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Zweiter Teil

1

Doch auch auf Zehenspitzen geht die Zeit ihren Weg, nimmt und gibt, färbt und feilt, schenkt und stiehlt. Ohne Hände, ohne Werkzeug. So daß wir oft genug erst lange nachher spüren, daß sie am Werk gewesen.

Bald konnte Spreemann seine Zwillinge mühelos unterscheiden. Denn Hans, der seine Weltreise etwas früher begonnen als sein Bruder und darum der ältere genannt wurde, hatte plötzlich einen dicken Haarschopf auf dem kahlen Köpfchen. Braun wie Manchestersamt. Über Christians zarter Stirn aber flockte sich auf einmal ein blonder Flaum. Gelb wie Nankingseide. Sie waren nicht mehr zu verwechseln.

Sie gaben sich alle Mühe, komplette Bürger zu werden.

Als der gute Bratenduft der Martinsgans durch die warme Wohnung zog, streckten sich aus den kleinen Gaumen die ersten weißen Zähne hervor.

Die waren allerdings nicht heimlich gekommen.

Einen ganzen Monat lang war Spreemann die Nächte hindurch auf und ab marschiert und hatte einem schreienden Leinenbündel killekill zugewispert. War er unermüdlich bemüht gewesen, durch den tanzenden Zipfel seiner Nachtmütze oder die hüpfende bunte Quaste seines Schlafrocks lächelnde Ruhe bei seinem Nachwuchs zu erzwingen.

Sein Lieschen hatte dieses Los redlich geteilt, nur daß sie ein klingelndes Glöckchen anwandte und türüllüllü flötete.

Der ganze Profit dieser Mühen waren vier Zähne gewesen. Es fehlten somit noch dreißig pro Mund. Summa summaruim sechzig.

Sanitätsrat Knapp steckte seinen tabakbraunen Zeigefinger in die kleinen Münder und stellte wenigstens den Besitz dieser ersten Zähne wissenschaftlich fest.

»Ein Wunder ist diese menschliche Maschine«, sagte er und nahm befriedigt eine Prise. »Ein Wunder an Feinheit und Zuverlässigkeit«, fügte er hinzu und mußte niesen.

Spreemann sagte: »Zum Wohl!« Aber er schüttelte den Kopf dabei.

Ein Wunder ist nur, was sich unerwartet ereignet. Das konnte niemand von diesen Zähnen behaupten.

Spreemann schüttelte noch einmal den Kopf und sagte:

»Daß alle Menschen das durchmachen müssen, unglaublich.«

»Als Kinder?« fragte der Arzt.

»Als Eltern«, antwortete Spreemann.

»Ach so. Ja, sehen Sie, lieber Freund, zwei auf einmal, das ist auch ein ganz besonderes ...«

Sanitätsrat Knapp unterbrach sich. Er hätte beinahe Malheur gesagt. Aber nun sagte er eilig:

»... Glück. Ein ganz besonderes Glück.«

Spreemann schwieg.

Knapp räusperte sich und stand auf.

»Nun muß ich zu Ihrem Verwandten, dem Gerbermeister«, sagte er, als er in seinen schweren Pelz kroch. »Leider steht es nicht gut mit dem Alten.«

Spreemann rechnete nach, daß er noch vor drei Tagen am Stammtisch gewesen.

»Was will das sagen, mein Lieber. Fünfundsiebzig Jahre und Grippe. Der große Kalendermann rechnet genau.«

Sanitätsrat Knapp gab jedem der Zwillinge einen zärtlichen Klaps auf ihre rundeste Stelle. Dann ging er.

Klaus und Lieschen blieben nachdenklich zurück.

Aber da kam der Lehrling herauf und meldete, daß die Madame Bankier nur vom Herrn Prinzipal selbst bedient sein wolle. Und so konnte das Ehepaar nur rasch übereinkommen, am morgigen Sonntag Onkel Albert zu besuchen.

Doch schon am Abend war die Trauerbotschaft da. Onkel Albert hatte keine Rücksicht auf die Pläne seiner Verwandten genommen.

Sein Begräbnis war die erste Feierlichkeit, wo Lieschen seit ihrer Hochzeit die ganze Familie wiedersehen sollte. Spreemann führte die Mutter seiner Zwillinge feierlich am Arm, als man zwischen den Gräberreihen dem Sarge nachschritt. Madame Spreemann trug einen großen Immortellenkranz und eine neue Pelzgarnitur, die mit allem Glanz der Grabsteine wetteifern konnte. Ein großer, breiter Schal und einen großen Muff, alles aus hellem Nerz. Spreemann hatte Lieschen damit überrascht. Sie sollte zeigen können, wer Madame Spreemann war. Wenn es ihm auch lieber gewesen wäre, wenn er diesen Einkauf hätte im Frühling machen können, wo Pelze die Hälfte kosten. Aber für solche traurigen Ereignisse gab es leider keinen festen Termin.

Auch war das Geld dafür nicht weggeworfen. Schon eine Woche später mußte sich alles, was noch da war, um einen neuen Sarg versammeln. Madame Ziehlke, die ihren Mann nie gern allein ausgehen ließ, folgte ihm eilig. Und Sanitätsrat Knapp hatte wieder einmal der Natur ihren Lauf lassen müssen.

Nun hatte der Sohn die Gerberei und bald eine Frau. Die Töchter stritten sich um die elterlichen Möbel. Madame Ziehlkes Heiligtum, eine Vitrine aus Glas und Ebenholz, mit Regalen aus lila Sammet, schuf bittere Feindschaft zwischen ihnen. Denn jede Tochter wollte sie in ihre Mühle haben, und beide vergaßen, daß sich zwar eine Mutter teilen läßt, aber kein Schrank. Selbst wenn er noch so schön und fein ist.

Sie hatten also reichlich untereinander zu tun und wenig Zeit, sich um die Familie Spreemann zu kümmern.

Dagegen hatte sich Tante Karoline wieder eingestellt. Sie kam häufig und immer häufiger.

Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen. Der Russe hatte Mariechen geheiratet. Aber er hatte sie auch nach dem großen Rußland mitgenommen. Nun war sie allein. Ganz allein.

Wie anders sehen Wünsche aus, wenn sie erfüllt sind.

Karolines Gesicht war verändert. Es war schlaff geworden, seit es nicht mehr von aufreizender Erwartung gespannt war. Um ihren Mund lag das nachsichtige Lächeln weißhaariger Menschen.

Sie freute sich an den Zwillingen und fand, daß sie sich genauso benahmen, wie es ihr Mariechen in ihrem Alter getan.

Nur wenn die Frau Kreisrätin zu Besuch kam, reckte sie sich auf, erzählte von Mariechens Wohlstand und sagte in ihrem alten Ton:

»Es soll ja ein ganz enorm großes Reich sein, dieses Rußland. Nicht einmal die Sonne geht darin unter.«

Ganz wie wenn Mariechen die Zarin selbst geworden wäre.

Aber wenn die Rätin gegangen war, lächelte sie wieder mild und müde und war dankbar und zufrieden, daß sie noch hierbleiben konnte, wo Worte und Schritte, ja sogar Kinderstimmchen durch die freundlichen Stuben schallten.

Bei ihr war es still wie in einer Gruft.

So ersetzte sie den Zwillingen die Großmama. Und Lieschen, die niemals Verwandte gehabt, holte sich manchen weiblichen Rat bei ihr.

Aber auch Spreemann kamen ihre Besuche durchaus gelegen. Er sah ein, daß zu einer ordentlichen Familie eine Großmama nötig war. Zumal da, wo es Zwillinge gab. Er trat alle seine Rechte an sie ab.

Er sprach lang und viel mit ihr über Menschen und Kinder. Er hatte sich das Vaterdasein friedlicher vorgestellt. Man wurde doch von allen Seiten dazu beglückwünscht. Das fand er übertrieben.

Tante Karoline aber malte ihm aus, wie die Zwillinge in Matrosenanzügen zur Schule gehen, wie sie mit feinen Seidenschlipsen hinter dem Ladentisch stehen würden, und erinnerte ihn daran, wie rasch und gründlich die Zeit arbeitete. Sie selbst war ein Beweis dafür. Es war ihr oft wie ein Traum, daß es nicht ihr Mariechen war, das sie da zappelnd im Arm hielt. Daß es nicht ihr Seliger war, der da draußen die Tür aufschloß und nun hereinkommen würde, um zu fragen, ob es Pellkartoffeln mit Hering gäbe. Denn das war sein Lieblingsgericht gewesen.

Spreemann hörte ihr geduldig zu, aber als sich die Zwillinge um die Backenzähne zu mühen begannen, meinte er doch, daß es Kinder unter sechs Jahren nicht geben sollte.

Es war das erstemal, daß der solide und praktische Herr Spreemann Unmögliches begehrte.

Aber die Wirklichkeit nahm es ihm nicht übel und blieb ihm treu.

Rasch und emsig reihten sich die guten und mäßigen Jahre aneinander. Beinahe im Umsehen war der Tag da, wo Hans und Christian mit neuen Kittelanzügen, einen Lederranzen auf dem Rücken, quer über den Platz zur Schule trabten.

Die Bäume hatten die ersten Knospen angesteckt. Die Spatzen zwitscherten und flatterten frühlingsvergnügt zwischen Pferdebeinen und Baumgezweig. Alles war genau wie damals, als Spreemann mit der Bürgerwehr anmarschiert kam und seine Zwillinge vorfand.

Ein kleiner Schreck durchzuckte ihn, als er ihnen nun hinter der Ladenscheibe nachblickte. Über die sonnigen Steine hüpften sie ihren ersten Pflichten entgegen. Sie spielten zwar Eisenbahn, Hans war die Lokomotive und Christian der Kohlenwagen. Aber sie fuhren doch ins wirkliche Leben hinein.

Spreemann räusperte sich. Beinahe hätte er der kurzsichtigen Madame Inspektor zehn Zentimeter übers Maß gemessen. Aber zum Glück merkte er es noch, ehe es zu spät war. In größter Geschwindigkeit verlegte sein gewandter Zeigefinger den Start für die Schere um gut zwölf Zentimeter zurück. Das war die Geschicklichkeit, von der er zu seinen Angestellten sagte, daß sie einem guten Kaufmann angeboren sein müsse.

Es war merkwürdig still heute vormittag. Wunderlich genug, daß einem auch das Gepolter rollender Holzkugeln, das Knattern von Knallerbsen fehlen konnte. Madame Lieschen guckte ein paarmal in den Laden hinein. Aber sie hatte verweinte Augen.

Doch schon nach einigen Tagen hatte man sich an die Ruhe gewöhnt. Man fand sie sogar angenehm.

Auch machte es Spreemann nicht wenig Spaß, als die Jungen nun überall herumzubuchstabieren begannen und bald auch in seinem Laden langsam und ernsthaft entzifferten:

» In Lon-don nicht, noch in Pa-ris,
In Brüssel nicht, noch Wien,
Klei-den Mon-si-eur sich und Ma-dame
So schick wie in Ber-lin.
«

Hans konnte den Spruch bald auswendig. Christian behielt nur die letzte Reihe.

Des Nachmittags sprangen sie nun vor dem Laden herum. Sie umkreideten die Pflastersteine und teilten sie in Erde, Himmel und Hölle, über die sie auf einem Bein hinwegsprangen. Die Hölle verlangte einen besonders großen Sprung. Hansen gelang es immer. Christian aber plumpste häufig hinein.

Überhaupt Christian.

»Er ist nicht dumm«, sagte Lieschen. »Er denkt nur langsam.«

Aber wenn ihr die Kinder in der Küche nachsprangen und Hans sofort die Eier und Löffel nachzuzählen begann und bei allem fragte, was es koste und was es wert sei, worauf man also zu antworten wußte, dann hatte Christian nachdenklich den Finger im Mund und erkundigte sich, wer die allererste Henne gemacht, die das allererste Ei gelegt habe. Es war nicht leicht mit dem Jungen.

Hans wußte bald seine Schulkenntnisse zu verwerten. Als er auf seinem Butterbrot ein Pfefferkorn in der Wurstscheibe fand, holte er es rasch heraus, um es in einen Blumentopf zu pflanzen. Damit Pfeffer wüchse und er einmal als Erwachsener keinen zu kaufen brauche. Christian aber hatte sein Pfefferkorn zerbissen. Seine Zunge brannte. Seine Augen tränten. Aber er sah sehr hübsch aus mit dem blonden Haar, dem zarten Teint und den schlanken Gliedern. So recht herrschaftlich.

Daher kam es wohl, daß Spreemann eines Abends in die Reservekasse für Christian einen heimlichen Extrataler gleiten ließ. Die ganze Nacht darauf schlief er unruhig, wie ein Verbrecher. Er hatte schwere Träume. Und am andern Morgen nahm er den Taler wieder aus der Kasse heraus. Ehrlich währt am längsten.

Aber daß ihm wunderlich wohl wurde, wenn Christian auf seine Knie hüpfte und Väterchen sagte, konnte er nicht hindern. Der Junge sprach so oft etwas aus, was er selbst als Kind gedacht hatte, was er aber niemals hatte weiterdenken können, weil er vor allen Dingen hatte reich werden wollen. Reich. Aber Christian rief ihm seit langen Jahren wieder die Landstraße vor Augen. Das Wandern neben dem Vater, mit seinen hohen Stulpenstiefeln, von deren heimlichen Schätzen er noch nichts ahnte. Des Vaters Bild wurde so deutlich. Sein Wesen ihm so verständlich. Sich selbst aber stellte er sich vor wie Christian.

Tante Karoline und Lieschen sagten, daß der brünette, stämmige Hans der ganze Vater wäre. Klug, flink und praktisch, sparsam und überlegt. Auch sie hatten recht.

Aber der Mensch ist Erde. Aus Tausenden von Stoffen geheimnisvoll zusammengesetzt ...

»Ich möchte noch erleben, was aus den Jungen einmal wird«, sagte Tante Karoline. »Der Christian hat ganz was von einem Künstler.«

Und sie erzählte lang und breit von ihren Erfahrungen, die sie mit einem Opernsänger gemacht, der einmal in ihrer guten Stube wohnte. Sie hatte ihm bald gekündigt. Das wäre nie etwas für Mariechen gewesen.

Doch Spreemann war ärgerlich geworden. Er sagte, daß er sich solche Reden über Christian verbitte. Der Junge sei vollkommen normal. Was aus den Jungen werden sollte, war doch nicht schwer zu erraten. Sein kluges Lieschen hatte dies gewußt, ehe sie da waren. Seine Kompagnons. Seine Nachfolger.

Aber auch ihm wär's recht gewesen, wenn sich die Jungen hätten beeilen können mit dem Wachsen. Ihre Vaterstadt gab ihnen dazu ein kräftiges Beispiel. Die Häuser schossen immer mehr in die Höhe, drängten sich enger und enger aneinander. Selbst vor den Toren begann man zu bauen.

Spreemann sah es mit Staunen, wenn er am Sonntagnachmittag mit Lieschen, Tante Karoline und den Jungen hinaus nach Moritzhof wanderte. Überall veränderte es sich.

Draußen unter den Bäumen traf man die Verwandtschaft. Die Mühlenbesitzer und den jungen Gerbermeister. Der eine Müller hatte nun seine Mühle in Schöneberg.

Während man die saure Milch aus den Näpfen löffelte, sprachen die Männer von Politik und Wochenumsatz, die Frauen von Kindern und Kleidern. Hier verkehrte das beste Publikum, hier sah man bald, wie es um die Mode stand. Lieschen hatte wachsame Augen. Sie gab Spreemann auf dem Rückweg manchen nützlichen Wink. Das Geld für dieses Sonntagsvergnügen war nicht auf die Straße geworfen.

Die Jungen aber fuhren Boot oder angelten und störten hier niemand.

Es war ein Plätzchen, wie vom lieben Gott selbst gemacht, sagte Tante Karoline. Der lange Weg fiel ihr schon recht beschwerlich. Aber sie wollte dabeisein.

»Wie grün die Natur wieder ist«, sagte sie jedesmal aufs neue befriedigt, wenn sie angelangt waren und sie sich endlich setzen konnte.

»Paßt auf, auch hier wird einmal alles bebaut sein«, sagte der Schöneberger Müller. »Wenn's Friede bleibt, sind wir bald soweit.«

Aber sein Bruder, der sich schon jetzt ärgerte, daß die Schöneberger Mühle einmal im Preise steigen könne, antwortete, daß er sich Schropfköpfe setzen solle. Das eigentliche Berlin gehöre in seine Mauern.

Der andere sagte, daß er warten könne. Er sei überzeugt, daß Berlin zu ihm herauskommen würde. Er war dick und behäbig und reizte den mageren älteren Bruder beständig.

Spreemann sagte, daß er schon so viele Veränderungen erlebt hätte, daß er alles für möglich hielte. Aber was den Krieg betraf, wär's ihm lieber, wenn er jetzt käme, wo seine Jungen noch auf dem Dönhoffplatz spielten.

»Schon recht«, sagten die anderen, die auch ihren Nachwuchs um sich herumhüpfen hatten. Nur geschäftlich wär's eine flaue Geschichte.

Man wünscht, was einem nützlich scheint. Aber es waren unsichere Zeiten. Man wußte nicht, was man hoffen sollte. Man saß mit seinen Wünschen in einer Zwickmühle.

Lieschen sagte, was geht dich das alles an, wenn die Jungen gedeihen.

Sie meinte, selbst wenn es Krieg geben würde, könnten die Berliner darum nicht nackt gehen.

Das leuchtete Spreemann ein. Er war längst dahintergekommen, daß Lieschen nicht dumm war. Er gab ihr natürlich niemals recht. Aber er befolgte ihre Ratschläge.

Diese Achtung vor den Tatsachen bezeugte nur seinen Verstand. Denn Lieschen war eine echte, rechte Madame geworden. Sie war würdebewußt, ehrgeizig und ein wenig rund geworden und bereicherte beständig ihr Wissen, indem sie sich nichts entgehen ließ, was in der Welt, also auf dem Dönhoffplatz, vorging.

Wissen aber ist eine Macht.

Als der Kolonialwarenhändler seinen Eckladen um ein Schaufenster zu vergrößern dachte, wußte es Madame Spreemann früher als der Glaser, der dieses Werk ausführen sollte. Den vollen Marktkorb noch am Arm, eilte sie zu Spreemann, rief ihn aus dem Laden in den Lagerraum und machte ihm klar, daß er zwei neue Ladenscheiben einzusetzen habe, wenn man nicht vor dem ganzen Dönhoffplatz blamiert sein wollte.

Spreemann wehrte zuerst ab und sagte, daß Sparsamkeit halber Profit sei.

Darauf erwiderte Lieschen, daß alles nur am richtigen Platze seine Richtigkeit habe und hier von Sparsamkeit keine Rede sein könne. Sollte sich Hans, der den Kaufmannsjungen bei jeder Rauferei besiegte, von diesem Kolonialwarenknirps nachrufen lassen, daß sein Vater ein Schaufenster mehr habe?

Als Mutter von wilden Jungen hatte sich Madame Lieschen angewöhnt, streng und straff zu sprechen. Auch Spreemann gegenüber.

Klaus nahm es ihr nicht übel. Er fühlte, daß es nötig war. Er war nun fünfzig Jahre alt und überall ein wenig mit Fett gepolstert. Da hatte man schon manchmal den stillen Wunsch, alles gehen zu lassen, wie es gehen wollte. Lieschen aber und die Konkurrenz spornten ihn immer wieder an.

Daher wußte Lieschen auch recht gut, was sie tat, als sie ihm eine Woche darauf mitteilte, daß der Herr Hoflieferant an der andern Ecke des Platzes Gas in seinen Laden zu legen gedenke. Davon würde die ganze Stadt sprechen.

Spreemann knurrte, daß ihn dies gar nichts angehe. Beim Abendbrot sagte er dann, daß er längst daran gedacht habe, die neue Gasleitung auszuprobieren, und daß er schon für morgen den Rohrleger bestellt habe.

Die neuen Schaufenster waren längst schon da.

Auch die Gasanlage sollte Spreemann nicht zu bereuen haben. In der Zeitung wurde darüber geschrieben, und im Witzblatt machte man einen Vers auf das finstere Berlin, das nun helle zu werden begann. Spreemann wurde am Stammtisch geradezu gefeiert.

Krieg gab es auch nicht.

Aber auch eine gute Sache hat verschiedene Seiten. Für den Kaufmann wurde die Zeit schwieriger, als sie es vielleicht gewesen, wenn irgendwo draußen ein Krieg getobt hätte.

Es gibt auch verschwiegene Kämpfe. Die neuen Häuser brachten neue Läden. Die Konkurrenzläden schossen wie Pilze aus der Erde.

»Wie Giftpilze«, sagte Spreemann.

Die Kundinnen wählten noch bedächtiger aus als früher, und wenn sie nach langer Überlegung doch noch ohne zu kaufen hinausgingen, wußte man nicht mehr gewiß, ob sie morgen wiederkommen würden, um das Muster zu kaufen, das man ihnen zuallererst vorgelegt hatte, sondern man mußte befürchten, daß sie zur Konkurrenz gingen. Da hieß es denn hier und dort ein wenig vom Preise ablassen, wenn man sich die alten Kunden erhalten wollte.

Dabei war auch der Einkauf schwieriger geworden. Die Angebote häuften sich, je mehr das Eisenbahnnetz wuchs. Spreemann begriff jetzt, warum er immer ein Feind dieser neuen Erfindung gewesen. Jetzt gab es Seide aus der Schweiz und Italien, und die englischen Stoffe kamen wirklich aus England, wie wenn dieses England an der nächsten Ecke läge. Die Auswahl war schwer. Man mußte sich doppelt soviel auf Lager legen wie früher. Denn wenn man zögerte und zurückschob, dann sagten die geschniegelten, gewichsten Herren Reisenden:

»Macht nichts, Herr Spreemann, die Herren in der Königstraße nehmen es uns mit Kußhand ab.«

Da nahm man es denn lieber selber. Nicht mit Handkuß, aber für Bargeld.

Spreemann arbeitete wieder unaufhörlich. Wie damals, als er anfing. Sein Fett war er wieder los.

Erwerben ist nicht leicht. Erhalten noch schwerer. Aber Spreemann fühlte sich wieder jung und kräftig.

Er sprach sich zu niemandem aus. Auch nicht zu Lieschen.

Wenn ihn jemand am Stammtisch nach dem Geschäftsgang fragte, dann sagte er:

»Es flutscht nur so.«

Aber die Liebe unserer Verwandten ist nicht blind. Darin unterscheidet sie sich von der Liebe im allgemeinen.

Der junge Gerbermeister sagte zu seine Frau:

»Ich glaube, Onkel Spreemanns Geschäft geht zurück. Wenn einer nicht über schlechte Zeiten klagt, hat er seine Gründe dazu.«

Aber das war übertriebene verwandtschaftliche Besorgnis. Zurück ging Spreemanns Geschäft nicht. Es stand nicht einmal still. Spreemann konnte sich ruhig freuen, daß seine Jungen wie Spargel in die Höhe schossen. Er hielt schon noch aus, bis sie selbst die Zügel in die Hand nehmen konnten.

Da, über Nacht, war der Krieg da. Zusammen mit dem neuen Jahr.

Die Jungen stürmten in den verschneiten Tiergarten, um zuzusehen, wie die ersten langen Wagenreihen der Trains durch das Brandenburger Tor zogen und über die hartgefrorene Charlottenburger Chaussee nach Spandau rollten, wo die Feldarmee auf sie wartete. Hans hatte sich in die vorderste Reihe gedrängt. Er versuchte Wagen und Pferde zu zählen. Ein Vermögen steckte darin. Christian hatte seinen Platz einem blonden Mädchen überlassen, das bitterlich weinte, weil sein Cousin mit in den Krieg ziehen mußte.

Zu Haus beim Kaffee konnten sie nicht genug erzählen. Lieschen und Karoline wollten alles aufs genaueste wissen. Wäre es nicht zu kalt gewesen, hätten sie sich das Schauspiel nicht entgehen lassen.

Spreemann kümmerte sich nicht um Einzelheiten. Er rauchte und rechnete. Der Termin war nicht unglücklich gewählt. Das Hauptgeschäft für die Wintersaison war herein. Wenn man die Preise ein wenig herabsetzte, würde sich auch der Rest halbwegs günstig gestalten können.

Und dann hatte Spreemann eine kleine Spekulation vor. Er kaufte Fahnentuch ein.

Sein Vertrauen zum Vaterland belohnte sich. Man siegte. Man flaggte.

In diesem Sommer konnte Spreemann endlich wieder mit gutem Gewissen über die schlechten Zeiten klagen.

Aber kaum, daß man wieder mit dem guten Tabak ein wenig Behagen einsog, standen aufs neue schwarze Wolken an Preußens Horizont.

Statt in die Sommerferien ging's in den Krieg. Ehe man noch recht begriffen, hatte, was los war, war schon da unten in Böhmen eine Schlacht geschlagen. Kein Mensch hatte sich darauf vorbereiten können.

»Dieser Krieg wird mein Tod«, sagte der Herr Kommerzienrat, als er schweißtriefend zwei seidene Sommeranzüge bei Spreemann kaufte.

Erschreckt fragte Spreemann, ob der Herr Rat mit ins Feld müsse.

Und sagte sich bebend, daß er selbst von dem gleichen Jahrgang sei.

Der Herr Rat knurrte, daß man aus diesem Alter zum Glück heraus sei. Aber er konnte des Kriegs wegen nicht nach Karlsbad reisen. Die ganzen böhmischen Bäder waren gesperrt. Das konnte die Regierung nicht verantworten.

Spreemann machte eine tiefe, bedauernde Verbeugung. Als wenn er die Regierung entschuldigen wollte.

Ja, jeder hatte seine Sorgen. Das war ein großer Trost. Aber doch kein ausreichender.

Spreemann hatte Trauerstoffe und Fahnentuch auf Lager. Aber man verdiente mehr an den leichten Sommerkleidern als an den gediegenen dunklen Stoffen, aus denen man in den guten Familien den Enkeln noch Schürzen aus den Kleidern der Großmutter machte.

Er versuchte, sich mit Hans, der nun die Handelsschule besuchte, ein wenig über diese Gedanken und Besorgnisse auszusprechen. Hans sagte, daß in den dauerhaften Stoffen überhaupt die Gefahr für den Kaufmann läge. Wenn er Spreemann wäre, würde er hübsche, in die Augen fallende Stoffe bestellen, die weniger kosteten und gar nichts hielten.

Spreemann war ganz erschreckt. Der Junge war doch noch furchtbar unreif.

Mit Christian, der genau dasselbe lernte wie Hans, redete er nie von dergleichen. Der Junge begriff leider nicht, worauf es ankam beim Geschäft. Er freute sich an den blumigen und bunten Mustern wie ein junges Mädchen und graute sich vor den Trauerstoffen wie ein kleines Kind.

Wenn er des Sonntags einmal den beurlaubten jungen Mann vertrat, war er so ängstlich darauf bedacht, das richtige Maß abzuschneiden, daß er aus lauter Besorgnis einen Fingerbreit zuviel gab. Ihm fehlte alles, was einem Kaufmann angeboren sein mußte.

Aber jetzt war der Krieg die Hauptsache. Er mußte abgewartet, wenn möglich ausgenutzt werden.

Nach ein paar Fehlschlägen jagte wieder ein Sieg den andern.

Spreemann bestellte noch einen Posten Fahnentuch, prima Qualität. Dagegen schob er an einen Pessimisten seiner Branche einen großen Posten Trauerstoffe ab. Mit Rabatt, aber ohne Verlust. Er hatte keine Ursache, seinem Vaterlande zu mißtrauen.

Man sah jetzt, daß Berlin eine Großstadt geworden. Es konnte einen Puff vertragen, wie es schien. Man merkte nicht im geringsten, daß ein großes Heer davongezogen war.

Die Tiergartenpromenade war belebt wie immer, in der Flora kündete man den Aufstieg eines Luftballons an, auf den Dönhoffplatz kamen sogar Kunstreiter.

Die Kunstreiter waren Spreemann eine rechte Erheiterung. Sie waren nicht nur ein billiges, sondern auch ein bequemes Sonntagsvergnügen. Vom Lehnstuhl am Fenster aus sah man alles umsonst. Da war eine hübsche Balletteuse, die auf dem breiten Sattel eines Pferdes tanzte und durch Feuerreifen sprang. Dann kam eine starke Dame in rosa Trikot und grasgrüner Seidenschärpe. Madame Lieschen war ihr Anblick peinlich, weil ihre großen Jungen neben ihr standen. Spreemann aber hatte seine helle Freude an ihr.

Die Dame machte einen schweren Knicks und wurde auf ein straff gespanntes Seil gehoben. Mit starrem Lächeln trippelte sie nun hoch über dem Markte vorwärts.

»Sie kippt, sie kippt!« schrie Hans jedesmal, wenn sie auf der Mitte des Seils war. Christians Blicke umklammerten sie stumm. Aber die dicke Dame fiel nicht, sondern machte einen schwerfällig graziösen Sprung, wobei sie hüi schrie und Kußhändchen zu den Fenstern hinaufwarf. Hans kaute ungerührt ein paar saftige Kirschen. Waren Trikot und Schärpe am Seilende angelangt, klatschte alles auf dem Markte Beifall.

»Wo sie das nur her hat«, sagte Madame Lieschen. »Eine Frau in meinen Jahren.«

Tante Karoline, die alle Vorgänge so genau verfolgte, wie es ihre alten Augen nur irgend noch gestatteten, meinte, daß sie auch diese Faxen gewiß aus den neumodischen Zeitungen her hätte.

»Aber es sieht ja ganz nett aus«, schloß sie und rückte sich zurecht, um weiterzugucken.

Spreemann behagte am meisten das dauernde Gedudel des Leierkastens, das alle diese Faxen begleitete. Ohne Unterbrechung spielte man immer wieder aufs neue das lange Lied vom Herrn Schmidt mit den vielen Töchtern.

Wenn Spreemanns Lieblingsvers herankam, summte er mit tiefer Freude den Text dazu:

»Herr Schmidt, Herr Schmidt,
Was kriegt das Malchen mit?
Das Malchen, das ist gut und brav,
Wer sie bekommt, der kriegt ein Schaf.«

Und dann wartete er behaglich ab, bis das Lied wieder von vorn begann und sich von neuem diesem hübschen Vers näherte.

Dann und wann fing er eine dicke Fliege, die seine feuchte Stirn als durstlöschenden Quell ausnutzen wollte, freute sich darüber, rauchte und gähnte.

Das war so ein rechter Sommersonntag.

»Nicht zu glauben, daß man in Kriegszeiten lebt«, sagte er und zog an der Pfeife, daß die Funken stoben.


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