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Sechstes Kapitel. Lord Woldo und Lady Woldo

I

Am nächsten Morgen machte Josef wieder das Fenster weit auf und teilte seinem Herrn mit, daß das Wetter hell und sonnig war, und Edward Henry stand mit jener angenehmen Müdigkeit auf, in der man sich womöglich noch angeregter und lebendiger fühlt als sonst. Er schickte nach Herrn Bryany wie nach einem Bedienten, und Herr Bryany erschien, feierlich gekleidet, und wurde von einem leutseligen Herrscher empfangen, der sich gerade im königlichen Badezimmer den Bart stutzen ließ und zu gutmütig war, Herrn Bryany warten zu lassen. Erstaunlich, wie Herrschergewohnheiten, wenn sie einmal Wurzel geschlagen haben, auch in den unmonarchischsten Menschen sich entwickeln und gedeihen. Edward Henry erkundigte sich erst, wie es Herrn Seven Sachs ging, und erhielt dann von Herrn Bryany die noch fehlenden Papiere und Informationen bezüglich der Option. Dann zog sich Herr Bryany zurück, offenbar stolz auf die Ehre, so unformell empfangen worden zu sein. Und auch Edward Henry fühlte sein Lebensgefühl so gekräftigt, daß er zu sich selbst sagte: »Es wäre vielleicht doch ganz gut, wenn ich mir den Bart abrasierte!«

Als er in seinem elektrischen Auto durch das spiegelnde Piccadilly hinabfuhr, gab er zu, daß Josef ihm genau berichtet hatte. Das Wetter war herrlich. Fahnen wehten über den Tabakläden und von den Gebäuden der Versicherungsgesellschaften. Es gab eben keine Stadt wie London. Das Weltreich war berauschend fühlbar. Als er jedoch in minder prächtige Straßen einbog und ans Majestic kam, da schien es ihm, als ob das Majestic nicht mehr zu London, sondern bereits zur Provinz gehörte. Herablassend nahm er seine Post in Empfang. In wenigen Tagen war das Majestic zu einem etwas angeschwollenen Türkenkopf herabgesunken. So vergänglich ist ein großer Ruf.

Von dort fuhr Edward Henry wieder in die stolzeren Gegenden zwischen Piccadilly und Regent-Street zurück und würdigte seinen Schneider eines Besuchs. Da ein Vormittagsanzug, den er bestellt hatte, wunderbarerweise auch schon fertig war, legte er ihn an und fühlte sich sogleich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich wie umgewandelt. Der alte Anzug, der seinerzeit fünf Goldpfund gekostet hatte, sah armselig und altmodisch aus, als er gleichgültig hingeworfen auf einem Rohrstuhl in dem spiegelumkleideten viereckigen Zimmerchen lag, in dem Baronets und Pairs den wohlwollenden Blicken Herrn Cutherings sich in Hosenträgern zeigten.

»Jetzt möchte ich nach dem Piccadilly-Platz. Halten Sie am Springbrunnen«, sagte Edward Henry zu seinem Chauffeur. Er sagte es in beinahe trotzigem Ton, denn sein glänzender neuer Anzug machte ihn befangen, und er hatte die absurde Vorstellung, der Chauffeur könnte erraten, daß er ein Provinzler aus den Fünf Städten war, der sich in eine Theaterunternehmung im Westend einlassen wollte, und ihn entsprechend geringschätzen.

Aber der Chauffeur griff mit gleichgültiger Gebärde an die Mütze, als wollte er sagen: Bleiben Sie ruhig, ich habe schon verrücktere Leute gefahren. Mich überrascht keine menschliche Absonderlichkeit mehr.

Der Springbrunnen auf dem Piccadilly-Platz bot den fröhlichsten Anblick. Das frische Plätschern des Wassers mischte sich mit dem Duft und dem Flammen herbstlicher Blumen und den bunten Farben der in Schals gehüllten Frauen, die ihr Leben am Rande des Beckens verbrachten und dort Blumen feilboten. Edward Henry kaufte eine Aster von einer schönen, kecken, rotwangigen, zerzausten und schmutzigen Person, die ein Kind im Arm trug, und ließ ihr das Wechselgeld für das Kind. Er war in milder Stimmung, und alle Sünden und die Dummheit der Menschen kamen ihm entschuldbar vor. Er dachte verzeihend, daß Rose Euclid und ihre Freunde doch nicht so verrückt waren, als sie über den Namen des Theaters stritten, bevor sie auch nur den Grund gepachtet hatten. Schließlich hatte auch er die Option gekauft, ohne die Lage zu kennen. Allerdings hatte er in seiner kurzen Laufbahn in der neuen königlichen Atmosphäre, in der er sich jetzt bewegte, noch nicht Zeit gehabt, sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Er wollte es nun nachholen.

Als er sich rechts vom Feuerwehrgebäude nach Norden wendete, um das Grundstück zu suchen, auf dem sein Theater errichtet werden sollte, zauderte er, weil ihm war, als ob alle Vorbeigehenden nach ihm schauten. Ihm war zumute, als ob er ein Verbrechen plante. Er ging sogar ein paar Schritte zurück und tat, als sähe er nach den Fenstern des Feuerwehrgebäudes. Dann sah er befangen um sich und las auf einem Straßenschild die Worte »Regent-Street«.

»Ich hab's!« murmelte er, und es überlief ihn beinahe. »Ich hab's! Es gibt nur einen Namen für das Theater: ›Regenten-Theater‹. Es ist gleich bei der Straße; kein anderes Theater heißt so; niemand ist noch auf die Idee gekommen, ein Theater Regenten-Theater zu nennen. ›Musen‹, ›Intellektuelle‹, Unsinn! Das ›Regenten-Theater‹! Wie gut es sich ausspricht! Es ist der beste Theatername, den es geben kann! Und meine Wenigkeit mußte kommen, um ihn zu finden!« Er lächelte über seine eigene Schwäche. Machte er es nicht wie die anderen und taufte das ungeborene Haus? Dennoch träumte er weiter von seinem Theater und begann es sich in idealer Ausführung vorzustellen. Er hatte eine ganze Menge neuer und überraschender Ideen dafür, die auf seinen Erfahrungen als Theaterbesucher beruhten.

Er wußte, daß auf dem Grundstück sich eine alte Kapelle, die sogenannte Glashauskapelle, befand, die einer aussterbenden Sekte gehört hatte. Aber als er mit frischem Mut weiterging, fand er das Grundstück nicht, noch sah er die Kapelle. Für einen Augenblick kam ihm der schreckliche Verdacht, er könnte einer Bande von Schwindlern zum Opfer gefallen sein, die sich für berühmte Leute ausgaben. In dieser Welt und in diesem Jahrhundert war alles möglich! Alle, mit denen er in der Sache zu tun gehabt, hatten ganz anders ausgesehen, als er sich sie vorgestellt hatte! Und derartige Hochstapler wählten immer die Hotels ersten Ranges zum Schauplatz ihrer Schwindeleien! Eines stand für ihn sogleich fest: sollte er sich als Einfaltspinsel und Opfer erwiesen haben, so wollte er jedenfalls ein schweigender Einfaltspinsel sein. Nie sollte ein Wort davon über seine Lippen kommen, und den Verlust von zweihundert Pfund mußte er stoisch ertragen. Aber mit Erleichterung fiel ihm ein, daß er doch Rose Euclid und Seven Sachs erkannt hatte, und daß Herr Bryany unter anderen Papieren ihm auch eine Photographie der Kapelle und ihrer Umgebung eingehändigt hatte. Die Kapelle mußte also existieren. Er hatte ja den Plan in der Tasche. Diesen Plan entfaltete er jetzt und versuchte ihn in der Mitte der Straße zu vergleichen, aber er war so aufgeregt, daß er nicht ausfindig machen konnte, wo Norden und wo Süden war. Beinahe wäre er von einem Auto überfahren worden, und ein Schutzmann kam auf ihn zu und sagte mit der ganzen gutmütigen Verachtung, mit der ein Londoner Polizeimann einen Provinzler anspricht: »Wird schon sicherer sein, wenn Sie sich das auf dem Bürgersteig ansehen, Herr!«

Edward Henry sah von seinem Plan auf. »Ich suchte die Glashauskapelle, Herr Wachtmeister«, sagte er. »Wissen Sie, wo sie ist?« In Bursley redeten Mitglieder des Stadtrats die Schutzleute immer Herr Wachtmeister an, um ihnen zu schmeicheln. Und Edward Henry kannte die Betonung, die am meisten wirkte.

»Sie war früher dort«, sagte der Schutzmann mit bedeutend weniger Verachtung, und er wies auf einen schmalen Bretterzaun, hinter dem man die Rückseite verschiedener hoher Gebäude in der Shaftesbury-Avenue sehen konnte. »Sie haben sie gerade abgerissen.«

»Danke«, sagte Edward Henry ruhig, und es gelang ihm, nicht zu erbleichen, obwohl der Schutzmann ihm mit seinen Worten einen betäubenden Schlag versetzt hatte. Er schritt auf den Zaun zu, aber er wußte kaum, wohin er seine Füße setzte. Aus einer weiten Öffnung im Zaun kam ein Karren voll Erde, kreischend und wackelnd, während das Roß ihn mühsam über lockere Bretter auf die Straße hinauszog. Der Kutscher ging mit der Peitsche knallend nebenher. Edward Henry näherte sich der Öffnung. Ein eleganter junger Mann stand einsam innerhalb des Zaunes und starrte auf das Grundstück, in dessen fernster Ecke ein paar Taglöhner ein Loch buddelten ...

Das war sein Grundstück! Was bedeutete diese Zerstörung? Niemand hatte das Recht, auf einem Grunde etwas vorzunehmen, auf den er, der Stadtrat Machin, eine noch nicht verfallene Option hatte! Vielleicht war es nicht das Grundstück. Sorgfältig verglich er seinen Plan. Es war unzweifelhaft sein Grundstück. Er blickte nach allen Seiten und mußte zugeben, daß man ein elektrisches Licht an der Ecke der Südfront des Theaters vom Platz, von der unteren Regent-Street, von Shaftesbury-Avenue und so weiter sehen konnte. Und jetzt bemerkte er ein großes Anschlagbrett, das sich auf zwei Pfählen über dem Zaun erhob, und las:

»Bau der Neutheosophischen Kirche
Einweihung im Frühjahr
Beiträge werden entgegengenommen
Rollo Wrissell, Vorstand und Treuhänder
Ralph Alloyd, Architekt
Dicks & Pato, Baumeister.«

Der Name Rollo Wrissell kam ihm bekannt vor, und nach einigen Augenblicken erinnerte er sich, daß Rollo Wrissell einer der Testamentsvollstrecker des verstorbenen Lord Woldo war; er war neben der Witwe, der Mutter des gegenwärtigen Lord Woldo, dazu ernannt. Auf dem Anschlag war auch eine Zeichnung der Neutheosophischen Kirche nach ihrer Vollendung zu sehen.

»Das ist stark!« sagte Edward Henry nicht mit Unrecht. »Hier habe ich eine Option auf ein Stück Land, auf dem ich ein Theater bauen soll, und jemand anders baut eine Kirche darauf!«

Er trat durch die Öffnung im Zaun auf das Grundstück und sprach den eleganten jungen Mann an: »Haben Sie mit dem Bau etwas zu tun, Herr?« fragte er.

»Immerhin,« sagte der junge Mann lächelnd, »ich bin der Architekt. Allerdings ist der Architekt heute der letzte Mann bei einem Bau.«

»Oh, Sie sind Herr Alloyd?«

»Das bin ich.«

Herr Alloyd hatte schwarzes Haar, sehr schwarze, lebhafte Augen und den ausdrucksvollen Mund eines Schauspielers.

»Ich dachte, hier sollte ein Theater gebaut werden«, sagte Edward Henry.

»Ich wollte, es wäre so!« sagte Herr Alloyd. »Ich möchte einmal ein Theater entwerfen! Aber das werde ich natürlich nie kriegen.«

»Und warum nicht?«

»Oh, das weiß ich nur zu gut«, sagte Herr Alloyd düster und verächtlich. »Ich habe ja auch diesen Bau nur durch Zufall bekommen! ... Haben Sie etwas mit dem Theater zu tun?«

»Es könnte schon sein«, sagte Edward Henry.

Herr Alloyd warf ihm einen sardonischen, aber zugleich nicht unfreundlichen Blick zu. »Und wie denken Sie sich ein Theater?«

»Ich möchte einmal einen Architekten finden,« sagte Edward Henry, »der es sich klar gemacht hat, daß, wenn Leute Sitze kaufen, um ein Stück zu sehen, sie es auch wirklich sehen wollen und nicht nur hie und da über die Köpfe anderer Leute und um die Ecke einer Loge herum einen Blick darauf werfen wollen. In den meisten Theatern, in denen ich gewesen bin, waren die Architekten offenbar der Ansicht, daß Pfeiler, Säulen und Köpfe durchsichtig sind. Oder sie waren Gauner! Geradeso ist es mit der Akustik! Der Eintritt ins Parterre kostet eine halbe Krone, und man zahlt nicht eine halbe Krone, um die Gläser am Büfett klappern und die Autobusse auf der Straße rasseln zu hören. Ich bin noch nie in einem Londoner Theater gewesen, dessen Architekt begriffen hätte, daß die Leute im Parterre das Stück und nichts anderes hören wollen.«

»Sie haben nicht viel Wohlwollen für uns«, sagte Herr Alloyd.

»Immer noch mehr, als Sie für uns haben«, sagte Edward Henry. »Und dann der Zug! Sie glauben offenbar, daß ein Zug im Nacken besonders gesund ist! Aber Sie werden natürlich sagen, daß all das nichts mit der Architektur zu tun hat!«

»O nein, das sage ich nicht! Das sage ich ganz gewiß nicht!« rief Herr Alloyd. »Ich bin sogar ganz Ihrer Ansicht!«

»Wirklich?«

»Ganz gewiß. Sie scheinen sich für Theaterbau zu interessieren?«

»Ein bißchen.«

»Sie sind aus dem Norden?«

»Nein«, sagte Edward Henry grob. Herr Alloyd hatte kein Recht, zu erkennen, daß er kein Londoner war.

»Oh, bitte sehr um Entschuldigung.«

»Ich bin aus Mittelengland.«

»So ... Haben Sie das russische Ballett gesehen?«

Edward Henry hatte es weder gesehen noch davon gehört. »Warum?« fragte er.

»Oh, nichts,« sagte Herr Alloyd, »ich habe es nur vorgestern abend in Paris gesehen. Ich habe noch nie so tanzen sehen. Einfach bezaubernd! Etwas so Reizendes hab' ich nie gesehen. Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können. Ich schlafe allerdings auch sonst nicht gut. Ich dachte nur, da Sie sich für Theater interessieren und die Leute aus Mittelengland so unternehmend sind ... Nehmen Sie eine Zigarette?«

Edward Henry, der eine gewisse Sympathie für den Mann zu empfinden begonnen hatte, wurde durch diese letzten sonderbaren Bemerkungen abgestoßen. Schließlich war der Mann, wenn er auch menschlich sprach, ihm völlig unbekannt. »Danke, nein!« sagte er. »Also, Sie bauen hier eine Kirche?«

»Ja.«

»Nun, ich bin neugierig, ob Sie sie bauen werden.« Damit schritt er rasch fort, während Alloyd ihm erstaunt nachsah, und er konnte ihn fast sagen hören: »Ein komischer Kerl!«

An der Ecke des Grundstücks, gerade dort, wo das große elektrische Licht angebracht werden sollte, trat eine wohlgekleidete ältere Dame auf ihn zu, die Papiere in der Hand hatte. »Wollen Sie nicht ein Blatt für die gute Sache kaufen?« sagte sie in freundlichem und gewinnendem Ton. »Nur einen Penny.« Und sie reichte ihm ein kleines, blau gedrucktes Heft, auf dem stand: »Azur. Organ der Neutheosophischen Bewegung.« Er betrachtete es verwirrt und sah dann die Dame an. »Jeder Penny ist für den Kirchenbaufond bestimmt«, sagte sie, sich gleichsam rechtfertigend.

Edward Henry brach in ein Gelächter aus; aber es war ein nervöses, halb krampfhaftes Lachen.

II

In Carey-Street, Lincolns Inn-Fields, vor den Büros der Herren Slosson, Hodge, Budge, Slosson, Maveringham, Slosson & Vulto, Rechtsanwälte, bei ihren Berufsgenossen in der einfacheren Abkürzung »Slossons« bekannt, stieg er aus seinem Wagen. Da Edward Henry vor fünfundzwanzig Jahren Schreiber in einem Anwaltsbüro gewesen war, wußte er über Slossons Bescheid. Obwohl er auf Grund seiner einstigen Tätigkeit in einem Anwaltsbüro auf besondere Gesetzeskenntnis Anspruch erhob und jeden Widerspruch verstummen machte, wenn sein Gegner nicht gerade Jurist war, war es mit diesen Gesetzeskenntnissen nicht weit her, da er in jenem Anwaltsbüro lediglich Stenograph gewesen war. Aber Slossons und ihr Ruhm waren ihm bekannt. Jeder Anwalt und jeder Advokaturschreiber im Vereinigten Königreich kannte die Größe des Slossonschen Anwaltsbüros und beugte sich davor, wenn er auch geringschätzig von ihrer Anständigkeit sprach. Denn »Slossons« arbeiteten für die herrschenden Klassen Englands, die nur dann den entsprechenden Gegenwert für ihr Geld bekommen, wenn sie etwas kaufen, das sie sehen, riechen, greifen oder einschüchtern können, wie ein Pferd, ein Auto, einen Hund, einen Bedienten. Aber elegante Anwälte wie Slossons, geradeso wie die eleganten Nervenärzte in Harley-Street und die eleganten Wahrsagerinnen in Bond-Street verkauften ihre unsichtbare, geruchlose und ungreifbare Ware, die in juristischem oder anderem Rat bestand, für das Doppelte, Dreifache oder Zehnfache ihres Wertes, je nach der Psychologie des Kunden. Sie waren aus Grundsatz präpotent und unhöflich. Nebenbei verliehen sie Geld in großem Maßstab in Vertretung ihrer wohlhabenden Klienten. In Befolgung des nützlichen Grundsatzes, daß es unklug ist, Geld zu lange an einer Stelle liegen zu lassen, kündigten sie beständig Hypotheken, um das eingezogene Geld wieder neu anzulegen. Auf diese Weise konnten sie für jedes Rechtsgeschäft zwei und manchmal drei Kostenrechnungen aufstellen und außerdem ein Heer von beeideten Schatzmeistern, Vermessern und Hypothekenagenten beschäftigen. Kurz, in der Art, wie man Geld schneidet, konnte niemand Slossons etwas lehren.

Drei gewaltige Automobile warteten vor dem ehrwürdigen alten Gebäude, vor denen Edward Henrys zweisitziger Wagen zu einem winzigen Spielzeug zusammenschrumpfte. Er verlangte den ältesten Chef des Hauses, Herrn Slosson senior, zu sprechen. Aber ein alter Schreiber, mit einem Gesicht wie eine Steinmauer, erklärte das für ausgeschlossen. Nur seine brutale mittelenglische Hartnäckigkeit und die Erwähnung des wichtigen Briefes, den er der Firma mit der Nachtpost geschrieben hatte, rettete ihn vor der Schmach, überhaupt abgewiesen zu werden. Er stimmte seine Ansprüche immer mehr herab und klammerte sich zuletzt verzweifelnd an den jüngsten Teilhaber, Herrn Vulto, den er schließlich sprach. Er fand einen noch ziemlich jungen, sehr sarkastischen Herrn mit blauen Augen, der in einem dunklen, kleinen Zimmer an der Hinterseite des Hauses arbeitete. Der glückliche Zufall wollte, daß sein Brief gerade Herrn Vulto zur Beantwortung zugewiesen war.

»Sie haben meinen Brief erhalten?« sagte Edward Henry munter, während er sich Herrn Vulto gegenüber an dessen flaches Pult setzte.

»Wir haben ihn erhalten, aber offen gestanden, haben wir nicht recht begriffen, was er soll ... Was soll das für eine Option sein?« – Herr Vulto sprach mit schneidendem Hohn.

»Diese Option!« sagte Edward Henry, indem er einige Papiere aus seiner Brusttasche nahm und das richtige Papier mit kräftiger Entschiedenheit vor Herrn Vulto auf das Pult legte.

Herr Vulto nahm das Papier vorsichtig auf, als ob er sich vor Ansteckung hüten müßte, setzte sein Augenglas auf und las es mit offenem Munde. »Davon ist uns nichts bekannt«, sagte er, und es war, als ob er hinzugefügt hätte: also existiert es auch nicht. Er sah mit halb nachsichtigem, halb gelangweiltem Blick durch das Fenster, das ihm die Aussicht auf eine nahe weißgetünchte Mauer bot.

»Also hat Ihr Klient Sie nicht in seine Absichten eingeweiht?«

»Sie meinen den verstorbenen Lord Woldo?«

»Jawohl.«

»Im Gegenteil.«

»Wenigstens in dieser einen Sache hat er Sie offenbar nicht ins Vertrauen gezogen.«

»Sie müssen es wissen«, sagte Herr Vulto mit eisiger Ironie.

»Also, was werden Sie in der Sache tun?«

»Nichts.« Damit setzte Herr Vulto sein Augenglas wieder ab und stand auf.

»Also, dann guten Morgen. Ich werde meinen Anwalt aufsuchen.« Und Edward Henry nahm die Option wieder an sich.

»Das wird das beste sein«, sagte Herr Vulto. Slossons zogen es stets vor, mit Anwälten zu verhandeln, statt mit Laien; einmal vermehrte es die Kosten und außerdem kam es dem Stand zugute.

In diesem Augenblick trat ein großer breiter Mann mit rotem Gesicht und eisgrauem Haar gebieterisch ins Zimmer. »Vulto,« rief er mit scharfer Stimme, »hat man Ihnen denn nicht gesagt, daß Herr Wrissell hier ist?«

»Ja, Herr Slosson«, antwortete Vulto, der plötzlich seine spöttische Art völlig verlor und ein sehr bescheidener jüngerer Teilhaber wurde. »Ich sprach nur gerade mit Herrn ...« Er hielt inne und warf einen Blick nach seinem Schreibtisch ... »Machin, von dem wir heute früh den sonderbaren Brief über eine angebliche Option auf die Pacht des Kapellengrundstücks am Piccadilly-Zirkus erhielten. Auf dem Woldoschen Boden ... Sie erinnern sich vielleicht?«

»Ist er das?« fragte Herr Slosson, der frühere Präsident der Juristischen Gesellschaft, indem er mit dem Daumen nach dem Schreibtisch wies.

»Er ist das!« sagte Edward Henry.

»Nun«, sagte Herr Slosson, das Kinn hebend; und er stieß hochmütig die Luft hörbar zwischen den Lippen aus. »Es muß jedenfalls sehr Interessant sein, die Geschichte zu hören. Ich sprach gerade mit Herrn Wrissell darüber. Kommen Sie hier herein, Herr. Ich habe schon manches Sonderbare erlebt, aber ...« Er hielt inne. »Bitte, folgen Sie mir, Herr«, befahl er.

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich Ihnen folge!« wollte Edward Henry sagen, aber er hatte nicht den Mut dazu. Und weil er sich über sich selber ärgerte, beschloß er seinerseits, die Unterredung so unangenehm als möglich für den unschuldigen Herrn Slosson zu machen, der so gewöhnt war, präpotent und ungezogen zu sein und so hoch dafür bezahlt wurde, daß man ihn wirklich nicht darum tadeln konnte. Während er ging, ermannte sich Edward Henry. Dem werde ich's heimzahlen, dachte er, und wenn es mich mein ganzes Vermögen kostet Was natürlich nur eine poetische Lizenz war.

III

Herr Slosson senior hörte Edward Henrys Geschichte an, schien sie aber nicht so interessant zu finden, wie er vorausgesagt hatte. Als Edward Henry fertig war, klopfte der alte Herr auf einen ungeheuren Tisch und sagte: »Ja, ja, und was weiter?« Sein Benehmen war weit weniger ungezogen als in Herrn Vultos Zimmer.

»Jetzt sind Sie an der Reihe, Herr Slosson«, sagte Edward Henry.

»Ich? Wieso?«

»Sie müssen die Geschichte jetzt fortsetzen.« Er sah nach der Uhr. »Ich habe sie bis zu diesem Augenblick, elf Uhr fünfzehn heute vormittag in diesem Jahr erzählt.« Und da Herr Slosson fortfuhr, auf den Tisch zu klopfen und zum Fenster hinauszusehen, klopfte auch Edward Henry auf den Tisch und sah zum Fenster hinaus.

Das Zimmer des ältesten Chefs sah ganz anders aus als das Herrn Vultos. Es war ungeheuer groß und nicht durch Pappschachteln mit weißen Buchstaben verunziert wie die meisten Anwaltsbüros. Es sah eher wie ein gemütliches Zimmer eines kleinen, ein wenig herabgekommenen, aber immer noch behaglichen Klubs aus. Lehnstühle standen darin und auf dem Tisch lagen Zigarrenschachteln. Außerdem hatte es Sonne und bot die Aussicht auf das Gerichtsgebäude in seiner unreinen, aber doch stattlichen Gotik der Viktoria-Zeit. Der Sonnenschein ermunterte Edward Henry, und er fühlte sich sicher in seinem tadellosen Anzug, seinem Kragen von letzter Fasson; die Farbe seiner Krawatte, seine nagelneuen Schuhe und vor allem die mächtige Brieftasche in seinem Rock, alles verlieh ihm Kraft. Da Herr Slosson nicht zu bemerken schien, daß er gleichfalls auf den Tisch trommelte, trommelte er noch stärker, worauf Herr Slosson zu trommeln aufhörte. Edward Henry warf freundliche Blicke um sich. Ganz weit rückwärts im Zimmer, an einem Fenster, das auf die weißgetünchte Mauer hinausging, saß ein Mann, der rasch eine Anzahl Papiere unterschrieb. Herr Slosson hatte die Anwesenheit dieses Mannes einfach ignoriert; er schien ihn für eine optische Täuschung zu halten.

»Ich habe nichts zu sagen«, sagte Herr Slosson.

»Noch zu tun?«

»Noch zu tun.«

»Nun, Herr Slosson,« sagte Edward Henry, »Ihr jüngerer Herr Kompagnon hat mir Ihre Politik des passiven Widerstandes bereits angedeutet. Ich kann also wieder gehen. Ich sagte ihm, daß ich meinen Anwalt aufsuchen wollte. Aber es fiel mir ein, daß ich als einer der Hauptbeteiligten zunächst einmal die Gegenpartei selbst sprechen könnte. Zu Ihnen bin ich nur gekommen, weil in der Option steht, daß die Sache hier erledigt werden muß; nur darum.«

»Sie ein Hauptbeteiligter!« rief Herr Slosson. »Ich wüßte nicht, wie Sie dazu kommen! Auf diesem Papier ist die angebliche Option einer Miß Rose Euclid eingeräumt ...«

»Pardon, der berühmten Miß Rose Euclid.«

»Einer Miß Rose Euclid. Sie teilt ihren angeblichen Anspruch in Teile und verkauft sie an verschiedene Personen, und Sie haben die Teile aufgekauft.« Herr Slosson lachte gutmütig. »Sie sind Beteiligter fünften Grades.«

»Schön,« sagte Edward Henry, »was ich nun immer sein mag, ich werde jedenfalls diesen Herrn Grissel oder Wrissell aufsuchen. Können Sie mir ...«

Der Mann an dem entfernten Pult wendete sich um. Herr Slosson hustete. Der Mann stand auf. »Dies ist Herr Wrissell«, sagte Herr Slosson mit einer Spur von Verlegenheit.

»Guten Tag«, sagte Herr Rollo Wrissell mit einem Akzent, der noch vornehmer war, als Edward Henry je gehört hatte. Sein nachlässiger und doch eleganter Gang paßte gut dazu. Sein schwarzer Anzug saß lose an ihm und sah keineswegs neu oder besonders gut aus. Die Schuhe, die er trug, hätte Edward Henry selbst in den Fünf Städten nicht tragen können, ohne zu erröten, und seine Krawatte sah aus, als ob ein kleines Kind oder ein junger Hund damit gespielt hätte. Trotz alledem sah Herr Rollo Wrissell höchst imponierend aus; man erzählte von ihm den Ausspruch: »Ich ziehe an, was mir zuerst unter die Hand kommt, und es fällt niemandem auf.«

Herr Rollo Wrissell gehörte zu einer der sieben großen Familien, die einst England, Schottland und Irland regierten und, nebenbei bemerkt, noch regieren. Die Mitglieder dieser Familien kann man in zwei Arten einteilen: in diejenigen, die herrschen, und in die, die selbst zu hoch stehen, um zu herrschen, die lediglich existieren. Herr Rollo Wrissell gehörte zur zweiten Art. Der außerordentlich fein geschnittene Mund und die Nase verrieten den Nachkommen ganzer Generationen von Kunstsammlern und Mäzenen. Er genoß das Dasein, aber nicht in rauher Tätigkeit wie die gröber geschaffenen Mitglieder der herrschenden Klasse, sondern mit einer gewissen müden Lässigkeit. Er schnupperte mehr mit seinen feinen Nüstern am Apfel des Lebens und sog seinen Duft ein, als daß er ihn anbiß. Es war seine tiefe und einzige Überzeugung, daß in einer wohlgeordneten Welt sich nichts ereignen durfte, was die vollkommene Ruhe seines Daseins irgendwie stören oder behelligen konnte. Und diese Überzeugung saß so tief, und kam in jeder Gebärde und im flüchtigsten Blick so sichtbar zum Ausdruck, daß sie eine geheimnisvolle Macht über den ganzen Bau der Gesellschaft ausübte, mit dem Ergebnis, daß sich tatsächlich nichts ereignete, was die vollkommene Ruhe von Herrn Rollo Wrissells Dasein störte. Herr Rollo Wrissell lebte tatsächlich in einer beinahe vollkommenen und idealen Welt.

Das ist die echte Sorte, sagte Edward Henry zu sich selbst. Und da er ein Engländer war, imponierte ihm Herr Wrissell weit mehr, als aller Ruhm Rose Euclids oder Herrn Seven Sachs' und der Ruf des Herrn Slosson senior ihm imponiert hatten. Gleichzeitig aber wehrte er sich innerlich gegen die schweigende und unbewußte Überlegenheit Herrn Wrissells, und der ganze trotzige mittelenglische Glaube, daß ein Mensch so gut ist wie der andere, bäumte sich in ihm auf, kam aber nicht über seine Lippen.

»Bitte, stehen Sie nicht auf,« beschwor ihn Herr Wrissell, mit beiden Händen abwehrend, »es tut mir zu leid, von dieser unglücklichen Komplikation zu hören«, fuhr er, zu Edward Henry gewendet, mit wunderbarer und gewinnender Höflichkeit fort. »Es ist mir schmerzlich.« Er sah dabei aus wie ein Märtyrer und schien zu sagen: »Und mir sollte man keinen Schmerz bereiten!« – »Ich bin auch ganz überzeugt, daß Sie im besten Glauben sind ... von Ihrem guten Glauben vollkommen überzeugt, Herr ...«

»Machin«, ergänzte Herr Slosson.

»Ah, bitte um Verzeihung! Herr Machin. Natürlich können bei der Verwaltung so ungeheurer Güter wie die Lord Woldos kleine Versehen vorkommen ... Es tut mir zu leid, daß Sie in eine falsche Situation gekommen sind. Ich habe das tiefste Mitgefühl für Sie. Aber Sie begreifen natürlich, daß in diesem besonderen Fall ... Ich habe nämlich selbst die Pacht dieses Grundstücks übernommen. Ich bin an einer großen religiösen Bewegung interessiert. Die Pläne meiner Kirche sind vom Grafschaftsrat genehmigt. Die Bautätigkeit hat schon begonnen ...«

»Ach, Quatsch!« sagte Edward Henry. Es war unentschuldbar, aber das waren seine Worte. Herrn Wrissells gelassener Egoismus, sein Ton, die müde Anmut seiner Gebärden hatten ihn so gereizt, daß er diesen Frevel am ganzen Bau der Gesellschaft und gleichsam an der Zivilisation selbst beging. Es bleibt zweifelhaft, ob Herr Wrissell den Ausdruck je gehört hatte; jedenfalls war er ihm selbst gegenüber noch nie gebraucht worden. Ein tragischer Ausdruck trat in seine betroffenen Züge; dann faßte er sich ein wenig. »Ich ...« begann er.

»Lassen Sie sich begraben!« sagte Edward Henry brutal.

Herr Wrissell hatte begriffen; er wendete sich um und ging. Er konnte Szenen nicht ertragen, und sein Blick zeigte, daß jeder gewaltsame Versuch, die gewohnte Ruhe seines Daseins zu stören, nur die unerschütterliche eherne Selbstsucht bloßlegte, die die Basis Wrissellscher Lebensanschauung ist. Sein Blick war hart und bitter. Er sprach kein Wort und verließ mit raschen Schritten das Zimmer. Herr Slosson senior folgte ihm eilig.

Edward Henry war wütend. Und was ihn so wütend machte, war vor allem, daß seine Manieren schlechter, gröber, plumper und brutaler waren als die Herrn Wrissells.

Eine ziemliche Zeit schien vergangen, als Herr Slosson senior wieder ins Zimmer trat. Edward Henry wiederholte, in Gedanken versunken, eben die Worte: »Also so sieht's bei Slossons aus!«

»Was soll das heißen?« fragte Herr Slosson empört.

»Nichts!« sagte Edward Henry.

»Also, Herr,« sagte Herr Slosson, »wir wollen über diese sogenannte Option ins klare kommen. Sie ist nicht ernst zu nehmen.«

»Sie werden noch erfahren, daß sie ernst zu nehmen ist.«

»Sie hat auch keinen geschäftlichen Wert.«

»Für mich wohl!« sagte Edward Henry.

»Der Preis ist lächerlich, und die Pacht, die darin erwähnt ist, viel zu niedrig.«

»Eben darum scheint sie mir einen geschäftlichen Wert zu haben, wenigstens von meinem Standpunkt«, sagte Edward Henry.

»Sie ist nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben ist«, sagte Herr Slosson.

»Und warum?«

»Weil sie gestempelt sein müßte und nicht gestempelt ist.«

»Herr Slosson,« sagte Edward Henry, »ich bitte Sie zu bedenken, daß Sie zu einem Juristen sprechen.«

»Einem Juristen?«

»Ich bin jahrelang Jurist gewesen«, sagte Edward Henry. »Und Sie wissen so gut wie ich, daß ich die Option jeden Augenblick stempeln lassen kann und nur eine Gebührenstrafe zu zahlen habe, die schlimmstenfalls eine Kleinigkeit im Verhältnis zum Wert der Option ist.«

»Ah!« Herr Slosson hielt inne und blies die Luft aus. »Ferner ist das Dokument nicht ausgefertigt«, sagte er.

»Das ist nicht meine Schuld.«

»Außerdem ist die Option nicht übertragbar.«

»Das werden wir sehen.«

»Und das Geld müßte, selbst nach Ihrem Papier, heute erlegt werden – bar, bei Heller und Pfennig.«

»Da ist das Geld,« sagte Edward Henry, seine Brieftasche hervorziehend, »bei Heller und Pfennig in den neuesten Banknoten!« Und er warf die Noten mit der impulsiven Bewegung eines Künstlers hin, um sie mit der Vorsicht eines erfahrenen Geschäftsmannes wieder aufzusammeln und an sich zu nehmen.

»Die Umstände, unter denen die angebliche Option angeblich erteilt wurde, müßten erst genau untersucht werden«, sagte Herr Slosson.

»Das ist mir gleichgültig,« sagte Edward Henry, »anderen vielleicht nicht.«

»Es gibt unerlaubte Einflußnahmen.«

»Miß Euclid ist mindestens fünfzig Jahre alt«, erwiderte Edward Henry.

»Ich kann nicht sehen, was Miß Euclids Alter damit zu tun hat.«

»Dann müssen Sie sehr kurzsichtig sein, Herr Slosson.«

»Das Dokument kann gefälscht sein.«

»Es kann. Aber ich besitze einen handschriftlichen Brief des verstorbenen Lord Woldo, der die Option bestätigt.«

»Kann ich ihn sehen?«

»Sicherlich – aber nur vor Gericht«, sagte Edward Henry. »Ich weiß doch so gut wie Sie, Herr Slosson, daß Sie sich einen tüchtigen Prozeß wünschen, mit einer Kostenrechnung so lang wie von hier bis Jericho.«

»Herr Wrissell gibt ganz bestimmt nicht nach«, sagte Herr Slosson. »Er hat mir bereits ganz klare Informationen in dieser Richtung gegeben. Seine Abneigung gegen das Theater ist bekannt.«

»Und hat Herr Wrissell alles zu entscheiden?«

»Herr Wrissell und Lady Woldo haben die Entscheidung, und Lady Woldo richtet sich nach Herrn Wrissells Rat. Es gibt Leute, die glauben, daß, weil Lady Woldo ursprünglich beim ... äh, beim Theater war, sie und Herr Wrissell nicht vollkommen übereinstimmen. Nichts könnte den Tatsachen weniger entsprechen.« Edward Henry erinnerte sich an die romanhafte Heirat des verstorbenen Lord Woldo und das Aufsehen, das sie erregt hatte. »Können Sie mir Lady Woldos Adresse geben?« fragte er.

»Das kann ich nicht«, sagte Herr Slosson nach kurzem Zögern.

»Das heißt, Sie wollen nicht!«

Herr Slosson warf die Lippen auf.

»Nun, Sie können ...« sagte Edward Henry, unverschämt bis zuletzt.

Als er das Haus verließ, sah er Herrn Rollo Wrissell und seinen Bekannten, Herrn Alloyd, den Architekten, unter dem Vordach plaudern. Herr Wrissell stand gelassen da und hörte still und aufmerksam zu, Herr Alloyd redete eifrig, aufgeregt und ehrerbietig. Edward Henry hörte die Worte »Russisches Ballett«. Und trotz seiner eigenen Erregung stellte er sich die abstrakte Frage: Kann ein Mensch ein tüchtiger Architekt sein, der nicht schläft, weil er ein russisches Ballett gesehen hat?

Der Chauffeur seines elektrischen Autos, der sich auf den Effekt verstand, brachte das glänzende Fahrzeug unmittelbar vor ihm zum Halten, als Edward Henry den Rand des Bürgersteigs erreicht hatte. Er gab eine kurze Anweisung und verschwand im Innern des Wagens, der in einem Stil davonsauste, den kein Sprößling eines regierenden Hauses hätte übertreffen können.

IV

Das Auto hielt am Tor eines Gebäudes, das so groß war wie Hotel Wilkins. Ein alter Mann, der eine Medaille trug, stürzte heraus, grüßte und half Edward Henry beim Aussteigen. In der gewölbten und widerhallenden Diele sprang ein junger Diener hinzu und nahm Edward Henry aufs ehrerbietigste Hut und Stock ab. Edward Henry trat in den Aufzug, sagte das Wort »Rauchsalon«, der Mann verbeugte sich tief, der Aufzug stieg empor; Edward Henry verließ ihn, schritt über den Marmorboden und betrat einen ungeheuren Saal, dessen Boden gleichfalls von Marmor war und in dem viele Klubsessel und Tische standen. Er setzte sich an einen Tisch und klingelte heftig. Verschiedene Bedienstete erschienen zugleich, wie aus einer unsichtbaren Welt aufgetaucht, und einer eilte eifrig auf ihn zu.

»Bringen Sie mir ein Glas Wasser und einen Adelskalender«, sagte Edward Henry.

»Wie, bitte? Ein Glas Wasser und ...«

»Einen Adelskalender: A, d, e, l, s, k, a, l, e, n, d, e, r.«

»Bitte um Entschuldigung. Ich habe nicht gleich verstanden. Welchen Adelskalender soll ich bringen? Wir haben mehrere.«

»Alle.«

Hundert Sekunden später, nachdem der letzte Diener sich bei ihm dafür bedankt hatte, daß er das Glas und den Stoß Bücher annahm, schlürfte Edward Henry das Wasser und blätterte in den Kalendern. Zweihundert Sekunden später eilte er bereits wieder davon. Ein Diener öffnete die Drehtür des Rauchzimmers für ihn und verbeugte sich. Der Liftführer verbeugte sich, schwebte mit ihm nieder und verbeugte sich, der junge Diener brachte ihm Hut und Stock und verbeugte sich, der alte Diener mit der Medaille winkte mit strenger Miene den Chauffeur heran und verbeugte sich lächelnd vor Edward Henry, öffnete den Schlag, half ihm hinein, verbeugte sich und schloß den Schlag.

»Wohin, bitte?«

»262 Eaton Square«, sagte Edward Henry.

»Danke sehr,« sagte der alte Diener und wiederholte dem Chauffeur mit befehlender Stimme, »262 Eaton Square!« und grüßte.

Und Edward Henry ließ das demokratische Hauptquartier Londons rasch hinter sich.

V

Lord Woldo war eines der reichsten menschlichen Wesen in England. Wenn er seinen ganzen Besitz zu Geld gemacht und damit nach Amerika gegangen wäre, so hätte er selbst dort unter den Milliardären für einige Zeit eine Rolle spielen können. Ein großer Teil des Bodens zwischen Oxford-Street und Regent-Street gehörte ihm sowie eine ganze Anzahl wertvoller Plätze und Straßen weiter nördlich. Er besaß vier Theater und hatte in jedem dieser Theater seine eigene Loge mit einem besonderen Eingang von der Straße aus. Diese Loge war jedem Einfluß der Direktion entzogen. In all ihren Pachtverträgen bestanden die Woldos auf dieser Bedingung.

Nie ließ Lord Woldo in London bauen; er verpachtete den Boden an andere, die darauf bauten, mit der Bedingung, daß das, was sie bauten, eines Tages ihm gehören mußte. Tausende von Leuten in London waren hocherfreut, unter dieser Bedingung auf seinem Grund bauen zu dürfen; er konnte sich die Leute auswählen. Sogar der schlaue Edward Henry zum Beispiel wünschte sehnlichst, für ihn zu bauen, und war außer sich darüber, daß sich seinem Wunsch Hindernisse in den Weg stellten. So kamen unaufhörlich auf vollkommen gesetzlichem Wege die schönsten Bauten anderer in Lord Woldos Besitz, ohne daß es ihn einen halben Penny kostete. Ganze Straßenzüge fielen in seine Hand. Dieses System, das für Lord Woldo und ein halbes Dutzend anderer Grundeigentümer in London so nützlich und angenehm war, wird das Pachtsystem genannt, und sooft Lord Woldo der Besitzer eines Gebäudes wurde, das ihn nichts gekostet hatte, sagte man, eine seiner Grundpachten sei abgelaufen oder heimgefallen, und jedermann fand das ganz in der Ordnung.

In der Provinz besaß Lord Woldo Schlösser, Wälder und Moore und viele Morgen Land, unter denen Kohle verborgen lag; er gestattete unternehmenden Leuten, nach dieser Kohle zu graben – wobei sie oft genug den Tod fanden –, unter der Bedingung, daß sie für jede Tonne Kohle, die sie förderten, ihm einen halben Schilling zahlten; das nannte man Schürfrechte, und wieder war jedermann zufrieden.

Man könnte nach alledem glauben, daß Lord Woldo, wie man sagt, auf Seide gebettet war; aber selbst diese Seidenkissen hatten ihre Unbequemlichkeiten. Lord Woldos Lage brachte schwere Verantwortlichkeiten mit sich und war von Gefahren umgeben. Er war der Vertreter eines alten Standes, der in dem unberechenbaren politischen Wirbel des zwanzigsten Jahrhunderts unterzugehen drohte. Zahlreiche nachdenkliche Forscher verbrachten einen großen Teil ihrer Zeit mit der Frage, wie es dem Lord Woldo eines Tages gehen könnte. Und so oft ein großer Streik ausbrach, und ein halb Dutzend früherer Arbeiter sich in einem Hotelzimmer im Westen trafen, und, ohne Lord Woldo oder den Premierminister zu fragen, beschlossen, daß die Betriebe im Lande stille stehen sollten, fanden jene Forscher Lord Woldos Lage noch unsicherer und gefährdeter als die anderer Leute.

Dazu mußten mit der Zeit persönliche Sorgen kommen. Zum Beispiel: mindestens einhundert junge weibliche Wesen wuchsen in der Hoffnung auf, ihn eines Tages zu heiraten. Von all diesen drohten ihm Angriffe, und er konnte schließlich nur eine von ihnen heiraten, wenigstens nur eine zur gleichen Zeit.

Da Edward Henrys Auto so nahe bei Nr. 262 hielt, als ein mit zwei Pferden bespannter Wagen, der bereits vor der Haustür wartete, ihm gestattete, sah er eine grauhaarige Frau in blauem Kleid feierlich die Torstufen herabsteigen. Eine zweite, ähnlich gekleidete Frau folgte; ein Haushofmeister und ein Bedienter auf den Stufen, sowie ein Bedienter auf dem Pflaster und der Kutscher auf dem Bock sahen aufmerksam zu. Die erste der beiden Frauen trug ein dickes schönes weißes Schaltuch, und in diesem Schaltuch lag Lord Woldo, auf dem all diese schweren Verantwortlichkeiten lasteten. Er wurde in den offenen Wagen gehoben, die Wagentür wurde geschlossen; die zwei alten Pferde trabten langsam fort, die zwei dicken Männer saßen auf dem Bock, die zwei reifen Frauen saßen drinnen: Lord Woldos Morgenspazierfahrt hatte begonnen.

»Folgen Sie dem Wagen!« sagte Edward Henry zu seinem Chauffeur und hüpfte wieder in sein Auto. Niemand hatte ihm gesagt, daß das Geschöpfchen in dem Schaltuch Lord Woldo war, aber er wußte es dennoch.

Zwanzig Minuten später sah er, wie Lord Woldo unter den Bäumen im Hydepark – eines der wenigen Stückchen Erde in London, das nicht ihm oder seinen mehr oder weniger entfernten Verwandten gehörte – hin und her getragen wurde, während der Wagen wartete. Einmal saß Lord Woldo sogar auf einem Stuhl, das heißt auf dem Schoß der Oberwärterin, die auf dem Stuhle saß. Beide Wärterinnen schwatzten mit ihm, ohne daß er ihnen je eine Antwort gegeben hätte.

»Zurück nach Nummer 262«, sagte Edward Henry zu seinem Chauffeur.

Als er wieder in Eaton Square war, ließ er sich nicht weiter von der Großartigkeit des Platzes und der Gebäude imponieren; er lief die Stufen hinauf und drückte auf die Glocke, die die Aufschrift »Besucher« trug. »Diese Häuser stehen nicht einmal für sich allein!« sagte er beim Warten zu sich selbst, »sind ganz gewöhnliche Straßenhäuser; wenn in einem Klavier gespielt wird, muß man es in dem anderen hören.«

Der Haushofmeister, den er schon vorher gesehen hatte, öffnete das Portal.

»Ich möchte mit Lady Woldo sprechen.«

»Ihre Erlaucht ...« begann der imponierende Hausbeamte ...

»Hören Sie, mein Lieber,« sagte Edward Henry mit dem Mut der Verzweiflung, »ich muß Lady Woldo augenblicklich sprechen. Es handelt sich um das Kind ...«

»Um Seine Lordschaft?«

»Jawohl. Und beeilen Sie sich etwas, bitte.« Er trat in die dunkle und prächtige Vorhalle. Nun, dachte er, man kann sagen, daß ich drauf los gehe.

VI

Er befand sich in einem großen Salon an der Rückseite des Hauses, mit bunten Glasfenstern, die nach Norden gingen. Offenbar schämen sie sich der Aussicht, dachte er. Die Größe des Kaminsimses imponierte ihm und auch das Schnitzwerk daran. Aber was für ein altmodisches Gitter! sagte er zu sich selbst, hier täte ein elektrischer Heizapparat not. Die Türverkleidung war ein Wunderwerk der Holzschnitzerei und gefiel ihm. Auch die Ölbilder an den Wänden, zumeist Porträts. Ebenso der ungeheure Kaminvorsatz aus Messing, sowie die Decken und das gepreßte Leder der Stühle. Aber für einen Hausbesitzer, der zwischen einem Haus und einer Kirche zu unterscheiden wußte, war der Raum viel zu dunkel.

Er hörte ein Rauschen an der Tür hinter ihm. »Was ist los?« fragte eine weibliche Stimme. Die Worte berührten ihn äußerst sympathisch. Wenn der Ton auch nicht aus dem nördlichen Staffordshire kam, so kam er doch aus dem südlichen Yorkshire, und das war beinahe dasselbe. Außerdem würde kein Mensch, der südlich vom Trent geboren war, »was ist los?« gesagt haben, sondern »was gibt's?«

Er wendete sich um und sah eine atemlose, sehr schöne, schwarz gekleidete Frau von etwa neunundzwanzig oder dreißig Jahren, die von ihrem schönen Kopf etwas zu entfernen suchte, das wie ein Streifen von rotem Flanell aussah. Er bemerkte sogleich, daß sie heftig erkältet war. Ein majestätischer Bedienter hinter ihr schloß die Tür und verschwand.

»Habe ich die Ehre, mit Lady Woldo ...?« fragte Edward Henry.

»Ja,« sagte sie, »was ist mit dem Kind?«

»Ich habe es eben im Hydepark gesehen,« sagte Edward Henry, »und ich bemerkte, daß es einen Ausschlag im Gesicht hat.«

»Ich weiß,« antwortete sie, »es begann diesen Morgen ganz plötzlich.« Sie redete in einem Atem fort: »Erst war ich sehr erschrocken, weil es der erste Ausschlag ist, den er hat, und er ist das erste Kind, das ich habe, und wird auch das letzte bleiben. Aber alle Leute sagen, daß es nur Hitzblattern sind und nichts zu bedeuten hat. Ich habe ihn noch nie allein ausfahren lassen, doch ich bin so erkältet. Aber Sie sind doch nicht extra vom Hydepark hierhergekommen, um mir von dem Ausschlag zu erzählen. So dumm bin ich nicht.«

»Das glaube ich gern,« sagte er, »aber wir haben sehr viel Hitzblattern in der Familie gehabt, und ich weiß ein ausgezeichnetes Mittel dagegen, ein gutes, solides Hausmittel, und es fiel mir ein, daß Sie es vielleicht brauchen könnten. Wenn Sie also wollen, telegraphiere ich an meine Frau darum. Hier ist meine Karte.«

Sie las Namen, Titel und Adresse. »Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, Herr Machin. Ich hab' gleich gehört, daß Sie von dort oben herkommen, als ich Sie reden hörte. Es tut einem wirklich gut, einmal ein anständiges einfaches Nordenglisch zu hören nach all dem ›äh, äh‹ hier.« Und sie schnauzte ihre schöne Nase.

»Nicht wahr?« pflichtete Edward Henry ihr bei, »genau das gleiche dachte ich, als ich Sie ›Was ist los?‹ sagen hörte. Wissen Sie, ich bin erst zwei oder drei Tage in London, und ich sehnte mich schon, einen Menschen in unserem heimischen Ton reden zu hören!«

»Ja,« sagte sie, »man sehnt sich danach in London!« und sie seufzte.

»Mein Ältester wurde vor drei Tagen von einem Hund gebissen«, fuhr er im Plauderton fort.

»Nein!« rief sie.

»Ja. Machte uns eine schöne Angst. Ist aber wieder alles in Ordnung. Vielleicht ist es Ihnen angenehm, zu wissen, daß Cyanidgaze gut für eine Wunde ist, wenn Ihrem ...«

»Nein! Nein!« wehrte sie. »Ich hoffe zu Gott, Robert wird nie von einem Hund gebissen werden. War es ein großer Hund?«

»Tüchtig«, sagte Edward Henry. »Also Robert heißt er! Mein Ältester auch!«

»Das ist aber ...! Sie wollten ihn Robert Philipp Stephan Darrand Patrick taufen. Aber das gab ich nicht zu. Er heißt einfach Robert. Das hab' ich durchgesetzt. Sie wissen, er wurde sechs Monate nach seines Vaters Tod geboren.«

»Und ist jetzt etwa zehn Monate alt?«

»Nein. Erst sechs.«

»Donnerwetter, ist er groß!« sagte Edward Henry.

»Nun ja,« sagte sie, »er ist groß. Ich bin ja auch groß, wie Sie sehen.«

»Und nun, Lady Woldo,« sagte Edward Henry in verändertem Ton, »da wir beide aus derselben Gegend sind, will ich ganz grad und aufrichtig mit Ihnen sein. Was ich von dem Hitzausschlag sagte, ist alles wahr, und ich dachte wirklich, Sie könnten das Rezept brauchen. Aber deswegen bin ich nicht hergekommen. Sie begreifen, ich kannte Sie ja nicht und ich dachte, es könnte schwierig sein, bis zu Ihnen zu kommen ...«

»O nein!« sagte sie einfach, »jeder kommt bis zu mir.«

»Nun, ich konnte das nicht wissen, und so redete ich eben von dem Kind, um anzufangen, nicht?«

»Ich hoffe, Sie kommen nicht um Geld«, sagte sie beinahe kläglich.

»Nein,« sagte er, »Sie können jedermann in Bursley oder Hanbridge fragen, ob ich der Mann bin, der schnorren geht.«

»Ich bin einmal in Hanbridge aufgetreten,« sagte sie, »als Statistin in einer Pantomime. Sagen sie dort nicht statt Bursley ›Bosley‹?«

Edward Henry antwortete entsprechend und gab ihr dann einen wohlbedachten Bericht von dem, was ihn herführte, wobei er mehrmals Herrn Rollo Wrissell erwähnte.

»Oh, Herr Wrissell!« murmelte sie lächelnd.

»Und zuletzt sagte ich Herrn Wrissell, er solle sich begraben lassen«, sagte Edward Henry. »Und so weit bin ich jetzt.«

»Nein!« rief sie mit schwacher Stimme; sie konnte vor unterdrücktem Lachen kaum sprechen, zuletzt vermochte sie sich nicht mehr zu beherrschen und brach in schallendes Gelächter aus.

»Ja«, sagte er, höchlichst zufrieden mit sich selbst und mit ihr. »Ich sagte ihm, er möge sich begraben lassen!«

»Sie scheinen Herrn Wrissell nicht gerade zu lieben?«

»Nun ...« begann er.

»Ich anfangs auch nicht,« sagte sie, »ich haßte ihn geradezu. Aber jetzt habe ich ihn gern, obschon ich sagen muß, es macht mir die größte Freude, ihn ein bißchen zu ärgern. Er ist ein wirklicher Kavalier. Sie wissen, er war Lord Woldos Erbe. Und als Lord Woldo mich heiratete, war das kein kleiner Schlag für ihn! Aber er war wie ein Lamm. Er krümmte mir kein Haar, und er war artiger gegen mich als alle anderen. Sie wissen sicher, daß Lord Woldo mich in einer Operette in Scarborough sah; er hat dort in der Nähe ein Gut, wissen Sie. Herr Wrissell hatte ihn gerade geärgert mit seinem Steckenpferd, der neutheosophischen Kirche, und ich glaube wirklich, er hat mich nur geheiratet, um Herrn Wrissell zu ärgern. Er hat mir oft gesagt, mein Mann, meine ich, er habe mich zu schnell geheiratet, und es sei doch recht hart für Herrn Wrissell. Und dann lachte er, und ich auch. ›Schließlich,‹ sagte mein Mann oft, ›eine Schauspielerin heiraten, das ist ein Unfall, der jedem Oberhausmitglied passieren kann, und er passiert vielen von ihnen – aber sie heiraten in der Regel keine so schöne Person, wie du bist, Blanche, nicht wahr?‹ sagte mein Mann. ›Und du halt' nur deinen Platz, Blanche,‹ sagte mein Mann, ›und ich werde schon zu dir halten‹, sagte er. Auf meinen Mann konnte man sich verlassen. Sie ließen mich auch alle in Ruhe, solange er am Leben war. Dann erst fingen sie an, ich meine, seine Leute. Und als Bobbie geboren wurde, wurde es noch schlimmer. Aber ich muß sagen, selbst dann war Herr Wrissell immer anständig. Sie schienen alle der Meinung, ich müßte ihnen besonders dankbar dafür sein, daß ich solch ein Glück gemacht. Weil ich eine adlige Dame bin! Und ich sollte ganz anders werden. Aber wie soll ich anders werden? Ich war Blanche Vilmot – zehn Jahre auf der Walze, in London bin ich nie aufgetreten! – und Blanche Vilmot bleibe ich, adlige Dame oder nicht! Wissen Sie, es war kein Spaß, Lord Woldos Frau zu sein, das kann ich Ihnen sagen, und es ist noch weniger Spaß, Lord Woldos Mutter zu sein! Sie können sich's vorstellen! Es ist, als ob man die ganze Zeit eine Porzellanvase auf einem glitschigen Fußboden herumtragen sollte! Bin ich etwa glücklicher, als ich vor meiner Heirat war? Na ja, vielleicht! Auf der einen Seite habe ich mehr Plage, und auf der anderen weniger. Und natürlich habe ich Bobbie. Aber es ist nicht alles Gold, was glänzt, und ich sag's ihnen auch. Ich kann nicht mehr tun, was ich will! Ich bin wie in der Verbannung, wissen Sie! Es war schön auf der Bühne, man konnte sich zeigen, und das war ein Vergnügen. Es war ein schweres Leben, aber man hatte auch seine Freude dran. Und man gewöhnt sich daran, und dann fehlt es einem. Manchmal ist mir, als könnte ich alles hergeben, um wieder einmal auf der Bühne zu sein ... Oh, oh!« Und sie nieste und holte Atem.

»Soll ich Kohlen nachlegen?« meinte Edward Henry.

»Ich klingle vielleicht lieber«, sagte sie zaudernd.

»Nein, nein, ich mach's schon.« Und er legte Kohlen ins Feuer. »Und wenn es Ihnen angenehmer ist, den Flanell um den Kopf zu haben, so legen Sie ihn doch, bitte, wieder an.«

»Ja,« sagte sie, »das will ich tun. Meine Mutter sagte immer, roter Flanell ist für Schnupfen das beste.« Und mit der Geschicklichkeit einer Schauspielerin richtete sie den Flanell um den Kopf, und ihr Gesicht sah reizend aus dem Tuch hervor, und sie wußte es. Ihr Teint hatte in den zehn Jahren, die sie als Wanderschauspielerin verbracht, gelitten, aber das Gesicht war noch immer herrlich schön, und Edward Henry dachte: Alle wirklich hübschen Mädel kommen aus unserer Gegend!

»Und da schwatze ich drauf los,« sagte sie, »ich hab' immer gern geschwatzt. Sagen Sie, was soll ich tun?«

»Sie sollen Ihren Einfluß geltend machen,« antwortete er, »ist es nicht wirklich schlecht gegen Rose Euclid, wenn man sie so behandelt? Natürlich erzählt man sich alles mögliche über Rose Euclid ...«

»Ich will kein Wort gegen Rose Euclid hören«, rief Lady Woldo. »Wenn sie auf einer Tournee war und wußte, daß eine von uns in der Stadt war, in der sie auftrat, schickte sie uns immer Sitze. Und oft habe ich geheult, wenn ich sie spielen sah. Und sie macht alles im Schauspielerinnenverein; der wäre nichts ohne sie.«

»Ist das nicht die Unterschrift Ihres Mannes?« fragte er und zeigte ihr die Option.

»Natürlich ist sie das.«

Den Begleitbrief zeigte er ihr nicht.

»Und ich zweifle gar nicht daran, mein Mann wollte, daß ein Theater auf dem Grundstück gebaut wird, und er wollte Rose Euclid einen Gefallen tun. Und ich bin ganz sicher, daß er Herrn Wrissells Salbadereien nicht auf seinem Grund haben wollte. Das war nicht seine Art; mein Mann war nicht so ... Sie müssen Prozeß führen ...«

»Ach,« sagte Edward Henry, »das würde mich ein schönes Geld kosten! Und wenn ich dann doch verliere? ... Das kann man nie wissen. Es gibt einen viel leichteren Weg.«

»Nämlich?«

»Wie ich schon sagte, Sie müssen Ihren Einfluß geltend machen, Lady Woldo. Schreiben Sie und sagen Sie den Leuten, daß ich bei Ihnen war, und daß Sie darauf bestehen ...«

»Ach du meine Güte! Die wickeln mich ja um den kleinen Finger. Ich bin nicht dumm, aber ich bin auch nicht sehr gescheit, das weiß ich. Wenn die in mich hineinreden, weiß ich nicht mehr, wo links oder rechts ist. Ich hab's schon mehrmals versucht, etwas bei ihnen durchzusetzen.«

»Bei wem, bei Herrn Wrissell oder bei Slossons?«

»Bei beiden. Aber ich möchte doch zu gern Herrn Wrissell einen Possen spielen, obschon er ein Kavalier ist. Er ist so eine Art Mensch, den man gern ein bißchen aufzieht. Solche habe ich beim Theater eine Menge kennengelernt.«

»Wissen Sie, was Sie tun könnten?«

»Was?«

»Schreiben Sie Slossons, daß Sie sie nicht mehr zu Vertretern haben wollen und einen anderen Rechtsanwalt nehmen. Das würde sie schon zur Vernunft bringen.«

»Geht nicht. Sie stehen im Testament. Das hat er so angeordnet. Darum sind sie auch so unverschämt.«

Edward Henry aber sagte mit bedeutungsvollem Lächeln und der Miene eines Verschwörers: »Ich weiß noch etwas, was Sie tun könnten, was Sie wirklich tun könnten, und was nur bei Ihnen liegt.«

»Gut«, sagte sie entschieden. »Dann tue ich's auch.«

»Was es auch sei?«

»Wenn es anständig ist.«

»Vollkommen anständig. Und es wäre ein wundervolles Mittel, den Herrn Wrissell und die anderen zu ärgern! Einfach großartig! Ich würde mich totlachen.«

»Nun dann ...«

In diesem kritischen Augenblick wurde diese historische Unterredung durch Geräusche in der Vorhalle unterbrochen, deren Bedeutung Lady Woldo mit fieberhafter Aufregung erkannte. Lord Woldo war aus dem Hyde-Park zurückgekehrt. Sie sprang auf und bat Edward Henry, eine kurze Zeit zu warten. Wenige Augenblicke später standen sie beide über das Kind gebeugt, und Edward Henry entwickelte seine Ansichten über Ursache und Heilung des Hitzausschlags.

VII

Noch am gleichen Nachmittag setzte Edward Henry mit großem Lärm durch, daß man ihn zum zweitenmal in das Arbeitszimmer des Herrn Slosson senior einließ, der ihn schweigend empfing.

Er reichte Herrn Slosson ein Papier. »Das ist nur eine Abschrift«, sagte er. »Aber das Original befindet sich in meiner Tasche und wird morgen gestempelt sein. Ich bin bereit, Ihnen dieses Original gegen den gestempelten Pachtvertrag meines Grundstücks am Piccadilly Cirkus auszuhändigen. Sie wissen, das Geld liegt bereit.«

Herr Slosson las das Papier, und es sprach für ihn, daß er zum mindesten äußerlich kein Zeichen von Erregung oder Schrecken erkennen ließ.

»Was wird Herr Wrissell und was wird die ganze Familie Woldo dazu sagen, glauben Sie?« fragte Edward Henry.

»Es wird Lady Woldo niemals gestattet werden, dies auszuführen«, sagte Herr Slosson.

»Wer will sie hindern? Sie ist verpflichtet, es auszuführen. Sie wünscht es auszuführen. Sie stirbt vor Sehnsucht, es auszuführen. Und außerdem werde ich die ganze Sache noch heute abend in die Zeitungen setzen, wenn wir beide uns jetzt nicht einigen. Und wenn sie es aller Wahrscheinlichkeit entgegen doch nicht ausführen sollte, dann habe ich hier auf Grund dieses Vertrags den schönsten Prozeß, und es wird mir ein Vergnügen sein, ihn zu führen; darauf können Sie Gift nehmen, Herr Slosson.«

Das Papier war ein Vertrag zwischen Blanche Lady Woldo auf der einen und Edward Henry Machin auf der anderen Seite, in welchem Blanche Lady Woldo sich verpflichtete, gegen ein Honorar von wöchentlich zweihundert Pfund sechs Monate hindurch in irgendeinem Theater des Westens, das Edward Henry Machin bestimmen würde, als Operettensängerin aufzutreten.

»Sie haben ja gar kein Theater«, sagte Herr Slosson.

»Mit diesem Vertrag in der Hand kann ich in einer Stunde ein halbes Dutzend haben«, sagte Edward Henry, und er las in Herrn Slossons Gesicht, daß er der Sieger war.

VIII

An diesem Abend ging er ins Empire-Theater; nicht in Hanbridge, sondern in Leicester-Square in London. Er glaubte, eine kleine Erholung wohl verdient zu haben. Der Pachtvertrag war mit einer ans Wunderbare grenzenden Schnelligkeit, wie sie im Anwaltsbüro Slossons noch niemals vorgekommen war, entworfen, ins Reine geschrieben und ausgeführt worden. Das Grundstück am Piccadilly Cirkus gehörte ihm für vierundsechzig Jahre.

»Und die alte Kapelle haben sie gratis für mich abgerissen«, sagte er zu sich selbst.

Er war in der besten Laune, als er unter all den glänzenden Erscheinungen im ersten Rang des Empire auf und ab ging. Aber nachdem er sich eine halbe Stunde hindurch derart Bewegung gemacht und vergeblich versucht hatte, von den Vorgängen auf der Bühne irgend etwas zu sehen oder zu hören, begann er die Sache langweilig zu finden. Da erblickte er Herrn Alloyd, den Architekten, der sich gleichfalls langweilte.

»Nun ja«, sagte Herr Alloyd mit einem sardonischen Lächeln. »Man hat mir alles telephoniert. Ich habe auch Herrn Wrissell gesprochen. Mein gewöhnliches Pech! Also Sie sind der Mann! Er hat Sie mir heute früh gezeigt. Mein Entwurf für die Kirche würde den ganzen Westen umgeworfen haben! Herr Wrissell wird mir natürlich eine Abfindung zahlen, aber das ist nicht dasselbe. Ich will als Baumeister bekannt werden ... Mein gewöhnliches Pech! Wollen wir was zusammen trinken?«

Das Ende war, daß Herr Edward Henry mit dem traurigen Herrn Alloyd nach dessen Wohnung in Adelphi Terrace fuhr. Er verließ diese Wohnung nach zwei Uhr morgens, und er hatte Herrn Alloyd mehr oder minder den Auftrag erteilt, die Pläne für das Regententheater zu entwerfen. Und er war mehr oder minder bereits Eigentümer eines erstklassigen Theaters im Londoner Westen. Ich möchte wissen, ob Meister Seven Sachs an einem Tag mehr hätte zustande bringen können! dachte er, als er in eine Taxameterdroschke stieg. Er hatte seinen Wagen früher entlassen. Ich glaube, selbst Meister Seven Sachs würde auf meine kleine Kriegslist von Eaton Square stolz sein, dachte er ... »Zum Hotel Wilkins«, sagte er laut.


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