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Ingelheim, 1. Mai 1194
Meda, 21. Mai 1194 / Pisa, 1. Juli 1194
Als Pedro Vaqueiras am Abend des 29. April 1194 von einem Spaziergang durch die blühenden Apfelgärten am Rheinufer in die Pfalz von Ingelheim zurückkehrte, teilte man ihm mit, daß die Kaiserin sich leidend fühlte und zur Abendtafel nicht erscheinen werde. Sodann, daß ein Ritter mit einem dringenden Briefe aus Lothringen gekommen sei. Er warte im Vorzimmer . . .
– Ich bringe ein Schreiben des Herrn Ingelheim, sagte der Fremde. Ich habe Auftrag, bis zur Ausfertigung der Antwort zu warten. Hier sind meine Ausweise . . .
– Ich danke Ihnen, Herr von Montigny. Haben Sie Unterkunft?
– Bei dem Vater des Herrn von Ingelheim, dem ich ebenfalls Briefe überbracht habe.
– Ich dachte es mir. Ich werde Ihnen Nachricht geben lassen, sobald ich weiß, worum es sich handelt.
Vaqueiras öffnete den vielfach versiegelten Umschlag und las am Fenster seines Arbeitszimmers:
Schloß Jouy, am 17. April 1194
Lieber Pedro: im Augenblick, wo ich mich anschickte, an den Rhein zu fahren und endlich, nach drei langen Jahren, meine Eltern wiederzusehen, erreicht mich ein Schreiben Richards Ajellus, das mich bestimmt, meine Pläne zu ändern. Man weiß natürlich längst in Deutschland, daß am 20. Februar der König Tankred gestorben ist, nachdem ihm der Kronprinz Roger um nur wenige Wochen im Tode vorausgegangen war. Es scheint, daß die durch langes Leiden geschwächte Natur des Königs einem solchen Schlage nicht mehr gewachsen war. Die Strapazen des letzten apulischen Feldzugs (im Sommer 216 und Herbst 93) haben seine Kräfte aufgerieben. Als ihm eben die Besiegung der kaiserlichen Statthalter in Apulien gelungen war, hat ihn die gefährliche Krankheit befallen und zur Rückkehr nach Palermo gezwungen. Die Bemühungen der Ärzte haben versagt. Da auch der Kanzler Matthäus schon zu Anfang des Jahres gestorben ist (wenige Monate vor dem Erzbischof Offamilio) – da also nur noch die Königin Sibylle die Regentschaft für ihren unmündigen Sohn, den Prinzen Wilhelm, führt, der inzwischen wohl schon zum König gekrönt worden ist, kannst du ermessen, welche Sorgen auf Richard lasten, der seinem Vater – wenigstens vorläufig – im Amte nachgefolgt ist.
Daß es ihn danach verlangt, gerade mich bei sich zu haben, den Deutschen, dessen gute Beziehungen zur Kaiserin er kennt, bestimmt mich, sofort nach Palermo aufzubrechen. Ich reise also von hier über Besançon-Dijon-Arles nach Marseille, wo ein sizilisches Schiff vom 28. Mai an zur Überfahrt für mich bereitsteht. Ehe ich jedoch aufbreche, soll mir Herr von Montigny, der Kurier meines Großvaters Jouy, deine Antwort auf meinen Brief bringen. Du kannst ihm jedes Schriftstück anvertrauen. Ich brauche, um die europäische Lage beurteilen zu können, deinen Bericht über alle Ereignisse, welche sich seit der Gefangennahme Richards von England am deutschen Hofe und in Deutschland überhaupt abgespielt haben. Weder die sizilische noch die französische Darstellung dieser Vorgänge kann mir als Grundlage für die Besprechungen genügen, welche ohne Zweifel Richard Ajellus mit mir führen möchte. Der Gedanke, daß ich vielleicht zu einer friedlichen Beilegung der sizilischen Frage beitragen 217 könnte, bewegt mich in hohem Maße. Es ist selbstverständlich, daß du weder den Kaiser noch die Kaiserin von meiner Reise unterrichtest, ehe ich dich darum bitte, es zu tun. Voreiligkeit könnte in dieser Angelegenheit nur Schaden bringen und mir vielleicht ehrgeizige Absichten in die Schuhe schieben, die ich nicht habe. – Lasse dir zu deiner Antwort ein paar Tage Zeit. Herr von Montigny wird sich gerne nach dem anstrengenden Ritte etwas ausruhen. Mir selbst – wie der Sache überhaupt – ist um so besser gedient, je ausführlicher du mir berichtest. Es kommt mir natürlich vor allem darauf an, die Stimmung am deutschen Hofe zu erfahren. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß es Richard Ajellus gelingen wird, den Gedanken der friedlichen Eingliederung Siziliens in das Reich den Baronen und dem Volke schmackhaft zu machen, wenn von deutscher Seite gewisse, das erwachte sizilische Nationalgefühl schonende Zusicherungen gegeben werden. Die Vorstellung, daß Sizilien einen heute sinnlosen Widerstand noch einmal mit einem verwüstenden Kriege bezahlen solle, erscheint mir unerträglich. Lasse mich vor allem auch den genauen Reiseweg der Kaiserin nach Italien wissen, damit ich es mir einrichten kann, sie vielleicht unterwegs bei meiner Rückkehr nach Deutschland zu treffen. Ich werde nicht länger als eine Woche bei Richard in Palermo bleiben, da ich es meinen Eltern schuldig bin, einige Sommermonate bei ihnen zu verbringen. Ich hoffe, daß du die Kaiserin begleiten wirst. Ich glaube, daß wir Entwicklungen entgegengehn, welche deine und meine baldige Anwesenheit bei ihr notwendig machen. Solltest du die Möglichkeit haben, statt einen Brief zu senden, selbst für 218 einige Tage nach Jouy zu kommen, so tue es. Das lebendige Wort ist ein lebendigerer Freund als der schönste Brief. Ich wäre glücklich, mit dir ein paar Tage in Lothringen zu verbringen, welches uns soeben gerade das Wunder seiner Mirabellenblüte geschenkt hat. Halte es, wie du kannst. Ich schreibe dir nichts Weiteres von mir, da ich dir erst zu Weihnachten über meine Arbeiten und Pläne berichtet habe. Ich habe Eile, daß dieser Brief in deine Hände komme . . . Grüße mein Land, nach dem ich Verlangen trage – und sei spätestens am 12. Mai bei mir: mit deinem Antwortschreiben oder – ich hoffe es – ›col fior della tua presenza stessa‹, wie Richard zu sagen pflegt, wenn er die blumenhafte Sprache der Araber nachahmt . . . Ich sorge mich sehr um Richard: er muß, was er nicht will – und er will, was er nicht darf. Sein Beispiel trägt die Schuld an meinem Entschluß, niemals in den Dienst der hohen Politik zu treten. Es sind genug der schönen Dinge, denen es sich lohnt, ein Leben lang zu dienen. Wo du hinschaust, ist ein Aufbruch des Geistes, der nach Helfern ruft.
Ave atque vale. Tibi semper
Lothar.
Das Antwortschreiben, welches am frühen Morgen des 1. Mai Herr von Montigny mit sich nahm, hatte folgenden Wortlaut:
Kaiserliche Pfalz Ingelheim, am 30. April 1194.
Liebster Lothar: noch gestern abend dachte ich, zu dir kommen zu können. Aber da sich der Zustand der Kaiserin während der Nacht wieder verschlechtert hat, 219 wage ich nicht, abzureisen. Seit drei Tagen ist sie nicht sichtbar. Sie nimmt kaum Speise zu sich, klagt über nie gekannte Übelkeiten – und ist von einer Gereiztheit, wie man sie auch in den sorgenvollsten Zeiten nicht an ihr gekannt hat. Es ist noch immer ein schlechtes Zeichen für ihren Zustand gewesen, wenn sie mich kaum sehen mochte, aber auch nicht wünschte, daß ich mich aus ihrer Nähe entferne. Längst wäre ich, um dich zu sehen, über Paris nach Toulouse zurückgekehrt, wenn sie mich hätte gehen lassen. Seit ihrer Heimkehr aus der Gefangenschaft nagt das Heimweh an ihr. Sie wird es nie eingestehen; aber es ist so. Da ich von September 1190 bis zu ihrer Freilassung im Juni 1192 in Palermo war, also gerade die Anfänge der Tankredischen Regierung kenne, kann ihr Verlangen, über diesen Zeitabschnitt mit jemandem zu sprechen, der ihn miterlebt hat, nur durch mich befriedigt werden. Dieses Verlangen wächst von Tag zu Tag, seit sich die politische Lage des Reiches so zum Guten gewendet hat, daß der Einmarsch des Kaisers in Sizilien nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Der Aufbruch des Heeres nach Italien ist in vollem Gange. Wir selbst werden Ingelheim am 5. Mai verlassen – sofern es der Zustand der Kaiserin erlaubt –, um über Trifels, Chur, Chiavenna nach Mailand und von da über Pavia nach Pisa zu reisen. Du kannst also damit rechnen, daß wir Anfang Juni in Mailand und einige Wochen später in Pisa sein werden. Der Kaiser legt aus Gründen des politischen Prestiges großes Gewicht darauf, daß die Kaiserin auf dieser Fahrt an seiner Seite sei. Eben deswegen hat sie wohl darauf bestanden, daß ich sie begleite. Ohne sichere Beweise zu haben, ahne ich, daß sich 220 die Beziehungen zwischen ihr und dem Kaiser seit Anfang 93 sehr verschlechtert haben, also seltsamerweise von dem Augenblick an, wo die entscheidende Wendung zum Besseren durch die Gefangennahme Richards von England eingetreten war. Sie hat seit dem Reichstag von Regensburg, wo zum erstenmal die Angelegenheit des Königs Richard Löwenherz zur Debatte stand, eine Art, auch die leisesten Anspielungen auf das Verhalten des Kaisers abzulehnen, daß man fast glauben möchte, sie wolle sich selbst nicht in Gefahr bringen, eine Gesinnung zu verraten, welche die Imperatrix Imperii Romani einfach nicht haben darf. Ein anderer Umstand bestätigt mir meine Vermutung. Du weißt, daß Richard Löwenherz nach dem Abschluß des Auslösungsvertrages von Speyer am 25. März 93 – 100 000 Mark Lösegeld, England Lehen des Kaisers, Stellung von Geiseln, Leistung von Kriegsdienst gegen Tankred – sich frei am Hoflager von Hagenau bewegen und den Besuch seiner Landsleute empfangen durfte. Ich habe ihn dort oft gesehen und ganze Abende mit ihm verplaudert. Glaubst du, es sei mir möglich gewesen, die Kaiserin jemals zur Teilnahme an diesen Gesprächen zu bewegen? Sie wich ihm aus, wie man sich selber ausweicht. Sie blieb unnahbar, genau wie gegen Tankred in Palermo. Glaubst du weiter, es sei mir gelungen, herauszubekommen, was sie über die Art, wie der Kaiser die Notlage Richards ausbeutete, eigentlich dachte? Niemals. Die ganze Welt – sogar die deutschen Fürsten – lag in heller Empörung. Die Kaiserin schwieg. Lächelte abwesend und schwieg. Ihr Beichtvater mag vielleicht anderes wissen. Aber selbst dieses bezweifle ich. Ein einziger Umstand könnte eine 221 Deutung zulassen: Anfang Juni erklärte sie, ohne sich überhaupt noch auf die Einwände des Kaisers einzulassen, sie werde sich nach Ingelheim zurückziehen. Wer sie sehen wolle, möge sich zu ihr bemühen. Die Erklärung war mit einer Schroffheit abgegeben worden, die sich nicht nachschildern läßt . . . Wir waren auf unserer Reise kaum aus dem Sichtbereich des ihr verhaßten Hagenau heraus, als sich ihr Wesen änderte. Sie atmete auf, verfiel aber in eine solche Traurigkeit, daß der Zugang zu ihrem Herzen noch schwerer wurde. Als man ihr den Tod ihres großen sizilischen Feindes, des Kanzlers Matthäus, meldete, sagte sie nur: ›Er hätte meine Stütze sein können, wenn er klüger gewesen wäre. Ich hätte gerne in ihm einen Freund betrauert.‹ Von Juni bis November blieben wir in Ingelheim. Manchmal kam der Kaiser: strahlend, hingerissen von dem wachsenden Erfolg, der nun alle seine Unternehmungen begleitete. Sie hörte ihn an, nahm zur Kenntnis, beglückwünschte ihn – und fiel in ihre Schwermut zurück. Ohne Unterlaß machten ihr die englischen Besucher ihre Aufwartung in Ingelheim und versuchten, Einfluß auf sie zu gewinnen, besonders der Bischof von Ely und die Königin-Mutter Eleonore . . . Des Gehens und Kommens war kein Ende. Sie entzog sich keiner Pflicht der Höflichkeit. Aber ihre innere Unerreichbarkeit war ins Unbegreifliche gewachsen. Anfang Dezember holte sie der Kaiser für einige Wochen nach Gelnhausen. Im Januar nahm er sie mit nach Würzburg, wo wir auch ohne ihn im Februar blieben. Im März begleitete sie ihn nach Nürnberg, um im April noch einmal vor dem großen Aufbruch nach dem Süden in Ingelheim zu rasten . . . Werden wir 222 aufbrechen? frage ich mich wieder, während ich schreibe . . . Was bereitet uns das Schicksal in dem Zimmer über dem meinen vor? Wenn sie ernsthaft erkrankte . . . wenn sie vielleicht ihre Heimat gar nicht mehr wiedersähe? . . . Wenn dies schwer und königlich gelebte Leben plötzlich auslöschte und seinen Sinn nur in seiner Treue zu sich selbst gehabt hätte? Vielleicht weiß ich morgen früh Bestimmteres und kann es als Nachschrift dem Briefe beifügen –
Du fragst mich nach der politischen Stimmung bei Hofe. Sie ist die beste, die ich je erlebt habe, und es ist Grund dazu vorhanden. Der Weg zur Vollendung des deutsch-römischen Weltreiches ist in einem einzigen Jahre frei geworden. Die Deutschenhetze, welche der ›Fall‹ Richard Löwenherz im Gefolge hatte, blieb machtlos. Im Mai 93 schloß der Kaiser ein Bündnis mit Frankreich gegen die noch rebellierenden Herzöge von Lothringen und Sachsen. Eine Zusammenkunft mit dem König Philipp wurde durch den Erzbischof von Rouen in Vaucouleur auf den 25. Juni verabredet. Richard Löwenherz begriff, was nun für ihn auf dem Spiele stand, und trieb in England zur Zahlung des Lösegeldes. In Deutschland drängte er die ihm befreundeten Fürsten des kaiserfeindlichen Bundes zur Versöhnung mit dem Kaiser. Statt zu Richards Todfeind nach Vaucouleur zu gehen, ging der Kaiser im Juni nach Koblenz und machte seinen Frieden mit dem Fürstenbund, den ein Gefühl des Anstandes und der Verpflichtung gegen seinen Parteigänger Richard zur Nachgiebigkeit bestimmt hatte. Kaum zwei Wochen später – am 25. Juni auf dem Reichstag zu Worms – wurde der noch feindliche Böhmenherzog abgesetzt und der 223 Bischof Heinrich von Prag mit Böhmen belehnt. Im Juli erhob England eine Landessteuer zur Eintreibung der unerhörten Lösesumme. Ende 93 sicherte sich der Kaiser die ungestörte Sendung des Lösegeldes durch das seither feindliche brabantische Gebiet, indem er seinen flandrischen Freund Lothar von Hochstaden preisgab und den sechzehnjährigen Sohn des Herzogs von Limburg als Erzbischof von Lüttich bestätigte. Macht entbindet. Anfang 94 erschienen Gesandte Philipps von Frankreich in Speyer, um die Loskaufpläne Richards zu vereiteln und dessen Auslieferung nach Paris durchzusetzen. Er bot dieselbe Lösesumme und ließ gleichzeitig um die Hand der Base des Kaisers werben: Agnes, der Tochter des Pfalzgrafen vom Rhein. Der Kaiser erwog allen Ernstes den schmutzigen Schacher. Aber ein mutiger Mann, der keine Angst vor ihm hatte, kam dem Plane zuvor: der junge Herzog Heinrich von Braunschweig, derselbe, der als Hauptstütze der Welfenpartei im August 91 vor Neapel in das normännische Lager übergegangen war. Er verheiratete sich nämlich in aller Heimlichkeit mit der als politisches Opfer ausersehenen Tochter des Pfalzgrafen . . . Welfen und Staufer waren also wenigstens in dieser Liebesheirat versöhnt. Der Kaiser raste tagelang. Es half ihm nichts. Wollte er nicht seinem despotischen Geist wieder alles eben Gewonnene opfern, so mußte er sich fügen und die Gesandten Philipps nach Hause schicken. Auch die deutschen Fürsten – diesmal alle, ohne Ausnahme – duldeten jetzt in der Angelegenheit Richards keinen Kuhhandel mehr: sie forderten am 4. Februar in Mainz die Freigabe. Der Kaiser wäre vielleicht abgesetzt worden, wenn er es gewagt hätte, aufzutrumpfen. Er mußte nachgeben. Er 224 mußte vergessen lernen und auch mit den beiden Welfen – Vater und Sohn – den einzigen Mitgliedern des Fürstenbundes, die sich noch nicht gebeugt hatten, vor seiner Abreise nach Sizilien Frieden schließen. Zur selben Zeit, als der befreite Richard wieder in England landete, wurde in Tilleda in Thüringen diese Aussöhnung vollzogen. Zwei Wochen später kam die Kunde vom Tode Tankreds und des Kronprinzen Roger . . . War der Wille Gottes nicht offenbar? War – nach so vielen auferlegten und überstandenen Prüfungen – der Kaiser nicht der Auserwählte des Herrn? Wie fortgeblasen alle Hindernisse: offen die Straße – nur noch zuzugreifen brauchte die gesegnete Hand!
So, Lothar, ist die Stimmung am Hofe. Wieviel du aber überhaupt auf ›Stimmungen‹ geben kannst, magst du an den Vorgängen sehen, die sich in Köln und am Niederrhein bei der Heimreise Richards von England abgespielt haben: Deutsche haben ihm Ehrenpforten gebaut, ihn mit Festzügen empfangen und als ihren Gast wochenlang bei sich behalten . . . Deutsche haben Lehen und Privilegien von ihm erbeten und zugesichert bekommen . . . Deutsche haben geglaubt, der ›erpreßte‹ Erpresser gehe als Freund des Kaisers nach England zurück! . . . Qui vivra, verra . . .
Dürfte ich glauben, daß die Kaiserin als gezwungene politische Mitspielerin des Kaisers nur ein einziges Mal vor sich selbst die Kraft aufgebracht hätte, über ihre Rolle hinauszuwachsen und den Blick von dem, was sie mit gutem Recht ihre ›heiligen Ansprüche‹ nennt, abzulenken auf alles, was an Verletzung von Treue und Ehre rund um sie her geschehen mußte, damit der Weg zur Verwirklichung dieser ihrer ›Ansprüche‹ frei 225 werde: so wüßte ich, daß sie aus Abscheu vor der Welt erkrankt sei – oder aus Abscheu vor . . .
Dem Kaiser ist zugut zu schreiben, daß er sich keiner anderen Mittel bedient als alle anderen Teilnehmer an dem Spiel auf Leben und Tod. Die Art, wie er sich ihrer bedient, enthüllt die Ungehemmtheit seines Willens. Er hat alle gegen alle, alles gegen alles ausgespielt. Sei sicher, daß ich die Geschichte der Gefangenschaft Richards eines Tages aufschreiben werde. Sie wird eine Geschichte der Verschlagenheit sein, wie diese Zeit kaum eine zweite kennt, eine Geschichte der Abrechnung mit Mitteln, die vor Gott nicht bestehen . . . Aber Gott ist ja nicht in den Kämpfen dieser Zeit: er wird erst geboren, abseits: wohin nur das Auge derer dringt, welche das Zeichen auf der Stirne tragen. Die Hand des Kaisers – die irdisch-machtvolle – rundet und eint die Welt mit den Mitteln der Welt. Die so gerundete und geeinte aber wird sich eines Tages füllen müssen mit dem Geist, der an Pfingsten über die Ergriffenen kam und in den Stürmen der Gezeiten verlorenging.
Sich zu, ob du Richard Ajellus dem Geiste gewinnst. Du kannst Gott und deinem eignen Vaterlande keinen größeren Dienst tun. Doch wer weiß, was über uns alle schon beschlossen ist, ehe nur dieses Jahr sich neigt? Wir sehen Weg und Vollendung; aber es genügt, daß eine Minute vor dem Ziel ein Staubkorn in unser Auge fliege: und alle schönen Bilder unsrer Hoffnung sterben in einer Woge von Blindheit.
Tecum semper
Pedro. 226
Nachschrift. Am 1. Mai, morgens um neun Uhr. Es ist mir endlich heute früh gelungen, den Arzt, der die Nacht über im Vorzimmer der Kaiserin gewacht hat, zum Sprechen zu bringen. Es geht ihr besser. Sie hat nach mir verlangt und Anordnungen zur Abreise getroffen. Sie möchte – wie ich selbst es vor Jahren tat – mit dem Schiff bis Straßburg fahren und dort zu dem Kaiser stoßen. Peut-être mon dernier départ d'ici, soll sie gesagt haben . . . Départ sans retour? . . .
Die Kaiserin hatte die Reise über den Splügenpaß bis nach Chiavenna gut ertragen. Als sie sich jedoch am 27. Mai in Colico zur Fahrt über den Comer See einschiffte, stellten sich dieselben Beschwerden ein, an denen sie vor genau einem Monat in Ingelheim gelitten hatte. Sie versuchte, nach der Landung in Lecco noch zu Pferde bis nach Monza zu gelangen; es war nicht möglich. Sie mußte im Kloster Meda Rast nehmen und darauf verzichten, Pfingsten in Mailand mit dem Kaiser zu feiern – –
Die dritte heiße Nacht brütete über der Brianza. Das Kloster betete für die Erschöpfte, welche in einem kühlen Zimmer des Obergeschosses lag. Berengaria, die Kammerfrau, saß am Fenster und starrte gegen den dunstigen Himmel. Genau so, dachte sie, hat es bei der Königin Beatrix, der Mutter der Kaiserin, angefangen . . . Und auch sie faltete die Hände zum Gebet . . . 227
Sie schrak auf, als sie ihren Namen rufen hörte, lief an das Bett und nahm die kalten Hände der Kaiserin . . .
– Berengaria, sage es mir doch: sind es die Wechseljahre – oder könnte es noch das andere sein?
– Wir wissen es nicht, Majestät . . . Niemand weiß es vor dem dritten Monat . . .
– Mein Gott, noch einmal warten . . . Ich ertrage es nicht . . . Es können doch noch nicht die Wechseljahre sein . . . Bin ich denn schon so müd? Ich bin vierzig Jahre alt . . . Warum sollte Gott mir nicht noch den Sohn geben?
Den Sohn, dachte sie weiter . . . Wer sagt mir, daß es ein Sohn werden wird? Wenn es nur eine Tochter wäre? Nein, nein, nein: es darf nicht eine Tochter werden – fuhren ihre Gedanken auf. Zurückfallend in Angst zu Berengaria:
– Aber wenn es wieder fortgeht, was sich da bilden will . . . wenn mich Gott nur narren will . . . Kann man es denn nicht fühlen, unzweideutig fühlen? Soll ich hier bleiben? Soll ich mit dem Kaiser weiterreisen? Die Anstrengungen! Wieder über das Gebirge und dann wieder in die heiße Ebene hinunter nach Pisa . . .
– In zwei Tagen werden wir wissen, Majestät, was wir zu tun haben . . . Wir müssen uns ruhig halten . . . So ruhig, daß es nicht mehr fortgehen kann, wenn es wirklich ist. Wir müssen zu Gott beten – ohne Forderung.
– Ja, ja: ohne Forderung, da es doch nur Gnade sein kann . . . Wir wollen niemanden sehen, Berengaria . . . Wenn man nach mir fragen läßt, so sage, daß es die Mühseligkeiten der Reise sind, der rasche Wechsel von kaltem Gebirgswind und schwüler Talluft . . . Wir 228 wollen niemanden empfangen, auch nicht in Mailand . . . Wir wollen den Kaiser fernhalten . . . Ich ertrage die Hast nicht, mit der er weiter will . . . Ich ertrage die Gier nicht, mit der er auf Beute zieht . . . Mein Reich ist keine Beute . . . Mein Reich gehört dem, den ich vielleicht in mir trage . . . Sage niemandem, was ich soeben ausgesprochen habe, hörst du? Es ist über meine Lippen gegangen wider meinen Willen – ich bin schwach geworden in meiner Angst . . . Weißt du, was Angst ist, Berengaria? Nein, du weißt es nicht . . . Ihr alle wißt es nicht . . . Du nicht, und die Perche nicht, und der Vaqueiras nicht . . . Was weiß ein Mann von einer solchen Angst? . . . Sind wir auch ganz allein, Berengaria? . . . Ist niemand im Zimmer? . . . Du bist schon sehr alt, Berengaria, aber ich bin viel, viel älter als du . . . Auch mein Sohn ist alt in mir vom Denken durch die Jahrhunderte . . . zu alt vielleicht, um je zu leben . . . Berengaria, wir wollen nicht mehr davon sprechen . . . Wir wollen uns zusammennehmen . . . Wir sind lächerlich vor uns selbst . . . Wir haben geträumt . . . Wie Übermüdete, die gegen Gott anrennen . . . Lege dich hin auf dein Bett . . . Schlafe, wenn du kannst . . . Ich brauche dich nicht mehr . . . Ich will wachen, bis der Morgen kommt . . . Dann werde ich auch noch einschlafen . . . Alles ist schwer an mir . . . Mein Kopf, meine Brüste, meine Arme, meine Beine . . . Spürst du nicht, wie schwer auch meine Hände sind? Und dieses Eisenband um meine Stirn? . . . O Santissima Madonna di Baida, Madonna Nera, Sorella della mia pena . . .
Noch eine Weile lag die Kaiserin offnen Auges, in das Raunen der Nacht und das Klopfen ihres Herzens, oben 229 an der linken Schulter, lauschend . . . Dann entschlummerte sie. Berengaria aber wachte, stundenlang den Schoß der Herrin besprechend, die Hände über ihm kreuzend – und beim ersten Dämmern des Tages den Fluch der werdenden Mütter gegen das Licht rufend, den ihr eine Nubierin in Trápani verraten hatte:
›Jach tusch jel biráttin
Tas jepulcho téstan.‹
›Weh dir, wenn du an dich ziehst,
Was im Dunkel reifen will.‹
Bis tief in den Nachmittag schlief die Kaiserin. Den Abend verbrachte sie am Rande des Klostergartens, vor den Klatschrosenfeldern, die sich zwischen Maulbeerbäumen südwärts dehnten. Sie schien heiter, sprach kaum und hörte auch nicht, was die Äbtissin ihr sagte. Sie schaute oft nach den Schwalben, die gegen den grünen Himmel schossen, und summte die Melodie eines eintönigen Liedes, das die sarazenischen Feldarbeiter manchmal noch spät in den Limonengärten von Baida gesungen hatten:
›Wer vom Mohne ißt, vom weißen Mohne,
Wird im Schlaf die Mutter wiedersehen,
Wird die braune Dattel wieder pflücken
Und am Strand die roten Reiher zählen.‹
In der Frühe des Pfingstmontags, unter dem dünnen Gesang des Morgengeläutes, brach man gegen Monza und Mailand auf. 230
Als sich vier Wochen später die gleichen Beschwerden noch einmal mit großer Heftigkeit in der Residenz zu Pisa wiederholten, während der Kaiser noch in Genua weilte, vollzog sich eine ungeheure Umwandlung im Wesen der Kaiserin. Sie schritt, wie in den ersten Jahren ihrer Ehe, sprach mit klarer Stimme und erschien, von inneren Händen gehoben, über sich hinausgewachsen. Der gedämpfte Triumph einer geheimgehaltenen Gewißheit rückte sie allen fern, welche um sie zu sein pflegten.
Als der Kaiser nach dem Abschluß des Flottenabkommens mit den Genuesen nach Pisa zurückkehrte, eröffnete sie ihm, daß sie die Herzogin von Spoleto auf ihre bevorstehende Ankunft habe vorbereiten lassen. Die Hitze von Pisa sei ihr unerträglich und unzuträglich, die ewigen Empfänge und Huldigungen bedeuteten eine Anstrengung, der ihre schwache Gesundheit nicht gewachsen sei – und in Sizilien werde sie erst erscheinen, wenn der Kaiser als Prinzgemahl ihr, der Königin, den Einzug vorbereitet habe.
Offnen Mundes hörte Heinrich. Ein langer Blick in das herrisch-verschlossene Gesicht der Sprechenden genügte, um ihm klarzumachen, daß Widerspruch erfolglos sei.
– Wie Sie meinen, Konstanze, sagte er, den linken Mundwinkel hochziehend. Sie tragen die Folgen Ihres Tuns . . .
– Ich wüßte nicht, welche Folgen zu tragen wären. Ich bringe als Mitgift das reichste Königreich des Abendlandes.
– Ein Königreich, das der ›Prinzgemahl‹ zunächst erobern muß . . . 231
– Schwerlich, nach Tankreds Tod. Es wird Ihnen zufallen, nach allem, was ich aus Apulien höre. Sie werden es mir unversehrt übergeben können. Ich hoffe, daß Sie dies tun. Ich hoffe auch, daß Sie Ihren Generalen befehlen, auf dem Vormarsch die Soldaten zu zügeln. Es wird sich besonders empfehlen, Herrn Diepold von Vohburg einige Daumenschrauben anzulegen. Es ist mir berichtet worden, daß er in den Kämpfen von 92 und 93 seinen Truppen böse Übergriffe erlaubt hat. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn unter solchen Umständen dem kaiserlichen Namen unwünschenswerte Attribute angehängt werden.
Der Kaiser schluckte.
– Ich wüßte gerne, wer Ihnen solche Berichte gegeben hat . . .
– Wer? Sind Sie schon so gefürchtet, daß Ihre nächsten Berater und Mitarbeiter Ihnen nicht mehr klaren Wein einzuschenken wagen? Es scheint, ich bin die einzige Person in Ihrer Umgebung, welche noch nicht zu Kreuze kriecht. Spüren Sie denn die Angst nicht, welche Ihnen vorauseilt? Haben Sie sie nicht in Mailand genau so um sich gespürt, wie die erdrückende Luft um die Mauern? Sind Sie der Ansicht, Ihre Macht sei auf solchem Fundamente wirklich gefestigt? Glauben Sie etwa auch, Richard Löwenherz sei nun Ihr Freund, weil er Ihnen fünfhundert Ritter für den Feldzug zur Verfügung gestellt hat? Ein einziger, entscheidender Fehlschlag – und Sie werden zu spüren bekommen, wie schwach auch heute noch das Reichsgebäude ist! Verrechnen Sie sich nicht im Endentscheid! Seien Sie sparsam mit allen Mitteln der Gewalt! Es macht mir keine Freude, Ihnen diese Dinge zu sagen. Mein Pflichtgefühl 232 befiehlt mir, es noch einmal zu tun, ehe ich Sie verlasse.
– Sie beharren also auf dieser Marotte? Sie wollen sich der Teilnahme an Meinen Siegen entziehen?
– Ich habe in den kommenden Monaten Wichtigeres zu tun, als mir huldigen zu lassen . . .
– So . . . Und das wäre?
– Mich in der klaren Bergluft von Spoleto auf meine Pflichten in Sizilien vorzubereiten . . .
– Und das Reich?
– Ist Ihre Angelegenheit, in der ich Ihnen jeden Vortritt lasse . . . Lassen Sie mir den meinen in Meinem Lande. Ich zweifle nicht, daß wir dann die verbindende Formel finden werden . . .
Die Erregung, welche sich des Kaisers bemächtigt hatte, war so groß, daß selbst Konstanze einen Augenblick lang vor dem zerrissenen Ausdruck des bleichen Gesichtes erschrak – – Da ging eine seltsame Veränderung in diesen Zügen vor. Ein plötzliches Aufleuchten kam in ihre Verzerrtheit:
– Konstanze, hat Ihre Absicht, sich von mir zu trennen – die Anstrengungen der Reise und des Feldzuges zu vermeiden, vielleicht Gründe, an die ich nicht zu glauben wage? Ihre Beschwerden – Ihr verändertes Wesen – Ihre Schroffheit . . .
Er starrte auf den Leib der Frau, die vor ihm in der heißen Helle des Wandelganges stand. Sie war schlanker als je, straff gegürtet und von der leicht gebräunten, ausgeglichenen Farbe im Gesichte, die sie immer annahm, sobald sie in südliche Luft trat.
In einer plötzlichen Aufwallung von Güte ging sie auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Achsel: 233
– Heinrich, wir haben den letzten Weg zu unserem großen Ziel gemeinsam angetreten. Sorgen Sie dafür, daß wir ihn gemeinsam vollenden – und Frieden finden.
Heinrich wandte den Blick seitwärts:
– Es wäre mir sehr erwünscht gewesen, daß Sie bei mir bleiben.
– Es darf nicht sein, Heinrich. Glauben Sie es mir . . . Ich muß in die Stille . . . Ich muß geschont werden . . .
– Also – doch?
– Ja. Der vierte Monat.
Am späten Nachmittag des gleichen Tages meldete man der Kaiserin Lothar von Ingelheim, der in der Frühe auf einem pisanischen Kriegsschiff in Livorno gelandet war. Als sie ihm lächelnd entgegenging und beide Hände hinhielt, glaubte er zunächst, eine Erscheinung vor sich zu haben . . .
– Kommen Sie doch! rief sie . . . Ich bin es wirklich . . . Sie sehen mich ja an, als ob Sie plötzlich durch das Dach in diesen Raum gefallen wären . . .
Er kniete und preßte seine Lippen auf den blassen Handrücken . . .
– Woher kommen Sie, Lothar?
– Aus Palermo . . . Von Richard Ajellus, der mich nach Tankreds Tod zu sich gerufen hatte . . . Ich war eine Woche bei ihm . . .
– Ah – Es gibt also doch noch Freunde, die ein Opfer bringen . . . 234
– Es war mir kein Opfer, Majestät. Richard ist einer der wenigen Menschen, die ich liebe. Er ist auch – obwohl von der Gegenpartei – einer der wenigen, welche die Lage und die Haltung Eurer Majestät verstehen . . .
– Bringen Sie Nachrichten für mich?
– Eine einzige: Richard glaubt, daß es ihm gelingen wird, die friedliche Übergabe des Landes an das Imperium – nicht an die Person des Kaisers – durchzusetzen, wenn Eure Majestät allein und mit ausschließlichen Machtbefugnissen die Herrschaft übernehmen. Denn er hält es nicht für möglich, daß die unbeliebte Königin-Witwe Sibylle sich in ihrer Regentschaft für den unmündigen Wilhelm halten könne. Natürlich fordert er weitgehende Garantien von dem Kaiser.
– Haben Sie Vollmacht, dem Kaiser diese Garantien zu unterbreiten?
– Ich habe darum gebeten, mich nicht zu ihrem Überbringer zu machen. Es ist die Aufgabe eines sizilischen Diplomaten, mit dem Kaiser über diese Angelegenheit zu verhandeln, nicht diejenige eines deutschen Privatmannes . . .
– Kann es denn Richard überhaupt wagen, eine solche Politik hinter dem Rücken der Königin zu betreiben?
– Nicht in der Öffentlichkeit. Aber Eure Majestät wissen ja aus eigner Erfahrung, daß sich fast immer das scharf umrissene politische Programm aus Strömungen ergibt, welche von dem oder jenem am Hofe in Bewegung gesetzt werden . . . Sie sind zunächst unterirdisch – und schließlich so deutlich, daß sie als Tatsache wirken, mit der zu rechnen ist. Noch darf Richard 235 nichts von seinen Absichten ahnen lassen. Er wäre verloren, zumal man ihm, wie Eurer Majestät bekannt ist, niemals ganz getraut hat . . . Meine Anwesenheit in Palermo ist diesmal bei Hofe mit recht unfreundlichen Augen angesehen worden. Sibylle hat mich auf Schritt und Tritt durch die Geheimpolizei überwachen lassen. Sie hätte mich sogar vielleicht als Geisel festgenommen, wenn ihr meine guten Beziehungen zu dem Admiral Margaritus nicht bekannt gewesen wären. Bei diesem habe ich diesmal gewohnt, nicht bei Richard. Das sagt mehr als alle Worte.
– Wie denkt Margaritus heute?
– Er erklärt sich nicht deutlich. Er behauptet, daß der Kaiser zunächst die Regentschaft Eurer Majestät einsetzen werde, um dem Buchstaben zu genügen. Aber nach zwei oder drei Jahren werde er, wie es seine Art sei, – sich selbst in den Besitz der wichtigsten Vorrechte gebracht und seine draufgängerischsten Freunde in solche Machtstellungen eingesetzt haben, daß das Regiment Eurer Majestät nur noch ein Schattenregiment sei. Jeder Herrscher von der Art des Kaisers, meint er, werde unter den gleichen Vorbedingungen genau so handeln, ja handeln müssen.
– Verspricht sich denn Margaritus noch etwas von einem bewaffneten Widerstand?
– Es scheint so.
– Wie ist das möglich bei einem Manne, der zu rechnen versteht?
– Majestät, der Haß gegen den Kaiser hat in ganz Sizilien eine Heftigkeit erreicht, die sich nicht schildern läßt. Die Kurie hat sich liebevoll der Affäre des 236 englischen Königs angenommen und eine wahre Drachensaat von Verleumdungen im ganzen Lande ausgestreut.
– Richard Löwenherz hat doch nur geerntet, was er gesät hat.
– Die gerechte Abwägung, Majestät, hat keinen Raum im Urteil verhetzter Menschen. Die Angst als Mutter des Hasses formt das Urteil . . . und doppelt ungerecht, wenn zu ihr die Ablehnung einer fremden Wesensart kommt. Man will nichts wissen von den kaiserlichen Generalen, welche man seit 89 im Vordergrund des politischen Geschehens auftreten sieht. Namen wie Diepold von Vohburg, Markward von Anweiler, Konrad von Lützelinhard sind dem Volke rotes Tuch. Man will sie um gar keinen Preis im Lande dulden. Man will lieber untergehn, als sich ihrer Herrschaft beugen.
– Sie wissen, daß die apulischen Barone heute anders denken? Jeden Tag kommen ihre Abgesandten und huldigen dem Kaiser im Namen ihrer Herren. Es wird kein Schwertstreich auf dem Festland fallen . . .
Lothar zuckte die Achseln:
– Wenn Sizilien siegt, werden sie ihre Boten wieder zu Sibylle senden . . .
– Sizilien wird nicht siegen . . . Diesmal bestimmt nicht . . . Lothar, sprechen Sie mit dem Kaiser – sprechen Sie ohne jede Scheu: es gibt keinen anderen Weg mehr, ein beispielloses Unglück zu verhindern. Der Kaiser wird begreifen, daß es jetzt vor allem mir gelingen muß, die Herzen der Sizilianer zu gewinnen. – Er wird mir keine Steine in den Weg 237 werfen . . . Sie zweifeln? Dann muß ich doppelt stark sein . . . Um so stärker, je einsamer ich bin . . .
Sie ging im Zimmer auf und ab, blieb stehen, ging wieder weiter . . .
– Sie dürfen nicht zweifeln, Lothar. Sie nicht. Sie müssen mir helfen . . . Ich werde unbesiegbar sein in meinem Willen . . . Der Kaiser wird sich fügen . . . Diesmal wird er sich fügen . . . Hören Sie Lothar: er hält große Stücke auf Sie . . . Er ist heute guter Laune . . . Sprechen Sie mit ihm unter vier Augen. Ich werde diese Unterredung nach der Abendtafel zustande bringen . . . Niemand braucht zu wissen, woher Sie kommen . . .
– Und die Schiffslisten, Majestät? Und die Pässe? Und die Hafenkontrolle? Und die kaiserlichen Spione?
– Dann – in Gottes Namen – soll der ganze Hof erfahren, wo Sie waren! Wen, zum Teufel, hat das etwas zu schweren? Was liegt an der Meinung dieses ganzen Geschmeißes, wenn es um das Glück meines Vaterlandes geht? Verkennen Sie Ihre große Stunde nicht! Es geht um alles! Lothar, es geht um mich – und mein Kind . . . Um meinen Sohn vielleicht . . . Um das Schicksal des Abendlandes . . .
– Um Ihr Kind?
– Ja, um mein Kind. Ich gebe Ihnen mein Geheimnis preis, das in sechs Monaten der Welt offenkundig sein wird, wenn Gott dem Leben in mir beisteht . . . Was ist Ihnen?
– Verzeihung, Majestät . . . Nun weiß ich, warum ich betroffen war, als ich Sie vorhin nach so langer Trennung wiedersah . . . Es ist die Mutterschaft, die Ihnen diese Jugend gibt, diese Jugend des Wesens und 238 des Bildes, als ob Sie aus sich selber neugeboren würden . . .
– Ich werde neugeboren. Ich spüre eine Kraft in mir, Berge zu versetzen – und möchte dennoch weniger als je allein sein . . . Wer ein Leben in sich reifen fühlt, wünscht sich die Nähe des Bildes, nach dem er dieses Leben formen möchte – –
Lothar, zum erstenmal in seinem Leben unfähig, eine Antwort zu geben, neigte nur den Kopf. Er stand unbewegt, wie die Kaiserin. Beide warteten. Als er schließlich aufschaute, war er allein – –
Während er sich zum Gehen anschickte, betrat Vaqueiras den Raum.
Bei der Abendtafel des Hofes saß Lothar Ingelheim zur Linken des Kaisers. Viele der Anwesenden kannten ihn aus früheren Jahren. Man hatte gesagt, woher er soeben gekommen war. Die Neugierde und das Geraune waren groß. Nicht minder groß die heimliche Abneigung gegen ihn. Man hatte ihm niemals die eiskalte Höflichkeit verziehen, mit der er sich eigentlich alle vom Leibe gehalten hatte – und ärgerte sich nun bis zur Entrüstung, als man gewahrte, mit welcher Gleichgültigkeit er die offensichtliche Gunst des Kaisers hinnahm. Nur Blikker von Steinach, der Minnesänger, beobachtete ihn mit unverhohlener Anteilnahme. Es wäre besser um unseren Ruf in der Welt bestellt, dachte er bei sich, wenn junge Deutsche wie dieser da an sichtbaren 239 Posten stünden. Was hatte der Neid dem früheren Adjutanten der Kaiserin nicht alles angehängt: Hochmut, Strebertum, Berechnung, Ausländerei . . . Welche abfälligen Worte über Gott und die Welt hatte ihm böswillige Dummheit, die in den oberen Schichten noch mehr zu Hause ist als in den geringeren, nicht in den Mund gelegt – Worte, die er niemals ausgesprochen hatte, niemals hätte aussprechen können, weil ihn schon seine natürliche Klugheit vor jeder unüberlegten Äußerung bewahrte! Wie hatten ihn die Flegel, die Rüpel, die Raufbolde zu reizen und herauszufordern versucht, und welche bösen Abfuhren hatte ihnen die spöttische Freundlichkeit erteilt, mit der er sie auf das Glatteis ihrer Unbildung lockte und dort liegen ließ, sobald sie gestolpert waren . . .
Der Kaiser, zur Schadenfreude neigend und schon lange ein Menschenverächter, spürte das Unbehagen, welches die unverhoffte Anwesenheit Lothars unter den Hofschranzen hervorrief. Er fand seine helle Freude daran, es durch besonders betonte Liebenswürdigkeiten zu steigern. Als nach Tisch die Spielleute und Gaukler kamen, legte er Lothar den Arm auf die Schulter und sagte, während er sich erhob:
– Kommen Sie, lieber Freund . . . gehen wir an die Arbeit – und gönnen wir unseren vielgeplagten Herren die wohlverdiente Entspannung.
Während die glanzvolle Versammlung in tiefer Verbeugung verharrte, gingen der Kaiser und Lothar aus dem heißen Saale. – –
Niemand war bei der langen Unterredung zugegen, die nun in dem Arbeitszimmer des Kaisers begann. Fast eine Stunde lang hatte der Kaiser Fragen über das 240 persönliche Leben seiner sizilischen Gegenspieler gestellt, über ihr Wesen, ihre Vermögensverhältnisse, ihre verwandtschaftlichen Bindungen. Mit großer Vorsicht hatte Lothar geantwortet, sehr oft Zweifel bestehen lassen, wo er Genaues wußte, und niemals das Nachteilige unterstrichen. Enttäuscht, wenn nicht unwillig, hatte der Kaiser schließlich seine Fragen aufgegeben und Lothar aufgefordert, ihm seine ›grundsätzliche‹ Stellungnahme zur sizilischen Frage im Rahmen der Reichspolitik mitzuteilen:
– Sprechen Sie so, sagte er, als sie sich an den arabischen Messingtisch gesetzt hatten, wo eine starke Linden-Tisane aufgetragen worden war, als ob Sie zu einem Ihrer Studienfreunde in Paris oder Palermo sprächen. Sprechen Sie völlig unbefangen und in unbedingtem Vertrauen zu einem Gleichaltrigen. Vergessen Sie den Kaiser. Wir sind beide – Gott sei Dank – noch junge Männer. Was Sie mir sagen, gilt nur mir. Es wird von keinem Staatsschreiber gebucht – und geht nicht in die Archive des Reiches. Es wird für niemanden je gewesen sein, als für uns beide. Sie haben den Mut gehabt, dem Üblichen zu trotzen. Sie haben auf die sogenannte ritterliche ›Laufbahn‹ verzichtet. Sie haben mir – als Adjutant der Kaiserin – unschätzbare Dienste geleistet und eine Vornehmheit der Haltung bewiesen, die ich Ihnen nie vergessen werde. Sie haben erst nach mutiger und gewissenhafter Pflichterfüllung wieder an sich selbst und die Vollendung Ihrer Studien in Palermo und Paris gedacht. Es scheint mir, Sie sind im Begriff, mir abermals einen großen Dienst zu erweisen –
– Ich hoffe, Eurer Majestät nützlich sein zu können. In allem, was ich tue, leitet mich nur der Gedanke an das 241 Reich. Es ist nicht nötig, daß man ewig ein Schild vor sich hertrage, auf dem Krethi und Plethi die Devise lesen kann, unter der man lebt und wirkt. Wer nicht die Kraft zur Unbeliebtheit aufbringt, dem fehlt ein Letztes in seiner Überzeugung. Ich bin, als ich im Jahre 87 Deutschland verließ, ohne jede Voreingenommenheit gegangen. Auch ohne politische. Ich wollte ganz einfach mit eignen Augen sehen und mit eignen Ohren hören. Meine Erfahrungen sind vielfältig und wesentlich. Sie haben mir Klarheit, aber wenig Freude gegeben. Sie haben mich vor allem gelehrt, daß der anspruchsvolle Glücksbegriff der meisten Menschen in einem merkwürdigen Widerspruch zu den ärmlichen Voraussetzungen steht, die zu seiner Erfüllung vorhanden sind. Es scheint tatsächlich, daß man hundert verlangen muß, wenn man zehn erreichen will. Seitdem ich dieser schmerzlichen Wahrheit inne wurde, sind mir die Notwendigkeiten der kaiserlichen Reichspolitik klargeworden. Solange es eine päpstliche Macht gibt, welche auf Weltgültigkeit Anspruch erhebt, muß es eine kaiserliche gleichen Anspruchs geben. Die Welt lebt und entfaltet sich an der ewigen Spannung zwischen Geist und Stoff. Ist der weltverbindende Reichsgedanke einmal auf dem Wege der Verwirklichung, so kann er natürlich nicht an beliebiger Stelle haltmachen. Er kann erst da haltmachen – und muß es –, wo äußerer Besitz ihn aufzehrt, anstatt ihn zu nähren: wo in den Menschen, welche dieses oder jenes Land bewohnen und als das ihrige empfinden, kein Gefühl mehr dafür vorhanden ist, daß ihnen eine Bindung an die Oberhoheit des Reiches zu wirklicher Bereicherung diene oder auch nur wertvollen Schutz gewährleiste. 242 Die ganze Frage der Reichsmacht also, die sich auf den Kaiser stützt, scheint mir in die Frage zu münden, wie die jeweiligen Bindungen der Reichsteile an das Reichsganze zu vollziehen und aufrechtzuerhalten seien. Hier beginnt die Kunst des Regierens. Regieren heißt, sich von Fall zu Fall der richtigen Mittel zu bedienen.
– Der richtigen Mittel, wiederholte der Kaiser. Da haben Sie die Schlaflosigkeit meiner Nächte und die Folter meines Gewissens! Das Wort sagt sich leicht – und erfüllt sich schwer! Denn diese sogenannten richtigen Mittel bemessen sich nicht nur, wie der leichtsinnige Beurteiler glaubt, nach den Bedürfnissen derer, denen sie gelten, sondern auch nach der Willensweite dessen, der sich ihrer bedient . . . Ich nehme an, Herr von Ingelheim, auch Sie hatten Gelegenheit genug, zu erkennen, wie erschütternd das Unvermögen des Durchschnittes ist, den Flug wahrhaft hoher Gedanken zu begreifen . . . Ich nehme an, auch Sie haben erfahren, welche Wut sich unseres ganzen Wesens bemächtigt, wenn wir uns die Flügel immer und immer wieder an bösem Willen oder an sträflicher Dummheit blutig stoßen . . .
– Eben weil ich diese Erfahrung habe, Majestät, habe ich im Verfolgen meiner Pläne immer auf die Anwendung von Mitteln verzichtet, welche mich überflüssige Kraft gekostet und meinem Ziele faktisch nicht näher gebracht hätten. Ich halte – was Eure Majestät bestimmt auch tun – die Klugheit für eine weit größere Macht als die Gewalt.
Der Kaiser zog die Stirne in Falten und sah vor sich hin. Dann stieß er, ziemlich barsch, hervor: 243
– Ich sehe schon, wohin die Reise geht . . .
– Geradewegs nach Sizilien, Majestät, erwiderte Lothar mit jener traumwandlerischen Sicherheit, die ihn immer über die gefährlichsten Stellen hinaustrug.
Verblüfft über die Nacktheit der Antwort und gleichzeitig entzückt über ihre furchtlose Anmaßung, sagte der Kaiser:
– Wenn Sie es so eilig haben – warum sind Sie denn nicht sofort in medias res gegangen?
– Weil es mir wesentlich war, Eurer Majestät verständlich zu machen, daß meine Beurteilung der sizilischen Frage aus Gesichtspunkten höherer Ordnung herfließt. ›Reich‹ ist ein ewiger Begriff. Genau so ewig ist der Begriff ›Kirche‹. Die Wirkungs- und Auswirkungsmöglichkeiten, welche für das ›Reich‹ in seiner Gesamtheit gelten und je nach der Eigenart seiner einzelnen Teile abgestuft werden müssen, dürfen sich nicht auf einer ethisch niedrigeren Ebene vollziehen als derjenigen der ›Kirche‹. Viel eher auf einer höheren. Dann haben sie außer ihrer Gültigkeit auch noch ihren Kampfwert!
– Lieber Ingelheim! Die Schule von Paris hat bei Ihnen keine schlechten Früchte gezeitigt!
– Nicht die Schule von Paris, Majestät. Nur die Schule des gesunden Menschenverstandes.
– Und Sie glauben, daß ich mir diese sizilischen Rebellen mit den Mitteln dieses gesunden Menschenverstandes gefügig machen kann? Dazu müßten doch sie selbst ihn erst einmal haben oder zumindest anerkennen!
– Ich glaube nicht, Majestät, daß es sich um ein Gefügigmachen handelt . . . 244
– Um was denn anderes!
– Um viel mehr: um eine wirkliche Befriedung.
– Die ist ja noch nicht einmal den sizilischen Königen selbst gelungen . . .
– Ich sehe nicht, warum sie deshalb auch Eurer Majestät nicht gelingen sollte. Ich glaube, daß eine – gar nicht erwartete – kaiserliche Milde von zehnmal größerer Wirkung sein wird als die gleiche Milde eines Königs aus der einheimischen Dynastie . . .
Der Kaiser schaute lange auf Lothar Ingelheim. Dann ging sein Blick über ihn hinaus in eine große Ferne des Gedankens . . .
– Ich möchte von Ihnen jetzt andere Dinge hören, sagte er nach langer Pause. Sie haben vorhin gesagt: ›Die Frage der Reichsmacht ist die Frage, wie die jeweiligen Bindungen der Reichsteile an das Reichsganze zu vollziehen und aufrechtzuerhalten seien.‹ Sie wissen doch, daß in den verschiedenen Reichsländern sehr verschiedene Verwaltungsmaßnahmen geübt werden. In den republikanischen Städten der Lombardei zum Beispiel ganz andere als in dem feudalen Tuskien. Sie können also mit Ihrem Ausdruck ›jeweilige‹ Bindungen nicht auf diese Frage anspielen . . .
– Gewiß nicht, Majestät. Verwaltungsmaßnahmen scheinen mir keine politischen Bindungen darzustellen. Alle politischen Bindungen – und nur von solchen kann hier die Rede sein – gehen von einer seelischen Grundlage aus . . . Eine weniger gut verwaltete Provinz kann hundertmal treuer zum Reiche stehen als eine mustergültig verwaltete, wenn das Reich ihre Seele nicht vergewaltigt . . .
– Was nennen Sie denn die ›Seele‹? 245
Lothar nahm einen Schluck aus der Tasse, welche neben ihm stand, überlegte einen Augenblick und sagte dann:
– Wenn es unbestreitbar ist, daß in allen Staaten des Abendlandes die gleichen Stände die tatsächliche Macht ausüben: die Fürsten, der Adel, die Ritter und der Klerus, wenn das Hin und Her über die Grenzen unter diesen Ständen ohne Zweifel sehr rege ist, so steht doch fest, daß sich innerhalb der Grenzen ein volksmäßiges Einheitsgefühl zu entwickeln beginnt, das kein Politiker mehr übersehen darf, der sich nicht auf gefährliche Fehlschläge gefaßt machen will. Die seelische Besonderheit der europäischen Staaten drückt sich in dieser besonderen Bewußtheit weit deutlicher aus als in dem kosmopolitischen Empfinden der herrschenden Stände. Aber selbst diese können sich ja der von unten aufsteigenden Woge kaum noch entziehen. Sie gleichen sich ihr an, ohne zu wissen wie. Ich glaube nicht, daß irgendeine Macht der Welt dieses Zusammengehörigkeitsgefühl noch einmal vernichten kann. Es beachten, heißt, seine Träger für sich gewinnen. Es mißachten, heißt, sich Todfeinde machen. In kaum einem Staate hat es schon so klare Formen angenommen wie in Sizilien. Wenn Eure Majestät es nicht nur schonen, sondern auch pflegen, wird die Grundlage zu einer Reichseinheit geschaffen werden, deren Kraft heute kaum jemand ahnt. Es wäre die anziehende und ausgleichende Kraft einer Confoederatio, einer Coordinatio aller Teile unter einer freiwillig anerkannten Oberhoheit, der die außenpolitische Führung zufiele. Ein solches ›Reich‹ geschaffen zu haben, würde den Namen Eurer Majestät unter die Sterne versetzen – und die 246 Kurie für immer in ihre Schranken verweisen . . . Ich glaube, es wäre das einzige, heute mögliche Reich, dem man einen langen und sicheren Bestand voraussagen könnte. Denn seine einzelnen Teile wären gegenseitige Ergänzungen, die an einem abermaligen Auseinanderfallen nichts zu gewinnen, sondern viel zu verlieren hätten . . . Was ich sage, Majestät, greife ich nicht aus der Luft. Als Schüler der nominalistischen Lehre muß ich ja in den Dingen selbst denken. Ich stütze mich auf das, was ich in Frankreich, in Burgund, in Romanien, in Aragon, in Navarra, in Italien und vor allem in Sizilien feststellen konnte. Möglich, daß ich vorauseile und die Zeiten noch nicht reif sind . . . Was hindert Eure Majestät, sie in gemeinsamer Arbeit mit der Kaiserin zur Reife zu bringen?
Der Kaiser fuhr hoch und ging gegen Lothar, der sich ebenfalls erhoben hatte. Die beiden jungen Männer maßen sich Auge in Auge . . . Heinrichs Absicht, heftig zu entgegnen, schwand vor der ungeheuren Ruhe des Blickes, der auf ihn gerichtet stand. Dieser Blick war die Überzeugung selbst, gegen die es keine Einwände gibt, war das bessere, vielleicht den Wirklichkeiten weit vorausgreifende Wissen, das sich nicht begründen läßt . . .
– Ich danke Ihnen, Ingelheim . . . Sie haben, an Frankreichs Wort geschult, auf Ihre Weise Dinge gesagt, die begreiflich und zeitgemäß, aber keineswegs neu sind . . .
– Ich würde mir niemals anmaßen, antwortete Lothar, Eurer Majestät ›neue‹ Gedankengänge zu erschließen . . . Ich würde dies um so weniger wagen, fügte er fast nachlässig zu, als ich diesem sogenannten ›Neuen‹ 247 mit der mir eingeborenen Zurückhaltung begegne: wenn ich natürlich auch nicht so weit gehe wie mein Pariser Lehrer, der ihm überhaupt jeden Sinn abspricht . . .
– Wissen Sie, rief der Kaiser, daß ich das gleiche noch gestern auf der Fahrt von Spezia nach Livorno dem Grafen Querfurt gesagt habe? Sollten wir uns in diesem Punkte begegnen? Ja? Aber dann erklären Sie mir, wie Sie an das Phantom einer Confoederatio glauben können?
– Eine Confoederatio ist keine Vereinigung von Staaten, in denen die Menschen plötzlich Engel geworden sind, sondern ein freiwilliges Nebeneinander von mehr oder minder großen politischen Gebilden, welche ihren Vorteil im fruchtbaren Ausgleich, nicht aber im fruchtlosen Kampf sehen . . . Ich meine, Majestät, was die lombardischen Städte im Vertrag von Piacenza fertiggebracht haben, das könnten größere Einheiten auch fertigbringen, sofern sie nur richtig geleitet werden . . .
– Jawohl: jedoch nur unter der Voraussetzung, die Sie übersehen: daß nämlich zuvor die ewigen Ruhestörer mit eiserner Faust zermalmt worden sind. Denn wo immer eine höhere Einheit geschaffen werden soll, sträuben sich gegen sie mit Händen und Füßen die Nutznießer der kleineren! Da liegt der Kern des ganzen Problems! Der Kern, der so alt und so neu ist wie die Welt seit der Erschaffung der Menschen . . . Glauben Sie mir doch: ich habe – so wahr ich der Kaiser bin – keine schlechteren Absichten mit Sizilien als die Kaiserin. Ich weiß aber ganz genau, daß ich die bösen Geister, welche dort ihr eigenes Land nicht zur Ruhe 248 kommen lassen, nicht mit einem Flötenkonzert beschwören kann! Vergessen Sie nicht, daß ich zehn Jahre lang höchst wirkliche Politik getrieben habe, daß ich manchmal Blut geschwitzt habe, wenn sich das Feindliche bis zum Berg vor mir auftürmte! Die Menschen sind nichtsnutzig, lieber Ingelheim . . . Politik machen heißt in den heutigen Zeiten: den Teufel austreiben . . .
– Durch Beelzebub . . .
Nun loderten die Augen des Kaisers auf:
– Ganz recht: auch durch Beelzebub, wenn es gar nicht anders geht. Und in neunzig Fällen von hundert geht es wirklich nicht anders.
– Ich hoffe, sagte Ingelheim leise, Sizilien gehört zu den zehn Ausnahmefällen . . .
– Das wollen wir abwarten . . .
Der Kaiser setzte sich wieder auf seinen Stuhl, erleichtert, sich Luft gemacht und den Partner mattgesetzt zu haben. Er merkte gar nicht, welchen gefährlichen Wink er diesem Partner gegeben hatte.
Lothar, der an der Tischkante lehnte, erwiderte:
– Ich glaube, daß es ganz bei Eurer Majestät steht, einen Ausnahmefall zu schaffen . . .
Der Kaiser schlug, aufbrausend, mit der flachen Hand auf die Seitenlehne seines Stuhles:
– So! Wollen die Herren da unten – zur Vorsicht – etwa mir schon im voraus die Verantwortung aufbürden?
– Im Gegenteil, Majestät. Abnehmen, indem sie Vorschläge unterbreiten lassen, über die sich wohl reden ließe . . .
– Vorschläge? Das soll wohl ›Bedingungen‹ heißen?
– Mein Freund Richard Ajellus, Majestät, von dem 249 ich komme, hat die geschliffene Feinheit des gebildeten Sizilianers. Ich nehme nicht an, daß er glaubt, mit so plumpen Mitteln für sein Land etwas erreichen zu können . . . Seine Vorschläge werden – wie alles auf der Welt – Grenzen haben: aber das macht sie ja noch nicht zu Bedingungen . . .
– Also heraus damit . . .
Lothar gab seinen Augen den Ausdruck eines betroffenen Erstaunens . . .
– Ich, Majestät, habe keine Befugnis, sie zu übermitteln. Ich kenne sie nicht einmal.
– Was? – Ja, wozu sind Sie denn nach Pisa gekommen?
– Um der Kaiserin, meiner Herrin, meine Aufwartung zu machen, ehe ich zu meinen Eltern weiterreise.
– Aber Sie wissen doch den Inhalt der Vorschläge?
– Auch das nicht, Majestät. Richard Ajellus hat mich lediglich ermächtigt, Eurer Majestät oder der Kaiserin seine Absicht mitzuteilen und mich zu vergewissern, ob man geneigt sei, sie zu hören und seiner Person den Schutz der unbedingtesten Verschwiegenheit zuzusichern . . .
– Gut. Schreiben Sie Richard, daß wir ihn hören und selbstverständlich schützen werden . . .
– Ermächtigen mich Eure Majestät, dem Briefe beizufügen, daß Eure Majestät auf eine kriegerische Eroberung Siziliens verzichten werden, falls die Vorschläge annehmbar sind?
– Warum nicht? Kriege sind teuer. Ich bin noch nie ein Verschwender gewesen . . .
– Darf ich mir die Frage erlauben, wer den Brief überbringen wird? 250
– Sie sind sehr vorsichtig, Ingelheim . . . Unangenehm vorsichtig . . . Nun: unser treuester apulischer Freund, der Graf Celano . . .
– Eben diesen wollte ich vorschlagen. Es gibt keinen besseren, da er das volle Vertrauen Richards Ajellus besitzt. Er ist auch der geeignete Mann, Richards Vorschläge Eurer Majestät und der Kaiserin zu unterbreiten . . .
Heinrich biß sich auf die Lippen.
– Also nochmals, Ingelheim, schreiben Sie . . .
Dann, den Ton völlig ändernd:
– Ich werde Sie zur Bearbeitung der sizilischen Angelegenheiten dem Grafen Querfurt beigeben . . .
– Darf ich Eure Majestät bitten, von diesem Plane Abstand zu nehmen? Es ist mein unumstößlicher Entschluß, der Politik fernzubleiben . . .
– Was? Sie wollen ablehnen, wonach sich Hunderte die Finger ablecken?
– Ich habe keine Ambitionen nach dieser Seite hin.
– Und wenn ich Sie zwänge, anzunehmen?
– Zwang, Majestät, trägt seinen verdienten Lohn in sich selbst. Sie können mich in Ketten legen, wenn es Ihnen angebracht scheint. Mich zu einer Arbeit zwingen, die ich nicht tun will, das können auch Sie nicht.
– Und warum wollen Sie denn diese Arbeit nicht tun, nachdem Sie doch schon die Hände im Spiel haben – und wie!
– Ich bestreite, daß ich die Hände im Spiel habe . . . Ich habe, jenseits aller Politik, einem persönlichen Freunde einen persönlichen Dienst getan. Weiter nichts.
– Und . . . die Kaiserin? 251
– Kann den Anspruch darauf erheben, daß ihr ehemaliger Adjutant sie heute genau so wenig im Stiche läßt wie während ihrer Gefangenschaft.
– Ah . . . Wäre es etwa Ihr Wunsch, die Stelle eines Adjutanten bei Ihrer Majestät wieder einzunehmen?
– Der einzige, den ich hege – sofern sich Eure Majestät einverstanden erklären . . .
– Gut . . . Wann gedenken Sie aus Deutschland zurück zu sein?
– Im Oktober. Nach der Weinlese.
– Sie haben Raum für viele Dinge in Ihrer Natur . . .
– Ich bin ein Kind des Rheingaues, Majestät.
– Das erzbischöfliche Köln ist nicht weit von Ingelheim . . .
– Das kaisertreue Mainz ist näher . . .
– Ich hoffe, Sie werden das nie vergessen . . .
– Man vergißt nichts, das sich einem nicht entzieht . . .
– Und man entzieht sich niemandem, der es nicht verdient . . . Ingelheim, Sie haben das Zeug zu einem Staatsmann. Machen Sie keine Torheiten . . .
– Majestät, ich habe zuviel Ekel vor den Machenschaften der Welt, um Torheiten zu begehen. Auch weiß ich, was ich den Grenzen meines Wesens schuldig bin.