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Zweites Kapitel. Die Banknote

I

Der Stadtrat Machin mußte sich mit einem Stehplatz weit rückwärts und noch dazu an der Seite des großen Parterres im Empire-Theater begnügen. Gleich beim Eintritt in die Halle, wo ihn das Wort »Willkommen« in elektrischen Lichtbuchstaben über einem großen, von Amoretten umgebenen Spiegel begrüßte, hatten ihm die Angestellten bedauernd und triumphierend zugleich mitgeteilt, daß alle Sitzplätze ausverkauft waren. Und er triumphierte mit ihnen. Mit ehrlichem Stolz auf seine Fünf Städte hatte er sich gesagt: dieses Varieté, das, wie die gesamte Presse zugibt, eines der besten in der Provinz ist, faßt mehr als zweitausendfünfhundert Personen, und wir können es jede Nacht zweimal füllen und überfüllen! Vor ein paar Jahren hat es noch kein anständiges Varieté im ganzen Bezirk gegeben! Das nenne ich Fortschritt!

Es war nicht völlig richtig, daß das Haus jede Nacht zweimal ausverkauft war; aber im Augenblick war jedenfalls kein Sitzplatz zu haben; und der Anblick des dichtgefüllten Zuschauerraumes machte ihn optimistisch. Instinktiv berechnete er den Ertrag des Abends und fragte sich, ob in dem verschwenderischen Hanbridge ein zweites Varieté Aussichten hätte, ja er wunderte sich, daß ihm dieser Gedanke nicht längst gekommen war.

Die Plüschfauteuils im großen Parkett kosteten einen Schilling, ein hoher Preis für eine Stadt, in der man sieben Pfund Kartoffeln für einen halben Schilling bekommt. Und von jedem Platz konnte man die ganze Bühne sehen. Der Stadtrat konnte das jetzt nicht; er mußte über und zwischen den Schultern mehrerer Männer durchschauen, die alle größer als er schienen. Nur indem er jeder Bewegung dieser Mauer von Schultern folgte, bekam er Bruchstücke verschiedener Reklamen für Seife, Automobile, Whisky, Hemden, Parfüm, Pillen, Ziegelsteine und Teesorten zu Gesicht. Denn der Zwischenvorhang war herabgelassen.

Aber trotz seiner unbequemen Stellung fühlte er sich besser aufgelegt, ja beinahe glücklich in dieser Atmosphäre von Erfolg. Und es gewährte ihm eine gewisse sonderbare Befriedigung, daß ihn noch niemand erkannt hatte. Bereits ein oder zweimal hatten sich die Besitzer der Schultern vor ihm umgedreht und den Menschen scharf angesehen, der die ganze Zeit über sie weg und zwischen ihnen durchzusehen versuchte und sie störte. Wenn sie geahnt hätten, daß er der berühmte Stadtrat Edward Henry Machin war, Gründer und Eigentümer des Sparvereins, in dem ihre Frauen vermutlich wöchentlich einzahlten, wären ihre Blicke anders gewesen, und sie hätten nachher stolz erzählt: »Der Machin von Bursley stand heute abend im Empire hinter mir!« Und obwohl Machin einer der gewöhnlichsten Namen in den Fünf Städten ist, hätte jeder sofort gewußt, wer gemeint war.

Jetzt ging der Vorhang in die Höhe, und von allen Seiten ertönte donnernder Applaus. Denn der Vorhang hob sich für die großartige Attraktion, die viele im Saal in dieser Woche zum fünftenmal sahen.

Die Bühne stellte ein stilles Restaurant vor; ein Kellner, der einen mächtigen Stoß Teller trug, trat eben ein, und da der Kellner nicht ganz nüchtern war, so schwankte der Tellerturm bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, so daß alle Zuschauer den Atem anhielten in gleichzeitiger Furcht und Hoffnung, die Teller im nächsten Augenblick zerschmettert am Boden liegen zu sehen. Jetzt trat ein zweiter betrunkener Kellner ein, der gleichfalls einen Stoß Teller trug, so daß die Gefahr nicht verdoppelt, sondern vervierfacht wurde, da jeder Kellner, von seiner eigenen Trunkenheit abgesehen, auch noch jeden Augenblick mit dem anderen zusammenstoßen konnte. Trotzdem kam es nicht zur Katastrophe.

Nun traten ein Herr und eine Dame ein, der Herr im Frack und Monokel, die Dame trug ein gelbes Seidenkleid, ein Diamantenhalsband und einen riesigen violetten Hut. Beide schienen an den Anblick betrunkener Kellner, die mit einem ganzen Stoß von Tellern hin und her taumeln, gewöhnt, sie setzten sich an einen Tisch und warteten ruhig, bis sie bedient würden. Das volkstümliche Publikum, mit jener schnellen Auffassung, die dieses Publikum auszeichnet, bemerkte bald, daß der Tisch, an dem sie sich niedergelassen, dicht neben einem hohen Büfett stand und daß zu beiden Seiten des Büfetts zwei Stühle standen, auf welche die beiden Kellner zu steigen versuchten, um ihre Teller auf dem obersten Brett abzustellen. Die Kellner gelangten erfolgreich auf die Stühle, und es gelang ihnen auch, die Tellertürme bis auf einen halben Zoll an das Brett zu heben, als man merkte, daß die Stühle nicht völlig sicher waren. Die Zuschauer befanden sich in einer Ekstase der Erwartung, die ebenso schmerzlich wie genußreich war. Die einzigen unbewegten und unerschütterten Personen im Hause waren der Herr und die Dame am Tisch des Restaurants, die auf Bedienung warteten.

Jetzt stand der eine Turm sicher auf dem Brett. Aber nein, er stand schief; wurde wieder gerade und bog sich wieder. Die Aufregung wurde unbeschreiblich, und gerade als sie nicht mehr zu ertragen war, neigte sich der eine Turm unwiderruflich, und sieben Dutzend Teller fielen in einer Kaskade auf den violetten Hut und von da mit ungeheurem Geklirr zu Boden. In demselben Augenblick bemerkte der Herr im Frack mit dem Monokel zum erstenmal, daß in dem Restaurant etwas Ungewöhnliches vorging, ließ das Monokel fallen und drehte sich nach dem Büfett um, und die sieben Dutzend Teller des anderen Kellners fielen ihm auf den Kopf und ins Gesicht.

Etwas Derartiges hatte man in den Fünf Städten noch nie gesehen, und noch nie waren die Leute so glücklich gewesen. Sie schrien, brüllten, heulten, keuchten, zitterten und stießen einander vor rasendem Vergnügen. In den Fünf Städten macht man Teller, man lebt von der Tellerfabrikation. Man versteht sich auf Teller. In den Fünf Städten trägt ein Mann nicht etwa sieben, sondern siebenundzwanzig Dutzend Teller auf einem schwankenden Brett jeden Tag acht Stunden treppauf und treppab, zum Tor hinaus und zum Tor hinein und zerbricht nicht einen Teller in sieben Jahren! Man kann sich daher die ungeheure Befriedigung der Zuhörerschaft über das Unheil vorstellen! Jeder zerschmetterte Teller bedeutete die Nachfrage nach einem neuen Teller und somit einen Vorteil für die Fünf Städte. Die dankbare Menge würde die Bühne mit Kränzen zugedeckt haben, wenn sie gewußt hätte, daß man Kränze auch bei anderen Gelegenheiten als bei Begräbnissen verwenden konnte; aber das wußte man in den Fünf Städten noch nicht.

Auf der Bühne folgten indessen sofort neue Komplikationen, die das unbeherrschbare Gelächter grausam abkürzten. Es war klar, daß der eine der beiden Kellner sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Und in der erzwungenen Stille neuer Angst fühlte jeder Zuschauer, der an schlechter Verdauung litt, sich plötzlich frei von allen Beschwerden und wünschte nach jeder Mahlzeit so lachen zu können. Der Kellner fiel; er fiel durch den großen violetten Hut und verschwand in einem Meer von Scherben. Der andere Kellner fiel gleichfalls, aber das Meer war nicht tief genug, um beide zu bedecken. Nun erholten sich der Herr und die Dame, und in ihrer gerechten Entrüstung warfen sie den Tisch um und alles, was darauf stand, und dann alle anderen Tische und alles, was auf den anderen Tischen stand. Jetzt glichen die Zuhörer Geschützbatterien, die nicht zum Schweigen gebracht werden konnten. Die Kellner erhoben sich, öffneten das Büfett und viele Hundert ungeahnter Teller und Schüsseln von jeder Art wurden sichtbar, die alle zerschmettert werden konnten. Ein Niagara von Tellern wogte auf die Bühne. Alle vier Darsteller wateten in zerschmettertem Porzellan. Und immer neue Vorräte von Tellern und Schüsseln wurden aus den sonderbarsten Verstecken zutage befördert. Zuletzt wurden die Tische und Stühle zerschlagen und jeder Gegenstand von den Wänden heruntergerissen und zerfetzt in die prachtvolle Verwüstung geschleudert, und auf die Spitze der Trümmer kletterte das Wesen im violetten Hut, Halsband und gelbem Rock und schwang unter dem tosenden Jubel der Menge ein einziges kleines Tellerchen, das wunderbarerweise verschont geblieben war. Der Vorhang fiel.

Er mußte fünfzehnmal hochgezogen werden und fünfzehnmal verbeugte sich das Künstlerquartett atemlos, dankbar für die lärmende, tobende Anerkennung ihrer außerordentlichen Begabung. Kein Sänger, kein Tragöde, kein Komödiant, kein Witzbold hätte einen ähnlichen Triumph erringen und die Leute so entzücken und begeistern können. Und doch hatte keiner der vier ein einziges Wort gesprochen. So wirkt das Genie. Nach dem fünfzehnten Hervorruf kam der Regisseur heraus und gab sein Ehrenwort, daß zweitausendvierhundert Teller zerschmettert worden waren.

Der Saal wurde wieder hell. Man sah starke Männer, die sich die Tränen aus den Augen wischten. Man sah Personen, die einander vollkommen fremd waren, wie alte Freunde miteinander reden. So wirkt die Kunst.

»Das war den Schilling wert!« sagte Edward Henry zu sich selbst. Der allgemeine Jubel hatte ihn mitgerissen; er war entzückt; er hatte jede Sorge vergessen.

»Guten Abend, Herr Machin«, sagte eine Stimme neben ihm. Nicht nur er drehte sich um, alle Leute in der Nachbarschaft drehten sich um. Es war die Stimme des stattlichen geschäftsführenden Direktors, und sie übertönte autoritativ das Geräusch der Gläser und Teller an der Bar hinter dem großen Parterre.

»Wie geht's Ihnen, Herr Dakins?« sagte Edward Henry und schüttelte ihm herzlich die Hand, denn auch einem großen Mann macht es Vergnügen, wenn er in einem Unterhaltungslokal von dem geschäftsführenden Direktor begrüßt wird. Außerdem wußte man jetzt, wer er war.

»Haben Sie nicht gesehen, wie die Herren in der Loge Ihnen winkten?« sagte Herr Dakins, während er Komplimente über die Darbietungen stolz ablehnte.

»In welcher Loge?« Herr Dakins wies nach einer Proszeniumsloge, in der drei Männer saßen. Einer davon war Edward Henry unbekannt. Der zweite war der Architekt Robert Brindley aus Bursley, der dritte Doktor Stirling.

Ihm schlug das Gewissen. Jetzt dachte auch er an Hundswut. Wie, wenn trotz des Maulkorbzwanges doch noch ein Fall von Tollwut auf den britischen Inseln geblieben und Carlo infiziert wäre! Unmöglich war es nicht! War es ein Werk der Vorsehung, daß Doktor Stirling im Saale war?

»Zwei von den Herren kennen Sie?« sagte Herr Dakins.

»Ja.«

»Der dritte ist ein Herr Bryany. Er ist der Impresario von Herrn Seven Sachs.«

»Und wer ist Herr Seven Sachs?« fragte Edward Henry geistesabwesend. Es war eine dumme Frage. Er wurde nachdrucksvoll belehrt, daß Seven Sachs der mehr als berühmte amerikanische Schauspieler und Theaterdichter war, der eben am Ende einer Rekord-Tournee durch die Provinz stand, und nächste Woche im Königlichen Theater in Hanbridge auftreten sollte. Jetzt erinnerte sich Edward Henry, daß der Bauzaun gegenüber seinem Hause mit Plakaten und Bildern von Seven Sachs seit einiger Zeit über und über bedeckt war.

»Sie winken Ihnen noch immer«, sagte Herr Dakins, Edward Henry winkte zurück. »Kommen Sie, ich führe Sie den nächsten Weg«, sagte der Direktor.

II

Robert Brindley grüßte den Stadtrat mit einem fast unmerklichen Augenzwinkern. Edward Henry konnte nicht genau sagen, was es bedeutete; aber es machte ihn nachdenklich. Er hatte nichts gegen Robert Brindley, er war von Natur wohlwollend und gab zu, daß Brindley ein geschickter Architekt war, wenn ihm auch die Häuser und Schulen, die Brindley baute, zu modern waren. Was ihm mißfiel, war Brindleys Verhalten gegenüber den Fünf Städten, in denen sie beide geboren waren. Brindley schien in den Fünf Städten wie ein hochkultivierter Fremder unter Wilden zu leben, deren Wesen zu beobachten ihm ein ironisches Vergnügen gewährte. Brindley war Doktor Stirlings besonderer Freund und hatte auch ihn beeinflußt; aber Stirling war aus Schottland, und auf das, was er über den Bezirk dachte, kam es nicht an. Auch Brindleys Krawatte mißfiel dem Stadtrat, sie war zu lose gebunden. Außerdem verachtete Brindley, obwohl er ein Musikenthusiast war, das mechanische Klavier, und endlich war er ein Büchernarr. Stirling gleichfalls. Brindley und der Doktor schwatzten ewig über Bücher und kauften sie sogar.

Aus diesen Gründen fühlte sich Edward Henry in Doktor Stirlings Loge nicht ganz zu Haus, obgleich die beiden Männer, nachdem sie ihn Herrn Bryany vorgestellt hatten, besonders liebenswürdig gegen ihn waren.

»Setzen Sie sich dahin, Machin«, sagte Stirling, indem er auf die vordere Reihe wies.

»Nein, nein, ich kann nicht den vordersten Stuhl nehmen!« erwiderte Edward Henry.

»Natürlich können Sie, lieber Machin!« sagte Brindley entschieden, »der vorderste Stuhl in der Loge ist der einzig richtige Platz für Sie, tun Sie, was Ihr Arzt Ihnen vorschreibt.« Edward Henry setzte sich also in die vordere Reihe, Herr Bryany saß neben ihm, die beiden anderen hinter ihnen. Aber er fühlte sich nicht vollkommen behaglich. Er nahm Brindleys Worte ein wenig übel. Dabei fühlte er, daß Brindley recht hatte, und jedenfalls saß er lieber auf dem vordersten Stuhl einer Proszeniumsloge als weit hinten im großen Parterre. Es wunderte ihn auch, daß sie ihn dort im Dunkel und in der Menge erkannt hatten, während er sie gar nicht gesehen hatte, und es wunderte ihn außerdem, daß sie ihn eingeladen hatten. Er gehörte nicht zu ihrer Clique; wie viele große Männer, gehörte er eigentlich zu gar keiner Clique. Es war auch klar, er hatte es in ihren Gesichtern gelesen, daß die drei Männer über ihn gesprochen hatten. Vielleicht wollten sie diesem Herrn Bryany einen der hervorragenden Männer der Stadt vorführen. Das freute ihn eigentlich. Er merkte, daß Herr Bryany ihn heimlich beobachtete; und dachte: Schön, mein Junge, das kostet nichts. Er lächelte ein oder zwei Personen zu, die ihn aus dem Parkett grüßten ... Es war ganz gut, daß man ihn am Freitagabend hier sah.

»Ein volles Haus!« bemerkte er, um das Schweigen zu brechen, und blickte auf all die vergoldeten Sitzreihen, die im Raum sichtbar waren, bis zur obersten Galerie, auf der Burschen und Mädchen kicherten und scherzten, während das zerbrochene Geschirr fortgeräumt wurde, damit das Kino beginnen konnte.

»Das kann man wohl sagen!« erwiderte Herr Bryany, der mit leicht amerikanischem Akzent sprach. »Dakins konnte mir keinen Sitz geben. Ich hatte den Abend gerade frei, was bei mir nicht oft vorkommt, und so wollte ich hierher gehen. Aber wenn Dakins mich nicht mit den Herren bekannt gemacht hätte, hätte ich stehen müssen.«

Also sie haben ihn auch erst kennengelernt, dachte Edward Henry, und wieder entstand ein Schweigen.

»Ich höre, Sie haben einen Coup in Gummiaktien gemacht, Machin?« sagte Brindley.

Unglaublich, wie schnell so etwas sich herumsprach. »Oh, nur ganz wenig!« sagte er bescheiden. »Es war schon zu spät; in vierzehn Tagen wird man in Gummi gar nichts mehr machen können.«

»Ich bin zwar ein Engländer ...« begann Herr Bryany.

»Warum zwar?« unterbrach Edward Henry.

»Hört, hört! den Stadtrat! Warum zwar?« sagte Brindley zustimmend, während Stirling hell auflachte. »Herr Bryany«, fügte Brindley hinzu, »hat uns nämlich seinerzeit die Ehre erwiesen, hier in den Fünf Städten auf die Welt zu kommen.«

»Ja, in Longshaw«, gab Herr Bryany halb mit Stolz und halb entschuldigend zu. »Bin allerdings schon mit zwei Jahren fortgekommen.

»Oh, in Longshaw!« murmelte Edward Henry. Longshaw liegt am anderen Ende der Fünf Städte, und die große Mehrzahl der Einwohner von Bursley ist nie in Longshaw gewesen, hat nur davon gehört, wie von Chikago oder Bangkok. Edward Henry war in Longshaw gewesen, aber auch er hielt es für einen im Grunde unpassenden und gänzlich überflüssigen Ort.

»Also, wie ich sagte,« fuhr Herr Bryany uneingeschüchtert fort, »bin ich ein Engländer. Aber ich habe achtzehn Jahre in Amerika gelebt und mir scheint, es wird in England bald überhaupt nichts mehr zu machen sein. Hier, in den Fünf Städten zum Beispiel ...«

»Gehen Sie nicht zu weit, Herr Bryany!« sagte Brindley.

»Warum, was ist mit den Fünf Städten?« sagte Edward Henry, »mir gefallen sie ganz gut!«

»Haben Sie schon je Leute gesehen, die so schwer mit einer Fünf-Pfund-Note herausrücken?«

Diese Herabsetzung seines Geburtsorts gefiel Edward Henry nicht. Schweigend betrachtete er Herrn Bryanys eher freches Gesicht, und es gefiel ihm auch nicht.

Herr Bryany aber fuhr, ohne zu ahnen, wie taktlos seine Bemerkung gewesen war, fort: »Es gibt keinen Ort, der so echt englisch ist wie die Fünf Städte! Natürlich haben sie auch ihre guten Seiten, so wie England seine guten Seiten hat; aber es ist alles tot, das Geld bewegt sich nicht. Im Inland kann man nicht spekulieren und im Ausland legt der Engländer nichts an, wenigstens nie in wirklich guten Papieren.« Er betonte die letzten Worte.

»Wie machen Sie es, Herr Bryany?« fragte Doktor Stirling.

»Was ich mit meinem bißchen Geld mache?« rief Herr Bryany. »Ich weiß, was ich damit zu tun habe. Ich habe mein bißchen Geld zu zehn Prozent in Seattle und zu zwölf bis fünfzehn Prozent in Calgary angelegt; das sind so sichere Papiere wie englische Eisenbahnaktien, noch sicherer!«

Das Theater verdunkelte sich, und der Kinematograph begann sein flirrendes Spiel. Herr Bryany setzte Edward Henry mit leiserer Stimme seine Ansichten über den Geldmarkt auseinander, und Edward Henry gab vorsichtige Antworten.

»Selbst wenn einmal in England etwas zu machen ist,« sagte Herr Bryany mit einem leichten Ärger im Ton, »findet man keinen Engländer, der etwas macht.«

»Ich würde es schon tun«, sagte Edward Henry ohne viel dabei zu denken, denn in Wirklichkeit dachte er die ganze Zeit darüber nach, ob es ein Wink der Vorsehung war, daß er Doktor Stirling hier getroffen.

»Sehen Sie, da habe ich eine Option in London«, sagte Herr Bryany, und Edward Henry warf ihm in der Dunkelheit einen raschen Blick zu. »Eine Kleinigkeit! Und glauben Sie, daß ich jemanden dafür finde? Niemanden finde ich.«

»Was ist es denn für eine Kleinigkeit?«

»Es handelt sich um einen Theaterbau im Westen.«

Edward Henry sah überrascht auf. Vor zwanzig Minuten war ihm die müßige Frage durchs Gehirn geschossen, ob er in Hanbridge ein zweites Theater bauen könnte, und jetzt sprach ihm jemand ernsthaft von einem Theaterbau. »Oh!« sagte er und vergaß über die Wege der Vorsehung weiter nachzudenken.

»Sie wissen doch wohl, daß ich in der Branche bin,« sagte Herr Bryany, »ich bin Seven Sachs' Impresario.« Er sprach, als ob Herr Seven Sachs ihm gehörte und von ihm auf die Szene gestellt würde.

»Man hat es mir gesagt,« antwortete Edward Henry, und sehr freundlich, aber nicht ohne Bosheit, fügte er hinzu, »und die beiden da haben Ihnen offenbar gesagt, daß ich der Mann bin, den Sie brauchen. Und da haben Sie ihnen gesagt, sie sollen mich doch in die Loge kommen lassen, wie?«

Herr Bryany lachte unsicher, aber es schien ihm keine Antwort einzufallen. »Na, sagen Sie mir nur, was ist es denn für eine Kleinigkeit?« sagte Edward Henry ermutigend.

»Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen,« antwortete Herr Bryany, »das würde zu lange dauern. Das muß man ausführlich erklären.«

»Und wie wäre es morgen?«

»Ich muß mit dem ersten Zug nach London.«

»Also ein andermal.«

»Nein, übermorgen ist es schon zu spät.«

»Also dann heute abend noch, nach der Vorstellung?«

»Ich habe Dr. Stirling halb und halb versprochen, mit ihm nachher in einen Klub zu gehen, sonst hätten wir in meinen Zimmern gegenüber im Türkenkopf in aller Ruhe miteinander sprechen können. Ich ahnte ja doch nicht ...« Herr Bryany sprach jetzt nicht mehr herablassend, er sah eher wie ein hungriger Junge aus, der herrliches Obst im Schaufenster hinter einer Spiegelscheibe liegen sieht.

»Von Stirling werde ich Sie sofort losmachen«, sagte Edward Henry und drehte sich nach dem Doktor um. Die Wege der Vorsehung waren ihm plötzlich klar. »Doktor!« Aber der Doktor und Brindley sprachen mit jemandem an der Türe der Loge.

»Was gibt's?« sagte Stirling.

»Ich bin eigentlich hierhergekommen, um Sie zu holen. Sie sollen zu uns kommen.«

»Na hören Sie, das ist aber sonderbar!« sagte Stirling

»Warum soll das sonderbar sein? Ich habe es Ihnen vorher nicht gesagt, weil ich Sie nicht in Ihrem Vergnügen stören wollte.«

Stirling sah nicht erfreut aus. »Hat man Ihnen denn bei mir gesagt, daß ich hier bin?« fragte er.

»Man sollte es beinahe glauben!« sagte Edward Henry, rätselhaft scherzend. Er war jetzt der Ansicht, daß seine Frau recht hatte; jedenfalls war es besser, wenn Stirling das Kind sah. Außerdem hielt er es nicht für ganz richtig, daß ein Arzt den ganzen Abend im Varieté saß; im Grunde war er der Meinung, daß ein Arzt, wenn er nicht Besuche machte, in seinem Ordinationszimmer zu sitzen hätte, um bereit zu sein, wenn man ihn brauchte. Aber nach dem Varieté noch stundenlang im Klub? Die halbe Stadt konnte krank werden und sterben, während der Doktor sich unterhielt. Das durfte nicht sein.

»Was ist denn los?« fragte Stirling.

»Mein ältester Junge ist schlimm von einem Hund gebissen worden, und meine Frau will, daß es ausgebrannt wird.«

»In der Tat?«

»Natürlich.«

»Wo ist denn der Biß?«

»In der Wade.«

Der Mann an der Tür war gegangen, und Brindley mischte sich ins Gespräch. »Sie haben von dem Fall von Hundswut in Bleakridge gehört?«

Edward Henry schlug das Herz. »Nein«, sagte er besorgt. »Was war das für ein Fall?«

Er sah Brindleys Gesicht wie einen weißen Fleck in der verdunkelten Loge, und er hörte das Knattern des Kinematographien hinter sich.

»Haben Sie es nicht im Anzeiger gelesen?«

»Nein!«

»Ich auch nicht«, sagte Brindley.

In diesem Augenblick war das Kino zu Ende, die Lichter flammten auf, und das Orchester begann die Nationalhymne zu spielen. Brindley und Stirling lachten. Brindley hatte der »Nummer« eins ausgewischt.

»Schön, ich will Ihnen das schenken«, sagte Edward Henry.

»Aber jedenfalls muß das Kind ausgebrannt werden, meine Frau besteht darauf, Doktor«, sagte er fest.

»Haben Sie Ihr Auto da?« fragte Stirling.

»Nein. Haben Sie das Ihre?«

»Nein.«

»Nun, die Straßenbahn geht ja noch. Ich komme Ihnen nach; ich habe noch in der Nähe zu tun. Beruhigen Sie meine Frau, – ja?«

Als Dr. Stirling sich mißvergnügt bei Herrn Bryany entschuldigt und empfohlen hatte und die beiden Männer – denn Robert Brindley wollte seinen Freund nicht allein lassen – gegangen waren, wandte Edward Henry sich zu Herrn Bryany: »Sie sehen: so wird man den Doktor los!«

»Aber ist Ihr Kind wirklich von einem Hund gebissen worden?« fragte Herr Bryany verwirrt und erstaunt.

»Man sollte es fast glauben, wie?« antwortete Edward Henry mit kluger Zweideutigkeit. »Was geben Sie jetzt, wenn wir in den Türkenkopf gehen?« Und er erinnerte sich mit Befriedigung und doch nicht ohne Besorgnis an ein Wort, das eine gescheite alte Frau, die Witwe Hullins, vor vielen Jahren zu ihm und von ihm gesagt hatte: »Sie sind ein sonderbarer Mensch!«

III

Fünf Minuten später betrat er mit Herrn Bryany einen kleinen Salon im ersten Stock des Türkenkopfs, ein Zimmer, das er nicht kannte, obgleich er wie die meisten großen Geschäftsleute von Hanbridge das Haus gründlich zu kennen glaubte. Herr Bryany drehte das Gas auf; der Türkenkopf war stolz darauf, kein Hotel, sondern ein Gasthof zu sein, und obwohl im Parterre Gasglühlicht brannte, hatte er eine Abneigung gegen elektrisches Licht noch nicht überwunden. Edward Henry sah ein elegantes Reisenecessaire, ein Frackköfferchen, einen Hosenstrecker und anderes, was ein Mann vom Theater nötig haben mußte, herumliegen.

»In diesem Zimmer bin ich noch nie gewesen«, sagte Edward Henry.

»Legen Sie Ihren Überzieher ab und nehmen Sie Platz«, sagte Herr Bryany und legte Kohlen aus einem Eimer auf das Feuer im Kamin. »Das ist mein Privatsalon. Wenn ich auf Reisen bin, nehme ich immer auch ein kleines Empfangszimmer. Das bezahlt sich ... Natürlich nur, wenn ich allein bin. Wenn ich mit Herrn Sachs reise, haben wir ein gemeinsames Empfangszimmer.«

»Ja. ja, natürlich«, sagte Edward Henry leichthin. Aber in Wirklichkeit war er tief beeindruckt. Noch nie hatte er zwei Zimmer in einem Hotel für sich genommen. Er hatte wohl bisweilen den Wunsch gefühlt, aber nie den Mut dazu gehabt. Ein eigenes Empfangszimmer im Hotel zu nehmen, wurde in den Fünf Städten als Gipfel der Verschwendung und überflüssigen Luxus angesehen. »Ich wußte gar nicht, daß sie in dieser Baracke Privatsalons haben«, sagte er.

Herr Bryany, der mit dem Feuer fertig war, wendete sich, die Kohlenschaufel in der Hand, nach ihm um und sagte mit dem Ausdruck des Erfahrenen: »Mit einiger Energie kann man meistens haben, was man will, sogar hier in dieser Baracke.«

Edward Henry bereute, daß er das Wort gebraucht hatte. Die Bewohner der Fünf Städte gestatten sich einen gelegentlichen Scherz über den historischen Türkenkopf, aber sie gestatten Fremden nicht, sich über ihn lustig zu machen. Der Türkenkopf war ein solider alter Provinzgasthof, der seit Jahrhunderten bestand und nicht mehr tat, Reisende abzuschrecken, als andere Hotels in der Provinz.

Herr Bryany aber sagte: »Hotels gibt es nur in Amerika.«

»Es mag so sein.«

»Waren Sie schon in Chikago?«

»Nein, ich war nicht dort.«

Es war klar, daß Herr Bryany, während er seinen Überzieher ablegte, nur aus Höflichkeit kein erstauntes Gesicht machte. »Aber in New York waren Sie natürlich?«

Edward Henry hätte gern alles Geld, das er bei sich hatte, dafür gegeben, wenn er hätte sagen können, daß er schon in New York gewesen war. Aber infolge irgendeiner unverzeihlichen Nachlässigkeit war er bis jetzt nicht drüben gewesen, und da er, ausgenommen in den schwersten Krisen des Lebens, die Wahrheit zu sagen pflegte, so mußte er kläglich antworten: »Nein, ich war nicht dort.«

Herr Bryany starrte ihn an; Mitleid und Erstaunen malten sich in seinen Zügen. Die Entdeckung, daß es in England einen bedeutenden Geschäftsmann gab, der vierzig Jahre gearbeitet hatte, ohne seine Bildung durch eine Reise nach New York zu vervollständigen, erschütterte ihn geradezu. Edward Henry konnte seinen Blick nicht ertragen; es war ein Blick, den er niemals und von niemandem hatte ertragen können. Er erinnerte sich, daß er Herrn Bryany nur in der geheimen Absicht in den Türkenkopf begleitet hatte, um ihm die Verunglimpfungen Englands und der Fünf Städte insbesondere, die er im Varieté sich hatte zuschulden kommen lassen, heimzuzahlen, wenn er auch noch nicht wußte, in welcher Münze, und sich auch dafür zu rächen, daß er einen Augenblick geglaubt hatte, in Bleakridge wäre wirklich ein Fall von Hundswut vorgekommen. Daran war allerdings Herr Bryany unschuldig gewesen; Robert Brindley hatte ihn aufsitzen lassen; aber so genau nahm Edward Henry es jetzt nicht, der Bequemlichkeit halber wollte er gemeinsame Abrechnung halten.

Er sagte daher kurz und in verändertem Ton: »Nun, Herr Bryany, wie steht es mit Ihrer Kleinigkeit?«

Er sah, daß Herr Bryany sich die Zurechtweisung, die in diesen Worten lag, gefallen ließ, wie jeder, der von einem anderen etwas haben will; er beobachtete die Züge des Mannes und fand, daß der Ausdruck darin wohl frech und schlau, aber nicht der eines Gauners war.

»Nun, die Sache ist die«, sagte Herr Bryany, indem er sich Edward Henry gegenüber an den Tisch in der Mitte des Zimmers setzte und mit entgegenkommender Lebhaftigkeit nach dem Reisenecessaire griff, auf dem die Buchstaben »W. C. B.« sichtbar waren. Er entnahm ihm zunächst eine Whiskyflasche aus geschliffenem Glas mit Patentverschluß und eine große Zigarettenschachtel. »Ich habe immer die richtige Marke bei mir«, bemerkte er, während er die goldgelbe Flüssigkeit ans Licht hielt. »Es ist sicherer und man hat keine Unannehmlichkeiten, wenn man nach Geschäftsschluß noch bestellen will ... In diesen englischen Hotels ...«

Damit schenkte er den Whisky ein und reichte die Zigaretten; eine Flasche Sodawasser und Gläser standen auf dem Tisch, sowie ein Streichholzständer mit drei Streichhölzchen. »Gesundheit!« sagte er und hob sein Glas.

»Gesundheit!« antwortete Edward Henry, und sie tranken.

Darauf holte Mr. Bryany aus dem Reisenecessaire ein durchscheinendes Papier. »Sehen Sie sich einmal diesen Lageplan von Piccadilly Cirkus und seiner Umgebung an«, sagte er.

Nun gibt es auch in Hanbridge ein Piccadilly, so wie eine Pall-Mall-Straße und eine Chancery-Lane, denn Hanbridge ist eine Großstadt.

»London?« fragte Edward Henry. »Ich nahm an, wir sprachen drüben von London«, und er wies mit dem Ellbogen in die dunkle Welt vor den Hotelfenstern hinaus, in der irgendwo das Varieté liegen mußte.

»London«, sagte Herr Bryany.

Und Edward Henry dachte: Was zum Teufel habe ich mit London zu tun? Was soll ich in London?

»Sie sehen die rot bezeichnete Stelle?« fuhr Herr Bryany fort. »Das ist der Platz. Jetzt steht eine alte Kapelle dort.«

»Was bedeuten alle diese geraden Linien?« fragte Edward Henry; von der rot bezeichneten Stelle waren Linien nach den verschiedensten Seiten gezogen.

»Diese Linien«, sagte Herr Bryany, »zeigen, von wo man ein elektrisches Licht an der Theaterfront sehen würde. Sie sehen, die Baustelle befindet sich nicht auf dem Platz selber, sondern etwas weiter nördlich.« Herrn Bryanys Finger näherten sich denen Edward Henrys auf dem Plan, und die Rauchwolken ihrer Zigaretten mischten sich brüderlich. »Sie ersehen aus diesen Linien, daß ein elektrisches Licht an der Front des projektierten Theaters beinahe vom ganzen Platz aus sichtbar wäre, ebenso von der Unteren Regentstreet, Coventgardenstreet und sogar von Shaftesbury Avenue! Sie sehen, die Lage ist einzig!«

»Haben Sie das Areal gekauft?« fragte Edward Henry kühl.

»Nein,« sagte Mr. Bryany sich gleichsam entschuldigend, »nicht eigentlich gekauft. Aber ich habe eine Option erworben.«

Das Wort »Option« weckte den schlummernden Spekulanten in Edward Henry. Und daß er den Plan vor sich hatte, gab dem Fleck Erde, um den es sich handelte, Realität. Seine Existenz war gewiß.

»Eine Option, es zu kaufen?«

»Im Londoner Westen kann man kein Land kaufen«, sagte Mr. Bryany überlegen. »Man kann es nur pachten.«

»Ja, natürlich«, gab Edward Henry zu.

»Der Grundeigentümer ist Lord Woldo; er ist zur Zeit sechs Monate alt.«

»In der Tat?« murmelte Edward Henry.

»Die Pacht läuft noch vierundsechzig Jahre, und ich habe die Option, in die Pacht einzutreten, unter der Bedingung, daß ich dort ein Theater baue. Die Optionsfrist währt noch genau vierzehn Tage.«

Edward Henry runzelte die Stirn. »Und sie kostet?« fragte er.

»Das heißt,« berichtigte Mr. Bryany mit höflichem Lächeln, »ich habe die halbe Option.«

»Und wer hat die andere Hälfte?«

»Die andere Hälfte hat Rose Euclid.«

Edward Henry sah auf, da er den Namen einer der berühmtesten Schauspielerinnen Englands hörte.

»Doch nicht die ...«

Herr Bryany nickte stolz und blies den Rauch von sich.

»Sagen Sie mir einmal,« fragte Edward Henry vertraulich, und er beugte sich über den Tisch, »wo kriegen diese Damen ihre Namen her?«

»In diesem Fall ist es zufällig ihr wirklicher Name«, sagte Herr Bryany. »Ihr Vater hatte einen Tabakladen in Cheapside. Das Schild war noch viele Jahre zu sehen, bis Rose dafür zahlte, daß es geändert wurde.«

»So, so!« murmelte Edward Henry, auf den diese außerordentlichen Enthüllungen einen großen Eindruck machten, den er zu verhehlen suchte. »Und Sie beide zusammen haben also die Option?«

Herr Bryany antwortete: »Ich habe ihr die Hälfte vor einiger Zeit abgekauft. Sie brauchte dringend einhundert Pfund, und so gab ich ihr das Geld.« Und er warf die nur halb zu Ende gerauchte Zigarette mit einer lässigen Handbewegung fort, die zu sagen schien, daß er hundert Pfund ebenso leicht hinzuwerfen pflegte.

»Und wie kam sie zu der Option?« fragte Edward Henry mit dem Ton eines Mannes, der die Vorgänge hinter den Kulissen zu kennen wünscht.

»Wie sie dazu kam? Sie bekam sie von dem verstorbenen Lord Woldo. Sie stand immer sehr gut mit ihm, wie Sie vielleicht wissen.« Edward Henry nickte. »Die Gräfin von Chell und sie sind dicke Freunde! Über die Gräfin müssen. Sie doch hier einigermaßen Bescheid wissen, denke ich.«

Die Gräfin von Chell war die Frau des reichsten und mächtigsten Großgrundbesitzers der Gegend.

Edward Henry antwortete ruhig: »Wir wissen von ihr.« Er fühlte die Versuchung, das große Abenteuer seiner Jugend zu erzählen, als er die Gräfin in seinem Maultierwagen zu einer öffentlichen Versammlung gefahren hatte, aber er schwieg stolz. »Ich fragte Sie vorhin nach den Kosten«, fügte er in einem Ton hinzu, der Herrn Bryany daran erinnern sollte, daß er es mit einem Kapitalisten zu tun hatte.

»Hier!« sagte Herr Bryany und reichte ihm ein Blatt Papier.

Während Edward Henry die Ziffern prüfte, hörte er Bryany ihm leise und verlockend ins Ohr girren: »Natürlich hat Rose eine Ermäßigung der Pacht erreicht. Und wenn ich Ihnen sage, daß die Nachfrage nach Theatern im Westen von London weit größer ist als das Angebot, und daß die Erträgnisse beständig steigen ... wenn ich Ihnen sage, daß, wenn die Baukosten für ein Theater, sagen wir, fünfundzwanzigtausend Pfund betragen, man es für elftausend Pfund im Jahr verpachten kann und oft für dreihundert Pfund für ein kurzes Gastspiel von einer Woche ...!« Er hörte auch das Summen der Gasflamme ... Unglücklicherweise hörte er auch in der Ferne Dr. Stirling mit seiner Frau sprechen und ihr sagen, daß der Biß viel bedenklicher sei, als er aussehe, und hörte Nellie ganz deutlich sagen, sie hoffe, daß ihrem Gatten, der noch immer nicht nach Hause gekommen sei, nichts zugestoßen wäre ...! Und jetzt hörte er wieder Herrn Bryany: »Wenn ich Ihnen sage ...«

»Wenn Sie mir das alles sagen, Herr Bryany,« unterbrach er ihn mit jener Brutalität, die in den Fünf Städten für Geradheit gilt, »dann frage ich mich, warum zum Teufel Sie Ihre halbe Option verkaufen wollen – wenn Sie sie wirklich verkaufen wollen. Wollen Sie sie verkaufen?«

»Um die Wahrheit zu sagen,« erwiderte Herr Bryany, als ob er bis jetzt gelogen hätte, »ich will sie verkaufen.«

»Und warum?«

»Oh, ich bin immer unterwegs; heute in England, morgen in Amerika.« Offenbar wich er bereits wieder von der strengen Wahrheit ab. »Ich hänge immer von meinem Prinzipal ab! Ich könnte die Sache doch nicht im Auge behalten.«

Edward Henry lachte: »Könnte ich denn das?«

»Sie würden eben ein bißchen öfter nach London fahren«, sagte Herr Bryany gleichfalls lachend, dann aber fügte er mit großem und überzeugendem Ernst hinzu: »Sie sind der Mann für so eine Sache. Und Sie wissen es auch!«

Die Schmeichelei tat Edward Henry wohl. »Also wieviel?« fragte er.

»Wieviel? Ich habe Ihnen gesagt, was ich dafür bezahlt habe; ich hab's Ihnen nicht verheimlicht. Ich will nur das Geld wieder. Das ist es wahrhaftig wert!«

»Haben Sie eine Abschrift der Option bei sich?«

Herr Bryany hatte eine Abschrift der Option bei sich. »Ich bin wirklich ein unglaublicher Esel, wenn ich mich in so eine verrückte Sache einlasse«, sagte Edward Henry zu sich selbst, während er die Papiere durchflog. »Es ist ganz und gar nicht in meiner Linie, ganz und gar nicht ...! Aber es wäre ein Spaß!« Aber auch sich selber gestand er nicht die ganze Wahrheit, nämlich: Ich möchte diesem unausstehlichen Kerl, der über England und die Fünf Städte so von oben herab spricht, gründlich imponieren. Und plötzlich schnappte irgend etwas in ihm ein, und er sagte: »Ich nehme sie!« Nur das und sonst nichts.

»Sie nehmen sie?« rief Mr. Bryany, der seinen Ohren nicht traute.

Edward Henry nickte.

»Nun, das nenne ich ein Geschäft machen!« sagte Mr. Bryany, und er nahm eine frische Zigarette und zündete sie an.

»So machen wir hier Geschäfte«, sagte Edward Henry, was keineswegs stimmte. So machte man in den Fünf Städten niemals Geschäfte.

»Aber wann wollen Sie zahlen?« fragte Mr. Bryany mit augenscheinlicher Besorgnis.

»Oh, morgen oder übermorgen schicke ich Ihnen einen Scheck«, und auch Edward Henry nahm eine frische Zigarette.

»Nein, das geht nicht!« rief Herr Bryany. »Ich muß das Geld unbedingt morgen früh in London haben. Ich kann die Option in London jederzeit um achtzig Pfund verkaufen.«

»Sie müssen es haben?«

»Ich muß!«

Sie wechselten einen Blick. Und Edward Henry, der auf der Schwelle einer ihm bisher unbekannten Welt rasch neue Einblicke in die menschliche Natur gewann, begriff, daß Herr Bryany trotz seines Privatsalons im Hotel und seines in Seattle und Calgary angelegten Vermögens im Augenblick nicht wußte, woher er bar Geld nehmen sollte und sich auf irgendeinen glücklichen Zufall verlassen hatte, der ihn aus der Not rettete. Und er fühlte für Herrn Bryany die ganze Verachtung eines Mannes, vor dem sein Bankier kriecht.

»He!« Herr Bryany schrie beinahe. »Sie zünden ja Ihre Zigarette mit meiner Option an!«

»Bitte um Verzeihung!« sagte Edward Henry sich entschuldigend und ließ das Schriftstück, das er zu einem Fidibus zusammengedreht hatte, auf den Tisch fallen. Es waren keine Streichhölzer mehr da.

»Ich werde Ihnen ein Streichholz besorgen!« sagte Herr Bryany.

»Ist nicht nötig«, sagte Edward Henry und suchte in seinen Taschen. Er holte ein Stück Papier hervor, drehte es zusammen und erhob sich, um es an die Gasflamme zu halten.

»Könnten Sie nicht morgen früh einen Sprung zu Ihrer Bank machen und mir das Geld an den Bahnhof bringen?« schlug Herr Bryany vor.

»Nein, das kann ich nicht«, sagte Edward Henry.

»Ja, was aber ...«

»Vielleicht nehmen Sie das hier!« sagte Edward Henry, der sich wieder ganz als Nummer fühlte, liebenswürdig, blies das zusammengeknüllte Papier, das er eben an der Gasflamme entzündet hatte, aus und bot es Herrn Bryany an.

»Was?!«

»Das, mein Lieber!«

Herr Bryany sah den Fidibus an, griff danach und rollte ihn aufgeregt auseinander. »Ist das echt?« stotterte er.

»Man möchte es fast glauben«, sagte Edward Henry. Die Antwort begann ihm zu gefallen, besonders der spielerische und geheimnisvolle Ton, in dem er sie aussprach.

»Aber ...!«

»Wir überlegen es uns vielleicht zweimal, ehe wir eine Fünfpfundnote ausgeben, wie Sie vorhin sagten,« fuhr Edward Henry fort, »aber mit Hundertpfundnoten sind wir manchmal leichtsinnig. Darum trage ich immer eine bei mir.«

»Aber die ist angebrannt!«

»Nur der Rand. Es ist ihr nichts geschehen. Wenn irgendeine Bank in England sie Ihnen nicht abnimmt, so schicken Sie sie mir zurück, und ich schicke Ihnen zwei dafür. Heißt das reden?«

»Das ist mir zu stark!« sagte Herr Bryany und versuchte aufzustehen, aber er sank wieder in seinen Stuhl zurück. »Ich bin vollkommen fertig und erledigt!« Er lächelte verzerrt.

Edward Henry fühlte die ganze Wollust einer gelungenen Rache. »Sie müssen mir noch die Zession ausstellen und unterschreiben. Ich werde sie Ihnen diktieren«, sagte er gebieterisch.

Als sie fertig waren, sprang er auf.

»Sie wollen schon gehen?«

»Ja. Meine Frau erwartet mich. Sie versprachen mir noch ein Streichholz.« Und er hielt ihm die unangezündete Zigarette wie zum Vorwurf für seine unvollkommene Gastfreundschaft hin und ging.

IV

Die Uhr an der Kirche von Bleakridge, die noch immer gelassen in die Nacht hinaus leuchtete, wies auf ein Viertel vor eins, als er sie, schuldbewußt nach Hause eilend, wiedersah. Das Pflaster trocknete im kühlen Nachtwind, und er knöpfte seinen Überzieher bis ans Kinn zu. Er war der einzige Fußgänger in der langen schmutzigen Häuserreihe von Trafalgar Road. Er ging zu Fuß, weil der letzte Straßenbahnwagen schon in der Remise am anderen Ende der Welt stand, und er ging rasch, weil sein Gewissen ihn trieb; er war voll Besorgnis, daß die Wunde in dem Bein des Kindes boshafterweise geeitert haben könnte, so daß er zuletzt doch unrecht gehabt hätte; er war jetzt fast ebenso besorgt, wie Nellie es vorhin gewesen war, und fürchtete sich beinahe, nach Hause zu kommen. Aber über dem dunklen Grund der Sorge schwebten hellere Gedanken; er lachte in der einsamen Straße laut auf, wenn er an das erstaunte Gesicht dachte, das Herr Bryany gemacht hatte, als er die Banknote entfaltete. Auf diesen Mann hatte er zweifellos einen gründlichen und dauernden Eindruck gemacht. Der verließ die Fünf Städte als ein anderer Mensch. Er hatte dem Kerl eine gründliche Lehre gegeben. Er hatte es glänzend ausgenützt, daß er zufällig eine Hundertpfundnote bei sich hatte. Es war ein Einfall gewesen wie in den großen Tagen seiner Jugend. Der Spaß hatte ihn hundert Pfund gekostet, aber das machte ihm nichts; er ging eben heute mit einem Nettogewinn von zweihunderteinundvierzig Pfund statt von dreihunderteinundvierzig Pfund zu Bett.

Denn er dachte nicht daran, von der Option Gebrauch zu machen. Er war jetzt ruhiger, und er wußte, daß London und Theaterunternehmungen in London nichts für ihn waren. In den Fünf Städten befand er sich auf bekanntem Boden; hier war er eine Nummer und wußte, was er zu tun hatte. In London war er nur ein Provinzler mit der Befangenheit und Unsicherheit des Provinzlers. Trotzdem schien ihm London aus der Ferne zu winken, und er verlor sich in Träume, wie man vom fernen Orient träumt, nach dem man doch nicht wirklich reist.

Als er das Pförtchen in der Gartenmauer öffnete, sah er, daß im Salon Licht brannte, während alle vorderen Räume sonst dunkel waren. Entweder seine Frau oder seine Mutter war noch im Salon. Er steckte den Hausschlüssel vorsichtig in die Türe und betrat das schweigende Haus wie ein Sünder. Das schwache Licht in der Diele schien wie ein Vorwurf. Er beherrschte seine Bewegungen und stellte den Stock so leise als möglich hin.

Die Türe zum Salon war nur angelehnt. Er zögerte einen Augenblick, dann ermannte er sich und trat ein.

Nellie saß mit gesenktem Kopf am Tisch und flickte, ein Bild sanfter Ergebung. Ein Stoß von Kinderkleidern lag neben ihr, aber in ihren geschäftigen Händen schien sie ein Hemd von ihm zu haben. Niemand als sie durfte an seiner Wäsche die Knöpfe annähen. Das war für sie ein ehernes Gesetz, während er keinen Sinn darin fand. Sie arbeitete bei einer kleinen Lampe auf dem Tisch, der Kronleuchter war nicht aufgedreht. Sie sparte immer an elektrischem Licht, und auch das war sinnlos. Sie sah auf, als er eintrat; ihre Miene verriet nicht, was sie dachte.

Er sagte: »Verdirbst du dir nicht die Augen?«

Und sie erwiderte: »O nein!«

Er faßte den Stier an den Hörnern: »Doktor dagewesen?«

Sie nickte.

»Was sagt er?«

»Es ist alles in Ordnung. Er hat nur etwas Cyanidgaze darauf gelegt.«

Edward Henry war wieder obenauf. Natürlich war nichts an dem Biß. Er hatte es doch gleich gesagt und hatte es die ganze Zeit im Grunde gewußt. »Warum bist du denn aufgeblieben?« fragte er.

»Ich hatte Angst um dich. Ich fürchtete ...«

»Hat Stirling dir nicht gesagt, daß ich noch geschäftlich zu tun hatte?«

»Ich weiß nicht mehr ...«

»Ich habe es ihm aber gesagt ... Eine sehr wichtige Besprechung.«

»Er wird es mir wohl gesagt haben«, erwiderte Nellie, und ihre Stimme verriet nicht, was in ihr vorging. Sie stand auf und nahm ihre Nähsachen zusammen, und er bemerkte, daß sie wieder die schreckliche weiße Schürze trug. Die dumpfige Atmosphäre des Hauses war aufs neue erstickend um ihn. Wie ganz anders war die fröhliche Freiheit im Varieté und die männliche Atmosphäre von Zigaretten und Whisky in dem Zimmer im Türkenkopf gewesen!

»Es war eine sehr wichtige Unterredung!« wiederholte er in gereiztem Ton. »Und ich muß dir noch etwas sagen: ich werde wahrscheinlich nach London fahren müssen.« Er sagte das nur, um Eindruck auf sie zu machen.

»Das wird ausgezeichnet für dich sein«, antwortete sie mit der Sanftmut eines Engels, aber gänzlich unbeeindruckt. »Du hast es nötig!« Und sie sah ihn an, als ob sein Glück und Wohlergehen ihre einzige Sorge wäre.

»Ich werde eine ganze Weile dort bleiben müssen«, sagte er mit Nachdruck.

»Wenn du mich fragst,« erwiderte sie, »so glaube ich, es wird uns allen gut tun.« Damit zog sie sich zurück, ohne auch nur die geringste Neugier danach zu zeigen, was er so Wichtiges in London zu tun hätte.

Allein geblieben, wußte er einen Augenblick nicht, was er denken sollte. Dann trat er schnaubend an den Tisch und löschte die Lampe aus. Er war im Dunkeln. Der Lichtstreif von der Diele zeigte ihm, wo die Türe war. Er schnob noch einmal heftig. »Also gut, gut!« murmelte er. »Wenn's so ist! ... Der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht nach London fahre! ... Der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht hinfahre!«


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