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Der Neujahrstag dämmerte auf. Grau und griesgrämig, als ob er noch ein Fetzen des alten Jahres wäre.
Bomberling fuhr zu seiner Arbeitsstätte. Die Fabrik war geschlossen, der Laden aber mußte geöffnet sein. Dem großen Agenten, der ruhelos für den Umsatz von Bomberlings Waren sorgte, war kein Feiertag heilig.
Babette war mit Hilde in die Kirche gegangen. Sie wollte sehen, ob es Wahrheit wäre, daß der neue Pfarrer, der ein Dichter sein sollte, so wunderbar predigen konnte.
Am Nachmittag wollte man eine Schlittenfahrt mit Christian Sebold machen.
Frau Bomberling zählte das Silber, das gestern gebraucht worden war. Aus der Küche kam der Duft eines 103 großen Bratens und der Hauch schmorender Äpfel. Sie fühlte sich in Feiertagsstimmung.
Da schrie das Dienstmädchen im Nebenzimmer gellend auf.
Man hörte Gepolter und Geklirr.
Als Frau Bomberling hereinstürzte, sah sie gerade noch, wie sich Napoleon, wie ein gelbes Stückchen Butter, mit der Schneeluft verschmolz. Einen Augenblick später war er verschwunden.
Ganz wie der große Napoleon schien er die Freiheit der Gefangenschaft vorzuziehen.
Im ganzen Haus hielt man Nachfrage, man hoffte, daß er in ein fremdes Fenster geflogen sei. Aber jeder hatte nur seinen eigenen Vogel im Bauer.
Die Portiersfrau sagte, daß man den Vorfall der Polizei melden müsse. Sie allein könnte helfen. Denn sie konnte alle Häuser nach dem Vogel durchsuchen lassen. Vielleicht sogar ihn finden.
Frau Bomberling lief an das Telephon und rief die nächste Polizeiwache an.
Aber ein Vogel ist rascher entschlüpft als gefangen. Frau Bomberling mußte erst Namen, Wohnung und Beruf des Besitzers angeben.
Dann fragte man weiter:
»Wann ist der Kanarienvogel entflogen?«
»Wohin?«
Das letztere wußte Frau Bomberling leider nicht.
»Besondere Merkmale?«
»Gelb,« rief Frau Bomberling.
»Rufname?«
104 »Napoleon.«
»Wie?«
»Napoleon.«
Jetzt entstand eine Pause. Frau Bomberling hörte deutlich, daß man in einem Buch blätterte. Dann vernahm sie nichts mehr.
»Sind Sie noch da?« rief Frau Bomberling.
»Da nicht, aber hier. Sagen Sie mal, mit wieviel p schreibt man Napoleon?«
Frau Bomberling zögerte. Sie wußte es nicht. Und in jedem Augenblick konnte Napoleon von einer Katze gefressen werden.
»Mit zweien,« rief sie kurz entschlossen. Lieber zuviel als zuwenig, dachte sie.
»Gut, wenn wir ihn haben, kriegen Sie ihn. Schluß.«
Als Frau Bomberling den Hörer eingehängt hatte und sich erschöpft umdrehte, verbeugte sich vor ihr ein kleiner Herr im eng anschließenden Überzieher, der in hellgelben Lederhandschuhen einen Zylinderhut und einen Rosenstrauß hielt.
Er entschuldigte sich, daß er von der Offenheit der Wohnungstür Gebrauch gemacht hatte, und hoffte, daß er nicht störend käme. Er bringe Grüße von der Frau Rätin. Außerdem erlaube er sich zu bemerken, daß, soweit sein bescheidenes Wissen reiche, Napoleon nur mit einem p geschrieben werde.
Der kleine Mann war der fünfstöckige Hausbesitzer. Frau Bomberling aber glaubte, einen Finder Napoleons vor sich zu haben. Voll Freude rief sie:
»Haben Sie ihn?«
105 Der lächelnde Herr betonte noch einmal, daß er nichts zu überbringen habe als Grüße von der Frau Rätin.
Nun begriff Frau Bomberling, wer vor ihr stand.
Sie maß ihn mit einem kurzen, aber scharfen Blick. Sie verglich ihn mit Christian Sebold. Er war gerichtet.
»Prill,« sagte der Herr und verbeugte sich ängstlich unter diesen Blicken. – »Rentier Prill.«
»Ein unglücklicher Augenblick,« sagte Frau Bomberling.
»Ich hörte . . . Ich bedaure sehr. Aber wenn wir warten, wird das Vögelchen wiederkommen,« sagte Herr Prill, während er sich setzte und die Rosen sorgsam auf den Tisch legte. Frau Bomberling setzte sich auch, denn ihre Knie zitterten. Aber sie antwortete nichts. Sie fächelte sich nur mit einem duftenden Taschentuch.
»Das Fräulein Tochter auch ausgeflogen?« sagte der Besucher und meckerte ein kleines Lachen.
Ein Schrei im Nebenzimmer verhinderte eine Antwort.
Das Zimmermädchen stürzte herein, und ohne den Fremden zu beachten, schrie sie:
»Es fehlt noch einer.«
Frau Bomberling wies sie streng zurecht. Sie sagte ihr, daß sie immer nur einen Vogel gehabt habe, also kein zweiter fehlen konnte.
Erst nach vielen Worten klärte es sich auf, daß das Mädchen von Hermann sprach. Sie hatte den jungen Herrn wecken wollen, aber niemand habe geantwortet. Da sei sie hineingegangen und habe das Bett unberührt vorgefunden. Der junge Herr war nicht nach Haus gekommen. Und es war zwölf Uhr mittags.
Herr Prill stand auf.
106 »Da will ich wirklich nicht länger stören,« sagte er, zog den Hut und ging.
Die Rosen nahm er wieder mit. Man soll nicht edler sein, als man muß. Die Frau Baronin hatte ihm noch verschiedene andre Adressen gegeben.
Frau Bomberling bemerkte sein Verschwinden gar nicht. Sie telephonierte an August, an ihren guten August. Er würde Rat wissen.
Bomberling rief zurück, daß er sofort nach Haus kommen werde. Sein Mäuschen sollte nicht den Mut verlieren. Der Junge war hoffentlich heil und gesund.
Ehe er fortfuhr, klingelte er die Polizei an. Zu seinem Erstaunen sagte man ihm, sobald er seinen Namen nannte, daß man bis jetzt vergeblich nach dem Vermißten gesucht habe. Wer weiß, wohin er sich verflogen hätte. In seiner Aufregung wunderte sich Bomberling nicht lange über die sonderbare Auskunft, sondern eilte nach Haus.
Am Fenster des Musikzimmers stand Anna. Sie schüttelte den Kopf. Hermann war also noch nicht da.
Als Bomberling seinen Wagen bezahlte, fuhr ein zweites Auto vor.
Es dauerte eine Weile, ehe sich seine Tür öffnete. – Aber dann ging sie endlich auf, und langsam begann jemand herauszuklettern. Es war Hermann.
Er blinzelte nach dem anderen Wagen und begann dann in seinen Taschen nach Geld zu suchen. Er fand aber keins.
Bomberling sah zu Anna hinauf. Mit einem überglücklichen Blick trafen sich die Elternaugen. Bomberling trat auf Hermann zu, der immer noch nach Geld suchte, und sagte:
107 »Na laß nur, Junge, ich werde zahlen.«
Hermann blinzelte Bomberling eine Weile an, dann sagte er:
»Ach, du bist's, Papa. Servus, servus. Ich hab mich ein wenig verspätet heut abend. Entschuldige.«
Er zog tief den Hut vor Bomberling und torkelte ins Haus. Oben stand Frau Anna in der Tür.
»Mein Sohn,« sagte sie unter Tränen und wollte Hermann umarmen.
Aber Hermann wich aus.
»Abregen, Mamachen, abregen,« sagte er, und wie ein Segelschiff im Sturm schwankte er an ihr vorüber, seinem Zimmer zu.