Walter Benjamin
Städtebilder
Walter Benjamin

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San Gimignano

Dem Andenken an Hugo von Hofmannsthal

Worte zu dem zu finden, was man vor Augen hat – wie schwer kann das sein. Wenn sie dann aber kommen, stoßen sie mit kleinen Hämmern gegen das Wirkliche, bis sie das Bild aus ihm wie aus einer kupfernen Platte getrieben haben. »Abends versammeln sich die Frauen am Brunnen vorm Stadttor, um in großen Krügen Wasser zu holen« – erst als ich diese Worte gefunden hatte, trat aus dem allzublendenden Erlebten mit harten Beulen und mit tiefen Schatten das Bild. Was hatte ich vorher von den weißflammenden Weiden gewußt, die am Nachmittage mit ihren Flämmchen vor dem Stadtwalle wachen? Wie enge mußten sich vordem die dreizehn Türme behelfen, und wie besonnen nahmen sie von nun ab jeder seinen Platz ein, und zwischen ihnen war es noch sehr geräumig.

Kommt man von fern, so ist die Stadt plötzlich so unhörbar wie durch eine Tür in die Landschaft getreten. Sie sieht nicht danach aus, als solle man ihr je näherkommen. Ist es aber gelungen, so fällt man in ihren Schoß und kann vor Grillengesumm und Kinderschreien nicht zu sich finden.

Wie sich im Lauf von vielen Jahrhunderten ihr Gemäuer immer dichter zusammenzog; kaum ein Haus ohne die Spuren großgerundeter Bogen über der schmalen Pforte. Die Öffnungen, aus denen jetzt schmutzige Leinentücher zum Schutze gegen Insekten wehen, waren bronzene Tore. Reste der alten Steinornamentik ließ man gottverloren im Mauerwerk stecken, das ein heraldisches Aussehen davon bekam. Ist man durch die Porta San Giovanni getreten, so fühlt man sich in einem Hofe, nicht auf der Straße. Selbst die Plätze sind Höfe, und man scheint sich auf allen geborgen. Was so oft in der südlichen Stadt begegnet, wird doch nirgends spürbar wie hier: daß ihr Mensch, was er zum Leben braucht, sich erst mühsam vergegenwärtigen muß, so sehr macht die Linie dieser Bogen und Zinnen, der Schatten und der Flug der Tauben und Krähen ihn das Bedürfnis vergessen. Ihm wird schwer, sich dieser übertriebenen Gegenwart zu entringen, des Morgens den Abend und in der Nacht den Tag vor sich zu haben.

Überall wo man stehen kann, kann man auch sitzen. Nicht Kinder allein, sondern alle Frauen haben ihren Platz auf der Schwelle, ganz körpernah am Grund und Boden, seinen Sitten und vielleicht seinen Göttern. Der Stuhl vor der Haustür ist schon Wahrzeichen städtischer Neuerungen. Von den krassen Sitzgelegenheiten der Cafés vollends machen einzig und allein die Männer Gebrauch.

So habe ich nie vorher Sonnen- und Mondaufgang in meinem Fenster gehabt. Wenn ich nachts oder nachmittags auf dem Bett liege, gibt's nur Himmel. Ich beginne, gewohnheitsmäßig kurz vor Sonnenaufgang zu erwachen. Dann erwarte ich, wie die Sonne hinterm Gebirge emporkommt. Da gibt es diesen ersten flüchtigen Augenblick, in dem sie nicht größer ist als ein Stein, ein glühendes Steinchen auf dem Gebirgskamm. Was Goethe vom Monde sagte: »Glänzt dein Rand herauf als Stern« – hat noch niemand von der Sonne begriffen. Ihrer aber ist nicht Stern, sondern Stein. Die Früheren müssen die Kunst besessen haben, diesen Stein als Talisman bei sich zu bergen und damit die Stunden zum Glück zu wenden.

Ich schaue von der Mauer der Stadt. Das Land brüstet sich nicht mit Bauten und Siedlungen. Es ist viel da, aber beschirmt und beschattet. Die Höfe, an denen nichts als die Notdurft gebaut hat, sind nicht nur in der Zeichnung, sondern in jedem Ton von Ziegel und Fensterglas so vornehm wie kein Herrenhaus in der Parktiefe. Die Mauer aber, an die ich lehne, teilt das Geheimnis des Ölbaums, dessen Krone als harter brüchiger Kranz sich mit tausend Breschen dem Himmel öffnet.


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