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Wer sieht nicht gern in Hülle und Fülle vor sich, was er gern haben möchte.
Kein Wunder, daß sich die Berliner durch die Türen des neuen Geschäftshauses drängten, von dessen bunter Reichhaltigkeit die lange Reihe der Schaufenster einen Vorgeschmack gaben.
Hier lag nichts eingeschachtelt und eingewickelt, wie eine Rarität. Hier türmte sich in Haufen, was man sich wünschte und brauchen konnte.
Das war etwas Neues. Etwas Praktisches. Etwas Großstädtisches.
Und daß es von dem soliden Herrn Spreemann ausging, erhöhte das Vertrauen.
Hier bekam man etwas zu sehen, ohne gleich mit dem Portemonnaiedeckel knipsen zu müssen.
Bunte Pyramiden aus Seifenstücken, Ketten aus Seidenschlipsen, Soldatenzelte aus Bleistiften und Taschentüchern.
Ein Weihnachtsmarkt für Erwachsene.
Das war Christians Werk.
Jeder hat ein Talent, er muß es nur herausfinden.
Christian mit seinem spielerischen Sinn und dem praktischen Blut der Väter war der geborene Dekorateur. Er hatte gebaut und getürmt. Unermüdlich und verblüffend.
Sein Hauptwerk war ein Spreekahn aus Gummischuhen, mit einem Stiefelknecht als Steuer, zwei Schuhanziehern als Ruder. Die Fracht bestand aus kleinen Büchsen aus Perleberger Wichse. Die nur einen Groschen kosteten und die sich jeder, traumverloren und überwältigt, kaufte. Denn hier staute sich die Menge staunend von früh bis abends.
Der Berg billiger Pantoffel, der sich neben jenem heimatlichen und doch phantastischen Kahn aufstapelte, war im Handumdrehen ausverkauft und mußte immer wieder neu aufgeschüttet werden. Wie die Kohlen auf einer Lokomotive.
Und ebenso erging es mit der »Konkurrenzkrawatte«. Sie war dreifarbig wie die neue deutsche Fahne und verkaufte sich wie warme Semmeln in den Hungerjahren.
Man konnte sich bei ihrem langen Namen alles und nichts denken.
Aber Hans erklärte ihre Bedeutung.
»Höchst effektvoll, meine Herrschaften«, sagte er, die Konkurrenzkrawatte mit geschicktem Griff bindend und wieder aufknotend.
In tadellosem Gehrock lächelte Hans seine kauflustigen Mitbürger an. Ließ er die verkauften Seidenstreifen von einem eifrigen kleinen Lehrling, der stets in erwartender Ehrerbietung neben ihm stand, überschnell in buntes Papier wickeln, um sie dann selber Käufern oder Käuferinnen mit vornehmer Verbeugung zu überreichen.
»Effektvoll und billig«, tönte es immer wieder über der sich drängenden Menge.
Genauso wie Spreemann senior stets jedem an gleicher Stelle: reell und billig versichert hatte.
Geschäft bleibt Geschäft. Nur die Wände tüncht man neu. Nur kleine Nuancen färben das Zeitkolorit.
Spreemann selber stand zwischen Tür und Kasse. Im gut sitzenden Gesellschaftsrock wie seine Söhne. Den grauen Bart gebrannt und gekräuselt. Er bekam manchen beglückwünschenden Händedruck, er stand gerade und gemessen da, aber es entging ihm kein Geldstück, das der Kassierer einnahm oder wechselte.
Auf den Stufen vor dem Privatkontor, auf der neuen Treppe, die zu den Räumen führte, wo sie ein Leben lang geschaltet und gewaltet hatten, stand Mutter Lieschen im Schwarzseidenen mit echten Spitzen, wie eine Göttin auf einem Piedestal. Ihr zur Seite grüßten die beiden jungen Frauen Spreemann, in etwas locker gearbeiteten Kleidern, in die Menge.
»Wie ein Museum«, sagte Lieschen immer wieder und atmete schwer vor Erregung.
»Wie ein Museum. Ich bin überzeugt, der Kaiser kommt selbst, um sich das anzusehen.«
Und schon stieß sie einen lauten Ruf der Überraschung aus und verbeugte sich grüßend weit über das Geländer.
Die jungen Frauen folgten in vorsichtiger Neugier ihrem Beispiel.
Was man da sah, gehörte zwar nicht zum kaiserlichen Hof, aber es war auch stattlich und nicht alle Tage im Spreemannschen Gesichtskreis sichtbar.
Es war Mariechen aus Dresden, die da mitten im Gedränge einen tüchtigen Raum des Geschäftslokals beanspruchte.
Ilka, die seit ihrer Pensionszeit im schriftlichen Verkehr mit ihr geblieben, hatte ihr so viel von diesem An- und Auf- und Zubau geschrieben, daß sie kein Wort davon geglaubt hatte. Aber doch neugierig geworden war. Sie hatte also ihrem Mann gesagt, daß sie das begreifliche Bedürfnis habe, wieder einmal das Grab ihrer Mutter zu besuchen, und war abgereist. Ihr Gatte hatte ihr gern die Erlaubnis erteilt. Denn ihre eheliche Gemeinschaft bestand hauptsächlich darin, daß Mariechen ihm seinen Furunkel im Nacken verband. Und der war im Augenblick vollkommen geheilt.
So stand also Mariechen mitten in Spreemann & Co. Sie war sprachlos über die großartige Veränderung um sie herum und hätte sicher einen der starken Gallensteinanfälle bekommen, an denen sie schon seit Jahren litt, wenn sie sich nicht sofort, gesagt hätte, daß Hochmut vor den Fall kommt. Daß diese prahlerische Aufmachung nicht gut ablaufen konnte. Wer sollte all diese tausend verschiedenen Sachen auf einmal kaufen? Da mußte über kurz oder lang die Vergeltung kommen.
Wie ein Gebet hatte sie diese Einkehr in sich wieder aufgerichtet.
Und mit einem Lächeln echter Herzlichkeit keuchte sie nun die Stufen empor, Lieschen und ihren Schwiegertöchtern entgegen.
Trotzdem sie den Wert der Brüsseler Spitzen sofort erkannte, gab sie Lieschen einen verwandtschaftlichen Kuß und küßte auch Ilka und Annalise.
Sie erzählte, daß sie gekommen wäre, um Tante Karolines teures Grab zu besuchen, und erstaunt und beglückt sei über die großartige Veränderung, die sie hier unvermutet vorgefunden.
Aber dann fühlte sie doch eine Art Übelkeit in sich aufsteigen von dem Geräusch des ständigen Geldgeklappers, das von der Kasse her hinaufklirrte. Sie sagte, daß sie die Ermüdung der Reise fühlte; und man führte sie in das Privatkontor, wo zur Feier dieses Tages ein kleines Frühstück vorbereitet war.
Lieschen, erfüllt von freudiger Erregung, war glücklich, daß Tante Karolines Tochter an diesem denkwürdigen Tage zugegen war. Sie schenkte ihr Wein ein und bot ihr Mayonnaise, Lachs und Pute auf einmal an.
Mariechen sagte, daß ihr der Arzt leider das Essen ganz und gar verboten habe, und legte sich, wahrscheinlich in gedankenloser Ermüdung, eine große Portion Hummermayonnaise auf den Teller.
Aber zu Lieschens Beruhigung, die, wie alle guten Hausfrauen, nicht sehen konnte, daß etwas umkam, aß sie auch alles, bis auf das letzte Stückchen, auf. Auch Lachs und Pute verschmähte sie nicht. Nur des Vergleichs halber kostete sie davon. Denn sie wollte sehen, ob man jetzt in Berlin anders koche als in Dresden.
Wenn man sein Wissen bereichern will, muß man an den Geist und nicht an den Körper denken.
Mariechen ging sogar so weit in ihrem Wissensdrang, daß Mutter Lieschen schon beunruhigt wurde, daß die überanstrengten Herren nicht mehr genügend vorfinden würden, um sich stärken, zu können.
Aber um die Mittagsstunde vergönnten sie sich, einer nach dem andern, ein halbes Stündchen Ruhe. Man aß, trank und stieß mit dem Gast und unter sich an. Auch Herr Slovitzka fand sich ein.
Man hörte selbst hier, wenn auch gedämpft, das Geraune der Kauflustigen, das Geklirr der Kasse.
Der Laden wurde den ganzen Tag nicht leer.
Lieschen wollte nicht eher fort, als bis sie die neue Beleuchtung gesehen. Endlich stand der erste Stern am klaren Winterhimmel. Die lange Reihe der Gasflammen leuchtete auf. Es war wie eine Illumination.
Lieschen mußte an die Schlacht bei Sedan, an Christians Heimkehr, an viele königliche Geburtstage denken, und die Tränen kamen ihr in die Augen.
Ganz benommen ließ sie sich in einen Wagen packen, wo sie neben dem schweren Mariechen gerade so viel Platz hatte, um sitzen zu können.
Erst als man durch das Potsdamer Tor kam, richtete sie sich erschreckt auf und sagte:
»Mit der Pferdebahn hätte es ein Fünftel gekostet.«
Aber Mariechen erwiderte:
»Ich wundere mich, daß ihr noch keine Equipage habt.«
Lieschen wußte nicht, ob dies Spott oder Ernst war, aber sie mußte plötzlich wieder an den Kutscher denken, der sie in den Himmel gefahren, ohne daß sie ihn bezahlt hatte.
Sie war todmüde vor Aufregung. Aber sie war gewohnt, nicht viel Wert auf sich zu legen. Kaum daß sie zu Hause war, sorgte sie für den Tee, weil Mariechen danach verlangte. Nicht um Umstände zu machen, sondern weil sie es einmal gewohnt war.
Andern Gutes zu tun belohnt sich.
Der Tee belebte auch Lieschen.
Als sich nach Schluß dieses großen Geschäftstages Spreemann & Co. und Schwiegertöchter einfanden, war Lieschen wieder munter und für jeden hör- und hilfsbereit wie immer.
Selbstverständlich mußte das stattliche, liebe Mariechen ihr eigner Logisgast werden.
Spreemann meinte, ob sie nicht besser täte, zu Herrn Slovitzka überzusiedeln. Er wohnte jetzt sehr elegant. Unter den Linden, hatte stets Mariechen für eine Weltdame erklärt und ihr auch eben noch eine elegante Schachtel mit Deikels Katharinenpflaumen überreicht, weil er gehört, daß diese starken Leuten besonders bekömmlich sein sollten.
Aber als er den Vorschlag vernahm, strich er seinen dicken Schnurrbart, der allen Leuten zum Trotz unverändert schwarz geblieben war, und sagte, daß er mehr als glücklich sein würde, Frau Mariechen als seinen Gast zu sehen, daß er aber als einzelner Herr nicht einer einzelnen Dame einen solchen Vorschlag machen dürfe, ohne ihren Ruf zu gefährden.
Mariechen bedauerte, daß ihr Gatte nicht diese edlen Worte mit anhören konnte, und versuchte, ihre einhundertzwanzig Kilo in eine kokett graziöse Haltung zu zwängen. Spreemann machte nun auf Ilkas Badewanne aufmerksam. Das war gewiß etwas, was Mariechen in Dresden noch entbehrte.
Aber Mariechen sagte, daß sie im Winter keinen Wert auf Bäder lege. Es wäre ihr genug, daß ihr hier ein Klavier zur Verfügung stände. Seit sie keinen Dackel mehr habe, wäre Musik ihre einzige Zerstreuung.
Darauf wußte niemand mehr etwas zu sagen. Musik, das zarte Bindemittel verwandter Seelen, hatte entschieden.
Mariechen blieb. Am Tage schwatzte sie asthmatisch neben dem häkelnden Lieschen, und am Abend sang sie.
Am ersten Tag war eine kleine Verwirrung entstanden. Trotzdem der Arzt Mariechen jedwedes Essen verboten, blieb von dem guten Mittagsmahl nichts für die Dienstboten übrig. Auch am Abend war es noch knapp.
Lieschen schalt sich und dachte erschreckt, ob sie das Wirtschaften verlernt hätte, seit die Jungen aus dem Hause waren.
Aber als sie dieselben Portionen kochen ließ wie zu der schönen Zeit, wo die Zwillinge im größten Wachstum waren und wie Löwen fraßen, reichte es und alles war in Ordnung.
Das Lieblingslied Mariechens hatte einen wehmütig schwermütigen Refrain, wie er zu einem vollen Herzen – wie nahe sitzt das Herz beim Magen – paßte:
Ja, es lacht oft der Mund,
Oft ist heiter das Gesicht,
Wenn das Herz dabei weint,
Wenn das Herz dabei bricht.
So hieß dieses immer wiederkehrende Ende vom Lied, das Mariechen wie ein von der Zeit schon etwas mitgenommener Leierkasten langsam und deutlich hervorfauchte.
Spreemann und seine Söhne waren jetzt daran gewöhnt, ihre geschäftlichen Angelegenheiten zu besprechen, auch wenn Geräusch und Lärm um sie her war. Sie achteten gar nicht darauf.
Ilka und Annalise aber bekamen hinter dem breiten Rücken der Sängerin solche Lachanfälle, daß der Gesang bei ihrem augenblicklichen Gesundheitszustand beinahe eine Gefahr für sie bedeutete.
Lieschen, die Mariechen schon in der Jugend hatte singen hören und den Abstand nicht so groß fand, sagte, daß die jungen Frauen kein Pietätgefühl hätten und daß sie froh sei, daß ihr neues Klavier ein bißchen zur Geltung käme.
Trotzdem weinte die leicht Gerührte nicht, als Mariechen vom Heimreisen zu sprechen begann. Sie wollte zu Weihnachten zu Hause sein. Ihr russischer Gatte, dessen Furunkel noch immer heil unter einem großen Pflaster ruhte und der sich seine freien Stunden sehr hübsch zwischen Pikett- und Whistpartien einzuteilen verstanden hatte, schrieb zwar, daß sie ruhig fortbleiben könne, solange sie wollte.
Mariechen aber sagte, daß sie dieses Gattenopfer, nicht annehmen wolle, denn sie wisse, wie sehr ihr Alexander sie vermisse.
So verließ sie einen Tag vor dem Weihnachtsfest Verwandte und Vaterstadt. Sie hatte sich ausgerechnet, daß sie hier mindestens sieben Personen hätte beschenken müssen. Das war ihr zuviel. Sie hätte natürlich auch Geschenke erhalten, aber sie kaufte sich lieber selbst, was sie brauchte.
Alle begleiteten sie zur Bahn.
Einen Verwandten abreisen zu sehen, galt dem Berliner stets als Familienfest.
Mariechen war nur schwer durch die Türöffnung des Eisenbahnwagens zu schieben. Zumal sie noch in jeden Arm ein Paket mit Mundvorräten geklemmt hatte.
Aber es gelang schließlich doch, und niemand ahnte, daß es ihre letzte Reise sein sollte. Daß niemand sie wiedersehen würde.
Und doch war es so.
Sie aß am Silvesterabend so reichlich Grünkohl, daß es ihrem zu immer neuer Arbeit gehetzten Magen zuviel wurde. Er wollte auch einmal wissen, was Festtag sei. Er gab ihrem gewiß nicht bösen, aber schwerfällig gewordenen Herzen einen wütenden Puff. Vor Schreck darüber vergaß es zu schlagen und legte sich unter dem schweren Hügel von Grünkohl zur Ruhe.
Spreemann, der am wenigsten Notiz von Mariechens Anwesenheit und Abreise genommen hatte, war von ihrem raschen Ende mehr erschüttert als alle andern.
Er war in dem gleichen Alter wie Mariechen.
»So fortgerafft in der Blüte der Jahre«, sagte er bewegt und war viele Tage ernstlich verstimmt und bedrückt.
Lieschen hatte gehofft, daß vielleicht irgend jemand im Testament bedacht sein würde. So etwas kam doch manchmal vor in guten Familien.
Aber das erwies sich als falsche Vermutung.
Mariechen hatte bestimmt, daß, was ihr an Geld persönlich gehörte, zur Gründung eines Entbindungsheimes für Dackel verwendet werden sollte.
»Gott hab sie selig«, sagte Lieschen, als sie, schluchzend, von diesem Vermächtnis erfuhr.
Sie hatte keinen Abscheu vor Dackeln. Wenigstens lange nicht so wie vor Ratten und Mäusen. Und die Toten soll man ruhen lassen.
Aber trotz alledem konnte sie Mariechens letzten Willen nicht billigen.