, wie er höchst munter zwischen den strengen Mauern einherstreifte; er hörte seinen ungleichen Schritt auf dem gehöhnten Parkett, drückte von neuem die erbärmliche Last gegen seine Brust. Das Trugbild war so stark, daß er vor sich hinspuckte, zwischen seinen beiden bestaubten Schuhen hindurch auf das Seidenkissen. Dann schlief er ein.