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Erster Teil

»Mein lieber Sohn,« sprach der Abbé Cénabre gemächlich mit seiner schönen, tief klingenden Stimme, »eine leichte Anhänglichkeit an die Güter dieser Welt ist verzeihlich, und sie gegen die Angriffe anderer zu verteidigen, scheint mir, im Rahmen des Gesetzes, ebenso recht wie billig. Gleichwohl ist es ratsam, mit Klugheit, Zurückhaltung und scharfer Unterscheidung vorzugehn. Das Leben eines Christen in dieser Welt ist ganz und gar Maßhalten: ein Ausgleich … Wir widerstehn kaum den heftigen Ausbrüchen der Natur in uns; doch wir können sie mit viel Geduld und Hingabe in ruhigere Bahnen leiten … Wenn wir nur das Unvermeidliche vorurteilslos gegen jedermann verteidigen, wird das Herz sich leicht seinen Frieden bewahren oder ihn wiederfinden, wenn es ihn verloren hat.«

»Ich danke Ihnen«, erwiderte Herr Pernichon mit dem Nachdruck echter Bewegtheit. »Ich gestehe, der Kampf für die Ideen bringt uns manchmal sehr auf; aber Ihr vorbildliches Leben und Denken ist für mich stets ein starker Rückhalt.«

(Bei diesen Worten ging ein krampfartiges Zucken um seinen Mund, wovon sein Bart noch erzitterte.)

»Ich gebe zu,« fuhr er fort, »man brauchte den Jahresbericht nicht gerade mir anzuvertrauen. Andere Confratres wären wohl geeigneter. So hätte ich gern dem verehrungswürdigen Nestor der katholischen Presse meinen Platz eingeräumt, hätte er nicht von Anfang an eine Ehre verschmäht, die ihm von Rechts wegen zustand … Wie konnte man auch nur im entferntesten ahnen, daß dieser freiwillige Verzicht des alten Streiters die Folge haben würde, einem Larnaudin den Weg zu ebnen.«

In seinem Blick lag die körperlich-schmerzhafte Beklemmung seiner ganzen Niedergeschlagenheit; es war, als versuchte er zu allem Unglück noch vergeblich, seinen Haß auszuschwitzen.

»Ich bin in keiner Weise gegen Herrn Larnaudin eingenommen«, ließ sich von neuem gemächlich die schöne, tiefklingende Stimme vernehmen. »Im Gegenteil, ich möchte sagen: ich schätze ihn sogar. Selbst seine ungerechtfertigten Urteile waren für mich immer einigermaßen von Nutzen. Sehn Sie, mein Freund, solche rechthaberischen Menschen haben das Gute, daß sie uns zum Widerspruch reizen und so Kräfte aufwecken, die der Alltag mit seiner stumpfsinnigen Gewöhnung einschläfert. Sie dienen uns als brauchbare Wegweiser.« Dann lachte er los, laut und hart. »Ich bewundere Sie«, rief Pernichon leidenschaftlich erregt. »Sie bewahren sich auch in diesem nichtigen Aufruhr Ihr ruhiges Urteil über die Dinge – am Altar und in allen Lebenslagen ein Priester. Trotzdem können Sie bei aller wohlwollenden Nachsicht nicht übersehn, wie sehr Herr Larnaudin der Durchführung unsrer dringendsten Aufgaben durch seine starrköpfige Streitsucht und Parteinahme geradezu entgegenarbeitet. »Wir brauchen vor allem Sicherheiten, und immer wieder Sicherheiten«, erklärte gestern in meiner Gegenwart Ihr Freund, der bedeutende Monsignore Cimier; »darin liegt das Heil!« Nun, wir alle haben Sicherheiten gegeben, nur die eine nicht ganz: die förmliche und ausdrückliche, ja ausdrückliche Absage an einige unberufene Hitzköpfe, denen eine Handvoll Leichtgläubiger nachläuft. Ist das zu viel verlangt?«

(Der kleine Mann war so weit, daß ihm der Schweiß auf der Stirn perlte, was ihm anscheinend eine unsagbare Erleichterung gewährte.)

Herr Pernichon leitet mit sozialistischen Zielen den religiösen Teil eines radikalen Blattes, das von einem konservativen Finanzmann unterstützt wird. Was er an Seele hat, macht sich in dieser dreifachen Zweideutigkeit breit, und mit der Geduld und dem Fleiß einer Ameise schöpft er daraus echtes Schamgefühl. Seine Erscheinung, schon verbraucht, unheildrohend und noch dazu durch sein Hinken verunstaltet, ist in den Räumen der Neuen Aurora fast unbekannt. Desto vertrauter ist sie einem ganz eigenartig zusammengesetzten Publikum von Schriftstellern ohne Schriften, Zeitungsschreibern ohne Zeitungen, Prälaten ohne Diözesen, das am Rande der Kirche, der Politik, der großen Welt und der Akademie lebt und das im übrigen so sehr darauf aus ist, sich selbst zu verkaufen, daß das Angebot allzuoft die Nachfrage übersteigt; der unersättliche Handel wird ständig von einer Preissenkung bedroht. Ist eine Verwicklung erst entwirrt, nachdem man sie wuchernd hat anschwellen sehn, dann hat die leicht verderbliche Ware künftig keinen Wert mehr und verdirbt in den Vorzimmern.

Dieser ehemalige Schüler des Unterseminars von Notre-Dame des Champs spielte bis zum letzten Tage die halbbewußte Komödie seines Priesterberufes. Sobald er das Vorgebirge eines gewagten Abituriums umschifft hatte, ging seine Spur lange Zeit verloren, bis zu dem entscheidenden Augenblick, wo es ihm gelang, in einem Pfarrblatt wöchentlich erbauliche Nachrichten unter seinem Namen zu veröffentlichen. Ihnen folgten Briefe aus Rom, die bei einem kleinen Speisewirt in der Rue Jacob redigiert waren. Wer anders als er hätte derart aus dieser obskuren Rolle Nutzen ziehn können? Aber er wußte sich Pfennig für Pfennig zu seinem zukünftigen Ruhm abzusparen, ganz wie seine Vorfahren aus der Auvergne, die im Sommer den unfruchtbaren Erdboden mit ihrem Schweiße düngen und im Winter nach Paris kommen, um die Kastanien zu verkaufen, die die Schweine nicht mehr mögen. Langsam häufen sie ihren Schatz, ohne je befriedigt zu werden; nur der Tod erlöst sie von ihrem närrischen Traum. Hastig scheuert ihnen die Leichenfrau die Schmutzkruste zum erstenmal ab, bevor der Bezirksarzt sich einstellt.

Diese Briefe aus Rom sind übrigens keineswegs ganz unverdienstlich. Sie taugen ebensoviel wie andere, weniger bekannte Machwerke gleichgesinnter, eitler Enttäuschter, die darin ihre Galle tropfenweise ausspritzen. Der Stil kann dabei freilich verschieden sein, je nach dem Verfasser, nicht aber der tiefe, verborgene Sinn, der heftige Groll, der offenbare Hang zum Bösen und unter dem Deckmantel der Friedfertigkeit die krankhafte Wut gegen alles, was in der Kirche noch Sinn für Ehre bewahrt.

Einen Augenblick betrachtete er ehrerbietig das Antlitz seines Meisters, das ein Lächeln zu tausend vorzeitigen Runzeln faltete. Dann fuhr er fort:

»Ich verzichte darauf, Ihre Entrüstung gegen irgend jemand hervorzurufen … Indessen drückte sich gestern der Nuntius dahin aus …«

»Nichts vom Nuntius, wenn ich bitten darf!« sagte der Abbé Cénabre. »Der Eifer Seiner Heiligkeit, kein Mißfallen zu erregen, wird unsern republikanischen Ministern schließlich noch als beleidigend erscheinen … Die Demokratie liebt die große Geste, aber man schickt ihr intrigante kleine Prälaten von ekelhafter Gemeinheit. Der zum Beispiel, ich schwöre es Ihnen, kann nicht mal Griechisch! … Beim Herrn Senator Hubert …«

Er strich sich mit den Händen über die Wangen, sann einen Augenblick nach und sagte gelassen:

»Doch wozu? Sie können es ja auch nicht.«

»Sie vergessen,« rief Pernichon mit erzwungener Heiterkeit (auch unversehens angetastet, reagiert die Eitelkeit stets geschickt), »Sie vergessen, daß ich 1903 im Pariser Seminar den Preis für griechische Übersetzung davongetragen habe. Ach! Ich hätte mich viel lieber den Wissenschaften gewidmet … Aber die traurigen Vorgänge, deren Zeugen wir sind …«

»Das Geheimnis des Friedens besteht darin, kein Glück zu erwarten, sagt Tagore. Die heilige Therese hat schon früher das Gleiche geschrieben … Dieses Zusammentreffen, mein Freund, hat etwas Seltsames, Bitteres.«

Seine Hand trommelte müde auf dem roten Tuch des Louis-seize-Schreibtisches. Die Uhr schlug elf.

»Ich fürchte, Sie zu ermüden«, sagte Pernichon: »Ich weiß, daß Sie selten aufbleiben. Doch für mich sind diese allzu seltenen Ruhestunden in Ihrer Einsamkeit, zwei Schritte vom lärmendsten Paris, eine Wohltat! Jedesmal verlasse ich Sie mit dem Gefühl vollster Sicherheit, vollster Gläubigkeit. Die Art, wie Sie die Ereignisse und die Menschen ansehn, ist so beruhigend; selbst Ihr Spott ist so nachsichtig geläutert! Ich bin stolz darauf (lassen Sie es mich wiederholen, verehrter Meister!), ich bin stolz darauf, in Ihnen nicht nur einen Beschützer in der Welt, sondern auch den väterlichen Leiter meiner armen Seele zu sehn.«

Der Abbé Cénabre blickte auf die Wanduhr, lehnte sich in seinen Armstuhl zurück und schloß halb die Augen. Dann gebot er mit der erhobenen Rechten Ruhe und ließ in eigenartig gebieterischem Ton die Worte fallen:

»Lieber Freund, ich würdige Ihre Geduld und Ihre Fügsamkeit gegen einen Priester, der Ihnen weder Ermahnungen noch Vorwürfe, manchmal sogar etwas strenge, erspart. Trotzdem höre ich Sie nur ungern fast jede Woche an. Sie wissen wohl, daß mir die Ausübung meines Amtes schwer gemacht ist, daß meine bescheidene Arbeit als Geschichtsschreiber meine beste Zeit beansprucht. Übrigens sollte ein frommer junger Mann nicht die Absolution von einem so umstrittenen Kritiker erbitten … Ich verweigere Ihnen gewiß nicht meinen Rat, wenn er Ihnen irgendwie Nutzen bringt; aber ich wünsche, daß Sie sich fortan, wenigstens für die Beichte, an einen andern Priester wenden. Die Wahl ist für Sie ja leicht … Es fehlt Ihnen nicht an vorteilhaften Beziehungen, falls es Ihnen zu sehr widerstrebt, sich an irgendeinen allzu einfachen Pfarrgeistlichen zu halten … Ich höre Sie heute also zum letztenmal.«

Sie gingen an das Ende des geräumigen Zimmers. Dort setzte sich der Kanonikus auf einen gewöhnlichen Rohrstuhl, neben dem ein Betschemel von der gleichen Art stand; auf ihm kniete sein Beichtkind nieder. Zur Vergrößerung seines Arbeitsraumes – seines Buchladens, wie er zu sagen pflegte – hatte der Abbé Cénabre die Zwischenwand niederreißen lassen und dadurch einen Abstellraum gewonnen, dessen Mauern weiß getüncht waren und dessen Fußboden mit großen roten Fliesen belegt war. Es war, als sei die verhaßte Armut nach der Niederlegung der dünnen Wand plötzlich in die berühmte Bibliothek eingebrochen, deren strenge Pracht nur für den Liebhaber erlesene Einzelheiten birgt. Im Geiste des Abbé Cénabre war dieser Gegensatz köstlich. Er hatte diesen elenden Winkel kurzerhand mit einem schäbigen Tisch, mit abgenutzten, goldgelb gewordenen Rohrstühlen und mit einem Büchergestell ausgestattet, auf dem zur Bewunderung des Kenners die reizendste und seltenste Sammlung von Missalen in kindlichen Einbänden stand, – uralte Vermächtnisse ländlicher Frömmigkeit. An der nackten Wand hing ein Kruzifix, raffiniert absichtlich das einzige im Hause.

Schon hob und senkte sich in der Stille das Murmeln des Herrn Pernichon, der das Confiteor hersagte, denn er legt Wert darauf, sein Latein tadellos auszusprechen. Mit vorgeneigtem Haupte, geschlossenen Augen und dünnen Lippen, die in schmerzlichem Lächeln ein wenig gepreßt waren, schien der Abbé Cénabre dem vertrauten Gemurmel aufmerksam zu folgen, obwohl er nur erst den Geruch davon spürte. Denn ein fader, gleichsam welker Geruch, nicht sowohl abstoßend als anwidernd, umwallt diesen armseligen Menschen, den ein bitterer Neid verzehrt. Aber sein Gewissen strömt einen noch süßlicheren Dunst aus.

Die Frömmigkeit des jungen Schriftleiters der Vie moderne ist nicht reine Heuchelei: vielleicht könnte man sie aufrichtig nennen, denn sie quillt aus seinem verborgensten Ich: aus der dunkeln Furcht vor dem Bösen, aus der heimtückischen Neigung, ihm durch einen Winkelzug so gefahrlos wie möglich nahe zu kommen. Auch das bißchen politische oder soziale Doktrin, das er hat, wird von dem gleichen pathetischen Bedürfnis beherrscht, sich dem Feinde auszuliefern, seine Seele preiszugeben. Was die Tröpfe, die ihn umgeben, Unabhängigkeit, ja Kühnheit nennen, ist nur das sichtbare, wiewohl verkannte Zeichen seines grämlichen Heimwehs nach dem völligen Selbstverzicht, der endgültigen Preisgabe seines Ichs. Jeder Feind der Sache, der er zu dienen vorgibt, besitzt schon sein Herz: jeder Einwand, der vom Gegner kommt, findet in seinem Denken einen Bundesgenossen. Eine Ungerechtigkeit gegen die Seinen ruft in ihm alsbald nicht Empörung wach, nicht mal feige Gefälligkeit, sondern seine weibische Seele reagiert doppelt mit dem Haß des Unterdrückten und der elenden Liebe zum Sieger. Sein Innenleben ist ebenso wirr und zweideutig, niemals gelüftet, ungesund. Wenn er sich Freiheiten mit der Lehre erlaubt, so trägt er doch peinlichste Gewissenhaftigkeit gegen das Sittengebot zur Schau. Zweifellos gehorcht er damit gewissen Grundregeln seines Spieles, aber er fürchtet sich auch vor der Hölle und beneidet alle, die ihr Trotz bieten, so heimlich, daß er sie nur zu verachten glaubt. Da er jedes Aufsehn in dieser wie in jener Welt zu vermeiden wünscht, wacht er nur mit Widerwillen über sein Gewissen, wie ein Krämer, der von seiner Kundschaft verlassen ist, über seinen einsamen Laden. Er selbst fühlt den schrecklichen Stillstand, das Hinwelken der Jugend, die bis ins reife Alter hinein lebt. Ein einziges Mal, in Lebensgefahr, hat er eine Generalbeichte abzulegen versucht, und beim Wühlen in dieser ereignislosen Vergangenheit, diesem versauerten Kot, hat er mit Schrecken gewahrt, daß alle seine Sünden zusammen nicht zu einem richtigen Gewissensbiß hinreichten.

Ins Ohr des Abbé Cénabre ergießen sich nun die gewöhnlichen Geständnisse in gewohnter Reihenfolge. Denn Herr Pernichon gefällt sich in dieser raschen, schematischen Beichte, die er mit lächerlicher Wichtigkeit beginnt und zu Ende führt wie ein Kliniker seine Lektion … Einfältige Priester hat er damit verblüfft: kaum wagten sie, ein so wohlunterrichtetes Beichtkind loszusprechen. Gleichwohl hat der berühmte Verfasser der Florentinischen Mystiker bisher nie geruht, den Faden der Unterhaltung vor dem Schlußseufzer abzuschneiden, der manchmal sogar in einem leisen Hüsteln von untadeliger Treuherzigkeit ausklingt … Auch diesmal wurde das Männchen noch schweigend angehört. Als er aber zu Ende war und zu seiner Überraschung nichts hörte, blickte er auf und begegnete dem Blick des Priesters, der sich in finsterer Unbeweglichkeit in den seinen senkte.

Wißbegier hat nicht dieses düstere Feuer, Verachtung nicht diesen traurigen Ausdruck, Haß keine solche Bitterkeit. Der blasse Pernichon fühlte sich wie in einen Schraubstock gepreßt, plötzlich bloßgelegt und bis auf die Nieren geprüft. Außer Stande, diesen unbegreiflichen Blick zu überwinden und zu bannen, forschte er eine Sekunde lang darin, wünschte mit seiner ganzen erstarrten Seele ein flüchtiges Abirren des Wahnsinns, seine flackernde Schrägheit, darin zu entdecken. Aber dieser Blick fiel lotrecht auf seine Schultern herab. Buchstäblich fühlte er seine Gestalt und seine Schwere, als ob dieser Blick es verschmähte, ein so elendes Gewissen zu durchdringen, als ob er es voller Ekel formte und zu Stein verwandelte, es mit Licht überspielte. Ist es schon eine allzu empfindliche Demütigung, wenn man den Einbruch eines Blickes von überlegener Klarheit in sein Inneres erlebt, so erreicht die Beschämung ihren Gipfel, wenn die klare Einsicht eines andern unsere eigene Niedrigkeit ganz aufdeckt. Übrigens war dieser Blick jeder eiteln Neugier bar; trotz aller Sammlung drückte er eine noch beleidigendere Aufmerksamkeit aus, wie man sie auf Gegenstände richtet, deren rein stoffliche Niedrigkeit unterhalb jedes persönlichen Urteils bleibt und nur einen Vergleichspunkt bildet, einen Maßstab, den man auch an die höheren, geistigen Formen der Beschämung anlegt …

Aber womit verglich denn der Abbé Cénabre das Männchen in seinem Innern? Denn so betrachtet man nur den entehrten Teil seines Ichs.

»Lieber Freund,« sagte er plötzlich (und im gleichen Augenblick erlosch das Feuer seines Blicks), » wie sehn Sie sich? …«

»Wie ich mich sehe?« seufzte Herr Pernichon. »Ich begreife nicht, wirklich nicht … Ich fasse es nicht recht …«

»Hören Sie mich an«, versetzte der Abbé Cénabre mild. »Diese Frage kann Sie in ihrer Einfachheit überraschen. Jeder trägt in sich ein Urteil über seine eigene Person, aber es ist wenig Aufrichtigkeit dabei, ob man will oder nicht. Es ist ein hundertmal retouchiertes Bild, ein Kompromiß. Denn Beobachten ist eine zwei- oder dreifache Betätigung des Geistes, Sehn dagegen nur ein einfacher Akt. Ich bitte Sie, öffnen Sie unbefangen die Augen, beobachten Sie sich im Umgang mit Menschen, überraschen Sie sich so, wie Sie sind, im Ablauf Ihres Lebens.«

»Ich verstehe Ihren Gedanken«, rief Pernichon aus, der sich von seiner ersten Angst befreit fühlte … »Ich gebe zu … Ich bin ein Mensch voller Widersprüche …«

Der Abbé Cénabre dachte einen langen Augenblick nach; weniger Dumme als der Schriftleiter der Vie moderne hätten glauben können, er bete.

»Ich gestehe übrigens, … erlauben Sie mir, diesen Einwurf zu machen,« fuhr Pernichon alsbald fort – »die Prüfung, die Sie mir anraten … ist nicht so einfach … Sie geht etwas über das Gewöhnliche hinaus … Ich war der Meinung, daß man zu diesen Dingen nie genug Methode, … Aufmerksamkeit mitbringen kann … Ich hätte sogar gefürchtet …«

»Fürchten Sie nichts«, antwortete der Priester mit eisiger Stimme. »Aber lassen Sie die Antwort, wenn Sie wollen.«

»Ich gehorche vielmehr«, fuhr das Männchen in wütendem Eifer kläglich fort. »Gewiß werde ich Ihnen nichts sagen können, was Sie nicht schon wüßten. Ist auch die Zahl meiner wirklichen Sünden gering, so quält mich doch immerfort die Sinnlichkeit, trotz allen Anstrengungen, die ich mache. Sie wissen ja auch das. Aber es ist vielleicht gut, daß Sie es mich wiederholen lassen, damit ich mich zerknirscht fühle.«

Anfangs schwieg der Abbé Cénabre. Der Docht der schlichten Lampe, die in Reichweite seiner Hand auf dem Tische stand (denn er fürchtete sich vor jeder andern Art von Beleuchtung), knisterte und spie im Zylinder einen dünnen schwarzen Rauchfaden aus. Als er sich vorneigte und den Arm ausstreckte, sah Pernichon seine langen Finger zittern. Fast zugleich ließ die wieder belebte Flamme sein knochiges Löwenhaupt aus dem Schatten treten. Stirn und Wangen waren von äußerster Blässe, fast fahl. Der plötzliche Anblick dieses verkrampften Gesichts, das so unversehens und überraschend auftauchte, beklemmte sein Herz mit einem dumpfen Gewissensbiß, wie bei einer unerträglichen Indiskretion.

»So,« sagte der Abbé Cénabre schließlich, »die Sinnlichkeit quält Sie? Das ist vielleicht nur eine Vorstellung. Sie glauben, starke Leidenschaften zu besitzen. Und doch bekennen Sie sich nur zu Sünden, die wenigstens scheinbar leicht sind?«

»Ich war auf diesen Vorwurf von Ihnen nicht gefaßt«, murmelte Pernichon. Aber sogleich bedauerte er dies unkluge Wort.

Denn schon erklang die gleiche eisige Stimme, ohne ihn einer unmittelbaren Antwort zu würdigen, – so eisig, daß der kaum merkliche Akzent des Maaslandes sich völlig verflüchtigte und nicht mehr vernehmbar war:

»Keine Furcht vor der Sinnlichkeit! Mir machen Sie nichts weis, vielleicht auch sich selber nichts. Ach, darauf kommt es gewiß recht wenig an! Solche Wahrheiten zu sammeln, lohnt sich kaum! Priester von einiger Erfahrung legen dem Geschlechtsleben trotz des hartnäckigen Vorurteils nur symptomatischen Wert bei. Wer es zum einzigen Gegenstand seiner Gewissensprüfung macht, kann sicher sein, daß er sich schwer irrt. Übrigens ist es auch nur dann von Belang, liefert nützliche Gesichtspunkte, kurz, enthüllt die hohen Gipfel, wenn es der trübe Spiegel, das schwer deutbare Abbild, das greifbare Zeichen der Widersprüche eines großen Herzens ist. Zudem muß es auf sich selbst beruhen, seine eigene Geschichte, seinen eigenen bestimmten Charakter haben.«

»Muß man denn die Schwachheiten häufen, damit man es verdient, für eine hohe Seele, für ein großes Herz gehalten zu werden?« sagte Pernichon zaghaft, weniger gereizt durch den Sinn dieser ziemlich dunkeln Worte als durch ihre Betonung. »Ich höre Ihnen mit demütigem Geiste zu; aber wie streng ich mich auch beurteile, es ist mir doch nicht verwehrt, mir der Anstrengungen bewußt zu sein, die ich gemacht, der Anfechtungen, die ich überstanden habe. Wenn ich auf dem Wege der Vollkommenheit leider keine größeren Fortschritte machen konnte, so bin ich doch im sittlichen Widerstand nicht erlahmt und habe das Feld behauptet. Die Wunde ist noch offen, ich gebe es zu. Gott sei Dank, hat das Böse mich nicht verschlungen.«

Erregt prustete er zwischen den Händen, und seine Stirn bedeckte sich wieder mit Schweiß.

»Diese letzte Unterhaltung soll zu Ende geführt werden,« fuhr die Stimme fort, »in Ihrem Interesse, mein Freund, und schließlich auch zu meiner Erlösung. Ich sollte mir einen Vorwurf machen, daß ich so lange damit gezögert habe. Bemerken Sie, wie gut dieser erste Stich der Sonde saß und welchen offenbarenden Aufschrei er Ihnen entlockt hat. Ich habe das Geschwür aufbrechen sehn, mein Sohn.«

»Mein Vater,« sagte Pernichon, vor Überraschung und Zorn erstickend, »Ihre Härte ist mir unerklärlich.«

»Sooft ich Sie an dieser Stelle anhörte, hatte ich das Wort auf den Lippen: Glauben Sie denn, daß Sie leben?«

»Ich glaube nicht,« entgegnete der andere, »daß ein wahrhaft apostolischer Eifer sich mit soviel Haß ausdrückt.«

Bei diesen Worten verlor der Abbé Cénabre fast seine gewohnte Selbstbeherrschung, als hätte das eine Wort Haß ihn getroffen. Er errötete, schlug mit der geöffneten Hand heftig auf den Tisch, errötete stärker und begann schließlich mit ruhigerer Stimme:

»Verzeihn Sie mir diese Aufwallung; ich bin kein Apostel, könnte es nicht sein. Der kritische Sinn überwiegt bei mir, oder vielmehr, er saugt alle andern Fähigkeiten auf. Die höchste Anspannung verzehrt schließlich die Frömmigkeit.«

Er nahm die Hand des Männchens in die seinen.

»Mein Freund, ich wundere mich über das Vorurteil mancher etwas törichten und beschränkten Priester, die in ihrem zudringlichen Eifer so viele biedere Leute in der Täuschung erhalten, daß sie allen Teufeln der Wollust verfallen seien. Die militärischen Ausdrücke machen diese Albernheit noch lächerlicher. Man redet nur von Kämpfen, von Angriffen und abgeschlagenen Stürmen, von Niederlagen und Siegen … Ach, mein Sohn, was soll ich, der, wie ich sagen kann, im vertrauten Umgang mit den Heiligen lebt, ja mit den erlesensten unter ihnen, von diesem angeblichen Kriege denken, in dem sich die Unglücklichen mit ihrem eigenen Schatten herumschlagen? Mehr noch …«

Er drückte ihm noch inniger die Hand:

»In alledem liegt nur ein Fehler der Urteilskraft, eine höchst perverse Zweideutigkeit. Wenn ich Sie einfach so nehmen darf, wie Sie sind, glaube ich und halte es für erwiesen, daß Sie den äußern Versuchungen nicht nur keinen Widerstand leisten, sondern mit viel Mühe und Sorgfalt eine Begehrlichkeit nähren, deren Gift täglich fader wird. Von der schon versiegten Quelle räumen Sie den Schlamm weg, um wenigstens ihren Dunst noch zu schlürfen. Um mit Ihren Kräften hauszuhalten, gefallen Sie sich darin, in dieser Lüge zu leben, die eingebildeten Versuchungen einen Namen gibt, wo doch Ihre Sinnlichkeit kaum hinreicht, Ihre Tücke nutzbringend zu üben. Was reden Sie mir da von innerem Kampf? Allzu klar sehe ich die verdächtigen Gedanken, die erkalteten Begierden, das totgeborene Handeln. Wer diese Phantome mit Leben erfüllte, würde Ihnen grausames Unrecht tun. Gerade diesen Schatten möchten Sie gierig verzehren, nicht ein lebendes Wesen. Ich spreche hier zu Ihnen mehr als Gelehrter denn als Priester. Der Wüstling stürzt sich wie ein Irrsinniger auf die Lust, preßt sie aus, und im Übermaß seines Wahnsinns bietet er dem Betrachter wenigstens das Schauspiel eines Menschen, der kein Maß hält … Aber Sie! … Aber Sie … Ihr Innenleben, mein Sohn, trägt das Minuszeichen.«

Absichtlich oder nicht, die Luft pfiff zwischen Pernichons Lippen hervor wie bei einem Badenden, den die Kälte packt.

»Ihre Meinung von sich selbst«, fuhr die Stimme mit einer Art furchtbarer Zärtlichkeit fort, »ist nicht falsch. Sie ist wie jene mathematischen Formeln, deren Vorzeichen man nur umkehren muß. Ihre Mittelmäßigkeit strebt von selbst dem Nichts zu, dem toten Punkt zwischen Gut und Böse. Nur die mühsame Aufrechterhaltung einiger Laster täuscht Ihnen Leben vor.«

Bei diesen Worten stand Pernichon auf; doch er blieb stumm vor seinem Scharfrichter stehn.

»Die Lebenserfahrung,« fuhr der Abbé Cénabre fort, »mehr noch meine bescheidenen geschichtlichen Arbeiten haben mich über die geringe Anzahl positiver Menschenleben belehrt …«

»Ihr Charakter wie Ihre Persönlichkeit«, sagte der Schriftsteller plötzlich mit einer Art Würde, »steht mir so hoch, daß ich Sie ausreden ließ. Aber Ihre ungerechten Worte sind derart, daß man keine Antwort darauf gibt.«

»Umso bequemer werde ich mit Ihnen zum Schluß kommen«, erwiderte der Priester. »Ihre Anwesenheit war der Anlaß, nicht die Ursache von alledem. Sie haben nur das Unglück, heute, zu dieser Stunde, vor mir zu stehn.«

Er atmete geräuschvoll. Und als er sich die Brust so aufgeschwellt hatte, schien das Blut abermals aus Wangen und Stirn zu weichen. Er blieb totenblaß.

»Es gibt Stunden, mein Sohn,« fuhr er fort, »wo das Leben schwer auf den Schultern lastet. Man möchte die Bürde zu Boden werfen, sie prüfen und wählen, möchte das Unerläßliche behalten und den Rest wegwerfen. Behalten Sie dieses vertrauliche Wort, das ich laut vor Ihnen spreche. Ich will diese Wahl versuchen. Es ist nötig. Ich bin bereit.«

Er schwieg plötzlich, ließ den Kopf sinken. Auf einmal rief er mit außerordentlicher Heftigkeit: »Fort! Hinaus!«

Jeder andere als Pernichon hätte ohne Zweifel gehorcht. Aber seine Ungeschicklichkeit steigert die Tragik. Übrigens stellt ein schmerzliches Schicksal ihn immer dorthin, wo er nicht sein darf, und hält ihn bis zur völligen Erschöpfung fest, als Musterbild des Lächerlichen oder Hassenswerten.

»Ich bedaure, die unfreiwillige Ursache gewesen zu sein …« begann er.

»Ursache wovon?« fragte der Abbé Cénabre mild. »Ich sage Ihnen: Sie sind die Ursache von nichts. Warum sollte ich Sie grundlos demütigen? Merken Sie sich immerhin dies: Die Welt ist voll von Leuten, die Ihnen gleichen und die Besseren mit ihrer Überzahl ersticken. Wozu haben Sie an unserer Geistesschlacht teilgenommen? Sie werden ohne Bedauern aus ihr scheiden und wenig Gewinn davon haben.«

Pernichons Gesicht nahm trotz aller Gewöhnlichkeit einen wahrhaft menschlichen, beinahe edeln Ausdruck an.

»Ich habe doch nicht die Partei der Sieger ergriffen«, sagte er.

»Die Partei der Sieger ist auch die Partei der Meister, und Sie fühlen grausam deutlich, daß Sie nicht als Meister geboren sind. Aber Sie leben in ihrem Schatten, und ihre Liebkosung tut Ihnen wohl.«

Nach einer Pause setzte er bedächtig hinzu:

»Übrigens brauchten Sie stets etwas zum Feilbieten.«

»Niemals, Herr Kanonikus,« rief Pernichon, »niemals, sage ich Ihnen, haben mich meine Gegner für einen käuflichen Mann gehalten.«

»Mein Sohn,« sprach der Abbé Cénabre, »werden Sie nicht ärgerlich, wenn ich mir in dieser ganz vertraulichen Unterhaltung die ganz besondere Kenntnis Ihrer Anlagen und Ihrer sittlichen Kräfte zu nutze mache. Sie sind der geborene Mittelsmann. Wie kommt es, daß die katholische Partei oder – um in Ihrer Sprache zu reden – die katholische Welt ein so günstiger Nährboden für die Vermehrung dieses Schlages ist? Weil in einer politisierten Gesellschaft, die sich immer enger zusammenschließt und sich zu scharf disziplinierten Gruppen organisiert, die jeden Individualismus ausschließen, die Partei der letzte Zufluchtsort eines aus der Mode gekommenen Opportunismus ist. In der Theorie erscheint der Weg vom Radikalismus zum Sozialismus leicht. Praktisch liegt die Sache anders; denn es hieße geradezu die Kundschaft wechseln. Aber an Gott glauben und im Leben der nachsichtigen Kirche gehorchen, ist so bequem! Man gehört zu einer Partei und doch wieder nicht. Hier ist nichts weniger eng als das Dogma: es scheint manchen sogar politische Gleichgültigkeit als Regel anzuraten. Daher auch all die Unterscheidungen, die Schattierungen, – welche Auswahl für den Liebhaber, was für ein Füllhorn! Ein ehrgeiziger junger Mann, der den Lärm nicht liebt und methodisch arbeitet, kann von Konzession zu Konzession, von Angebot zu Angebot gehn, so weit, als es ihm paßt, und er verliert doch nicht den kostbaren Vorteil, weniger ein Parteigänger als ein Verbündeter zu sein; – ein Freund von draußen, der stets überwacht werden muß und niemals sicher ist, – wie die armen Frauen, die im heiligen Ehestand, für den sie nicht geschaffen sind, Duft und Würze ihrer Vergangenheit bewahren.«

»Sie spielen ein grausames Spiel,« sagte Pernichon mit bebender Stimme, »ein arg grausames Spiel. Selbst wenn diese Worte nicht geheim bleiben sollten …«

»Ich überlasse sie Ihnen,« sagte der Abbe Cénabre, »machen Sie damit, was Sie wollen.«

Dann änderte plötzlich eine unwiderstehliche innere Regung seine Züge aufs neue. Das Lächeln erstarrte auf seinen Lippen, sein Blick wurde hart, das Zittern seiner Hände wieder sichtbar. Selbst sein Zorn schien wie verschlungen von einem heftigeren, geheimnisvolleren Gefühl.

Langsam senkte er die Lider. Das nun folgende Schweigen war schwer zu brechen.

Seit dem ersten Augenblick dieses plötzlichen, unerwarteten Angriffs fühlte sich Pernichon entwaffnet. So geschickt er in gewissen Wortgefechten, im Spiel der Andeutungen ist, der unmittelbare Angriff lähmt ihn und wirkt buchstäblich wie ein Gift auf seinen Willen. Was soll man auch zu dieser grausam berechneten Heftigkeit sagen, die von der Beleidigung zum Tone schmerzlicher Bitterkeit, dann zu unbegreiflicher Fürsorge umschlägt? Trotzdem wich die Bestürzung schließlich vollkommen der Furcht, dann einer noch schlimmeren Verwirrung … Zum erstenmal vielleicht sprengte seine arme Seele ihre Hülle und erschien bleich und verstört in Pernichons eigenen Augen, um alsbald zu verschwinden wie ein in den Morgen verirrter Traum … Und es waren nicht so sehr die Worte des Abbé Cénabre, doch die Verklärung dieses scharfsinnigen Priesters und das Berührtwerden von einem Traume, was sich in seiner Haltung und Stimme verriet. Nein, es waren nicht solche unbestimmten Worte des Zorns oder der Verachtung, die den Unglücklichen einen Augenblick lang sozusagen aus der Haut fahren ließen, wie ein Muskel unter den Fingern des Chirurgen plötzlich hervorspringt. Daß er für geschickt, ehrgeizig, für einen tiefen Berechner seiner Aussichten, für einen zweifelhaften Freund, für einen klugen Gegner gehalten wurde, war nicht dazu angetan, ihn zu kränken, aber diese letzten Angriffe trafen ihn an einer empfindlicheren, tieferen und verborgeneren Stelle, gleichsam am Schwerpunkt seines dürftigen Schicksals: sie rührten an seine Gewohnheit, mit sich zu kämpfen, die seinem Denken zur zweiten Natur geworden war, an eine Meinung von sich selber, die er plötzlich entwurzelt sah, an sein Bedürfnis, sich einzureihen, an ein gewisses Gleichgewicht. Die bloße, plötzlich wahrscheinlich gewordene Annahme eines Lebens ohne geistigen Inhalt, die plötzlich in ein sonst so geschontes Gewissen einbrach, enthüllte rücksichtslos seine völlige Unordnung. Wie viele, die sich von ihren Handlungen mehr oder weniger strenge Rechenschaft geben (wie man wohl die Sterne beobachtet, ohne die Richtung auf dem Kompaß abzulesen), vernachlässigen bei ihrer Berechnung die Einstellung des Willens, das Abirren des Instinktes … Das Schreckliche liegt nicht in den Fremden, die unsere Wege kreuzen, sondern in dem eigenen Gesicht, dem die frei gewordene Seele plötzlich in die Augen blickt und das sie nicht wiedererkennt.

»Herr Kanonikus …« wollte Pernichon in einer letzten Anstrengung zu Höflichkeit und Respekt vor diesem gefährlichen Manne sagen. Aber er vollendete den Satz nicht. Was die Demütigung nicht hatte bewirken können, das vollbrachte die Furcht, die schärfer stachelt als die Schande. Er trat einige Schritte zurück, suchte linkisch seinen Überzieher, der hinter ihm auf einem Stuhle lag, und schlüpfte mit mühevoller Umständlichkeit in die Ärmel, während er durch die Nase ein schreckliches tränenloses Schluchzen ausstieß, ganz verkrampft in sich selbst wie in einer riesigen Grimasse, die nicht nur sein Gesicht, sondern seine ganze Jammergestalt verzerrte. Dann verschwand diese Erscheinung grotesker Verzweiflung im finstern Flur. Man hörte noch das Knarren der Tür, die er gleichwohl mit Bedacht schloß.

 

Der Abbé Cénabre hatte das Männchen mit den Blicken verfolgt. Einen Augenblick lang blieb er an der gleichen Stelle stehn, als wäre er selbst vor der Verblüffung starr, und so regungslos, daß selbst der Schatten an der Wand kein Zittern verriet. Wer immer ihn in diesem feierlichen Augenblick beobachtet hätte, den hätte die Klarheit seines Blickes betroffen gemacht. Das war nicht der Blick eines Menschen, den ein Traum fortreißt, sondern eher der eines kühnen, hartnäckigen Wortstreiters, der seine ganze Kraft gegen einen schon halb besiegten Gegner wendet und sich seines Denkens zu bemächtigen sucht. Man hätte glauben können, daß seine Augen aus dieser Zimmerecke bloß auf die Tür starrten, durch die Pernichon entwichen war. Dennoch waren sie nicht dorthin gerichtet. Weder Pernichon, noch ein anderer seines Schlages hätte in seinen verdüsterten Augen ein solches Feuer zu entfachen vermocht … Sie hatten anderswo etwas gefunden. Und mehr als ein Skeptiker hätte nur mit großer Verlegenheit zugegeben, daß der Unsichtbare, mit dem der Abbé Cénabre, wenigstens nach aller Wahrscheinlichkeit, sprach, das Holzkruzifix an der Wand war. Übrigens hätte ihm die Zeit zu einer entscheidenden Prüfung gefehlt. Denn als der Abbé Cénabre jählings, mit einer ebenso raschen wie bestimmten Abwehrgebärde vorwärtstrat, ergriff er die Lampe und schmetterte sie auf die Fliesen.

Der Mondschein fiel sogleich in das Zimmer.

Die Gewalt des Wurfes war so groß, daß der Docht zweifellos erlosch, ehe die Lampe den Boden berührte. Einen Augenblick lang hörte man das Petroleum aus dem Glasbehälter ruckweise herausfließen. Dann verstummte der letzte Laut. Und es schien, als ob damit auch die Erinnerung an die ungewöhnliche Geste dieses Priesters ausgelöscht sei, der in beiden Welten wegen seines eleganten Skeptizismus berühmt ist.

Eine der Eigenheiten des Abbé Cénabre besteht darin, daß er in seinem Hause nur die Dienste einer alten Wirtschafterin duldet – seiner Amme, sagt man – die früh aufsteht, bis Mittag mit ihrer Arbeit fertig ist und dann nicht mehr erscheint. Um den breiten, gedrungenen Schattenriß, der im nächtlichen Dunkel kaum sichtbar war, herrschte tiefes Schweigen, völlige Stille. Dann verschob sich dieser Schattenriß langsam, bedächtig. Eine Tür knarrte. Das Mondlicht schlief ein in dem leeren Gemach. Der Abbé Cénabre war in sein Schlafzimmer gegangen.

Der Verfasser der Florentinischen Mystiker hat lange Zeit die Kritik irre gemacht. So gut er es auch versteht, die Aufmerksamkeit durch Überraschung auf sich zu lenken, sein Ehrgeiz geht doch nicht weiter als bis zum Bestechen. Er verschwindet, bevor er überzeugt, und läßt Freunde und Gegner Schulter an Schulter zurück. Eine Partei hat sich seiner bemächtigt, wie sie sich um jedes zweifelhafte Etwas kümmert, weniger aus Skandalsucht als vielmehr aus einem leidenschaftlichen Bedürfnis, eine Maske anzulegen, ihre innere Dürftigkeit zu verbergen. In der starken geistigen Gesellschaft Roms gleicht diese Halbwelt des Gedankens der andern; es ist die gleiche Eitelkeit, der gleiche Neid, die gleiche Bereitwilligkeit zu Bündnissen des Hasses, die gleiche wütende Begier, die hohen Beispiele, die sie verdammen, zu verleumden, die gleiche Naivität in Lüge und Verstellung, die gleiche Harmlosigkeit zu glauben, man könne jeden, der ihr ins Antlitz schaut, täuschen. Gewiß verachten die Dirnen der Privathotels die der Straße; aber in dringenden Fällen vollzieht sich der Berufsakt von selbst und unter einem bestimmten Blick: es ist stets die gleiche Geste, das Lösen des Gürtels. Wer weiß nicht, daß man in den Zwischengeschossen der Rue des Martyrs zwiefach unterworfenen Mädchen oder Frauen begegnet, die gute Mütter sind? Somit beherbergt die Partei ehrenwerte junge Leute, sittenstrenge Greise, talentvolle Schriftsteller und Priester von größtenteils untadeligen Sitten. Nichts scheint die Verwechslung mit jungen Geizhälsen zu erlauben, mit Patriarchengestalten, die der Ehrgeiz wie Aussatz zerfrißt, mit Zuhältern in schwarzer Soutane, die aus allen Diözesen weggejagt sind und wie Gehilfen eines Winkelbankiers aussehn. Welcher Zug ist also beiden Reihen gemeinsam? Der Geschmack an Winkelzügen, eine feige Denkweise.

Der Abbé Cénabre hat oft aus ihrer übertriebenen Begeisterung Nutzen gezogen, ohne ihnen jedoch sein Lächeln auszuliefern. An ihm verstehn und billigen die Elenden nur seine Ohnmacht zum Schlußfolgern, sein zerflatterndes Denken, seine Anstrengungen im Gegensinne, die zu verneinenden Ergebnissen kommen, seine fast sinnliche Neugier und seine kraftlose Kritik. Seine Geschichte des Arianismus hat sie enttäuscht, gerade wegen ihres positiven, bestimmten Gehalts. Dagegen ergötzen sie sich an der Schaumschlägerei und den Anspielungen der Florentinischen Mystiker.

Der berühmte Schriftsteller kennt dieses Publikum und würde es verachten, wäre er dieses Gefühls fähig. Er verabscheut es nur. Sein rasches, aber sicheres Urteil hat ihn seit langem aufgeklärt. Sie erweisen ihm Ehre, weil er verdächtig ist. Diese zweideutige Sympathie, diese beschirmende Bewunderung erbittert seinen Stolz, und er läßt sie diese rein äußerliche Anerkennung teuer bezahlen. Sie zu loben, würde ihn unproduktiv machen. Er wird es niemals müde, sie zu necken; dieser Spötterei verdankt er seine besten, gelungensten Seiten, seine schwunghaftesten Abschnitte. Wie kommt es, daß sie ihn nicht an diesem auffallenden Zeichen erkannt haben? Sie nehmen von ihm die grausamste Ironie hin. Vielleicht läßt ihre Eitelkeit sie sein schwer zu erlangendes Lob hoch bewerten; wird es doch von dem Bunde der Schwachen einem starken, alleinstehenden Manne entrissen.

Sie halten ihn für stark; aber gewiß ist er allein.

Die Schlafzimmerfenster gehn auf eine kleinstädtische Straße von Paris hinaus. Zu dieser Nachtstunde ist der ferne, dreifache Lärm der Place de Rennes, der sich gleichsam verirrt hat, in der tiefen Einsamkeit und Stille geradezu pathetisch. Wie doch mitten durch das nächtliche Dunkel die tiefe Stimme der Städte ruft! Wie doch ihr Frohsinn mühsam atmet, wie er röchelt! … Hat man eine geräuschvolle, blendende Straße verlassen, so verfolgt sie einen im Dunkeln mit schaurigen Klagelauten, die nach und nach verstummen, bis zur Grenze eines neuen Lärms und eines neuen blendenden Lichtscheins, dessen herzzerreißende Stimme sich bald der des ersten gesellt. Aber ich sollte nicht von »Stimme« schreiben, denn Wald und Hügel, Feuer und Wasser haben allein Stimmen, sprechen eine Sprache. Wir haben ihr Geheimnis verloren, obwohl auch der niedrigste Mensch die Erinnerung an einen erhabenen Zusammenklang, eine unaussprechliche Harmonie des Denkens und der Dinge nicht vergessen kann. Die Stimme, die wir nicht mehr verstehn, ist immer noch Freundin und Schwester, Friedensbringerin, heiter. Der Lyriker, auf der untersten Stufe einer Gattung, der die moderne Welt göttliche Verehrung zollt, glaubte lächerlicherweise, diese Stimme wieder belebt zu haben, aber er hat die Natur nur deshalb von den altmodisch gewordenen Silvanen, Dryaden und Nymphen befreit, um die Herde seiner dumpfen Sinne auf sie loszulassen. Der stärkste von allen, den das Alter schon an der Gurgel gepackt hatte, erfüllte die Straßen und Wälder mit seiner unverdrossenen Schlüpfrigkeit. Hinter ihm brach der Haufe seiner Schüler, wie zum Essen, in die heilige Einsamkeit ein, in dem verworfenen Wahn, sie zur Genossin ihrer Ausgeburten, ihrer Schwermut, ihrer fleischlichen Enttäuschung zu machen. Die Ansteckung ging immer weiter und ergriff selbst die Antipoden. Die einsame Insel hat die Anvertrauungen dieser Leute gehört, ist Zeuge ihrer Liebschaften geworden, hat von ihrem grotesken Geschluchze über Alter und Tod widergehallt. Keine Wiese, die im Morgenrot von Licht und Tau rieselt, ist ohne ihre Spuren geblieben, wie man schmutziges Papier am Montagmorgen auf Rasenflächen findet.

Wenn es jedoch auch im Menschen liegt, der Natur seine Gegenwart und die Spuren seiner Niedrigkeit aufzudrücken, so bemächtigt er sich doch nicht ihres inneren Rhythmus, ihres tiefen Brütens. Er überdeckt die Stimme, doch er befragt sie vergebens: sie setzt ihren erhabenen Gesang fort, wie eine schwingende Saite, die die gleichgestimmten Saiten unter tausenden auswählt und ihnen allein Antwort gibt … Anders steht es mit den Landschaften aus Balken, Eisen und Ziegeln – den Städten.

Warum sollen sie Freude künden, da sie ja in Mühe und Schweiß erbaut sind? Oder Freiheit, da sie ja die Festungen sind, in die sich der besiegte Adam vor dem Aufruhr der Dinge und Elemente geflüchtet hat? Oder Leben? Diese Durchgangsstätten bewahren ja nur unsere Gebeine!

Der Abbé Cénabre hatte sich unmerklich dem Fenster genähert, als hätte ihm in diesem dunkeln Zimmer der ungewisse Schein, der von der Straße durch die Fenster drang, eine Zuflucht geboten. Wie er so unbeweglich, die Arme über der Brust gekreuzt, in der hohen Fensteröffnung stand, hätte man ihn in sich versunken geglaubt, während doch gerade seine ganze Aufmerksamkeit auf das wirre Getöse da draußen gerichtet war. Seine letzte Heftigkeit war gewiß nicht eine Geste der Aufwallung gewesen: niemand war weniger fähig, sich so hinreißen zu lassen. Das Licht hatte ihn plötzlich grausam verletzt, als fühlbares Zeichen auf Wand und Kreuz für eine innere Erleuchtung, die er hätte ersticken, mit verzweifelter Anstrengung in die Nacht zurückstoßen mögen. Ist es doch eins der Zeichen großer seelischer Erschütterungen, sich in den Dingen wiederzufinden. Manche tiefgreifende Enttäuschung bleibt von Ort und Stunde untrennbar, nicht nur durch den äußeren Zusammenhang, sondern durch eine Art gegenseitiger Durchdringung, als wäre ein bestimmter Klang aus der Tiefe des Lebens durch den Rammstoß der Leidenschaft gefälscht worden. Übrigens war die jähe Empörung des Priesters nur eine verspätete Abwehrbewegung. Und fürwahr, diese Zelle mit ihren Sandsteinfliesen, diese Wände und Bücher, dieses nackte Kruzifix waren Feinde. Die bisher stummen Zeugen wollten ohne Zweifel die Frage stellen, auf die er nicht antworten wollte … Das war der Grund, warum er sie ins Dunkel zurückstieß.

Verhängnisvolle Täuschung! Diese Geste stellte ein anderes, nicht minder drängendes Problem. Sie bezeichnete das Ende einer Wegstrecke und noch mehr den Ausgangspunkt eines andern, schrecklich zu beschreitenden, unbekannten Weges. Ruhig brütet ein Irrer seinen Wahnsinn aus, bis ihn ein Schrei – oder eine andere Kundgebung – von seinem Wahnsinn überzeugt. Seit Wochen verschloß der Abbé Cénabre sein Bewußtsein einer Reihe von Gefühlen, deren Heftigkeit er noch kaum ahnte. Und eben hatte er sich unbedacht verraten, alles in Frage gestellt. Dem feinen Analytiker, dessen Ironie keinen verschonte, nicht einmal den tragischen Heiligen von Assisi, graust vor der eigenen Gewissensprüfung. Instinktiv fühlt er die Gefahr, die seine von den Maulaffen so hoch bewunderte Kritik für ihn selber birgt; denn man spielt nicht um sein eigenes Schicksal mit den Würfeln einer Hypothese, und doch ist die Hypothese die einzige Quelle seiner Analyse, ihre Sprungfeder. Dennoch drängte sich der Gedanke, der schon seit einiger Zeit in ihm aufgekeimt war und mit jedem Tage erstarkte, von selbst auf, vereitelte seine List. Er drängte ihn zurück, um ihn plötzlich, zu seiner Bestürzung, im Gespinst des täglichen Lebens wiederzufinden; er war allgegenwärtig. Auch in seiner plötzlichen Zorneswallung gegen Pernichon hatte er ihn wiedererkannt.

Die Gelehrsamkeit des Verfassers der Florentinischen Mystiker ist gründlich, wie sein breites, hartes Gesicht männlich ist. Der Umfang seiner Quellenunterlagen, die Arbeitskraft, die er voraussetzt, können täuschen: glücklich in der Wahl seiner Stoffe, ja nicht ohne Kühnheit, wagt er ihnen doch nur halb die Stirne zu bieten, kommt er ihnen doch nur von der Seite bei. Ein Gleiches gilt für seine eigene Lebensführung: diesem Lehrer der moralischen Analyse widerstrebt es, sich selbst ins Gesicht zu blicken. Lange Zeit hat er die dunkeln Skrupel, die an diesem Abend eine unwiderstehliche Gewalt an die Oberfläche seines Bewußtsein gebracht hat, mühsam in der niedrigen Sphäre des rein Gefühlsmäßigen gehalten. Zweifellos mußte er ihnen ihr Recht einräumen: das war ein peinliches Unbehagen, eine Verminderung der Leistungsfähigkeit oder ihr krankhaftes Abirren. Aber zu alledem kam noch etwas ganz anderes. Doch solange man es vermeidet, die schmerzhafte Stelle einzukreisen, bleibt das Leiden unbestimmt, allgemein, leichter erträglich. Was nur Traurigkeit war, wird rasch zum Gewissensbiß, wenn man mit sich selbst darüber redet. Und wer kann dem Gewissensbiß gerecht werden? Dieser verfluchte Sohn der göttlichen Liebe ist nicht weniger anspruchsvoll: er hat nichts, wenn er nicht alles hat.

Leider ist es zum Ärgernis für das Tier im Menschen weder gut noch verläßlich, sich in seiner Haut vor den Regungen der Seele völlig sicher zu wähnen. Es führt zu einer sehr bittern Enttäuschung, wenn man es vermeidet, ihre Absichten zu erforschen, wenn man sich zwingt, nur die Rückwirkung des seelischen Vorganges auf das Gefäß- und Nervensystem zur Kenntnis zu nehmen. Der Mensch kann sich wohl widersprechen, aber er kann sich nicht gänzlich verleugnen. Die Gewissensprüfung ist eine heilsame Übung, selbst für die Lehrer des Amoralismus. Sie bestimmt unsere Gewissensbisse, benennt sie und hält sie so in der Seele, wie in geschlossenem Gefäß, unter das Licht des Geistes. Verdrängt man sie immerfort, so besteht die Gefahr, daß man ihnen feste Gestalt und körperliches Schwergewicht gibt. Manches dunkle Leiden zieht man dem Zwange vor, über sich selbst zu erröten; aber damit führt man die Sünde tief ins Fleisch ein, und dort stirbt das Ungeheuer nicht, denn es ist ein Doppelwesen. Es mästet sich dann herrlich von unserm Blute, wuchert wie ein Krebs, hartnäckig und unaufhaltsam, läßt uns nach unserm Belieben leben, kommen und gehn, scheinbar gesund, nur unruhig. So werden wir insgeheim den andern und uns selbst mehr und mehr entfremdet; Seele und Leib werden in dieser halben Betäubung endgültig auseinandergerissen, und plötzlich wird diese durch den Donnerschlag der Angst verscheucht, der Angst, der scheußlichen, körperlichen Form des Gewissensbisses. Wir erwachen in der Verzweiflung, von der uns keine Reue loskauft; denn im selben Augenblick stirbt unsere Seele. Dann zerschmettert ein Unglücklicher mit einer Kugel sein Hirn, das ihm nur noch zum Leiden dient.

Einige scharfsichtige Leser des Abbé Cénabre, die er reizt, die von seiner Anmut, seiner Gefallsucht nicht entwaffnet werden, finden in seinen letzten Werken diese besondre, schmerzliche Note, die verletzten Stolz, einen Zweifel an sich selbst zu verraten scheint. Seine stets etwas pedantische Ironie wird jetzt schrill. Entgeht sie vielleicht der Selbstkontrolle des Autors? Früher diente sie der Darstellung, blieb in Reih und Glied, jetzt quillt sie bisweilen über, drängt in mächtigem Stoß nach außen, kehrt nur gezwungen auf ihren Platz zurück … Die Kunst, oder vielmehr die glückliche Formel des Autors, die er gründlich ausgeschöpft hat, läßt sich wie folgt umgrenzen: er beschreibt die Heiligkeit, als gäbe es keine Liebe. Ein Mann wie Renan, dessen Lästerungen stets etwas schulmeisterlich bleiben, hat sich mit einer einfachen Übertragung von einer Kategorie in die andere begnügt. Er verpflanzt das wunderbare Wesen in eine Welt ohne Wunder, eine leichte Aufgabe, deren gewaltige Komik sein eitler Geist nie erkannt hat. Für den, der zu lesen versteht, ist das Leben Jesu ein Possenspiel, mit allen Bestandteilen eines guten Possenspiels, aber ohne dessen Natürlichkeit und Beschwingtheit. Der Abbé Cénabre dagegen hat nie das Wunder geleugnet; er hat sogar Sinn für das Wunderbare. Er nähert sich den großen Seelen immer nur in einem Gefühl von Ehrfurcht; selbst seine Wißbegier besitzt solchen Schwung, daß man sie für Liebe halten könnte. Es ist ihm einfach gegeben, eine geistige Ordnung zu ersinnen, der die Krone der Liebe fehlt.

Zweifellos liest man ihn nicht ohne Unbehagen; aber nur einer von den Heiligen, die er verstümmelt hat, vermöchte ihm sein Geheimnis zu entreißen. Seine Darstellung befriedigt den Geschmack, beleidigt in keiner Weise die Schamhaftigkeit des Geistes. Er ist sogar so vorsichtig gewesen – was ein naives und pathetisches Eingeständnis ist – die Heroen aus dem Spiele zu lassen, deren große geschichtliche Gestalt ein für allemal festgelegt scheint. Er hat kleine, fast namenlose Heilige der Vergessenheit entrissen, deren Unbekanntheit ihn beruhigte, die er für fügsamer hielt. Gleichwohl konnte er sie nicht bezwingen. So schlicht und einschmeichelnd, so bestrickend und zudringlich seine Kunst auch war, sie erschlossen sich ihm nie. Das Vorwort zu seinem letzten Buche enthält allein fünfzig Seiten voller Verschweigungen, Vorbehalte und Anspielungen, als fürchtete der Ärmste sich vor dem unvermeidlichen Gegenübertreten und schöbe es nach Kräften hinaus. Denn sobald der aufsässige Zeuge erscheint, ist das Gleichgewicht zerstört. Auch der kleine Anteil, den er den Tatsachen einräumt, ist noch zu groß: eine Handlung, ein Wort, selbst durch die fleißige Darstellung erstickt, reicht hin, um den Zauber zu brechen; der Umfang des Kommentars hebt die schmerzliche Ohnmacht nur noch stärker hervor. Es ist eine Art von komischem und zugleich tragischem, allzu ungleichem Kampfe. Bald verflüchtigt sich das überfeinerte Denken und zerrinnt wie ein Dunst, der das unveränderliche Antlitz enthüllt. Bald zieht es sich in die Tiefe zurück und läßt den siegreichen Helden hervortreten. Vergebliches Suchen folgt auf vergebliches Zusammenfassen. Die Seiten schwellen an, das Buch wächst ins Maßlose wie ein quälender Traum, von jähem Auffahren unterbrochen. Und plötzlich erwacht der Autor, den man durch sein eintöniges Reden eingeschläfert glaubte, verliert jählings die Fassung, kehrt mit einer Art von Wut in den Kampf zurück. Der Leser fühlt dabei nur Unbehagen und erstaunt. Woher dieser plötzliche Zorn? Weil durch die Verletzung der Wahrheit, wie ein Leichnam sich durch den Geruch kundgibt, zwischen den lügnerischen Worten eine grimmige Ironie aufquillt, die für jeden andern unerkennbar bleibt, deren Biß jedoch der Stolz des Abbé Cénabre kennt. Da er Angst hat, sich selbst zu entfliehen, zudem im Grunde in jene eingebildeten Gestalten verliebt ist, die er fast unbewußt an Stelle der wirklichen setzt und für echt zu halten bemüht ist, trifft er am Ende seines schiefen Weges leider nur sich selbst, immer nur sich. Was seinen Heiligen fehlt, ist gerade das, was ihm selbst versagt ist. Jede Bemühung, das zu verbergen, enthüllt immer mehr seine eigene Unzulänglichkeit. Was soll ich sagen? … Um seinen Truggestalten einige Wirklichkeit zu verleihn, hat er sich seines Gutes entäußert, der kostbaren Lügen, die ihn bis ans Ende umhüllt hätten, die so viele andere umhüllt haben … Er sieht sich nackt.

Noch einmal tritt er ans Fenster, drückt seine eigensinnige Stirn an die Scheiben. Der Wind pfeift um die Straßenecke. Die Straße ist leer und hallend. Mit Ekel wendet er sich ab.

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Nun … Langsam, bedächtig kam es, stieg langsam empor. Niemals hielten ihn die nichtigen Dinge sanfter im Banne als in diesem feierlichen Augenblick. Er zog die Vorhänge zu, zündete die Nachttischlampe an, holte umständlich seine Sachen für die Nacht herbei. Er genoß diese Frist mit abwesendem Herzen, mit feierlicher, stiller Freude. Sein Schritt auf dem Teppich, das Klirren eines Glases auf dem Marmor des Kamins, selbst sein von der Anstrengung etwas beschleunigter Atem nahmen seine Aufmerksamkeit wohltuend, ausschließlich in Anspruch. Er betrachtete sich ein letztes Mal in der Umgebung seiner Häuslichkeit, klammerte sich an diesen Fetzen von Leben, wie der fahrende Schiffer seinen Blick an die unbewegliche, immer kleiner werdende Küste heftet, und schon riß sein Denken am Anker.

Er kniete nieder und betete wie gewöhnlich. Niemals bisher hatte der offen beargwöhnte Priester die buchstäbliche Erfüllung gewisser Pflichten seines Standes unterlassen, und eine dieser Pflichten ist das Gebet; denn er beugt sich leicht einer äußern Zucht, einem physischen Zwange; er findet darin einen unerläßlichen Halt, eine Sicherung gegen die tiefe Unordnung, die ihn sonst über jene Zweideutigkeit hinausrisse, in der seine Natur sich gefällt. Auch an diesem Abend spricht er langsam und ordnungsmäßig das gewohnte Gebet. Dann schlüpft er unter die Decke und schließt die Augen.

Sogleich kam ihm der Gedanke, ein für allemal mit dem bangen Zweifel aufzuräumen, den er seit Wochen in sich erstickte, und er versuchte, ihn auf eine Formel zu bringen. Übrigens war seine Natur stärker, und er mühte sich noch unbewußt ab, zu einer jener ihm geläufigen Kategorien zurückzukehren, in die er die Geister einzuteilen pflegte. Nach seiner Meinung machte die vollendete Würde seines Lebenswandels eine geistige Krisis unwahrscheinlich, selbst unglaubhaft: »Ich habe mich einfach in eine Sackgasse verrannt«, dachte er … »Mein Werk ist kaum begonnen: man kann nicht ewig auf die Lehre verzichten. Aus meinen Büchern ist eine Lehre zu ziehn. Ich empfinde nur bis zum Schmerze das Bedürfnis, mich zu sammeln.«

So erklärte er sich die zunehmende Verdrossenheit seiner letzten Monate, die Unregelmäßigkeit seiner Arbeit, das so lebhafte Gefühl einer vergeblichen Anstrengung, eines sich auf der Stelle drehenden Denkens, aber auch seinen dumpfen, täglich zunehmenden Groll auf den Gegenstand seines Studiums, auf die schlichten Menschen, deren Einfalt ihn verraten hatte.

In der Stille hörte er sein Herz in der Brust klopfen; die Unregelmäßigkeit der Schläge erschreckte ihn. »Ich möchte nicht alt werden,« dachte er, »ohne einen Maßstab meines Könnens zu geben, ohne mich durchgesetzt zu haben.« Denn er war so weit gekommen, daß er nur noch Gleichgültigkeit gegen das Publikum empfand, dessen blinde Schmeichelei ihn so hoch emporgetragen hatte – ein Publikum, das auf eine neue Herabsetzung, eine neue Form der Herabsetzung lauert –, ein seltsamer Menschenschlag, der nur an den flüchtigsten, unbeständigsten Formen des Irrtums, sozusagen an seinem Geburtszustande, Gefallen findet und ihn sofort im Stiche läßt, sobald er Gestalt gewonnen hat, der sich leidenschaftlich für den Beargwöhnten begeistert, aber gegen den Abtrünnigen gleichgültig oder grausam ist.

Er befand sich in jenem Stadium des Hindämmerns, wo sich gewisse Worte manchmal von selber bilden, den Ablauf des Denkens gewaltsam durchbrechen, als kämen sie aus den Tiefen des Seins … »Abtrünniger« war eines dieser Worte. Und es erschütterte ihn so jäh, daß seine Lippen das Wort unbewußt aussprachen.

Er versuchte zu lächeln, lächelte sogar. Für ihn hatte dies altmodische Wort in diesem Augenblicke noch keine klare Bedeutung. Wie kam es auf seine Lippen? Zweifellos sind wenige Bücher strenger kritisiert, durchgesiebt worden als die seinigen … aber er ist heil geblieben. Die schärfsten Beurteiler werfen ihm nur noch die Tendenz eines Werkes vor, in dem ihr böser Wille nichts Verdammenswertes auffinden konnte. Wer kann ihn in Verlegenheit bringen? Selbst im Auge des Anspruchsvollsten ist er ohne Tadel. Nicht zufrieden damit, in den großen Pflichten treu zu bleiben, ist er auch den kleinen peinlich genau nachgekommen. Er ist ängstlich darauf bedacht, keine Neuerung einzuführen, in keiner Weise die Vorschriften, seine Tagesordnung zu verletzen, schon weil er die leichtfertige Unterlassung verachtet, aus Würde. Wenn er nur selten die Messe liest, geschieht es mit Bewilligung seiner Obern und weil ihm wirklich die Zeit dazu fehlt. Aber er unterläßt das Breviergebet nicht. Pater Domange nimmt ihm allmonatlich die Beichte ab. Wie heitert dieser Rückblick ihn für einen Augenblick auf! Der Überschwang der Jugend ist nicht mehr, noch ihre begierige Erwartung; aber da es nun einmal abwärts geht, fließt das Leben in der gleichen Richtung hin, wie vom eigenen Gewicht gezogen … Er schließt die Augen, drückt mit knabenhaftem Starrsinn die Lider fest zu … Er will diesen eintönigen Weg durch die Zeit sehn: er sieht ihn … Wohin führt er?

Ungewollt streift sein Denken, gleich einem entlaufenen Tier, schon auf der endlich offenen Bahn. Er ist seiner nicht mehr Herr, wäre zu wenig gesagt; seine Gedanken sind jetzt außer ihm; fremde Dinge, ein fallender Stein … Ja, sein Werk hatte einen Sinn, und er kannte ihn nicht! Man ist noch dabei, in den Texten nach einer glaubenswidrigen Behauptung zu suchen. Er selbst hatte sich zu diesem kindlichen Spiele hergegeben. Gerade in diesem Augenblick stellen sich wie in einer äußersten Anstrengung die vertrauten Begründungen von allen Seiten in wildem Durcheinander ein. Aber er fühlt lebhaft, fühlt mit Schrecken, daß diese Verwirrung nur ein Strudel auf der Oberfläche eines tiefen Wassers ist. Schon ist der Gedanke, der einzige, kostbare, gefährliche Gedanke, der aus ihm aufgestiegen ist, viel tiefer gedrungen, unabwehrbar; mit dem Gewicht eines Senkbleis gleitet er durch die Finsternis. Nur am Ziele wird er Halt machen, wenn es eins gibt. Der Mensch, der sich mit kraftlosen, halbgeöffneten Händen über dem Abgrunde hält, hört mit nicht größerem Schrecken das Fallen und Aufspringen abstürzender Steine. Die Leere, die sich auftut, der schwindlig steile Abfall entreißt dem Abbé Cénabre ein Wort:

»Gott!«

 

Dann aber … kein wohlgezielter Stoß trifft besser … kaum war das kraftlose Wort in der Luft verklungen, als eine unerhörte schreckliche Stille auf ihn fiel wie Blei. Der Angriff war so heftig, die plötzliche Schwäche seiner Seele so vollständig, daß er aus dem Bett sprang, entwich … Das Zimmer lebte noch rings umher sein fahl leuchtendes Leben; jedes Ding war noch an seinem gewohnten Platz. Da gewahrte er im Spiegel seinen stieren Blick … Aber es war, als hätten alle Dinge ihre Eigenart verloren, als gäben sie auf ihre Namen keine Antwort mehr, als wären sie stumm. Selbst der Blick drückte jetzt weniger Schrecken als völlige Überraschung aus.

 

»Ich glaube nicht mehr!« schrie er mit dumpfer Stimme.

 

Die Versuchung prüft uns, der Zweifel ist eine scharfsinnige Qual, aber der Abbé Cénabre zweifelte nicht, und er ward auch nicht versucht. Gerade in seinen Prüfungen – der letzte Schrei hatte es mit schrecklicher Deutlichkeit offenbart – lag etwas, was das Fernsein vom Nichts unterscheidet. Der Platz ist nicht leer, es gibt keinen Platz; es gibt das Nichts.

Er fühlte buchstäblich keine Reue, keinen Gewissensbiß, nur das Erstaunen eines Menschen, der da glaubt, in einer Richtung zu gehn, und erkennt, daß er auf der Stelle getreten hat, daß der durchmessene Raum nur geträumt ist. Hätte er es auch gewünscht (aber er wünschte es gar nicht), seine Vernunft hätte nicht zugegeben, daß er je ein anderer sei als jetzt. Durch die geheimnisvolle Bresche war die ganze Vergangenheit in Strömen hereingebrochen. Unter dem unerbittlichen Blick seines Gewissens blieben nur Gebärden, wesenloser als ein Traum, ein Leben, das im Dienst einer eingebildeten Welt geordnet, geregelt, gestaltet war. Was andern als sein Dasein, seine wirkliche Persönlichkeit erschien, war nur aus Umständen geboren, ebenso vergänglich und wesenlos wie sie selbst … Kaum daß die Wiederholung der gleichen Handlungen es im Laufe der Jahre schließlich vermocht hatte, irgendeinen Schatten zu gestalten, dem Phantom eine gewisse Wirklichkeit zu verleihen. Er bildete es sich wenigstens ein. Denn langsam zersetzt durch das Wohlgefallen an willkürlichen Zweifeln, durch den Frevel einer liebelosen Wißbegier, hatte der Glaube sich völlig verflüchtigt, wie eine Funktion, die das zerstörte Organ nicht überlebt, zu dem nicht einmal mehr ein Bedürfnis besteht.

Trotzdem warf ihm der Spiegel das unerträgliche Bild eines vor Furcht verzerrten Gesichtes, eines elenden zerfallenen Körpers zurück. Er schlotterte in seinem leichten Nachtgewand, der Schweiß rann ihm an Lenden und Schenkeln herunter, und durch seinen Hemdausschnitt konnte er sehn, wie sein Skapulier auf seiner zottigen Brust bei jedem seiner tollen Herzschläge bebte. Der nach innen gekehrte Blick, die durch die Angst erschlaffte, aber immer noch eigensinnige Kinnlade, die bittere Mundfalte waren außerordentlich gewöhnlich … Merkwürdig! Dieser scheußliche Anblick hielt ihn gebannt, erfüllte ihn sogar mit geheimem, fast uneingestandenem Wohlbehagen. Die fleischliche Demütigung war ihm etwas Süßes, wenn man von einem so trüben Genuß so sprechen kann; denn in der Verwirrung, in die er gleichsam versunken war, täuschte ihm seine wilde Selbstverachtung wenigstens einen Rest von klarer Besinnung vor. Sein Wunsch, bis auf den Grund seiner Schande zu sehn, war übrigens so lebhaft, daß er in Augenhöhe in den Spiegel starrte und seinen Blick suchte.

Er sah ihn, und zugleich streckte er die Waffen, lieferte sich aus. Der Blick in dem verzerrten Gesicht blieb klar, gespannt, ja, er hätte darauf schwören mögen, selbst spöttisch. »Du lügst!« sagte er, »du lügst, du lügst!« Mehr sagte er nicht. Aber seine aufgewühlte, gleichsam sich selbst entrissene Seele (wie ein Orchester, das beim ersten Wiederanklingen des Themas einen Augenblick innehält, um plötzlich mit allen Blasinstrumenten darüber herzufallen), fuhr mit größerem Nachdruck fort: »Dein Spiegelbild hat recht: du lügst! Du spielst eine frevelhafte Komödie … Es ist nicht wahr, daß du Gott verloren hast. Übrigens würdest du seinen Verlust auch nicht stärker empfinden als das Bedürfnis nach ihm. Du bist heute noch der gleiche wie gestern. Daß dein Fleisch erzittert, macht die Kälte. Du möchtest nur glauben, ein Mann wie du gäbe bloß solchen Prüfungen nach, die für ihn geschaffen sind, sein Maß haben. Es ist doch nicht möglich, daß Gott ohne Zeremonie, ohne Donner und Blitz in dir stirbt!«

Daß er mit Sicherheit die Hohlheit und Unwahrhaftigkeit seiner Herzensnot erkannte, gab ihm den letzten Schlag, zerriß das letzte Band zwischen Gegenwart und Vergangenheit, ließ ihn im Leeren zurück. Sein Glaube hatte sich verflüchtigt, als wäre er niemals gewesen. Er fühlte sich in diesem Augenblick, als hätte er niemals gelebt. Was hätte er darum gegeben, einen Widerstand zu empfinden, ein noch so schmerzliches Zerreißen, einerlei was, nur nicht das stille Zergehen des Wesens, das er für wirklich gehalten hatte, das nun ausgelöscht und durch nichts ersetzt war! … Aber das übernatürliche Schweigen schien für ewig wie ein Siegel darauf gedrückt.

In kläglichem Zustande kehrte er in sein Bett zurück, mit gesenktem Haupt, in einer Art demütiger Erniedrigung, die deutlich die Tiefe und Unwiderruflichkeit seines Falles ausdrückte. Er glich weniger einem ertappten Lügner als einem dressierten Tier, dem sein Kunststück mißlungen ist. Wiewohl er sich von jetzt an aufgab, trug ihm diese Preisgabe keinerlei sichere Erleichterung ein: vielmehr schien sich ein Ausfluß für die stehenden faulichten Gewässer seiner Seele zu öffnen. Neue und doch seinem tiefsten Wesen vertraute Gefühle, die er nicht ableugnen konnte, wenn er ihnen auch noch keinen Namen zu geben vermochte, quollen mit Macht aus einem gesättigten Boden hervor. Zu seinem großen Erstaunen glich das stärkste dieser Gefühle eigentümlich dem Haß.

Fast unmittelbar stand er wieder auf, um die Lampe anzuzünden. Er zitterte nicht mehr. Sein schweißfeuchtes Hemd klebte ihm an Rücken und Schenkeln, doch er fühlte diese eisige Berührung nicht: sein Herz schlug wieder regelmäßig und voll … Und schon reifte in ihm der Entschluß, ein für allemal ein Ende zu machen, diesen dunkeln Kampf um jeden Preis auszufechten. Das allein kam ihm zum Bewußtsein, denn er glaubte die Ruhe wiedergewonnen zu haben in dieser Krise, wo die Herzensangst die Gegenwart eines Freundes, einerlei wessen, verlangt, fordert, bedingt. Er konnte nicht mehr allein sein.

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Warum drängte sich seinem Geiste sofort ein Mann auf, der so verschieden von ihm war, so wenig befähigt, ihn zu verstehn, – der Abbé Chevance, früher Pfarrer in Costerel-sur-Meuse, jetzt Aushilfspriester an der Kirche Notre-Dame des Victoires? War das der einzige Name, der ihm einfiel? Denn die Zahl der treuen Freunde, die man um zwei Uhr nachts weckt, ist ja klein … Geschah es aus einem andern tieferen, zwingenderen Grunde? Er hätte es nicht sagen können, und er fragte auch nicht mehr danach. Er lebte bereits in seinem Traume, und von diesem Traume hatte er keine Gnade zu erwarten.

Mit sichtlicher Ruhe hängte er den Hörer des Fernsprechers ab. Der Abbé Chevance wohnte in einem Stübchen im obersten Stock des Hotels Saint-Etienne in der Rue Vide-Gousset. Er suchte die Nummer im Fernsprecherverzeichnis. Der Hausmann, der aus dem Schlafe gerissen und durch den späten Anruf auch etwas verdutzt war, ließ sich dreimal den Auftrag wiederholen: »Bitten Sie den Abbé Chevance, in einer wichtigen Sache schleunigst herzukommen.« – »Zu einem Kranken?« fragte der andere. – »Zu einem Sterbenden«, antwortete der Abbé Cénabre gelassen.

 

Der Verfasser von Taulers Leben hat den Abbé Chevance im Unterseminar von Nancy kennengelernt. Fünfzehn Jahre älter als der berühmte Geschichtsschreiber, war er damals zweiter Präfekt in der Knabenabteilung. Ihre Beziehungen waren durchaus gewöhnlich, hörten aber nie ganz auf. Im Jahre 19.. mußte der Pfarrer von Costerel die Diözese Verdun verlassen, und zwar nach einer Art von Skandal, den die radikalen Blätter geschickt ausnutzten. In seiner Einfalt hatte er sich dazu hergegeben, ein Mädchen, das irrsinnig und zum Schrecken zweier Dörfer geworden war, mit Gebeten zu exorzisieren. Immerhin ist zu seiner Entlastung zu sagen, daß er die Zeremonie mit größter Vorsicht vorgenommen hatte, nur auf Bitten eines Onkels der Ärmsten, ihres einzigen noch lebenden Verwandten, der früher Kirchendiener von Notre-Dame de Grâce in Lérouville gewesen war. Zum Unglück für den Pfarrer von Costerel hatten drei lange Aufenthalte der Irren in der Kreisirrenanstalt kein anderes Ergebnis gehabt, als daß sie nur noch erregter wurde; der Chefarzt hatte ihren baldigen Tod in Aussicht gestellt. Ihre unerwartete Heilung wurde von allen Aufgeklärten als hirnverbrannte Herausforderung angesehn, die den religiösen Frieden der Diözese aufs schlimmste gefährden konnte. Und gerade für den religiösen Frieden opferte sich der Abbé Chevance.

Trotz der Tröstungen und Aufmunterungen seines Bischofs, der nur die Unvorsichtigkeit verurteilte und die gute Absicht anerkannte, auch dem reuigen Priester eine andere Pfarre anbot, hielt der Ärmste seinen guten Ruf nun für verloren und sah seine Priesterehre bedroht. Dieser Gedanke kam ihm nicht mal infolge des erlittenen Unrechts, sondern wegen der Nachsicht seiner Obern; ihre Güte, so sagte er, hätte ihn vollends in Verzweiflung gebracht. Fortan hielt er sich des Priesteramtes oder wenigstens jeder Autorität für unwürdig. In seiner kindlichen Seele hat er sich mit gewissen Widersprüchen abgefunden, die andern unerträglich erscheinen würden, und sie bestehn kampflos fort. Deshalb zweifelte er auch nicht, daß er gegen seine Geisteskranke nach den Vorschriften der Barmherzigkeit gehandelt, seine Pflicht erfüllt hätte. Ebensowenig aber zweifelte er daran, daß das Ungehaltensein seiner Obern berechtigt war. Der Lärm, den eine so einfache Handlung verursacht hatte, bewies zur Genüge seine unverzeihliche Ungeschicklichkeit, obwohl er nicht hätte sagen können, inwiefern. Denn so viele vergangene Jahre haben die Skrupel seiner himmlischen Einfalt noch nicht abgeschwächt. Man hört ihn die bescheidene Tragödie seines Lebens noch im gleichen Tone erzählen wie einst, dem Tone eines Reuigen, über den im Himmel Freude sein wird.

Die Vermittlung des Abbé Cénabre hatte ihm die Gastfreundschaft der Pariser Diözese und eine bescheidene Stelle an Notre-Dame des Victoires verschafft. Er wußte ihm dafür unendlichen Dank. In dieser untergeordneten Stellung verschwand in den Augen der Menschen endlich alles, was einstmals der Pfarrer von Costerel gewesen war. Seine außerordentliche Schüchternheit, die für kurze Zeit durch die Verantwortlichkeiten eines geringen Amtes unterdrückt worden war, nahm täglich zu und wurde zu einer rührenden, lächerlichen Schwäche, über die sich die Leute lustig machten. Sie war zweifellos sein Kreuz; aber jedes Kreuz ist eine Zuflucht. Diese Wunderlichkeit verhüllte in aller Augen eine Kühnheit auf den geistlichen Wegen und einen außerordentlichen Sinn für die göttliche Gnade. Diese Schüchternheit war nicht nur körperlich, wie es bisweilen vorkommt, sondern eine wirkliche Furcht vor dem Urteil seiner Nächsten, selbst vor ihrer Aufmerksamkeit. Wie sorgfältig er sich auch bemühte, unbemerkt zu bleiben, seine Spur hinter sich auszulöschen – die unerwarteten Begegnungen, die das Pariser Leben mit sich bringt, setzten ihn in Verwirrung. Wieviele Confratres aus seiner einstigen Diözese, wo er den Ruf eines wackeren, harmlosen Mannes genossen hatte, spannten ihn so auf die Folter! Denn er bildete sich fast ein, daß er es nur der Protektion des Abbé Cénabre verdankte, wenn er an unterster Stelle in den Reihen des Pariser Klerus geduldet ward, der so gebildet, so verfeinert war und von dem er nur mit komischer Zurückhaltung sprach.

Auf die Dauer schien diese Zurückhaltung verdächtig. Die einen hielten sie für ein Zeichen geistiger Armut, die andern sahn darin einen versteckten Vorwurf; hatte doch das Strahlen seiner eigenartigen Seele sich von Jahr zu Jahr immer weiter ausgebreitet, so daß es immer schwieriger ward, ihn zu übersehn. Selbst seine übermäßige Vorsicht hatte schließlich eine Legende um ihn gewoben, die durch seine harmlosen Listen genährt ward. Obwohl er außerhalb der regulären Pfarrgeistlichkeit gehalten, mit den niedrigsten Diensten betraut wurde und bei jeder Gelegenheit als Faktotum diente, hatte der arme Pfarrer von Costerel-sur-Meuse es gleichwohl durchgesetzt, einige seiner hervorragendsten Amtsbrüder im Beichtstuhl zu vertreten. Durch solche beständigen Aushilfen war es schließlich dahingekommen, daß er seine beste Zeit im Beichtstuhl verbrachte. Anfangs war er in großer Furcht, den Anschein zu erwecken, als ob er erworbene Rechte dadurch verletze. Denn wie soll er nicht Gefahr laufen, eine fromme Kundschaft auf seine Seite zu ziehen, die beharrlich zur Beichte geht und ihren rechtmäßigen Beichtvätern treulos den Rücken kehrt? Niemals bewies ein auf weltliche Erfolge erpichter Modeprediger soviel Ausdauer und Eifer, um seine schönen Sünderinnen zu gewinnen, als der alte Dorfpfarrer, um die Verlassensten, die am wenigsten neidenswerten Schafe, die Verrufensten der Herde, zu finden und zu halten. Köchinnen, mit dem Korb unterm Arm beim Morgeneinkauf, kleine Modistinnen, die in der Mittagspause Nüsse als Nachtisch knabbern und zwei Sous für den Opferstock des heiligen Antonius von Padua in der Hand halten, fromme Weiber mit Stutengesichtern, demütige, unheilvolle Greise, Schüler, die dem Herrn Kaplan entlaufen sind, – er nimmt alles freudigen Herzens an, durch die Mittelmäßigkeit der Beute beruhigt. Ach, wenn die Gelegenheitsbeichtkinder sich nicht anders bemerkbar machten, die boshaften Vikare hätten unter den gewöhnlichen Beichtkindern des Abbé Chevance bald einige jener Närrinnen festgestellt, die das Vergnügen und den Schrecken der Pfarreien bilden, die es nach eingebildeten Sünden juckt, nach einem sakrilegischen Ragout gelüstet, und die man schwermütig zum strengen Beichtvater gehn sieht wie ihre verkannten Schwestern zu einem Liebhaber, der sie prügelt. Zuerst lächelte man darüber. Als der Pfarrer von Costerel-sur-Meuse jedoch die größten Närrinnen losgeworden war, strahlte er unter seinen Mühseligen und Beladenen von einem seltsamen, übernatürlichen Lichte, das schwer zu verzeihen war. Der Skandal, dem er so weit entflohen, für den er aber zweifellos geboren war, suchte ihn von neuem bis in seine Dachstube. Ein Schöngeist gab ihm sogar einen Namen; er nannte ihn den »Beichtvater der Dienstmädchen«. Das Wort fand Anklang; es drang bis in die wohlgesinnten Salons. Der Historiker Aynard de Clergerie dachte sogar einen Augenblick daran, sich für diesen originellen Alten zu interessieren, und ließ ihn sich unter einem schwachen Vorwand durch einen befreundeten Generalvikar kommen, dem der unglückliche Priester gewiß nichts abzuschlagen gewagt hätte. Dann entmutigte die Schüchternheit und die etwas unterwürfige Höflichkeit des guten Mannes sein Wohlwollen. Die Ungnade wäre sogar vollständig gewesen ohne die für indiskret gehaltene Fürsprache von Fräulein Chantal, der Tochter des hervorragenden Verfassers der Kirche des zwölften Jahrhunderts.

 

Der Abbé Cénabre öffnete tastend die Tür, legte die Hand auf den Arm des Besuchers und führte ihn schweigend in sein Schlafzimmer. Dieses Schweigen verwirrte den Beichtvater der Dienstmädchen vollends. Er wagte nicht, zuerst das Wort zu ergreifen, denn er fürchtete, damit eine elementare Pflicht zu verletzen. Noch mehr bangte ihm vor einer so geheimnisvollen Zusammenkunft zu dieser Nachtstunde. Kaum wagte er den Blick zu seinem Beschützer zu erheben, dessen seltsamer Aufzug ihm eine Pein mehr bereitete. Der Kanonikus hatte nämlich einen gefütterten Mantel um die Schultern geworfen, aber verabsäumt, darunter seine Soutane anzuziehen. So bot er dem bestürzten Blick des Pfarrers von Costerel-sur-Meuse den Anblick seiner dicken Beine in schwarzen Hosen und seiner bloßen Füße in Pantoffeln dar. Der offene Mantel ließ auch den gedrungenen Rumpf unter dem Hemd erkennen.

»Setzen Sie sich,« sagte der Abbé Cénabre mit einer gewissen Sanftheit, »setzen Sie sich und verzeihen Sie mir vor allem, daß ich Sie gestört habe … Entschuldigen Sie diese lächerliche Grille.«

Der Abbé Chevance, der vor dem Bette stand, setzte sich darauf. Die Matratze ächzte greulich. Er stand sofort wieder auf.

»Herr Kanonikus – mein teurer, berühmter Freund – ich möchte Sie fragen … zuerst wollte ich Sie fragen, wie es Ihnen geht … auch dem teuern Kranken … dessentwegen …«

»Es gibt hier keinen Kranken«, antwortete der Abbé Cénabre trocken, »Es gibt keinen Sterbenden. Ich bedaure sogar eine Lüge, deren tieferer Sinn Ihnen entgehn wird. Gleichwohl habe ich kein Recht zu behaupten, ich hätte sie leichthin, unüberlegt begangen. Ich hatte mit Ihnen zu sprechen, ohne Aufschub zu sprechen, das ist alles.«

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, murmelte der Abbé Chevance in wachsender Besorgnis … »Ich kann unabsichtlich einen Fehler begangen haben. Die Nachsicht, die man gegen mich hegt, ist nicht ganz gefahrlos. Ich möchte, ich könnte auf eine nicht verletzende Weise mit vielen Leuten brechen, deren Freundschaft mir doch zur hohen Ehre gereicht … Es ist lächerlich für einen armen Priester, sich bei dem trefflichen Herrn Grafen von Clergerie, vor seiner Eminenz, dem Nuntius blicken zu lassen. Aber lassen wir das«, fuhr er fort (denn das Gesicht seines Partners verfinsterte sich immer mehr). »Ich bin bereit, Sie zu hören …«

»Mein Freund,« sagte der Abbé Cénabre, »ich habe heute an Sie gedacht, weil Ihr schlichter Sinn mir in gewissen Stunden meines Lebens stets ein wirklicher Halt gewesen ist. Die Welt … ich meine die, welche ich aus der Nähe sehe, ist voll von unverschämten Lügnern.«

Die Hände des Abbé Chevance erhoben sich in verzweifelter Abwehr zum Himmel. Aber fast sofort hatte er sich wieder in der Gewalt und schlug die Augen nieder, ohne zu antworten. Auf diese doppelte Gebärde antwortete der Abbé Cénabre mit einem harten Blick von unten herauf.

»Ich brauche Sie diese Nacht mit Ihrem Einverständnis als Zeuge«, versetzte er plötzlich.

Die Stimme des armen Priesters bebte vor Erstaunen.

»Ich verstehe nicht … Ich begreife nicht … in welchem Maße ich Ihnen notwendig sein kann … oder auch nur nützlich … Wer könnte … für einen Mann wie Sie … eine so erbärmliche Bürgschaft ernst nehmen! … Wenigstens kann ich mit einem Confrater offen reden, ihm mein Herz auftun … Diese Unterredung … heute … in dieser Nacht … Ich möchte Sie nicht verletzen, wenn ich sie als etwas außergewöhnlich … selbst überraschend finde … Was diese Unterredung auch ergeben mag … sie kommt nach … in der Folge von anderen Umständen … die nicht weniger unerwartet sind … die gewissermaßen … als Falle erscheinen könnten … O, eine Teufelsfalle!« rief er in erstaunlicher Harmlosigkeit.

Unter dem immer noch harten Blick dachte er einen Augenblick nach.

»Ich werde Ihnen zweifellos alsbald von dem Vertrauen zu erzählen haben, mit dem mich eine bewunderungswürdige … außergewöhnliche … Person beehrt, die geschaffen ist, mich zu erbauen, vielleicht mir sogar Lehren zu geben … Fräulein Chantal de Clergerie« (seine Stimme zitterte nicht mehr). »Mit einer Art von Entsetzen – wirklich mit Schrecken – bin ich Zeuge der Erhebung einer Seele zu Gott, zu den höchsten Gipfeln der Betrachtung, einer Seele, die sicherlich vom Heiligen Geiste besucht wird und schon außer unserer Welt ist … Ah, ich weiß, an wen ich mich wende! Ich habe wenig Zeit zum Lesen – ich lese wenig – aber ich weiß wohl, daß Sie Erfahrung, große Erfahrung in heiligen, auserwählten Seelen haben … Zwar bleibt Fräulein Chantal Gott sei Dank unbekannt, aber wie soll man nicht für sie fürchten …«

»Lassen wir Fräulein de Clergerie, nicht wahr«, sagte der Abbé Cénabre kurz.

Er schien noch zu zögern. Er warf auf den Abbé Chevance, der verstummt war, einen mitleidigen Blick. Wer hätte diesen Greis mit seiner kindlichen Verwirrung, seinem gezwungenen dienstfertigen Lächeln, seinen zitternden Händen nicht mißachtet?

»Mein Freund,« sagte endlich der Verfasser der Florentinischen Mystiker, indem er unbewußt in den eleganten Stil zurückfiel, »ich durchlebe die plötzlichste, die schärfste Krisis, die man sich vorstellen kann. Wenn ich auch mein kaltes Blut wiedergefunden habe, so hatte ich es doch eben sicherlich verloren. Man ist nicht Herr über den Aufruhr aller Seelenkräfte, über eine solche Sturzflut aus der Tiefe: ein Notschrei kommt auf die Lippen; ich habe ihn nicht zurückgehalten. Ich schäme mich seiner nicht … Sie sind der einzige, der es wissen soll, welch grausame Not gewisse Entschlüsse und Handlungen erklärt und entschuldigt, welche die Bosheit verleumdet. Man klagt mich schon der Frostigkeit, der Gefühllosigkeit an. Sie sehn es ja selbst, wie weder Ruhm noch vielleicht Begabung (auf die ich keinen Wert lege) mich vor den demütigendsten Angriffen schützt. Gott bewahre mich davor, Sie gegenwärtig zum Zeugen dafür zu nehmen! Aber wollte ich mich über diese Dinge einem von denen gegenüber aussprechen, die mich bewundern und mich zu lieben glauben, er würde mich nicht verstehn … Ihr schlichtes, aufrichtiges Herz wird ein besserer Richter sein. Wehren Sie sich nicht dagegen, mein Freund! Inmitten der Versuchungen, die mir bevorstehn, stelle ich das tröstliche Bewußtsein sehr hoch, daß ein so göttlich erleuchteter Priester wie Sie mir im Stillen und Verborgenen mit seinem Mitleid beisteht. Ich füge hinzu: wenn die Vorsehung es so will, werden Sie mich in gutem Gedächtnis behalten.«

In dem Maße, wie diese Worte in die Stille fielen, entwirrte er in dumpfer Gereiztheit gegen seinen naiven Zuhörer ihren wahren Sinn, und dieser Sinn war niederträchtig. Unter dem Zwange, einen glaubhaften Vorwand für das zu liefern, was gern als unerklärbare Gebärde erschienen wäre, ging er gerade auf die Wahrheit los, brachte sie wider Willen ans Licht. Was er sich selbst vielleicht nicht mal zu gestehn wagte, ergab sich aus seinen verlegenen Worten: trotz der halbbewußten Komödie des Schreckens, die er sich selbst vorgespielt hatte, ordnete sich nach und nach alles, als ob sein klar gebliebener Geist sich von der ersten Minute an einen Plan vorgezeichnet hätte. Der Notschrei war nur Verstellung. Stets hatte er, anfangs instinktiv, später mit Überlegung, dem Hauptbedürfnis gehorcht, sich Sicherheiten zu verschaffen, sich ein Alibi zu besorgen. Derart organisiert eine tiefe Heuchelei ihre Lüge von innen heraus und trennt sich von ihr nur durch eine Anstrengung der Vernunft, nachdem sie ihr erstes Opfer geworden ist.

»Soll ich annehmen,« sagte der Abbé Chevance verzweifelt, »daß Sie daran denken, sich in einer so schwierigen Lage an mich zu halten? … Es scheint mir … Gestatten Sie … Entschuldigen Sie … Das ist nur ein böser Traum … Oder wenn Sie mich nur prüfen wollen, wozu? Ich habe die größte Achtung – ich möchte sagen, die ehrfürchtigste Bewunderung – für Ihre Begabung, Ihren Ruhm … die Dienste, die Sie der Kirche leisten … Sie könnten mir so leicht eine Falle stellen! Wenn ich meine Dummheit gezeigt habe, werden Sie mich auslachen, und das mit Recht … Aber« (seine Stimme wurde geradezu flehend) »man wird diese traurige Geschichte erfahren, die Rolle, die ich dabei gespielt habe, wird von neuem über mich sprechen – wer weiß? – wird endlich meiner Dummheiten, des Skandals überdrüssig werden … Herr Kanonikus, ich habe einen Jugendirrtum, einen Taktfehler teuer bezahlt! … Ich möchte nicht auf diesen unglückseligen Gegenstand zurückkommen; ich will nur sagen: Bringen Sie mich nicht zum Scherz in Verlegenheit! … Vermehren Sie meine Leiden nicht! … Verliere ich diese so ehrenhafte … so vorteilhafte Stellung, … die man mir gütigst in einer Diözese eingeräumt hat, die nicht die meine ist, in der es so viele verdienstvolle Persönlichkeiten gibt, … was soll dann aus mir werden? Ach, mein verehrter Freund, ich fühle es, ich bekenne es! Seit ein paar Monaten begehe ich Unklugheiten, lasse mich vorschieben, wage Dummheit auf Dummheit … Lassen Sie mich diese Dummheiten nicht zu teuer bezahlen!«

Nichts kann den Ausdruck des Blickes beschreiben, mit dem der Abbé Cénabre den flehenden Greis umfing. Dann zuckte er heftig die Achseln.

»Sie trauen mir merkwürdige Erbärmlichkeiten zu«, sagte er. »Ich bedaure, daß ich Sie so verwirrt habe. Aber geben Sie zu, daß ich zu weit gegangen bin, um jetzt zurück zu können? Übrigens bleibe ich stets bei meiner ersten Wahl. Ja, – so merkwürdig Ihnen das klingen mag – ich brauche Sie in einem der schwierigsten, ich kann sagen, einem der tragischsten Umstände meines Lebens … Eine furchtbare, entscheidende Prüfung, eine Verwirrung …«

Aber plötzlich unterbrach er sich, wie um den ehemaligen Pfarrer von Costerel-sur-Meuse besser zu sehn, der zu seiner unaussprechlichen Überraschung den Betschemel unauffällig heranrückte (mit der Miene eines Mannes, der sich nicht mehr entziehen will) und mit anscheinender Ruhe sprach, obwohl dicke Schweißtropfen auf seiner Stirn perlten.

»Wenn es sich so verhält, Herr Kanonikus, höre ich Sie an.«

Dann machte er das Kreuzzeichen.

Ein kaum verhaltener Zorn grollte in der Stimme des Abbé Cénabre.

»Ich habe Sie nicht gebeten, mich in der Beichte zu hören, mein Freund. Beeilen Sie sich nicht so sehr!«

Er betonte die letzten Worte absichtlich und lächelte so grausam, daß der arme Priester bis in die Wurzeln seiner weißen Haare errötete. Nichtsdestoweniger leuchtete sein demütiger Blick plötzlich in heiliger Zuversicht auf.

»Ich vermag nur das für Sie«, sagte er mit immer noch zitternder Stimme. »Aus mir selbst bin ich nichts: lassen Sie mich den Platz an Gott abtreten. Ich werde nicht die Dummheit begehn, auf meine eigene Einsicht zu bauen. Nein, ich werde diese Dummheit nicht begehn!«

Damit zog er ein großes baumwollenes Tuch aus der Tasche und trocknete sich fieberhaft Stirn und Wangen.

Die starke Hand des Abbé Cénabre legte sich fest auf seine Schulter, und er schien unter dem Drucke nachzugeben.

»Herr,« sagte der Priester, »wenn Sie für Ihre Ruhe und für Ihren Ruf fürchten, so gehn Sie!«

»Oh, Herr Kanonikus,« rief der Abbé Chevance mit Tränen in den Augen, »das habe ich nicht verdient!«

Vielleicht zum erstenmal seit so vielen Jahren empfand der Ärmste etwas, das der Regung eines verletzten berechtigten Stolzes glich. Eine Sekunde lang war er sich seiner Kraft bewußt und empfand ihren unwiderstehlichen Schwung. Trotzdem war er in der Unschuld seines Herzens mehr auf das Geständnis einer schweren Sünde gefaßt, die einem andern als ihm zu gestehen dem Abbé Cénabre zu schwer gefallen wäre. Und welche Sünde hätte ihn widerspenstig gefunden? Welcher Schmutz hätte ihn abgeschreckt? Schon erhob sich seine Hand, um den Segen zu geben, und die göttliche Barmherzigkeit, deren er voll war, bebte in seiner Handfläche, mit der Ausstrahlung seines eignen Lebens verschmolzen.

Übrigens war das Flehen seines Blickes so demütig, daß der Abbé Cénabre ihn wider Willen beantwortete. »Ich habe den Glauben verloren«, sagte er.

Und sogleich setzte er in viel ruhigerem Tone hinzu:

»In dieser Nacht mußte ich mich durch außerordentliche Finsternisse schlagen. Ich bin soweit, daß ich eine unwiderrufliche Entscheidung nicht verschieben kann, die mir die einfache Ehrlichkeit des Denkens auferlegt … Auf die Frage, die mir gestellt ist, der ich so lange ausgewichen bin, muß ich ehrlich mit Ja oder Nein antworten.«

Während er so sprach, schritt er gesenkten Hauptes im Zimmer hin und her. Beim letzten Wort blieb er vor seinem Partner stehn. Das treuherzige Gesicht des Abbé Chevance drückte unendliche Erleichterung aus. War es aus Enttäuschung über einen mißlungenen Schlag? … Oder aus Beschämung, weil er sich für nichts so bloßgestellt hatte? … Der Abbé Cénabre erbleichte.

»Warum haben Sie das nicht früher gesagt?« sprach der andere mit seiner sanften Stimme. »Wer kann sich vor dieser Art von Versuchung geborgen wähnen? … Ich selbst … Aber ein Verstand wie der Ihre verspürt sie zweifellos viel heftiger. Unter solchen Umständen ist kämpfen vergeblich: man vermag nicht viel aus sich selbst. Lassen Sie sich beruhigen, mein Teurer, mein heißgeliebter Meister und Freund. Lassen Sie Gott von selbst zurückkommen. Ich gehe, um für Sie zu beten.«

Und der ehemalige Pfarrer von Costerel suchte seinen Hut auf dem Bett und wandte sich zur Tür, um zu tun, wie er gesagt hatte …

»Das ist also alles!« rief der Abbé Cénabre mit erzwungenem Lächeln. »So einfach erscheint Ihnen die Sache? Sie finden mich verstört, außer mir (schon daß ich Sie rufen ließ, beweist es zur Genüge), und Sie regen sich nicht mehr darüber auf. Oder trauen Sie mir vielleicht zu, daß ich in solchem Maße von den Einbildungen eines kleinen Mädchens gefoltert werde? Ach! Wissen Sie, mein Freund, nicht ohne furchtbaren Kampf wird der Glaube einem Mann wie mir entrissen. Mehr noch die Umstände als mein freier Wille machen Sie zum einzigen Zuschauer dieses tragischen Ereignisses. Noch einmal, gehn Sie!«

Von neuem traten Tränen in die Augen des Abbé Chevance …

»Das ist es nicht … ganz und gar nicht …«, murmelte er verzweifelt. »Ich hätte gebetet … Ich hätte um Erleuchtung gebetet für Sie und für mich. Aber Sie verlassen, meinen Gönner, einen treuen Freund! Mein Gott! Sie hätten mich bald wiedergesehn!«

»Sind Sie dessen sicher?« schrie der Abbé Cénabre wütend: » Ich habe ernstlich daran gedacht, mir in dieser Nacht das Leben zu nehmen.«

Wie kam dieses Wort auf seine Lippen? Woher kam es? Er hätte es nicht zu sagen vermocht. Er hätte nicht mal sagen können, ob es eine Lüge war. Kaum war es hervorgestoßen, angenommen, es sei nur eine leere Herausforderung gewesen, so gab die Haltung des alten Priesters, sein schweigendes Entsetzen, das von seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit stark abstach, ihm auf der Stelle eine unheimliche Wirklichkeit. Es war zweifellos unwahr, daß der Abbé Cénabre ernsthaft daran gedacht hat, sich das Leben zu nehmen. Der Gedanke war ihm nicht mal gekommen; er hatte das Wort wie eine Beschimpfung hingeworfen. Nichtsdestoweniger fühlte er wieder mal voll unsinniger Wut, daß ihn das unbedachte Wort wie ein Geständnis band. In welchem Traum, unter welchem quälenden Alpdruck benimmt man sich so, daß man den freien Raum um sich her einengt, sich alle Ausgänge verschließt? Er hatte einen wohlwollenden, wenn auch unbesonnen gerufenen Zeugen haben wollen, aus dem auch der Ungeschickteste Vorteil gezogen hätte, und er endete damit, sich blöde zu verraten … Gegen wen, gegen welchen Widerstand richtete sich der Haß, von dem er sich erfüllt sah? …

Diesmal blickte der Abbé Chevance ihm mit seinen traurigen Augen voll ins Gesicht. Übrigens ohne Klage, ohne irgendeinen Vorwurf. Er sagte nur mit außerordentlicher Würde:

»Von jetzt ab kann ich Sie nur noch in der Beichte anhören.«

Er machte von neuem Anstalten, sich zurückzuziehen. Der Abbé Cénabre kam ihm zuvor:

»Halten Sie mich für fähig?« … begann er mit dröhnender Stimme.

»Wir sind zu allem fähig«, antwortete der alte Priester demütig.

Doch alsbald wurde sein Blick hart, und der Geschichtsschreiber Taulers erhielt mitten in die Brust diesen Stoß:

»Ich möchte Sie eher für das Opfer eines solchen Gedankens halten, als für fähig, sich seiner fälschlich zu bezichtigen.«

Er zauderte noch einen Augenblick; dann setzte er mit ergreifender Traurigkeit hinzu:

»Ich darf Ihnen nicht erlauben, mich zu benutzen, um Gott zu beleidigen.«

Der Abbé Cénabre lächelte bitter:

»Ich verzichte auf meine Verteidigung. Sie sind frei. Was hält Sie noch hier?«

Er sah ihn zur Tür mehr schleichen als gehn, den Hut unterm Arm, so bleich, so matt, mit einem so tief unterwürfigen Ausdruck, daß ihn die Wut ergriff, diesen lächerlichen Priester mit seinem Geheimnis entschlüpfen zu lassen. Doch im Grunde seines Herzens war er noch tiefer enttäuscht über das Schweigen, das er nicht brechen konnte, über die unbegreifliche Vereinsamung, in die er seit einigen Stunden gefallen war. Gebete, Drohungen, Lügen, Wut- und Verzweiflungsschreie: nichts schien ihm über diesen Zauberkreis hinauszuhelfen. Er war wie ein Mensch, der am Strande des Meeres schreit. Die Wut riß ihn doch wieder hin. Der gleiche geheimnisvolle Haß, der immer nach einem Gegenstand sucht, der ihn schon gegen den blassen Pernichon hatte aufbrausen lassen, stellte ihn, am ganzen Leibe zitternd, einem neuen Gegner entgegen. Er maß die Wucht seines Schlages nicht mehr ab. Er reckte nur den Arm aus, und der gebrechliche alte Priester drehte sich um sich selbst, mit seinen Händen vergeblich nach einem Halt greifend. Die benagelten Sohlen glitten auf dem gebohnten Parkett aus. Er sank kläglich in die Knie, sein Hut fiel neben ihn.

Mehr aus Beschämung als aus Mitleid stieß der Abbé Cénabre eine Art Seufzer aus. Stumm blieb er vor seinem wunderlichen Opfer stehn, es kaum erkennend, so sehr war seine ganze Aufmerksamkeit auf das innere Erlebnis gerichtet, auf das unwiderstehlich Hervorquellen, die unbekannte, übernatürliche Kraft … Was bedeutete diese jähe Leidenschaft, die seine Brust in solchen Stößen erschütterte?

Er sah nicht, wie der Abbé Chevance sich erhob, nicht, wie die Greisenhand die seine ergriff. Er hörte auch nicht die doch so sanfte Stimme, in der ein kindliches Erschrecken nachzitterte. Aber plötzlich klang sie ihm furchtbar ins Ohr. Sein ganzer Körper machte einen unmerklichen, sofort gehemmten Satz, wie ein gehetztes Tier, das zum Sprunge ansetzt.

»Ich hätte gewünscht, daß Sie mich segnen«, sagte der Abbé Chevance traurig … »Ich hätte Sie um diese Gnade bitten mögen, bevor ich Sie für immer verlasse.«

Seine Stimme klang zart und so voll göttlicher Barmherzigkeit, daß sie auch den hochmütigsten Zorn hätte rühren können. Jetzt wich er den düsteren Augen des Abbé Cénabre nicht aus; er suchte sie vielmehr, während das Mitleid dieser Feuerseele sich auf den berühmten Priester herabstürzte wie ein Adler auf seine Beute.

»Ja,« sagte der Beichtvater der Dienstmädchen, »in der furchtbaren Anfechtung, in der ich Sie sehe, wäre Ihnen jede andere Handlung unseres heiligen Amtes gewiß unmöglich. Aber wer von uns könnte, selbst unter den Füßen Satans, nicht rechtsgiltig den Segen sprechen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes? Ja, mein Freund, das ist wahr, das ist sicher! Sie können, ohne Sakrileg, auf einen Mitbruder, der nicht weniger elend ist als Sie selbst, diese Gnade herabrufen, deren Sie selbst im Augenblick ermangeln. Hören Sie mich an. Machen Sie wenigstens das Zeichen – wenn auch gleichgültig – wenn auch in der Verderbtheit des Willens! Was liegt daran, ob Sie in diesem Augenblick glauben oder nicht, auch wenn ein jeder Herzschlag in Ihnen eine Lästerung und Herausforderung wäre! Wenn Sie nicht mehr die göttliche Barmherzigkeit für sich anrufen können, ach, so machen Sie wenigstens das Zeichen, das dem Sünder diese Barmherzigkeit spendet! Wünschen Sie mir, wünschen Sie mir nur, daß ich glücklich sei!«

So versuchte dieser erstaunliche Priester mit erhabener Beharrlichkeit zum letztenmal sein Glück, richtete an ihn die letzte Mahnung, die er zu hören vermochte. Er sah die rasende, zu Tode getroffene Seele, hielt sie fest unter seinem Blick, berührte sie fast. Er erhoffte von ihr nichts mehr als ein Zeichen, ein einziges, kaum freiwilliges, kaum bewußtes Zeichen. Etwas wie ein Augenzwinkern in dem versteinerten Antlitz eines Sterbenden sollte zustimmen, ein Nichts, die Bresche, durch welche die gewaltige göttliche Gnade, die er rings um den noch lebenden Verworfenen aufbrüllen hörte, mit ihrem ganzen ungeheuern Gewicht hereinbrechen kann. Blitzhaft war diese Erleuchtung über ihn gekommen; er hätte nicht sagen können wie, und er vergaß sie ebenso rasch. Er ging ganz in seiner Anstrengung auf, maß seinen Schlag nicht ab. Sein Mitleid allein, weit über seine eigene Vernunft hinaus, tausend Meilen von seinem elenden Leib, der selbst jetzt seine gedemütigte, ängstliche Haltung bewahrte, unterschied, urteilte und handelte. Wer könnte mit den Augen des Engels sehn? Der Mann, den er der Finsternis streitig machte, stand noch immer vor ihm, breitschulterig, mit bleicher, ungerunzelter Stirn und niedergeschlagenen Blicken. Aber sie bohrten sich in den Himmel.

Nach und nach kam dem Abbé Cénabre das Bewußtsein wieder, obwohl er sich nur mit höchster Anstrengung seiner inneren Betrachtung entriß. Was sich in ihm gestaltete, entging jedem Zugriff des Denkens, glich einem Nichts, blieb verschieden von seinem Leben, obwohl sein Leben davon bis in eine unerhörte Tiefe erschüttert ward. Es war wie das Aufjubeln eines andern Wesens, seine geheimnisvolle Vollendung. Von diesem Geschehen verstand er weder Sinn noch Zweck; aber die Passivität all seiner höheren Fähigkeiten inmitten einer so wunderbaren Erschütterung war geradezu eine Lust, unter der sein Körper bis in die Wurzeln erbebte. Er nahm und empfing in sein eigenes Wesen die geheimnisvolle Kraft, unterlag ihr mit freudigem Erschrecken. Auf dieser Stufe der Entselbstung, bei dieser völligen Auflösung, hätte kein noch so entscheidender Vernunftgrund, keine Schmähung ihm auch nur einen Seufzer entlockt. Der Durchbruch war um so stärker, als er sich unversehens wieder schloß. Der Widerstand war mit einem Schlage gebrochen. Wie geistesabwesend blickte er noch auf den Abbé Chevance. Die bald gebieterische, bald flehende Stimme hatte manchmal an sein Ohr geklungen, ohne das Herz zu bewegen; aber er hatte die gesprochenen Worte behalten. Sein Gedächtnis hatte sie registriert und gab sie mechanisch wieder. In dem Erguß seines erschreckenden Glückes hatte diese Klage, diese letzte Mahnung keinen Sinn, oder er mußte, um ihn zu fassen, nach und nach aus den Tiefen seiner Freude wieder emporsteigen. Die Langsamkeit dieser Rückkehr gab ihm das Maß für die Tiefe seines Falls. Denn so nahe der dunkle Engel, der Herr über unseren Willen, uns auch bedrängt, im letzten Augenblick fühlt er unter sich das Fleisch erzittern, das er verführt hat – das Fleisch, das den Tod wittert. Übrigens vollzog sich alles mit blitzhafter Schnelligkeit.

Endlich konnte er sehn. Klar konnte er den alten Priester erkennen, der nicht mehr vor Furcht, sondern vor Mitleid zitterte. Den Anlauf zur Flucht, zu der der Abbé Cénabre unfähig war, selbst seine Begierde, deren Quelle versiegt war, all das fand er, ohne es wieder zu erkennen, im Blick seines letzten Freundes. Die göttliche Gnade (seit Monaten fühlte er nicht mal mehr ihre Abwesenheit) zeigte sich noch einmal: es war wie das Antlitz eines Leichnams in der Tiefe der Wasser, wie ein Klageschrei im Nebel. Die Hellsichtigkeit des Apostels, oder vielmehr sein höchstes Erbarmen hatte ihn dazu erleuchtet, von dem Unglücklichen nur das zu verlangen, dessen er noch fähig war: ein stummes Anflehen, nicht einmal das: eine Anstrengung des Mitgefühls, vielleicht noch weniger: eine Regung des Mitleids für seine eigene Erniedrigung.

Nichts auf dem gespannten Gesicht des Abbé Cénabre verriet den Vorgang. Sein letzter Wutanfall ließ noch eine Spur darauf zurück, denn der Taumel hatte ihn urplötzlich, verräterisch gepackt. Kein Anzeichen kündete nach außen hin die verdächtige Freude, deren erste, entscheidende Bestrickung er erfahren hatte, oder vielleicht vermag das menschliche Gesicht ihr keinen Ausdruck zu verleihen. Kein Anzeichen auch kündete sein letztes Zögern, den letzten falschen Schritt auf der erbarmungslosen Bahn, und doch sprang ihn die Barmherzigkeit an, stürzte sich auf ihn. So stark war ihre Umklammerung, daß selbst sein Leib darauf Antwort zu geben schien. Der Blick sänftigte sich keineswegs; aber es flackerte in ihm ein verstörter Schimmer auf wie bei einem Erschlagenen, um sofort wieder zu erlöschen. Auf die Bitte des Abbé Chevance erhob sich sein Arm zum Segen. Es bedurfte dazu nur eines unmerklichen Augenblicks. Der Verstand wurde schneller; die Angst verflog im Augenblick; der scheußliche Traum zerrann wie eine Wolke und legte den unfruchtbaren Teil der Seele bloß, den die Ironie seit langem ausgesogen hatte. Der hochgerühmte kritische Sinn des hervorragenden Schriftstellers siegte. Ein Etwas, das er schon nicht mehr benennen konnte, trennte sich von ihm in schiefer Flucht. Die tragische Szene, deren Sinn und Schlüssel er augenblicklich verloren hatte, erschien ihm nur noch als unerträgliche Parodie eines wirklichen Dramas, und er glaubte ihre lächerliche Geziertheit zu erkennen. Seine Blässe, die er von neuem im Spiegel gewahrte, das Zittern seiner Hände, all die beharrlichen Zeichen der Angst, von der sich sein Verstand eben befreit hatte, beschämten ihn. Er hätte sie auf der Stelle auslöschen mögen, wie ein Schauspieler, der sich in eine schlechte Rolle verirrt hat, wütend sein Kostüm abwirft.

Wäre die Ernüchterung nicht so jäh und so vollständig gewesen, er hätte vielleicht noch seinen Zorn und seine Enttäuschung an dem Abbé Chevance ausgelassen; aber er hatte es zu eilig, Schluß zu machen, nach dem unbegreiflichen Taumel den Faden des täglichen Lebens wieder aufzunehmen, sich endlich wiederzufinden. Ohne es zu wissen, war er übrigens am Ende seiner Kräfte. Er sagte nur mit tiefem Seufzer:

»Ich verzichte darauf, irgendwas von der Krise zu verstehn, die ich eben durchgemacht habe. Mir scheint, ich habe meinen gesunden Menschenverstand wiedergefunden, nachdem ich Sie, armer Freund, nahe daran gesehn habe, sich von meinem Wahnsinn anstecken zu lassen.«

Der Verzweiflungsschrei des Priesters hallte noch in dem geschlossenen Zimmer nach; aber das eisige Wort des Abbé Cénabre erstickte ihn bald. Übrigens schien der ehemalige Pfarrer von Costerel-sur-Meuse ihn zu verstehn. Er neigte den Kopf und war im Augenblick nur noch ein armer Mensch.

»Wie wenig man uns Priester kennt«, fuhr die Stimme, wieder langsam und würdig geworden, fort. »Wie wir außer der Welt stehn! In meiner bescheidenen Person sehn Viele einen Schriftsteller, der in den Geisteswissenschaften bewandert, aufmerksam, mißtrauisch von Natur und aus Beruf und mit den heikelsten Gewissensfällen bis zur Entzauberung vertraut ist … Weil ich einmal diese Versuchung des Zweifels gekostet, so oft in meinen Büchern gegrübelt habe, verliere ich jede Selbstkontrolle, spreche und handle wie ein Verrückter. Ach! man braucht den erfahrenen, bejahrten Priester nur etwas abzukratzen, und der Seminarist kommt wieder zum Vorschein mit seinem etwas fanatischen Glauben, seinen Skrupeln und Ängsten. Sie wissen es, mein Freund, wir wissen es alle. Deshalb haben Sie mir schon verziehn.«

»Ach Gott! … Zweifellos … Allerdings … Herr Kanonikus,« antwortete der andere, stärker stammelnd als sonst, »habe ich nicht … Ich kann wirklich nicht … Wie können Sie denken, daß ich die Erinnerungen bewahre an diese … kurz, an einen …«

Er konnte nicht zu Ende kommen. Die Ruhe seines Partners schien wie ein Zauber auf ihn zu wirken; er war sichtlich diesem überlegenen Manne preisgegeben, der ihn mit hartem Blicke anstarrte.

»Ich hätte weniger töricht gehandelt, wenn ich gleich Ihre Ratschläge befolgt hätte«, fuhr der Abbé Cénabre fort, ohne die Stimme zu erheben, aber mit zermalmender Kraft. »Ja, unter solchen Umständen ist Kämpfen vergebens: sich von einer solchen Versuchung abzuwenden ist besser, als sich ihr entgegenzustellen. Wenn ich meine Kraft überschätzt habe, bin ich dafür wohl genügend bestraft. Es gibt kein besseres und einfacheres Heilmittel als die friedliche Beobachtung unserer Pflichten im Geiste des Vertrauens und der Selbstverleugnung. Aber gleichwohl bleibt mir noch etwas zu tun: es ist recht und billig, daß ich irgendwie zwar nicht die Beleidigung (Ihre Barmherzigkeit hat ja dafür gesorgt), wohl aber das Ärgernis wieder gutmache. Hochwürdiger Freund, ich wünsche, daß Sie mir die Beichte abnehmen.«

»Nein«, sagte der Abbé Chevance.

Die Antwort flog heraus wie eine Kugel. Wie sehr hätte der unglückliche Mensch gewünscht, sie zurückzuhalten!

»Ich glaube, zu dieser Stunde …«, stammelte er … »Ich habe Grund, anzunehmen … Ich bin weit entfernt, ein endgültiges Urteil zu fällen …«

Dann verlor sich der Rest seiner Worte in wirrem Gestammel, als hätte ihn tatsächlich der Mut verlassen. Sein armer Kopf neigte sich noch etwas mehr auf die Schulter herab. Es kostete ihm zweifellos eine schmerzliche Anstrengung, nicht zu entfliehen. Sein so seltsam gedemütigter Leib schien wie durch blinde Furcht zusammenzusinken. Und plötzlich, inmitten seiner lächerlichen Trauer, entrang sich ihm noch dieser Schrei:

»Nein! Ich kann mich nicht zu dieser sakrilegischen Täuschung hergeben!«

Sogleich bettelte sein Blick nach einem unmöglichen Beistand, begegnete aber den Augen des Abbé Cénabre, die mit fast zärtlicher Sorge auf ihm ruhten. Da wich er so plötzlich und heftig zurück, daß die Stirne des Kanonikus sich rötete.

»Haben Sie Angst vor mir?« fragte er milde.

Nachdem er seine Kaltblütigkeit wiedergefunden hatte, zweifelte er nicht mehr, daß er eine unerhörte Unklugheit begangen hatte, indem er diesen Priester, dessen Seele er doch kannte, wie zum Scherz außer sich brachte. Der Verfasser von Taulers Leben ist durchaus nicht der Mann, der sich von einer materiellen Gewalt so leicht narren läßt. Der heftigste Zornesausbruch hätte ihn in diesem Augenblick weniger erschreckt als die Anzeichen dieses Entsetzens, in dem seine feine Erfahrung die völlige, unwiderstehliche Empörung eines Herzens erkannte, das nicht zu unterwerfen war. Verachtung hätte er vielleicht ertragen; mit dem Haß findet man sich ab; eine Entrüstung, die sich eingräbt, kann man von rückwärts, auf Umwegen fassen, aber dieser schlichte guten Mannes entschlüpfte ihm für immer.

Noch ein Wort, und es war geschehen: er hatte für immer einen versteckten Richter, den Mitwisser einer Stunde, der sich wieder in der Menge verlor, aber just in seiner Verborgenheit tausendmal gefährlicher und fortan unfaßbar war. Ohne Zweifel gab dem Abbé Chevance sein wachsender Ruf als Beichtvater der Dienstmädchen bisher nur ein ziemlich geringes Ansehn bei einer kleinen Zahl von Geistern, aber es waren ja nicht seine Handlungen, die der Abbé Cénabre vor allem fürchtete. Sein Wille, der seit diesem Abend darauf gerichtet war, selbst die Erinnerung an die Krise auszulöschen, der er fast erlegen wäre, die ihn zum mindesten fast um seine Ruhe, seine Arbeit, seinen Ruf gebracht hätte, stieß auf den Widerstand dieses verhängnisvollen Zeugen. Das Geheimnis – das Geheimnis des neuen Lebens – sollte im nächsten Augenblick seine Schwelle überschreiten, seinen Weg durch die Welt nehmen; das war eine zu harte Gewißheit für seinen schon so furchtbar geprüften Stolz. Er fühlte, daß seine List ihr Ziel verfehlte oder daß sie überholt würde. Nicht aufbrausend, aber mit gewollter Keckheit fragte er:

» Was werden Sie von mir erzählen?«

»Gott!« schrie der arme Priester. »Herr Kanonikus … ich habe nichts zu erzählen.«

»Gut«, antwortete der Abbé Cénabre nach einer Pause. »Ob Sie klar in mir gelesen haben oder nicht (was weiß ich!), und wenn das, was Sie voraussehn, wirklich eintreten sollte, frage ich: haben Sie mir Glauben geschenkt, als Sie mich eben in voller Verwirrung und Angst antrafen? Haben Sie mich beklagt? War das die Prüfung einer falschen, gemeinen Seele? Habe ich mich gar nicht verteidigt? Gar nicht gelitten?«

Der Abbé Chevance ließ ihn durch einen unbeschreiblichen Blick verstummen.

»Und dann,« fuhr der Abbé Cénabre fort, »denn ich erwarte keine Antwort auf die Fragen, die ich soeben gestellt habe, glauben Sie nicht, daß Ihre schlichte Rechtschaffenheit etwas Zeit braucht, um sich mit den Schwächen und Widersprüchen eines Mannes auseinanderzusetzen, dessen geistiges Leben Sie so wenig kennen? Überdies, um welchen Preis wird es mir gelingen, Sie völlig zufrieden zu stellen?«

Der alte Priester antwortete sogleich mit sehr leiser Stimme, doppelt ergeben und ehrerbietig, mit herzzerreißender Milde diese unerbittlichen Worte:

»Herr Kanonikus, Sie müssen nur alles verlassen, alles aufgeben.«

Ohne daß sein Lächeln verschwand, machte der Abbé Cénabre eine Gebärde, die ebenso Nichtverstehen wie Bestürzung ausdrücken konnte. Das Wunderbare daran war, daß der andere dieses Lächeln aufnahm, es sich zu eigen machte und es voller Freude zurückgab, wie ein gelehriger Schüler dem nachsichtigen Meister.

»Verstehn Sie mich, Herr Kanonikus,« fuhr er fort, seine langen mageren Hände bewegend, »wir sind so unglücklich … daß es vorkommt, daß unser ganzes Leben – ohne unser Wissen – gleichsam … irgendwie von Gott zum Teufel abgelenkt wird. Ich drücke mich schlecht aus: Stellen wir uns lieber eine Quelle vor, die in dürrem, schmutzigem Erdreich versickert ist. Das Kostbarste, was der Herr uns auferlegt, körperliche und geistige Leiden, kann durch den Gebrauch, den wir von ihnen machen, auf die Dauer verdorben werden. Ja, der Mensch hat selbst das Wesen des göttlichen Herzens, den Schmerz, besudelt. Das Blut, das vom Kreuze rinnt, kann uns töten.«

Er atmete schwer.

»Sie haben zuviel erwartet«, fuhr er fort. »Wirklich … wahrhaftig, Herr Kanonikus, Sie haben sich zu stark gesträubt … Mit der Angst, von der Sie sprechen, ist nichts mehr anzufangen: sie kommt wider Ihren Willen zu spät. Sie werden keinen Nutzen aus ihr ziehn. Sie wird Sie vielmehr zugrunde richten. Sie wird Sie in den Haß hineinstoßen. Klagen Sie Gott nicht an, Herr Kanonikus! Er hat diese Angst sozusagen vor Sie hingestellt, wie man einem Kind eine Arznei Schluck für Schluck eingibt. Sie wollten sie bloß nicht kosten. Jetzt müssen Sie sie austrinken. Tun Sie es rasch! Auf dem Boden des Glases werden Sie nichts als einen letzten, besonders bitteren und beißenden Satz finden … Gott! ich bin so ungeschickt, so wenig befähigt zu überzeugen. Ich wollte damit sagen, daß Ihre Prüfung unfruchtbar bleibt, daß mit ihr kein neues Leben beginnt, daß sie gänzlich dem Teil Ihres Lebens angehört, den Sie hinter sich werfen sollen. Behalten Sie nichts davon! Nein! Behalten Sie nichts von diesem Teil! Er ist verfault. Bis ins Mark verfault! Ich sehe … ich sehe Ihr Werk selbst …«

»Kennen Sie es?« fragte der Abbé Cénabre kalt, aber ohne Übelwollen.

»Nein, gewiß nicht«, entgegnete der Abbé Chévance. Dann hielt er inne bei diesem Geständnis, dessen Unwahrscheinlichkeit er plötzlich erkannte. Eine wahre Verzweiflung malte sich in seinem Blick, die Verzweiflung über die verblüffende Gewißheit, die das Wort soeben verraten hatte, aber es nicht mehr zum Ausdruck brachte noch je bringen würde.

Einen Augenblick war er im Begriff, sich wegen seiner scheinbaren Lüge auf die übermenschliche Erkenntnis zu berufen, die sie rechtfertigte. Er hatte nicht die Kraft dazu. Zum zweitenmal hatte der Abbé Cénabre ihn mit einem einzigen Wort aus dem Himmel gerissen, ihn augenblicklich in den Zustand eines armen Menschen zurückversetzt.

»Ich nehme nur an,« sagte er beschämt, »ich spreche nur eine Vermutung aus … kurz, ich hätte gewünscht. Ich weiß, es ist notwendig,« setzte er hinzu, »daß Sie die Vergangenheit auslöschen.«

Seine Stimme erstickte ihn, Tränen stiegen ihm in die Augen, und da er nun unfähig war fortzufahren, als hätte ihn der Erguß seines Erschreckens und seines Mitleids erstickt, wiederholte er mehrmals in kindlichem Flehen, dessen wahrer Sinn nur den Engeln bekannt war:

»Machen Sie sich auf den Weg! Auf den Weg! …«

Erst nach langem Schweigen antwortete der Abbé Cénabre:

»Das ließe sich kaum bei einem Menschen verstehn, der gegen alle seine Pflichten verstoßen hätte. Zum Glück ist das hier nicht der Fall. Ich habe die meinen alle pünktlich, wenn auch nicht mit Begeisterung erfüllt. Ich habe sie geachtet, wenn auch nicht geliebt. Gewiß habe ich keine Hoffnung, mich vollständig rechtfertigen zu können. Sagen Sie mir immerhin, ob Sie es, wenn Sie nachdenken, nicht kindlich finden, daß man seine Vergangenheit wie ein Nachtlager verlassen soll? Nicht wir verfügen über die Vergangenheit, nicht wir halten sie fest: vielmehr hält uns die Vergangenheit.«

Der Abbé Chevance schwieg.

»Gleichwohl werde ich einiges von diesen strengen Worten bewahren. Es ist wahr, meine Arbeiten verschlingen mein ganzes Leben. Ein Priester von Ihrer Demut und Ihrem Eifer kann Ärgernis daran nehmen, daß er mich scheinbar allzusehr an die weltlichen Eitelkeiten gekettet und tatsächlich zu sehr begeistert für geistige Dinge, kurz, so wenig priesterlich sieht. Da ich mir keine schwere Verfehlung, geschweige denn eine Todsünde, vorzuwerfen habe, glaubte ich leichthin, man könne sich der Überwachung der Seele entziehn, kurz, jener starken und feinen Kontrolle, für die unsere alten Meister den schönen Namen »Gebet« haben. Die Kritik ersetzt das nicht. Die sozusagen berufsmäßige Vertrautheit mit diesen so hochgeistigen und vollendeten Menschen, mit denen ich so lange gelebt habe, hat mich getäuscht: unbewußt übertrug ich ihr Ebenbild auf mich. Ach, die Liebe kann uns einen und zu einem einzigen Herzen zusammenschließen; aber die Welt des Geistes ist eine helle Eiswüste … Ja, der Geist kann alles durchdringen, wie das Licht das dickste Kristall, aber er ist unfähig zu rühren oder zu bezwingen. Er ist eine unfruchtbare Versenkung.«

Hier bekam seine Stimme ein leises Zittern der Ungeduld, und bei den letzten Worten verlor sie völlig den Nachdruck.

»Wozu übrigens diese Unterhaltung? Sie müssen sie töricht finden. Sie ist es, denn sie ist eitel. Von jetzt an werde ich nicht mehr vernünfteln. Mein Leben soll einfach, geregelt, alltäglich sein. Ich wünsche, daß niemand zu seiner eigenen Beunruhigung oder zu seinem Ärgernis von der Versuchung erfährt, der Sie mich beinahe feig erliegen sahn. Niemand soll wissen, was ich leide: ich selbst will versuchen, es zu vergessen. Ich werde die Vergangenheit keineswegs verleugnen, auch nicht im geheimen; denn ihre Handlungen waren ja nicht tadelnswert, sondern nur vielleicht ihre Triebfedern oder Absichten … Warum soll ich Gefahr laufen, den Nächsten zu verwirren? Ich nehme mein Leben da wieder auf, wo ich es verlassen habe, beim letzten Abschnitt, gelassen (wenn ich kann!), mit Festigkeit, wie man eine Furche weiterzieht … Nein, ich habe den Glauben nicht verloren! Das stimmt nicht! Ich war verrückt! Ich war nur nahe daran zu vergessen, daß Enthaltung noch keine Tugend ist, daß dazu auch Seelenschwung gehört, leidenschaftliches Suchen, der große Schrei nach dem Vater, der Schmerzensschrei und Notruf, eine unbezähmbare Hoffnung … Was reden Sie noch davon, alles umzustürzen? Was liegt daran, ob ich hier bin oder dort? Unsere Lebenshaltung bedeutet wenig; zudem werden Sie mir beipflichten, daß ich an der Stelle, an der man mich sieht, gewisse Rücksichten zu nehmen habe … Von innen heraus (Ihre Kenntnis der Seelen weiß genug darüber), von innen heraus muß man erneuern und verbessern. Die Aufgabe ist nicht leicht, mein Freund, aber ich glaube nicht, daß sie meine Kräfte übersteigt. Wenn Sie wollen, war ich träge, fühllos, aber nicht tot: diese Krisis hat es bewiesen. Die Verstandesarbeit hat mich eine Zeitlang von meinem Wege abgelenkt; gleichwohl habe ich nicht aufgehört, Gott zu lieben …«

Der Priester, der dieser verlegenen Rede demütig zugehört hatte, wankte bei diesen Worten, als hätte er eine Wunde im Gesicht empfangen. Eine übermenschliche Angst brach aus seinen Augen, während sein ganzer alter, vorgestreckter Körper, selbst im Schrecken oder Zorn noch linkisch, eine heilige Gegenwart zu decken schien.

»Reden Sie nicht … Reden Sie nicht!« schrie er in wilder Heftigkeit … »Nein, Sie lieben Gott nicht!«

Der Schrei war derart, daß der Abbé Cénabre jäh zurücksprang und den Arm erhob, wie um einen Hieb zu parieren.

»Herr … mein lieber Freund … Herr Kanonikus,« fuhr er fort, diesmal mit herzzerreißender Stimme, »haben Sie Erbarmen mit mir, haben Sie Erbarmen mit einem Unseligen, dem Gott Sie heute überliefert hat … Ich vermag nichts mehr für Sie! Ich sehe Sie wie eine Bleikugel versinken. Gott, ich werde dafür Rechenschaft geben müssen! Von mir wird er Rechenschaft über Sie verlangen! Wollen Sie mich denn verderben? Ich habe keinerlei Macht, keinerlei Beredsamkeit; ich bin ein einfältiger Priester! Man verachtet mich nicht genug! Kein Herz ist so feig wie meines! Warum bin ich in dieser Nacht auserwählt worden! Sie müßten Gründe angeben, ein wirkliches Bild von sich selbst; ich habe von Ihrem Unglück nur ein Bild, das sich nicht wiedergeben läßt. Gott! Es ist furchtbar, wie ich Sie sehe, und es gebricht mir an allem! Wie soll ich mich Ihnen zu erkennen geben? Gott weiß es: Ich hätte alles, alles, selbst das Opfer meines armen Lebens dem Geständnis vorgezogen, das ich Ihnen machen muß, der Demütigung, ein so unglaubhaftes Wort vor Ihnen auszusprechen! Sehn Sie mich an! Ich darf nichts von dieser Beschämung verlieren; ich muß sie gänzlich für Sie hingeben … Ich kann Ihnen keinerlei andern Beweis für meine Sendung geben als mein Wort, nichts als meinen erbärmlichen Schwur. Ich schwöre! Ich schwöre Ihnen, daß der Heilige Geist mir dies eingibt! Ich schwöre, daß Sie offen vor mir daliegen, wie der Blick eines Kindes vor seiner Mutter. Ich sehe Sie! Ich sehe, wie Ihre Seele zugrunde geht! Diese Offenbarung wird einem alten Dummkopf zuteil, der unfähig ist, Nutzen daraus zu ziehen. Gott! Ich kann es nur bezeugen und bezeuge es nochmals mit der Gewißheit meiner eigenen Ohnmacht, mit verzweifelter Wut.«

Kein noch so fester Charakter hätte das Schauspiel ertragen können, das sich dem Blick des Abbé Cenabre in diesem Augenblick darbot. Gewiß, die heilige Wut seines schwächlichen Gegners war ihm jetzt unbegreiflich geworden, und die geringste Hilfe von außen hätte ihm Kraft oder Kaltblütigkeit genug gegeben, um darüber zu lachen. Aber etwas in ihm antwortete auf die vertraute Stimme, die letzte, die so zu ihm sprach. Es war wie ein Vorgefühl von unaussprechlicher Bitterkeit, daß er niemals, niemals mehr dieses übernatürliche Erbarmen erfahren würde; denn er würde es nie mehr begehren. Und im tiefsten Grund seines Herzens haßte er es vielleicht schon.

»Besser, tausendmal besser wäre für Sie Empörung und Lästerung«, fuhr der ehemalige Pfarrer fort, die Hände über der Brust gekreuzt. »Ach, Herr Kanonikus, noch in der Lästerung ist etwas von Gottesliebe; aber die Hölle, in der Sie wohnen, ist eiskalt.«

Er nahm die Hände auseinander, ließ die Arme sinken und stand einen Augenblick Auge in Auge vor seinem furchtbaren Gegner. Das Erstaunen, das sich im Antlitz des Abbé Cénabre malte, erschien ungeheuchelt, nicht minder die Bitterkeit seines herabhängenden Mundes. Besser als ein Zornesschrei oder der Ausbruch eines bösen Lachens zerstörte sein starkes und feierliches Schweigen die Worte, die soeben gefallen waren, oder schlug sie mit Unfruchtbarkeit. Eine Minute noch versuchte der Abbé Chevance dieses Schweigen zu ertragen, dann stießen seine Lippen eine Art von Seufzer aus, und er verschwand.

. . . . . . .

»Dieser sympathische Tropf hat mich wahrhaftig munter gemacht«, sagte der Abbé Cénabre laut. »Ich werde mich also in dieser Nacht nicht zu Bette legen.« Nach der Flucht des ehemaligen Pfarrers von Costerel blieb er in ruhiger Freude zurück, der die Ironie kaum einen Tropfen Wermut beimischte. Weit entfernt, ihn zu verwirren, erschien ihm die letzte vergebliche Anstrengung seines schwächlichen Feindes als Hilfe gegen jede neue Anfechtung von der Art derjenigen, die er soeben bestanden hatte. Es war, als ob er an dem alten unnützen Priester das Experiment seiner eigenen Tollheit gemacht hätte, wie man die Tuberkulose oder Pest auf ein Versuchstier überträgt.

»Soweit also hat mich mein Delirium gebracht,« sagte er sich lächelnd, »daß ich einen Augenblick lang der würdige Partner dieses Wahnsinnigen war? Wie hätte ich diesem guten Mann auch nicht den Kopf verdrehn sollen, als ich ihn mit meinem Vertrauen beehrte und Ratschläge von ihm erbat? Von einem Kanonikus konnte er augenscheinlich nur Wunderbares erwarten: er hätte es sogar herbeigeführt … So aber habe ich ihn nicht enttäuscht, sondern verzweifelt fortgeschickt.«

Er sprach wirklich solche Worte und noch andere gleichen Sinnes. Denn zu seinem tiefen Erstaunen dachte er ganz laut, eine ziemlich häufige Schwäche bei Einsamen, die jedoch diesem Schweigsamen bisher zuwider gewesen war. Jetzt führte er instinktiv dieses Murmeln herbei, lauschte begierig auf seine eigene Stimme, fand darin eine unendliche Erleichterung. Bis er fertig war, ging er mit seinem schweren Schritt im Zimmer auf und ab, unterhielt sich unablässig mit sich selbst und lachte zuweilen mit seltsamem Lachen …

Nichtsdestoweniger kleidete er sich mit der größten Ruhe an. Er war entschlossen, den Rest der Nacht in seiner Bibliothek zu verbringen. Er hatte es sehr eilig, sich wieder vor das Blatt weißen Papiers zu setzen, zu seinen geliebten Büchern; aber vor allem dieses Blatt weißen Papiers strahlte in sein Denken wie ein Leuchtturm hinein. Er blickte auf die Seite, die er am Abend beschrieben hatte, brannte vor Begier, sie zu vollenden, vollendete sie schon. Fast erbittert rief sein Gedächtnis ihm Zeile für Zeile eines Aufsatzes für die Revue de la semaine zurück, den er vor acht Tagen begonnen hatte. Es war eine sehr feine und treffende Widerlegung eines kürzlich erschienenen Buches des Paters Berthier (übrigens ziemlich mittelmäßig) über die heilige Therese vom Kinde Jesu, deren himmlisches Lächeln, eine Versuchung für die oberflächlichen Tröpfe, stets die glühendste und am besten gehegte Rose des Paradiesgartens bleiben wird … Mit leiser Stimme, von dem gleichen unbegreiflichen Lächeln unterbrochen, fuhr er zu sprechen fort, trug sich selbst die gelungensten Seiten vor. Er hatte immer schon großen Geschmack daran gefunden, einige jener erbauenden Priester zu ertappen, deren blasser Eifer sich unversiegbar durch unleserliche Bücher ergießt. War es die Lust, sie zu ertappen? Oder die unzugängliche Heiligkeit? Doch ihm war, als hätte er bisher nie eine so gierige Ungeduld, eine so vollständige Besessenheit, eine schärfere Hellsichtigkeit verspürt.

Wer ihn so gesehn hätte, beim roten Schein der weitabstehenden Lampe und dem bleichen Licht des Mondes in den Fenstern, wie er mit ruhigem, schwerem Schritt auf und ab ging und seine starken Schultern unter dem gestrafften Stoff der Soutane unmerklich wiegte, wer den kräftigen Ansatz seiner Kinnlade und den furchtlosen Nacken beobachtet hätte, der hätte ihn um seine ruhige Kraft beneidet, die doch im Marke schon zerstört, zu Tode getroffen war … »Aber was lache ich da?« fragte er sich plötzlich. Und in dieser Minute setzte ihn der Ton seines Lachens, wenn auch noch unbestimmt, in Erstaunen.

Jetzt ging er schräg auf die Tür zu und blies unterwegs die Lampe aus. Die bleiche Dämmerung zögerte zuerst, kroch dann an den hohen Vorhängen entlang, legte sich wie ein tückisches Tier auf den Boden am Fuße des kalten, bleichen Fensters und weigerte sich, weiter zu gehn. Als der Blick des Abbé Cénabre zu Boden fiel, traf er auf etwas, das er zuerst nicht erkannte. Er hob dieses Ding auf und hielt es höchst überrascht und ein wenig angeekelt mit seinen Fingerspitzen in Augenhöhe. Es war das Bäffchen des Abbé Chevance.

Was sollte er dazu sagen? Es war doch nichts. In der Tat betrachtete der Kanonikus das schwarze Stückchen Tuch nur einen Augenblick. Ein Problem hatte sich soeben eingestellt, das mit einem Schlag alles in Frage zu stellen schien … Problem ist gewiß ein schwerwiegendes Wort: es war vielmehr ein Einwand, der sich in seinem noch immer wirren Bewußtsein erhob, erst zaghaft, dann immer drängender, endlich mit furchtbarer Beharrlichkeit. Ohne es zu wissen, war der Abbé Cénabre an jenem Punkte angelangt, wo das innere Gleichgewicht nur durch ein Wunder von glücklichen Zufällen und unvorhergesehenen Übereinstimmungen aufrecht erhalten wird, wo der geringste Widerstand eine ungeheuere Woge hochhebt, wie eine Klippe den Wogengang aufstaut. Mochte er wollen oder nicht, er wurde nicht mehr fertig mit einem feindlichen Gedanken; zudem war er außerstande, ihm zu entfliehen.

Zweifellos war dies Bäffchen in dem Augenblick abgerissen, wo der alte Priester unter dem Stoß seines starken Gegners den Halt verloren hatte … Wieder sah er den ausgestreckten Körper vor sich, die über den groben schwarzen Strumpf, über den knabenhaften Schenkel geschürzte Soutane … »Warum habe ich ihn geschlagen?«

Eine so plötzliche Gewalttat, ein so ungewöhnlicher Verlust der Selbstbeherrschung (nachdem die geheimnisvolle Wut verschwunden war) blieb notgedrungen unerklärlich. Wie lebhaft er auch wünschte, seine gewohnte Gleichgültigkeit wiederzufinden oder sich einzureden, er habe sie wiedergefunden, es blieb doch diese kleine seltsame Tatsache, diese kleine unerklärbare Tatsache. Es war unmöglich, die nächtlichen Ereignisse auf gewöhnliche Maße zurückzuführen, solange der Zweifel bestehn blieb. Die Ruhe, die etwas hochmütige, unerschütterliche Ironie des Abbé Cénabre ist allbekannt und schon fast legendarisch. Unter diesem Gesichtspunkt ließ sich die brutale Hinrichtung des kläglichen Pernichon nicht leicht erklären. Aber was sollte er zu dem sagen, was darauf folgte?

»Warum habe ich ihn geschlagen?« wiederholte er noch immer mit leiser Stimme. »Ich muß außer mir gewesen sein!« Sein Denken stieß sich allein an diesem Hindernis. Seine Aufmerksamkeit war nur auf die Frage gerichtet, was ihn wohl gegen einen nun verschwundenen, ausgelöschten, vernichteten Feind fortgerissen hatte und mit solchem Haß, der in seinem Herzen lebendig war … Gegen wen? Gegen was?

Dann hörte er von neuem sein Lachen und fuhr auf.

Das war weniger ein Lachen, als ein krampfhaftes, unfreiwilliges, seltsam ausbrechendes, unerklärbares Kichern. Schon seit einiger Zeit begleitete es sein Nachdenken wie ein geheimnisvolles Zeichensystem, und es wäre ihm nicht zum Bewußtsein gekommen, so eng verband sich dies unbekannte Etwas mit seinen innersten, uneingestandensten oder uneingestehbarsten Gedanken. Was plötzlich seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte, war ein gewisses wesentliches Mißverhältnis dieses Lachens, nicht sowohl zu dem innern Vorgang als vielmehr zu seiner Haltung, seinem Benehmen, zu jeder seiner stets ernsten und gemessenen Gebärden, kurz zu alledem, was er nach außen schien. Sein Erstaunen war lebhaft; aber es verflog ebenso rasch, wie es gekommen war; und nichts blieb von ihm zurück als eine dunkle Unruhe, eine Art geheimer Aufmerksamkeit. Bei jedem Worte lauerte er auf die Rückkehr dieses fremden Zeugen, während er mit erkünstelter Gleichgültigkeit sein Hin- und Hergehn im Zimmer wieder aufnahm.

Dabei legte er das Bäffchen auf den Tisch. Es war zerknüllt, befleckt und roch nach Tabak (denn der ehemalige Pfarrer von Costerel schnupfte gern). Dann trat er wieder ans Fenster und zog die Vorhänge ganz zurück. Doch umsonst. Die einsame Straße, das Sausen des Windes führten seine Gedanken zu dem alten Priester zurück; er stellte sich seinen Heimweg durch die menschenleere Stadt bis zu dem Hotelzimmer vor, dessen Armseligkeit er eines Abends kennengelernt hatte. Übrigens hielt sich sein Geist nicht bei der Erinnerung an den Abbé Chevance auf, sondern bei seiner völligen, endgültigen, unerbittlichen Vereinsamung. Er schien erst jetzt zu begreifen, wie allein dieser Mann war, wie vereinsamt und verlassen unter den übrigen Menschen, durch die Seltsamkeit seines Wesens noch mehr von ihnen getrennt als durch Raum oder Zeit. Er empfand eine lebhafte Freude darüber. Was bedeutet eine solche Schattengestalt, ob Freund oder Feind? Was vermag dieser schmutzige, furchtsame Greis für oder gegen ihn? … Er ging durch die Menge wie ein Fremder, der sich nicht verständlich machen kann. Und hätte er es auch wider Erwarten getan, so hätte jeder derartige Versuch (wie es vorkommt, wenn die Ungleichartigkeit unbedingt, unabänderlich ist) das ursprüngliche Mißverständnis noch vermehrt und den Mann allein beschämt.

»Armer Alter!« sagte er traurig.

Und alsbald hörte er zum dritten Male sein Lachen. So kurz und erstickt es war, seine rege Aufmerksamkeit hatte es sofort ergriffen, im Fluge gepackt. Wiederum, aber weit schärfer, stutzte er über das gleiche Mißverhältnis zwischen diesem Lachen und seiner Haltung, ja sogar seinem Gesichtsausdruck, der bei den letzten Worten doch mitleidig geworden war. Ja, das Gefühl dieses Mißverhältnisses war noch ganz anders klar und zwingend. Seine Ursache erfaßte er noch nicht, aber eine Sekunde hatte ihm genügt, den Schmerzpunkt in der Tiefe seines Stolzes zu entdecken. Der Mann, den Monsignore Dutoit in einer berühmten Rede »den schärfsten und feinsten Geist seiner Zeit« genannt hatte, entdeckte in sich ein gemeines Lachen.

Die kühle Ruhe und das gezwungene Lächeln des Verfassers von Taulers Leben sind berühmt. Wer hat nicht bemerkt, daß er selbst dies Lächeln nur selten schenkt? Sein beweglicher, lebendiger Blick, manchmal auch seine plötzliche Starrheit, über die sich fast sofort rasch das Augenlid schließt, ersetzen alles. Wenige haben ihn lachen hören, wiewohl der klare liebenswürdige Toulet geschrieben hat, er habe eines Abends beim Diner bei Madame de Salverte über den unerwarteten Freudenausbruch dieses Priesters vor Angst beinah aufgeschrien. Vielleicht ist ihm diese seltsame Naturwidrigkeit oder diese gefährliche Schwäche nicht unbekannt? Aber ob er es wußte oder nicht, was ihn eben überrascht hatte, war noch viel seltsamer. Diese Art von Kichern entstieg ihm, daran war nicht zu zweifeln, und er erkannte es nicht wieder, oder er hatte wenigstens keinerlei Kontrolle über sich. Mit Abscheu hatte er es angehört, es auf frischer Tat ertappt, wie ein plötzlicher Lichtschein vor unsern Füßen ein schmutziges Tier aufdeckt, das sofort wieder ins Dunkel zurücksinkt. Er erkannte es nicht wieder und war doch außerstande, es einer rein physischen Ursache zuzuschreiben, es von einem geheimen, gehüteten Teil seines vielleicht auf keine andere Weise erklärbaren Denkens zu trennen … Dieser fettige, schnalzende Kehllaut, so überraschend er war, besaß kein eigenes Dasein, hing unmittelbar ab … Wovon? War nicht nur ein Geräusch, sondern ein Echo … Ein Echo wovon?

Er hätte es nicht sagen können. Und doch war seine Unruhe so stark, daß er nur noch an diesen neuen Umstand dachte. Er war selbst so kindisch, dies Kichern, das er nur zufällig entdeckt hatte, hervorzurufen. Er machte sich Mut, soviel er vermochte, dies Versteckspiel mit sich selbst spaßhaft zu finden. Aber was er so, zuerst zaghaft, dann zornig, seinem Munde entlockte, glich nicht dem vorigen Lachen, hatte nicht mehr den gleichen Ton. Er blieb stehn.

Was hätte er nicht darum gegeben (obwohl er stets den Wahnsinn fürchtete), in diesem Augenblick an sich selber, an seinen Sinnen zu zweifeln, um zum Beispiel an eine Gehörshalluzination glauben zu können, eine jener Halluzinationen, wie sie in den kritischen Lebensbeschreibungen der Heiligen einen so breiten Raum einnehmen. Doch man erführe nichts von der Angst, die ihn damals folterte, hätte man einen Augenblick angenommen, daß eine solche Zweideutigkeit möglich war. Er wußte schon, daß dieses demütigende Lachen ganz einfach eine äußere Kundgebung einer bestimmten, reichhaltigen Wirklichkeit, eines tatsächlichen Lebens war, dem er immer gewünscht hatte, fern zu bleiben. Unfähig, den Augenschein zu leugnen, bemühte er sich nur, den unvermeidlichen Ausbruch hinauszuschieben.

Gewisse besondere Formen des Verzichts entziehen sich jeder Untersuchung, denn die Heiligkeit schöpft jederzeit aus sich selbst die Elemente, die der Künstler der Formenwelt entleiht. Sie verinnerlicht sich immer mehr, verliert sich schließlich in die Tiefen des Wesens. Wir erfassen nicht mehr die Beziehungen zwischen den Handlungen und den Beweggründen. Da der einmal verlorene Kontakt sich nicht wiederfinden läßt, scheinen die beobachteten Tatsachen, je mehr sie sich ihrer eigenen logischen Ordnung eingliedern, sich vielmehr aufzulösen und gleichsam im Sinnlosen aufzugehn. Um den abgerissenen Faden wieder anzuknüpfen, müßten wir uns selbst, was unmöglich wäre, wie in einem Satze zu dem höchsten Ziel erheben, das der Held vom ersten Schritt seines Aufstiegs an erblickt, das sein harter, geduldiger Wille im voraus in Besitz genommen hat, das die tiefe Einheit seines Lebens bildet.

Das Leben des Abbé Cénabre besitzt auch einen Schlüssel: seine fast grenzenlose Heuchelei.

Darunter verstehe man nicht bloß ein beständiges Suchen den Nächsten gegenüber nach einem Alibi, einem moralischen Alibi, noch irgend etwas, was sich nur mit den Berechnungen des Ehrgeizes verwechseln ließe, sondern noch etwas anderes. Da die Neigung, die Vorliebe, die Leidenschaft für die Lüge und ihre beständige Ausübung, die schließlich zu einer wirklichen Verdopplung, einer wirklich ungeheuerlichen Verdopplung des Wesens führt, muß der Ursprung dieses gräßlichen Übels sehr weit rückwärts gesucht werden, gewiß schon in der ersten Kindheit, damals, als der Bauernjunge, von Ehrgeiz verzehrt, am häuslichen Herd instinktiv, fast unschuldig, die düstere Komödie seiner Berufung spielte. Und fürwahr, er spielte sie bereits traurig, kläglich, der junge Streber! Manche Heuchler, selbst beharrliche, unentwegte Heuchler, haben manchmal ihre Schwächen, spielen ihre Rolle mit einer Art von Phantasie, einer übertriebenen Verstellung, die sie eine Zeitlang von sich selbst erlöst. Wenige Menschen gestalten ihre Lüge mit unheilvollem Fleiß von innen heraus. Aber dem außergewöhnlichen Menschen, den man in diesem Augenblick zum ersten Male wanken sieht, ward es gegeben, allen Versuchungen der Seele jahrelang siegreich zu widerstehn. Im Unterseminar von Nancy machte sich der seltsame Abbé de Saint-Genest, der als Missionar in Hué starb, einst den Vorwurf, eine unüberwindliche Abneigung gegen seinen Schüler zu hegen, der doch zu den fleißigsten gehörte. Und als man ihn nach dem Grunde fragte, sagte er:

»Ich glaube, er ist ohne Liebe. Er liebt nicht einmal sich …«

Gleichwohl war er ein eifriger, gelehriger Schüler, hartnäckig in der Arbeit, wie man hartnäckig nach Gewinn strebt, ohne Tadel. Nur hatte sich von Anfang an sein Herz verschlossen; es sollte sich nie mehr auftun. Gar nicht so selten begegnet man in den Seminaren solchen frühreifen, eigenwilligen Knaben, die aus Selbsttäuschung oder manchmal aus blinder Eitelkeit ihrer Angehörigen dem Priesterberufe zustreben, nicht mehr den Mut haben umzusatteln und schließlich seine Pflichten übernehmen, wie man die einer gewöhnlichen Laufbahn übernimmt. Sie werden wenigstens mittelmäßige Priester und sind fast alle leicht erkennbar, bezahlen die Zweideutigkeit ihres traurigen Lebens mit ihrer Unruhe, ihren Zweifeln, dem ganzen Pathos verfehlter Berufe … Aber dieser Mann lügt nicht halb, hat niemals halb gelogen.

Wäre übrigens diese Lüge nicht vollständig, vorbehaltlos, voll und ganz hingenommen worden, so hätte ihm der Mut gefehlt, standhaft zu bleiben, denn er hat starke Leidenschaften. Zweifellos wäre sie von den Zugängen verjagt worden, hätte sie sich nicht ins Innerste der Festung zurückgezogen. Zu stolz, um sich nur mit dem Scheine zu begnügen, zu schlau, um nicht ihre Gebrechlichkeit zu durchschauen, hatte er seiner Seele selbst Gewalt angetan. Wenn man ihn einst den jährlich zweimal stattfindenden geistigen Übungen mit Eifer, ja mit Leidenschaft obliegen sah, wie hätte man ihn da der Falschheit anklagen können, denn der seltsame Knabe zeigte dabei ja die peinliche Gewissenhaftigkeit eines für seine Arbeit begeisterten Arbeiters, der nur zu seiner eigenen Befriedigung schafft. Wenn der Abbé de Saint-Genest ihn zum Beispiel im Verlaufe der täglichen Betrachtung ernst, mit gerunzelten Brauen und von einem Zweifel erfaßt sah und ihn bisweilen plötzlich bat, ihm die großen Linien seiner Betrachtung wiederzugeben, in die er ganz versunken war, so antwortete er ohne Zögern, in offenbarer Aufrichtigkeit. Seine Aufmerksamkeit hatte sich nämlich keine Minute von dem vorgelegten Gegenstand abgewandt, und er hatte ihn ehrlich erschöpft. Seine schnelle Auffassungsgabe, die zudem der inneren Beobachtung wunderbar zugekehrt war, hatte sich nicht bloß die Sprache, sondern auch den Sinn des geistigen Lebens zu eigen gemacht, und so zeigte er in diesen Dingen bereits einen hervorragenden Takt. Ebenso hätten auch seine Beichten den Scharfsinnigsten getäuscht (es hätte dazu der niederschmetternden Urteilsschärfe eines Pfarrers von Ars bedurft), denn auch sie waren aufrichtig; und er ließ nichts darin aus als die böse teuflische Verstocktheit, die ihn nach und nach versteinerte. Er verheimlichte nicht einmal seine nächstliegenden Versuchungen, wie den Zweifel am Glauben oder jenes noch beunruhigendere, geheimnisvollere Anzeichen: seinen Widerwillen, seinen unbesiegbaren Abscheu vor dem Leiden unseres Herrn, dessen Betrachtung stets so schmerzhaft für seine Nerven war, daß er den Blick ungewollt vom Kruzifix abwandte … Doch ein anderer Zug wird noch unglaublicher erscheinen. Nachdem ihm sein Beichtvater, Pater Brou, ziemlich harte Kasteiungen auferlegt hatte, deren keine er unterließ, befahl er ihm, niemals einzuschlafen, ohne im Geiste die Hauptgeschehnisse des Opfers auf Calvaria durchzugehn. Er tat es, und zwar mit solcher Anstrengung, daß ihm zuweilen der Schweiß vom Gesichte rann und sein Nachbar in manchen Nächten sein dumpfes Stöhnen durch die dünne Holzwand vernahm.

So erfüllte er pünktlich jede seiner Pflichten und brachte zu seinem Verderben eine unerhörte Willenskraft mit. War er seitdem wirklich besessen? Muß man in seiner verborgensten Kindheit eine Erbsünde suchen, die so langsam, aber beharrlich emporkeimt und eine ganze Rasse verderben kann? Wer wird es jemals wissen? Vielleicht wird man auch einer andern Annahme zustimmen. Mancher Schauspieler lebt sich derart in seine Rolle ein, daß er eine Zeitlang sein Leben dem seiner Traumgestalt wunderlich nachbildet und diesen Ähnlichkeitsskrupel selbst in sein Alltagsleben hineinträgt.

Der kräftigen Natur des Abbé Cénabre, über die sich so viele Leute durch den Anschein der Mühelosigkeit täuschen ließen, widerstrebt es, ein Werk unvollendet zu lassen. Er geht bis zur letzten Anstrengung. Der kleine, von allen verlassene Waisenknabe (einer seiner Großväter hatte sich in der Affäre der Metzer Heizer bloßgestellt und starb im Zuchthaus; sein Vater war Trinker; seine schon früh verwitwete Mutter wusch und flickte in ihrer armseligen Hütte zu Sarselat die Wäsche ihrer Gevatterinnen aus, dann starb sie im Spital zu Bar-le-Duc) gehörte nicht zu denen, die wählen dürfen: Bei seinem Ehrgeiz emporzukommen, seinem Hunger nach Ruhm war er gezwungen, Fortschritte zu machen, und in steter Gefahr, durch eine Unklugheit alles zu verlieren. So war er nicht nur dazu verurteilt, Priester zu werden, sondern auch, sich vor seinen glücklicheren und begünstigteren Nebenbuhlern hervorzutun. Sein frühreifer gesunder Verstand, dessen Stärke sich leider nie verleugnete, ließ ihn bereits empfinden, daß die Überlegenheit seines Geistes allein ihn eher bloßgestellt hätte, daß er weniger darauf bedacht sein müßte, sich aufzunötigen als sich wegen seiner Herkunft und seiner Vergangenheit durch untadelige Führung und Haltung zu rechtfertigen. Die Furcht, sich durch seine Lüge zu schaden, deren Gespinst damals noch so neu und so schwach war, führte ihn nach einer Reihe zaghafter Experimente und nutzloser Befreiungsversuche zur peinlichsten und schärfsten Observanz, selbst fern von jedem fremden Blick, selbst in der Heimlichkeit seines Herzens, so daß er sich selbst hätte täuschen können, hätte er nicht ziemlich früh den Wunsch – oder den Mut – verloren, sich ins Antlitz zu schauen.

Diese Heuchelei kann bei einem kaum der Kindheit entwachsenen jungen Menschen wundernehmen. Will man aber die Sache nicht dramatisch aufsteigern, so darf man annehmen, daß der Unglückselige erst auf die Dauer die völlige, verderbliche Besessenheit von seiner Lüge wahrnahm. Kurze Wonnen, rasch zerronnen! Denn wenn diese Lüge vollkommen ist, umschlingt sie das ganze Leben, bestimmt jeden Gedanken, läßt sich kein Halt auf der dürren, verhängnisvollen Bahn voraussehn. Das täglich zerstörte Werk muß täglich wieder begonnen werden, bis zu dem Augenblick, wo das Doppelwesen seine Vollendung, seine grauenvolle Reife erreicht, wo es erkennt, daß es auf der Erde keinen Platz mehr findet und sich in den übernatürlichen Haß auflöst, aus dem es entsprungen ist.

Denn wie sehr man auch danach strebt, eine natürliche Ursache für solche tragischen Verirrungen zu finden, wie soll man ihre raffinierte Steigerung rechtfertigen, jenes unnütze, überflüssige Etwas, das einen bewußten Geschmack, eine bewußte Ergötzung enthüllt? Wie könnte man sich beispielsweise vorstellen, daß der Schüler des Seminars in Nancy, der sich nicht scheinbar, sondern wirklich zu den höchsten Übungen des geistlichen Lebens zwang, doch niemals Nutzen daraus zog? Ohne Zweifel versagte er seine innere Zustimmung und gab nur die Oberfläche der Seele her, die man Intelligenz und Aufmerksamkeit nennt. Doch wie kam es, daß er nicht versucht war, weiter zu gehn, Gott etwas mehr zuzugestehn – einen einzigen Akt der Liebe oder wenigstens des guten Willens –, wo doch das umgepflügte Feld nur des Samens, eines einzigen Körnchens harrte? Allerdings ist seine Natur von erschreckender Dürre, und man begreift halb, warum sein Stolz davor zurückschrak, seine letzte, höchste Zuflucht preiszugeben, nachdem er sonst alles aufgedeckt hatte. Vielleicht hatte er auch zu keiner Zeit das bei so vielen andern unwiderstehliche Bedürfnis kennen gelernt, Freundschaft einzuflößen und zu geben, zu lieben und geliebt zu werden, als hätte er begriffen, daß seine Lüge dann zu schwer zu tragen war? Aber vor allem war sein äußerst eigenwilliges Denken die beste Waffe gegen die Gnade. Von einer Art von Wißbegier erfüllt, deren Triebfeder eine gewisse Grausamkeit zu sein scheint, berauschte er sich rasch an seinen geheimnisvollen, so geschickt verheimlichten Eroberungen. Und schon entstand in diesem Knabenhirn das heimtückische, eigensinnige Werk, die schillernden, unfruchtbaren Bücher mit vergiftetem Herzen, Meisterstücke tückischer, scharfsinniger und unerbittlicher Analyse und einer so verwickelten Arbeit und Eingebung, daß sie stets ihre Opfer finden werden. Denn sie tauchen viel tiefer in das eigene Leben des Verfassers hinab als man denkt, in eine solche Tiefe, daß sie manchmal etwas von ihm ausdrücken, was er selber vergessen hatte, Demütigungen, deren Brennen selbst die Erinnerung an ihre Ursache überlebt hatte; sinnlos gewordene Listen, die ihm aber eine Runzel eingefurcht haben … »Mich hat stets die Heiligkeit angezogen,« sagte er eines Tages zu Herrn von Colombières; »mich reizten ihre eigenartigsten und verborgensten Formen.« In Wahrheit begriff seine grobe Natur nur schwer diesen Ausnahmezustand der Seele, und sein Verstand suchte dessen Ursachen zu ergründen.

Der Abbé Cénabre war einen Augenblick unbeweglich stehn geblieben. Dann verließ er plötzlich das Zimmer, ging in die Bibliothek und schloß sorgfältig die Tür. Beim ersten Schritt stieß sein Fuß an die zu Boden geworfene Lampe. Verdrossen mußte er tastend nach einer zweiten Lampe suchen, die seit langer Zeit außer Gebrauch war, und an deren leichtem Gewicht er gleich merkte, daß sie leer war. Schließlich nahm er von dem Kamin einen seiner achtarmigen Leuchter aus massivem Silber, ein Geschenk der Prinzessin Salm, und zündete die Kerzen mit fieberhafter Eile an. Als er den Leuchter auf das Tuch des Schreibtisches stellte, merkte er, daß seine Hand zitterte.

Da lag es vor ihm, das weiße Stück Papier, das er so ersehnt hatte! Es erwartete ihn. Er stieß es zurück. Stehend blätterte er, ohne zu lesen, mit zerstreutem Finger und abirrendem Blick in den Seiten, die mit seiner kleinen, kühnen, scharf gestochenen, schrecklich sauberen Handschrift bedeckt waren. Zuweilen haftete seine Aufmerksamkeit auf einem glücklichen Wort, einem vertrauten Absatz, dann kehrte sie sich ebenso rasch weg. Fast unbewußt hätte er sich gewünscht, ja er sehnte sich fast danach, daß irgend etwas das Schweigen bräche, ein glaubhafter Vorwand, selbst der Tagesanbruch. Niemals war die Nacht um ihn so dicht und so stumm. Kaum verdrängt aus dem Lichtkreis, lauerte sie aufmerksam in allen finsteren Ecken, in den dunkeln Falten der Vorhänge, herrschte unumschränkt über das Draußen, die ganz leere Straße, die Stadt, zu dieser Stunde, in der selbst die Ausschweifung schläft.

… Nein, gar nicht leer, gar nicht stumm, denn plötzlich näherte sich auf dem Pflaster rasch ein hallender Schritt mit einer Art mechanischer Regelmäßigkeit und brach jäh ab. Die schweigende Leere um ihn nahm zu oder schien so unaufhaltsam zuzunehmen, daß der Kanonikus sie tief in der eigenen Brust verspürte und eine kurze Abwehrbewegung machte. Wütend ergriff er das weiße Blatt und warf es in den Korb.

Was sollen wir von seiner Verwirrung, was von seiner Beschämung sagen? Was von seiner noch bittereren, wenn auch weniger drückenden Enttäuschung? So war also die wiedergefundene Ruhe nur ein Köder, seine Einbildung eine Falle mehr? Wahrlich, diese Nacht würde er nie vergessen; sie war wirklich nicht wieder gutzumachen. Sein Versagen kam nicht von einem unerwarteten äußeren Hindernis; seine eigene Kraft hatte versagt. Ein dumpfes Grollen stieg aus seiner Kehle auf, und mit raschen Fingern zerfetzte er die Reste des Manuskripts. Er blickte auf. Und am Ende des Zimmers erblickte er im dunkelsten Winkel an der weißgetünchten Wand das Kruzifix.

Sofort hörte er sein Lachen.

Diesmal dachte er nicht daran, es zu vereiteln, es zu ersticken; er hörte es beherzt an. Dann wollte er es so, wie es war, nicht weniger kläffend, nicht weniger gemein. Mit seinem ganzen Wesen nahm er es an, machte es sich zu eigen … Eine ungeheuere Erleichterung war alsbald sein Lohn. Nichts gibt einen besseren Begriff von dieser unerwarteten Befreiung, als das Aufbrechen eines Geschwürs. Mit Erstaunen, dann mit Gewißheit, endlich mit Trunkenheit fühlte er, daß das, was an ihm rüttelte und was er nicht mehr tragen konnte, eine Entspannung gefunden hatte, daß es sich entlud. Ein Kind, das des Nachts voller Schrecken auf ein Gespenst losgeht und mit seinen Händchen einen vertrauten harmlosen Gegenstand berührt, empfindet etwas von dieser Freude, nur etwas, denn es hört einfach auf, sich zu fürchten; es verachtet das nicht, was es fürchtet, kann sich für seine Furcht nicht rächen. Der Abbé Cénabre dagegen öffnete sein ganzes Innere diesen bitteren, kaum gekannten Wonnen.

Er schlug die Augen nieder, sah auf dem Tische das harmlose Buch des Pater Berthier, lachte von neuem, diesmal aus voller Kehle. Der Widerhall dieses Lachens in der Stille wurde außergewöhnlich. Die Anwesenheit eines einzigen Zeugen, die Ansteckung mit seiner Furcht hätte zweifellos genügt, das Ende dieser unerträglichen Szene zu beschleunigen. Aber so rollte sie sich im geheimen ab und glitt nur langsam dahin, ging langsam vom Wirklichen zum Alpdruck und vom Alpdruck zu einer Art übernatürlicher Schändlichkeit. Ach, wie oft bricht in den Seelenkämpfen, bricht im Innern diese scheußliche Freude aus! Wir hören sie nur nicht. Ohne Zweifel bedarf es seltner und eigenartiger Umstände, damit das Böse derart die Grenzen seines majestätischen Reiches durchbricht und sich so, wie es ist, in Blick oder Stimme unsern Sinnen ausliefert.

Wer ihn in diesem Augenblick durch das Schlüsselloch gesehn hätte, diesen Mann von immer noch imponierender Kraft und Gesundheit, von so ruhig wirkender Gestalt, mit den mächtigen Schultern, der starken, kühnen Haltung, wie ihn ein irres Kichern schüttelte, der hätte dem Zeugnis seiner Augen nicht getraut. Etwas, worauf die Hölle eifersüchtig zu sein pflegt, gab sich hier ohne Vorbehalt, mit einer Brutalität und Schamlosigkeit ohnegleichen. War das der Zynismus einer schon verlorenen Seele? Oder nicht vielmehr ein letzter erbarmungsvoller Versuch, das Aufgehn der Schleuse für die schmählichen Geheimnisse der Seele, für vergiftete, zwanzig und dreißig Jahre erstickte Gedanken, das unfreiwillige, erzwungene, gegenständliche und doch noch befreiende Geständnis, die wunderbare Ablenkung nach außen durch Gebärde und Stimme für eine Heuchelei, die zum äußersten gesteigert, bis zum letzten Grad der Steigerung gelangt ist und sich nun mit dem Leben nicht mehr verträgt, wie der Leib sich manchmal mit einem Schlage selbst von einem Gifte befreit, mit dem er sich vollgesogen hat?

Gleichwohl behält inmitten des wachsenden Wahnsinns der stets wache Zeuge noch seine Klarheit. So stark, so ungestüm die Umklammerung des Feindes auch ist, er hat doch nicht die Macht, sich ganz an unsere Stelle zu setzen: auch im Übermaß seiner Freude, ja selbst in seiner höchsten unaussprechlichen Verzweiflung, bleibt er, der Zweifel, wie ein Wurm. Das Gefühl der Hinfälligkeit und Unsicherheit einer Lust, die in uns nicht zu leben, sich in uns nicht einzugraben vermag, die eingebrochen ist und sich nur durch Gewalt behauptet. Denn keine Erfahrung hienieden könnte uns eine befriedigende Vorstellung von der Hölle geben.

Gewiß, der Abbé Cénabre hatte jetzt von dem, was ihn so rasend bewegte, nur einen unbestimmten und wirren Begriff. Hätte er sich deutlicher gesehn und gehört, das Entsetzen hätte ihn alsbald zu der Tat getrieben, die zu begehn er erst einen Augenblick später versucht war. Und jetzt hätte er sie vollbracht. Das übernatürliche Erbarmen erwies ihm ohne Zweifel diese Gnade, ihn für einige Zeit zu verblenden, oder vielleicht gestattete sie nie, daß er auf den Grund seines Elends blickte. Das beweisen sehr viele Zeugnisse, die an diesem unheilvollen Mann eine letzte, sehr hartnäckige, fast einfältige, kindische Selbsttäuschung enthüllen. Der Schriftsteller, dessen Wißbegier für alle Prüfungen der Heiligen so stark war, und besonders für die seltsamsten, ward hier zum unfreiwilligen Narren der kritischen Sucht seines eigenen Denkens: der Gedanke an Besessenheit streifte ihn nicht einmal.

Allmählich verspürte er eine ungeheuere Ermüdung. Die Nacht war bald vorbei: sein schwerer Blick wandte sich immer weniger von dem engen Lichtkreis zu seinen Füßen ab. Immer mehr ergriff ihn die Schlaftrunkenheit. Noch unfähig, die Gewalt zu ermessen, die ihn so hoch gehoben hatte, um ihn wie einen Stein fallen zu lassen, hatte er doch das dunkle Bewußtsein eines unerhörten Hinschwindens seiner Kräfte, der Vergeudung seines Lebens. Einmal auf der schiefen Bahn, erlahmte der Wille; sein Wesen sank auf einmal zusammen. Von neuem erkannte er mit Schrecken, daß er sein Gleichgewicht verloren hatte, daß die gewohnten Übergänge, die dem Innenleben Maß und Rhythmus verleihen, für ihn nicht mehr vorhanden waren, daß er im Laufe der abscheulichen Nacht von Freude oder Leid nur das Übermaß gekostet hatte, dessen doppeltes Zuviel schließlich zu der gleichen gemeinsamen Angst verschmolz.

Die Ursache dieser jähen Entspannung war einfach, beinahe komisch. Aber sofort blähte sie sich auf. »Ich bin frei!« hatte er noch vor einem Augenblick ausgerufen, und er wiederholte dies Wort seitdem halblaut, ohne es zu begreifen … »Frei wovon?« fragte plötzlich eine höhnische Stimme, die auf dem Grunde des Bewußtseins noch kaum faßbar war. Dann schwoll sie im Augenblick maßlos an, übertönte alles übrige. »Frei wovon? Frei wovon?«

Er brach in Lachen aus, und dessen Widerhall wurde ihm plötzlich unerträglich. Er fühlte wohl, daß sich dies Lachen jetzt gegen ihn gewandt hatte, daß es ihn zerriß. Das unfreiwillige Wort, das aus seinem Munde gekommen war, bedeutete nicht viel, aber es hatte ihn an der richtigen Stelle getroffen. Die Vergangenheit, die er verleugnet hatte, von der er sich gerettet wähnte, die er für völlig vernichtet hielt, überließ ihn einer nicht minder hohlen, nicht minder leeren Zukunft, einer neuen, ebenso widrigen Lüge … Frei wovon?

Umsonst suchte er zu entkommen; jedesmal sah er sich wieder gefangen. Übrigens hatte ihn dieser fortgesetzte Kampf schließlich außer sich gebracht. Lieber wollte er dem neuen Unheil ins Gesicht sehn. Ach, er durchforschte seine Ursachen, analysierte es in seinem Halbdelirium mit einer gewissen Klarheit. Was sollte er mit dieser wiedergewonnenen Freiheit anfangen? Sie kam zu spät, auch wenn er ihrer je würdig gewesen wäre. Nach seiner armen, harten Kindheit blieb die strenge Zucht, der er sich hatte unterwerfen lassen, noch der einzige feste, positive Teil seines Lebens. Welchen Sinn sollte es ohne sie, ohne ihren Zwang haben, zu dem noch der andere unaussprechliche Zwang der Lüge trat? Welchen Zweck? Wozu die tägliche Mühe? Keine andere Regel hätte ihn gänzlich befriedigt, und er war auch zu alt, um mit einer neuen Lüge zu beginnen. Er hatte keine Laster zu befriedigen, außerdem hielt er die meisten für törichte, blöde Zerstreuungen; er hegte die Verachtung eines Geizhalses für solche Vergeudung … Was also? Konnte er nicht einfach eine Krisis ohne Abschluß als ein Nichts betrachten, seine Aufgabe da wieder aufnehmen, wo er sie am Abend verlassen hatte? Das sollte sein Geheimnis bleiben. Niemand hätte etwas davon erfahren außer einem Priester, der zu gewissenhaft war, um zu reden, oder der nur ungläubigen Ohren begegnen würde. Konnte er nicht … Ach nein! Er konnte nicht mehr.

Ohne daß er sich das Warum zu erklären versuchte, schreckte ihn jede Neuerung, und doch schien der Schnitt zwischen Gegenwart und Vergangenheit sehr klar und entscheidend. Es wäre eine eitle Behauptung, daß die alte, emsige Lüge seines Lebens ihm nicht zu Bewußtsein gekommen wäre. Aber schon, daß sie ihm in ihrer ganzen Nacktheit, im vollen Lichte der Seele erschien, hat ihm etwas Wesentliches geraubt, ein bißchen Unklarheit und unerläßliche Zweideutigkeit, wie gewisse Stoffe, die zu heftigen Giften werden, sobald ihr chemisches Gleichgewicht in Gegenwart eines andern, bevorzugten Stoffes verloren geht. Die eben bestandene Prüfung ist bestimmt unvergeßlich: die Erinnerung daran macht jeden Frieden unbeständig, unsicher. Kann er auch noch andere täuschen, sich selbst wird er nie mehr täuschen können. Wie klar und erklärlich erschien ihm nun manches unfreiwillige Verhalten, zum Beispiel der so oft empfundene dumpfe Groll, das bittere Mißtrauen, die leidenschaftliche, schmerzliche, unersättliche Wißbegier gegenüber den Helden seiner Bücher! Er glaubte, sie zu lieben! So wie mancher Historiker die Zeitgenossen Ludwigs XII. oder Karls des Großen wie seine vertraute Umgebung, wie seine Jugendfreunde liebt, so glaubte er sie zu lieben! Fast zweifelt er nicht mehr, daß er sie haßt! Warum fesselte ihn jetzt die langweilige Verfolgung eingebildeter Güter, die erschreckende Leere ihres Schicksals? War er nicht, ohne daß er es ahnte, im Grunde von der Hoffnung beseelt, ihnen ein Geheimnis zu entreißen? Aber er weiß, daß sie kein Geheimnis haben, daß es nichts ist. Ah, dieser unverschämte Gedanke!

Erfolg, Ruhm, Ansehn sind ihm nichts mehr. Im Beruf eines berühmten Mannes ist Nichtvorwärtskommen soviel wie zurückgehn, und er hat die Gewißheit, daß er keine Fortschritte mehr machen wird, daß ihm das Vertrauen fehlt, daß die Triebfeder seines Werkes gebrochen ist. Selbst die Kühnheiten, die bei den Dummen Ärgernis erregt haben, waren doch nur kühn in Bezug auf die Ordnung seines Lebens, auf einen gewissen, jetzt zerstörten Einklang. Jetzt erscheinen sie ihm seicht. Kurz, was will er? Er will nichts.

Es ist der gleiche Schwindel, der ihn in seinen teuflischen Strudel reißt: die gleiche Leere der Brust, die gleiche heiße Stirn, und die eisigen Schultern. Nichts vermöchte die blinde Gewalt und den Wirrwarr seines Denkens besser auszudrücken als ein wilder Aufschrei, und dort herrscht feierliches Schweigen. Von Sekunde zu Sekunde wird dieses Schweigen, das seine Verzweiflung umgibt, dichter und unbeweglicher. Mit allen Fasern (denn in solchen Augenblicken begreift der ganze Leib Schmerz und Tod) fühlt er, daß er den kritischen Punkt überschritten hat, daß sein Fall sich von selbst beschleunigen muß. Er hofft nicht mehr, kann sich nicht einmal mehr eine Umkehr, ein Haltmachen in dem senkrechten Absturz vorstellen. Doch nein! Er ist noch zu lebendig, um seinen Fall zu erleiden, wie ein Klotz zu fallen! Er tastet sich ab, befühlt mit fast naiver, pathetischer Gebärde seinen runden, starrsinnigen Kopf, seine starken Arme, seine Brust. Wer kann den Selbstmordgedanken im Fluge erhaschen, wenn er sich auf die Seele herabstürzt wie ein Adler? … Schon ist er in ihm. Bevor er ihn nur bei Namen nennen könnte, ist er ihm ins Herz gesprungen. Wenn er den unvermeidlichen Fall nicht aufhalten kann, ach! dann will er ihn wenigstens beschleunigen, ein Ende machen! … Bei diesem Gedanken war er angelangt, als er in seiner Rechten den ihm gehörenden Revolver erblickte.

Man kann nicht sagen, daß er den Lauf auf seine Schläfe richtete; er stürzte sich darauf. Es war der schrecklichste Augenblick, wo die Hölle nur ein Haß ist, eine einzige Flamme auf der gefährdeten Seele, die alles durchdringt, selbst den Engel verzehren würde und nur am Fuße des Kreuzes zurückweicht. Die Schnelligkeit, Deutlichkeit, die unabwehrbare Kraft der Bewegung waren furchtbar. Nichts konnte sie hemmen, höchstens ein Wunder, und diese Art von Wunder geschah: die Waffe versagte. Die Hand hatte sich so heftig gekrampft, daß der gequetschte Finger an der Stahlkante blutete. Der Abbé Cénabre glaubte, die Waffe sei gesichert. Zu seiner großen Verblüffung stellte er fest, daß dies nicht der Fall war.

Bedächtig nahm er den Revolver in die linke Hand und drückte leicht auf den Abzug. Einen Augenblick leistete der Hahn Widerstand, dann schnappte er ein. Der Lauf war aufs Geratewohl gegen die Wand gerichtet. Die Kugel schlug gegen die Backsteinmauer, prallte auf den Türvorhang, der nur leicht erzitterte. Ein blauer Nebel von metallischem Geruch stieg langsam zur Decke und verschwand.

Immer noch bedächtig nahm der Abbé Cénabre das Ding wieder in die rechte Hand und setzte die kleine kalte Mündung hinter dem Ohr an. Er war seiner sicher. So sicher, daß er sich noch eine Minute Zeit ließ, nicht eine Minute des Nachdenkens, sondern des Aufschubs … Seltsam! Der Mord, den er da begehn wollte, erschien ihm deutlich als dumm, selbst als ungeheuerlich, ungeheuerlich in seiner Dummheit; und gerade das war seine letzte, bittere Freude. Alles, was sich in dieser Nacht zugetragen hatte – jede Handlung, jeder Gedanke – welche Abfolge von wunderlichen, zusammenhanglosen Ereignissen! Mit voller Absicht wollte er dem schmerzhaften Spuk noch ein neues Ereignis hinzufügen, das ebenso unverständlich, ebenso verrückt – ja noch unverständlicher, noch verrückter war –, gleichsam als wahnwitzige Rache. Ein Blitz des Hasses erleuchtete ihn. Er sah seine Vergangenheit nicht mehr, hatte auch keine Zeit, die Zukunft zu berechnen. Er dachte nur an die Rache, die er so aus sich selbst schöpfen wollte. Ja, diese Erleuchtung dauerte nur solange wie ein Blitz … Wie kurz war das Warten!

Dann aber fielen seine Augen zufällig auf das Zifferblatt der Uhr. Sein Hals war steif. Der Druck der kleinen Stahlmündung war außerordentlich schmerzhaft geworden. Seine Schultern taten ihm weh, wie nach langem unbeweglichen Sitzen. Und er saß da, immer noch die schwarzen Zeiger mit stumpfer Beharrlichkeit befragend. Er konnte seinen Augen nicht trauen. Denn in dem Augenblick, wo er die Waffe zum zweiten Mal ergriffen hatte, zeigte die Uhr drei Uhr fünf Minuten; er hatte es sich unwillkürlich gemerkt. Jetzt zeigte sie zehn Minuten vor vier Uhr. Der Aufschub, den er so kurz bemessen, hatte fast fünfzig Minuten gedauert!

Er hätte zweifeln können; doch er zweifelte nicht. Bei dem Gedanken an sein langes Brüten mit dem Finger am Abzug fuhr er vor Schrecken auf, weniger über den Tod selbst als über die Gefahr, mit einem Schlage vom Träumen ins Nichts hinüberzugleiten. Ein Zucken im Finger, ein unbewußter Druck, und es war für immer um ihn geschehn. Der Mord wäre begangen worden, aber er hätte ihn blindlings begangen … So wäre er bis zum Ende der Narr eines unbegreiflichen Wahnsinns gewesen. Dieselbe gräßliche Nacht hätte ihm der Reihe nach zuerst sein Leben, dann seinen Tod gestohlen. Dieser Gedanke erbitterte ihn.

Noch einmal packte er den Kolben, suchte sich zu sammeln, seine Nerven zu bezwingen. Hätte jemand noch in diesem Augenblick vor ihm gestanden und an seinem unwiderruflichen Entschluß gezweifelt, er hätte ihm ehrlich mit einem Gelächter geantwortet. Er war sicher, den Morgen nicht mehr zu erleben. Und doch leistete sein sich wehrendes Denken bereits heimlichen Widerstand, kämpfte gegen die Bilder des Fieberwahns an. Er hörte den dumpfen, erstickten Knall. Die Kugelspitze durchbohrte das Stirnbein, sprengte die Schädelwand. Das Auge sprang aus seiner Höhle auf den Tisch, und er sah auf dem Tuch den weißen Augapfel in scharlachrotem Schleim … Die Uhr schlug vier.

Der Schrei, den er hörte, war kein Todesschrei, sondern ein wahres Aufbrüllen ohnmächtiger Wut. Die Hand lockerte ihren Griff. Noch schlimmer! Sein Hirn arbeitete schon freier; die mit großer Mühe konzentrierten Kräfte lösten sich, entluden sich in leerer Betrachtung … Er begann zu beobachten, wurde wieder Zuschauer.

Mit solcher Gewalt schleuderte er die Waffe von sich, daß sie sich überschlug und zweimal bis zur Wand aufsprang. Fast sofort lief er hin, hob sie wieder auf und legte sie auf seinen Schreibtisch in Reichweite, betrachtete sie mit einem bald wütigen, bald traurigen Blick und manchmal mit so merkwürdig wirrer und dienstfertiger Neugier … Wirklich, sein Denken richtete sich auf nichts Bestimmtes, glitt von einem Gedanken zum andern. Dann erstarrten seine Gesichtszüge, die Haut der Wangen erbleichte, sein großer Körper richtete sich plötzlich auf, und zwar so jäh, daß er zu springen schien. Das braune, glänzende Ding blitzte von neuem in seiner Hand, näherte sich heftig seiner Stirn. Jede seiner Gebärden war die eines Menschen, der einen Anlauf nimmt, der abspringt; denn der letzte Anfall der Versuchung nach einem feigen Aufschub ist immer der heftigste und rascheste. Nie noch war der schreckliche Priester seinem Ende so nahe gewesen. Und doch: selbst jetzt zerbrach etwas in seinem Herzen. Der rasende Anlauf, der unaufhaltsam schien, brach in sich zusammen, erlahmte: sein Schatten zitterte an der Wand. Und ohne einen Augenblick sein Bewußtsein zu verlieren, stürzte er, nicht in seinem Fleische getroffen, aber gleichsam in dem empfindlichsten Punkte seines Willens, im Lebenspunkte, mit gekreuzten Armen vornüber auf den Teppich und wälzte sich schluchzend auf ihm. Sein ganzes Wesen zerging in scheußlicher Entspannung.

Er drückte die Nase in die dichte Wolle, die bald von Tränen benetzt war, grub sein Gesicht hinein, preßte seine Kiefer darauf. Eine krampfartige Bewegung warf ihn einen Augenblick auf den Rücken, aber um dem unerträglichen Licht zu entgehn, warf er sich alsbald aufbrüllend herum.

 

Es schien, als ob die feindlichen Kräfte, die sich um ihn wie um eine Beute stritten, in diesem Augenblick jede Verstellung fallen ließen und sich über ihm wie zwei Kämpfer packten, die sich über einem Leichnam an die Kehle fahren. Er befand sich in jenem Übermaß von Angst, wo jedes Band gelöst ist, wo der Körper in seiner schmählichen Not am Unglück der Seele selbst teilnimmt, wo er den Schmerz durch kein Zeichen mehr ausdrückt und ihn durch alle Poren ausschwitzt. Abscheuliches und prächtiges Schauspiel, bei dem das Mitleid sich aufbäumen kann! Die Versuchung kann wohl alle Masken annehmen, und es ist eine Täuschung vieler naiver Leute, wenn sie glauben, daß Satan nur als Logiker auftritt. Mancher tückische Greis stellt sich den Teufel so ziemlich unter den Zügen eines gelehrten Widersachers vor, aber doch nur, weil der Beobachter sich bei Spielereien und Kleinigkeiten aufhält. Zuweilen, wenn auch selten, siegt die schwarze Begierde zu schaden über andre, weniger rasche, weniger herbe Wonnen. Dann enthüllt sich das Böse selber, bekennt sich zu seinem Wesen, nicht als eine Form des Lebens, sondern als Attentat auf das Leben. So sprang dieser wütige Haß, der den Abbé Cénabre bisher mit so großem Scharfsinn geplagt hatte, schließlich ganz aus dem Heiligtum seines Gewissens hervor. Die Preisgabe des gemarterten Leibes drückte mit entsetzlicher Deutlichkeit die Vergewaltigung und Entweihung der Seele aus. Denn der Schrecken erreichte seinen Gipfel, als dieser kräftige Körper jeden Widerstand aufzugeben schien, das Leiden auf sich nahm und es verschlang, wie man Schande hinunterschlingt … Ja, einen Augenblick lang war die Demütigung vollkommen.

Er rührte sich nicht mehr, lag der Länge nach ausgestreckt, den Kopf in die gebogenen Arme vergraben. Die Woge des Schmerzes war über ihn hinweggegangen, ohne ihn zu töten. Sein Unglück war vollständig. In dieser Haltung eines gemarterten Tieres das Bewußtsein wieder zu erlangen, demütigte ihn nicht einmal mehr, oder es war die Art der Demütigung, die auf die Lust folgt, eine unheilvolle Selbstentäußerung. Unklar fühlte er sich nicht mehr als Zeugen, sondern als leidenden Gegenstand irgend eines grausamen doppelten Experiments, als Einsatz eines unsühnbaren Kampfes. Als der Haß in seinem Herzen explodierte, hatte er ihm gleich eine so schmerzhafte Brandwunde zugefügt, daß er nur auf sie achtete; aber das war ohne jede Beziehung, ein unpersönlicher Haß, ein Strahl reinen, wesentlichen Hasses. Noch kannte er seinen Gegenstand nicht. Die ungeheuere Verachtung, die ihn derart im Banne hielt, während er das Gesicht gegen den Fußboden drückte, entsprang nicht diesem Haß, sondern einer andern, noch viel geheimnisvolleren Kraft in ihm, die einen Moment durch den blitzartigen Krampf verfinstert war, wiewohl er unklar empfand, daß diese Kraft, wenn sie nicht mehr eingedämmt war und um sich griff, alles mit sich fortgerissen, selbst die Rüstung seiner Seele gesprengt hätte. Ja, die zwei Kräfte schienen einen Augenblick miteinander zu verschmelzen, aber es wurde klar, daß sie gegeneinander wirkten. So grausam sein Haß auch war, er setzte ihn in Verteidigungszustand, straffte ihn empor. Die Demütigung lockerte diesen Widerstand, löste ihn langsam, hartnäckig, mit furchtbarem Scharfsinn. Wenn eine von diesen Kräften den Selbstmord verzögert, dann verhindert hatte, so war es diese.

Der Abbé Cénabre ward sich dessen bewußt. Er begriff, daß sie für die Rückkehr ins Leben, das sie im letzten Augenblick gerettet hatte, ein Gut heischte, das kostbarer war als das Leben: seinen Stolz. Von innen her griff sie diesen Stolz an, löste ihn auf. Das war nicht das Lachen oder die Schmähung: beide hätten den Unglücklichen eher aufgerichtet. Es war eine Traurigkeit voller Bitternis, aber auch voll unbekannter Süße, mit nichts vergleichbar als mit einer Art von zarter, herzzerreißender Klage, einem Ruf aus großer Ferne, dessen Stärke und Fülle jedoch das Ohr schon am Klange errät. Und gewiß hallte er im Herzen nach; er hätte das härteste Herz erschüttert. Sogar das Fleisch antwortete darauf mit einer Art von Erschlaffung, die der Liebe glich, die wie der Schatten der Liebe war. Tränen füllten die Augen des Abbé Cénabre, wie Wasser durch den Stein sickert; mit höchster Angst fühlte er, wie sie sein Antlitz netzten. Er wollte diese Tränen nicht; sie hatten keinen Sinn für ihn. Sie waren das rein sinnliche, undeutbare Zeichen einer Gegenwart, gegen die er sich von Abscheu gepackt fühlte. Es waren gleichsam umsonst vergossene Tränen. Die einfache Hinnahme, der Verzicht auf unnützen Kampf, das Zeichen, das die Niederlage bekennt, bietet sich dem Sieger an. Das allein hätte die wahre Quelle der Tränen geöffnet. Er aber fürchtete diese Befreiung mehr als irgendeine Qual. Er verachtete und haßte sich in seiner Not und Schande, aber er konnte sich nicht bemitleiden: nein, das vermochte er nicht!

An diese Selbstverachtung klammerte er sich, wie man sich im allgemeinen Schiffbruch an den einzigen festen Punkt klammert. Der Stolz, dessen finstere Kampfes weise die feinste und stärkste ist, wurde so, für einen Augenblick bedroht, zum Feuer, schien etwas von sich selbst preiszugeben, während er der armen, im Todeskampfe liegenden Seele doch nur ein falsches, lästerliches Bild der göttlichen Demut darbot. Denn eine starke Natur, die aus der Gnade gestoßen ist, sucht ihr Gleichgewicht weit jenseits jener Selbstzufriedenheit, die die einzige irdische Heiterkeit ist. Und in der scheinbar sinnlosen Wut, die sie so gegen sich selbst kehrt, darf man ohne Zweifel nur den ersten Schwindel der furchtbaren Trunkenheit sehn, deren höchste Vollendung die Hölle in ihrem völligen Schweigen ist.

Zudem bewahrte den Abbé Cénabre auch diesmal von der Angst, die ihn dreimal so gefährlich befallen hatte, eine Erinnerung, die sich auf schwer erklärbar gewordene Handlungen und Gebärden beschränkte. Auch der Revolver auf dem Tuch des Schreibtisches oder die Tränen, deren Quelle er noch nicht versiegen zu lassen vermochte, waren Zeugen seines Wahnsinns. Aber welches Wahnsinns? Konnte der plötzliche Zusammenbruch eines so geregelten, so abgeschlossenen Lebens, das Versagen, ja das Verschwinden, die augenblickliche völlige Auslöschung seines in der ganzen Welt mit Recht berühmten kritischen Sinnes eine andere Ursache haben als ein noch unbekanntes körperliches Leiden? Und wenn man nach der Heftigkeit der Symptome urteilte, war dies Leiden sicherlich schwer. Er prüfte im Spiegel seinen athletischen Körper, den immer noch jugendlichen Blick, die stolze, düstere Miene, zuckte verächtlich die Achseln und wünschte einen Augenblick lang zu sterben, aber mit einer solchen, sein ganzes Wesen erschütternden Heftigkeit, daß er von neuem seine Vernunft wanken fühlte. Wie? Der böse Traum war also noch lebendig? (Er schlug sich mit beiden geballten Fäusten heftig an die Brust.) »Ich bin ruhig, ich habe meine Ruhe wiedergefunden, bin im Vollbesitz meines Selbst«, wiederholte er mit kaltem Zorn. Und mit einem gewissen Pathos, dessen Emphase schon Schauer erweckte, rief er den Tod oder den Wahnsinn in das geschlossene Zimmer. Denn mit aller Kraft mühte er sich, das, was er bereits seine mystische Krisis nannte, völlig von sich zu stoßen, in die Leere der Vergangenheit, in das Nichts des Traums. Er dachte: Ein so plötzliches Zusammenbrechen ohne jede vorherige innere Arbeit, ohne vorangehende Kämpfe, läßt sich kaum mit den Anfechtungen im Glauben verknüpfen, von der die Geschichte der Seelen mir so viele Beispiele geliefert hat. Habe ich den Glauben verloren, so geschah es durch ein unmerkliches Abgleiten, und außer der lächerlichen Angst, die ich empfinde, kann ich nicht erkennen, daß ich anders bin als gestern. Zudem ist diese Furcht vorüber. Der beste Beweis dafür ist, daß ich um nichts in der Welt jetzt den Abbé Chevance rufen würde, den armen alten Tropf! Ich kann mir nicht mal mehr denken, wie und warum ich ihn gerufen habe … Doch … Doch …

 

Er verließ das Zimmer, kehrte in sein Schlafzimmer zurück und setzte sich auf sein Bett. Dem Leiden gegenüber bleibt der Mensch wie ein Kind. Solange er nicht vollkommen zu Boden geschlagen ist, solange er das Zentrum seines Widerstands behauptet hat, den Lebenspunkt, der gleichsam das Gelenk zwischen Leib und Seele und der schwache Punkt der Rüstung ist, sieht der Erwachsene wie das Kind kein anderes Heilmittel für sein Leiden als die kindische, vergebliche Flucht. Auch dem Abbé Cénabre kam dieser dürftige Gedanke … Die internationale Gesellschaft für psychische Studien, deren Vorsitz Frau Eberlein führte, bevor sie in einer Winternacht in ihrer furchtbaren Behausung in Schlettstadt, die von eingebildeten Tieren wimmelte, in Wahnsinn verfallen war, hatte dem berühmten Geschichtsschreiber die Zusage abgenommen, an ihrem Kongreß in Frankfurt teilzunehmen oder wenigstens der feierlichen Schlußsitzung beizuwohnen, um bei ihr einen Vortrag über »die Mystik in der lutherischen Kirche« zu halten. Diese Schlußsitzung war auf den 20. Januar anberaumt, das heißt in neun Tagen, aber der Kongreß war schon seit zwei Wochen eröffnet. Er beschloß, noch heute nach Deutschland zu reisen. Schon allein der Gedanke an ein so plötzliches Verschwinden erleichterte ihm das Herz etwas, so unerwartet er auch bei einem Manne war, der für die pünktliche Erfüllung seiner Berufspflichten, für die Gewissenhaftigkeit, mit der er Verabredungen einhielt, für die regelmäßige Erledigung seines Briefwechsels bekannt war. War das nicht wie ein schüchterner Versuch einer weitergehenden Flucht? … Er schloß die Augen.

. . . . . . .

Er befand sich auf der Straße, fast beklemmt von der Morgenkälte. Langsam zerging der feuchte Dunst der noch dunkelnden Stadt, schlug sich wie ein stehendes Wasser auf den Boden nieder, von dem ihn die frische Luft des frischen Tages geheimnisvoll zurückstieß, gewiß bis in die Keller aus Eisen und Zement, die niemals ein edler Wein erwärmt. Er ging raschen Schrittes, seine Reisetasche in der Hand, beengt von seinem Reiseanzug aus häßlichem englischen Stoff, der ihm seit den letzten Ferien zu enge geworden war. Er hatte ihn noch eben aus dem Koffer gezogen, ohne auf Flecken und Druckfalten zu achten. Doch das Gesicht des berühmten Schriftstellers reizte nicht zum Lachen.

Seine Unkenntnis der Pariser Straßen war groß. Ihre Leere zu dieser Stunde machte ihn irre. Da er unfähig war, die einfachsten Anhaltspunkte zu beachten, zum Beispiel die Straßennamen auf den blauen Emailleschildern zu lesen, ging er fast ins Blaue hinein und richtete sich nur nach Zeichen, die er allein kannte, nach Eckläden, Schaufenstern, irgendeinem bekannten Haus oder gar nach einer zufälligen Erinnerung, die er in seiner Gedankenversunkenheit plötzlich erkannte. Doch die eisernen Rolläden, die tausend geschlossenen Fensterläden, die leeren Bürgersteige waren für ihn wie eine fremde Stadt. So erreichte er den Boulevard de Sébastopol.

Erst in Höhe der Rue de Rambuteau ward er inne, wie dumm eine so überstürzte Abreise war. Er dachte daran, daß er seine Wirtschafterin, sogar die Portierfrau nicht benachrichtigt und ohne Weisungen gelassen hatte. Was sollte man davon denken?

Dann entschloß er sich vor Abgang des Zuges, einen Brief an den jungen Desvignes einzuwerfen, dessen Dienste als Sekretär er zuweilen in Anspruch nahm.

Zeit zur Abfahrt des Zugs. Aber wann fährt er? Bis hierher war er gekommen, ohne es zu wissen, ja ohne sich darum zu kümmern. Solche Zerstreutheit kann man nur einigen unverbesserlichen Windbeuteln zugute halten; aber er erfaßte in diesem Augenblick den ganzen Sinn. Er konnte sich nicht täuschen: er befand sich hier im Widerspruch mit sich selbst, erkannte sich nicht wieder. Als ordentlicher, häuslicher Mann hatte er sonst vor jeder Reise den Fahrplan mit einer Genauigkeit ausgearbeitet, über die seine wenigen Freunde sich lustig machten. Daß er so jäh mit diesen Gewohnheiten, ja selbst mit diesen Eigenheiten brach, die doch einen wesentlichen Teil seines Lebens ausmachten, das allein hätte ihn nicht verwirrt. Doch er mußte sofort erkennen, daß dieser Bruch ungewollt war. Die Vergeßlichkeit war handgreiflich, nicht wegzuleugnen; sie zeugte bescheidentlich, doch unwiderleglich, für seine tiefe innere Verwirrung. Die Enttäuschung darüber war so grausam, daß der unglückliche Priester, von dem vergeblichen Kampfe angewidert, den Kopf hängen ließ und bedachte, ob er nicht umkehren und als Besiegter nach Hause zurückkehren solle. Das Bild des Zimmers, das er eben verlassen hatte, trat vor sein Auge, einst freundlich und traulich, aber jetzt für immer mit einer gräßlichen Erinnerung gezeichnet … Plötzlich stockte sein Atem, und sein Mund wurde trocken. Ein Blitz des Verstandes sagte ihm, daß er auf seinem Schreibtisch alles hatte liegen lassen, den Revolver auf dem Tisch, die zerbrochene Lampe auf dem Boden – lauter Spuren des dunkeln Kampfes. Seine Soutane hatte er in eine Ecke geworfen – ein Durcheinander, das am hellen Tag gewiß noch unerklärlicher erscheinen mußte. Dieser letzte Beweis seiner Ohnmacht schmetterte ihn nieder. Und schon ging er mit kurzen Schritten den Boulevard hinauf zurück, kehrte zu seinem Schicksal heim.

Je weiter er schritt, etwas abgespannt von der Anstrengung, siegte die Beschämung darüber, der Furcht vor einer eingebildeten Gefahr nachzugeben, abermals über diese Furcht. In der Rue de Rivoli entschloß er sich, bleich vor Wut, um jeden Preis an seinem ersten Plane festzuhalten, auch wenn es einen Skandal geben sollte. Er wollte nach Deutschland reisen, und da er ja gezwungen war zu fliehen, wollte er so weit entfliehen, wenn möglich noch viel weiter. Die Erklärungen und Entschuldigungen verschob er auf später. Diese Abreise besiegelte seine Niederlage, aber eine Niederlage, die man annimmt und nicht völlig erleidet, ist niemals ein nicht wieder gutzumachendes Unglück. Er gab das Gelände auf und bewahrte die Hoffnung auf Vergeltung. Anstatt noch unverzüglich, ohne entscheidende Gewissensprüfung, dem seltsamen Feinde die Stirne zu bieten, der ihn schon niedergeworfen hatte, lief er geradenwegs in sein Verderben, oder wenigstens in neue, noch demütigendere Verirrungen hinein. »Ich habe Luftveränderung nötig«, brummte er. Die Einfachheit und Gewöhnlichkeit dieses Rates, den er sich da gab, war ihm eine Wonne.

Als er das Portal der Kirche Saint-Laurent erreicht hatte, war es Tag geworden. Die Uhr des Westbahnhofs, vom Morgenrot übermalt, zeigte fünf Uhr. Links zog ein schlaftrunkener, bleicher und schmutziger Cafékellner den Rolladen mit lautem Eisengeklirr hoch. Er warf dem frühen Passanten einen unbeschreiblichen Blick zu. Der Abbé Cénabre trat bescheiden ein und nahm Platz.

Seine Einsamkeit war so groß, daß er instinktiv hineinging, wie man sich auf einem verlassenen Schlachtfelde neben einen Unbekannten legt, um zu sterben. Mit tiefem Seufzer ließ er sich auf die schmale Bank nieder und folgte dem Hin- und Hergehn seines einzigen Gesellschafters mit fast verstörtem Blick, der jeden Denkens bar, aber voll dunkler Zärtlichkeit war. Der Kellner hatte schon Respekt vor diesem geheimnisvollen Gaste bekommen, in dem er irgendeinen harmlosen Betrunkenen witterte, der eine Nacht voll beneidenswerter Genüsse hinter sich hatte. Ohne ein Wort stellte er eine Tasse heißen Kaffee und ein Gläschen Branntwein brüderlich auf den Tisch. Dann fuhr er mit berufsmäßiger Zurückhaltung, in der sich schon ein Aufkeimen der Freundschaft zeigte, damit fort, die Tische mit einem fettigen Wischlappen heftig abzureiben, wobei er mit dem Absatz seiner Pantoffel auftrat.

Da regte sich zum zweitenmal eine Stimme des Mitleids im Herzen des Abbé Cénabre, und er fühlte, wie seine Augen sich mit den gleichen unerklärlichen Tränen füllten, die ihm schon einmal geschenkt worden waren und die er unterdrückt hatte, – die letzte Erfindung des Erbarmens, das überall giltige Lösegeld! Wie viele Menschen, die gleichfalls wähnten, sie seien den Unternehmungen der Seele für immer entgangen, erwachten in den Armen ihres Engels, nachdem sie an der Schwelle der Hölle das himmlische Geschenk der Tränen wie eine neue Kindheit empfangen hatten! Er ließ den Kopf zwischen seine Hände sinken, gab sich hin. Seine ganze Abwehr bestand nur darin, daß er seine Aufmerksamkeit ablenkte, sie im Leeren ließ, sich bemühte, grundlos zu weinen, wie man sich ausstreckt, um zu schlafen oder zu sterben. »Ich habe lange Zeit aus Ermüdung und aus Ekel geweint«, hat er später geschrieben … Doch als er das schrieb, wußte er wohl, daß er log. Denn je länger dies feierliche Naß zwischen seinen Fingern hervorquoll und bis auf den gemeinen Marmortisch tropfte, floß auch alle Müdigkeit dahin. Er fühlte in sich das Beben einer ungeheuern Kraft, gegen die sein gebrochener Wille sich nur mit großer Mühe stemmte. Wer hatte ihn doch hierher geführt, so weit weg von der kleinen Welt, in der er gelebt, aus der er seine Kraft gesogen hatte, in der sein Stolz sich entfaltete, wo er seine Gewissensbisse genährt hätte, um ihn nun allein, in seiner lächerlichen Verkleidung, so völlig sich selber auszuliefern? Daß ein Bedauern an die Oberfläche seiner inneren Finsternis gestiegen war, daß auch nur eine Erinnerung an seine Jugend, die durch Berechnung und Betrug schon so früh zerstört worden, aber wenigstens einen Augenblick lang redlich und gläubig gewesen war, in das Gebiet seines Bewußtseins gedrungen war, das genügte, um das Schweigen zu brechen, das er verzweifelt aufrechterhielt, das er mit aller Kraft dem siegreichen Gott entgegenstellte. Gewiß, soweit man in einer solchen Sache urteilen kann, vollzog sich gerade hier sein Schicksal. Keiner wird in den Abgrund gestürzt, bevor er sein Herz mit Gewalt der furchtbaren und sanften Hand entrissen hätte, bevor er ihren Druck gespürt hätte. Keiner wird verlassen, der nicht zuvor die wirkliche Lästerung begangen hätte, indem er Gott nicht nur in seiner Gerechtigkeit, sondern auch in seiner Liebe verleugnete. Denn das furchtbare Kreuz von Holz kann sich gleich am ersten Kreuzweg aufrichten, um uns ernst und streng zurückzurufen; aber das letzte Bild, das uns erscheint, bevor wir uns für immer entfernen, ist jenes andere Kreuz von Fleisch, sind die zwei ausgestreckten Arme des bejammernswerten Freundes, wenn sich der höchste Engel mit Schrecken vom Angesicht eines getäuschten Gottes abwendet.

Über diese entscheidende Durchsetzung mit dem Bösen schweigt der Moralist sich aus. Seine These lautet: die Vollkommenheit des Innenlebens entspringt aus einer Art von Gleichgewicht der Instinkte. Diese These ist von einer so schmutzigen Armseligkeit, daß mancher für die Freiheit geborene Geist sich lieber in völlige Gleichgültigkeit gestürzt hat, als sich mit diesem groben Bilde der geistigen Welt abzufinden. Das Nebensächliche ist darin zur Hauptsache erhoben, und aus diesem Grundirrtum entsteht eine theoretische Konstruktion, die in ihrer falschen Evidenz, ihrer rohen Logik auf einer Stufe mit der mechanischen Erklärung der Lebensvorgänge steht. Gewiß kann man sagen: der unselige Mann, auf dem in diesem Augenblick die Last einer dreißigjährigen Lüge lag, die so völlig in ihm aufgegangen war, daß sie gleichsam zu seinem Wesen, zu seiner tiefen, schicksalsvollen Natur geworden war, gab sich, von weither kommend und in fast unmerklichen Stufen dem in die Hände, der, selbst in der Zeit seines Glanzes, gewillt sein konnte, alles zu erfassen und in seinen ungeheuern Lichtkreis hineinzuziehn, der aber nie gesegnet hat, ein ungeheuerer Verstand, den die im göttlichen Urgrunde flüchtig erschaute Liebe plötzlich in die Nacht hinabgestoßen hat. Aber so listig der Feind auch sein mag, seine scharfsinnigste Bosheit vermag der Seele doch nur auf einem Umwege beizukommen, wie man eine Stadt bezwingt, indem man ihre Quellen vergiftet. Er täuscht das Urteil, beschmutzt die Einbildungskraft, bringt Fleisch und Blut in Aufruhr, benutzt mit vollendeter Kunst unsere eigenen Widersprüche, führt unsere Freuden auf Abwege, vertieft unsere Trübsale, fälscht die Handlungen und Absichten in ihren geheimsten Beziehungen: hat er aber derart alles umgestürzt, so hat er noch nichts zerstört. Von uns muß er die letzte Einwilligung erlangen, und er erhält sie nicht, ohne daß Gott seinerseits gesprochen hat. So lange er auch geglaubt hat, die göttliche Gnade hinauszögern zu können, sie muß doch hervorbrechen, und dieses notwendige, unvermeidliche Hervorbrechen erwartet er in ungeheuerer Angst; denn seine geduldige Arbeit kann in einem Augenblick vernichtet werden. Wo wird der Blitz einschlagen? Er weiß es nicht.

Als der Abbé Cénabre aufblickte, sah er sich dem schlichten Zeugen dieses Vorgangs gegenüber, der ihn mit seltsamem, dumpfem Mitleid betrachtete, das ebenso erschütternd ist wie der flüchtige Lichtschimmer im Blick der Tiere. Er entfloh.


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