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AuswahlDie Zwischentitel zu »Moskau« wurden vom Herausgeber hinzugefügt. Er ist Herrn Rolf Tiedemann für freundliche Auskünfte bibliographischer Natur zu großem Dank verpflichtet.
Schneller als Moskau selber lernt man Berlin von Moskau aus sehen. Für einen, der aus Rußland heimkehrt, ist die Stadt wie frisch gewaschen. Es liegt kein Schmutz, aber es liegt auch kein Schnee. Die Straßen kommen ihm in Wirklichkeit so trostlos sauber und gekehrt vor, wie auf Zeichnungen von Grosz. Und auch die Lebenswahrheit seiner Typen ist ihm evidenter. Es ist mit dem Bilde der Stadt und der Menschen nicht anders als mit dem der geistigen Zustände: die neue Optik, die man auf sie gewinnt, ist der unzweifelhafteste Ertrag eines russischen Aufenthaltes. Mag man auch Rußland noch so wenig kennen – was man lernt, ist, Europa mit dem bewußten Wissen von dem, was sich in Rußland abspielt, zu beobachten und zu beurteilen. Das fällt dem einsichtsvollen Europäer als erstes in Rußland zu. Darum ist andrerseits der Aufenthalt für Fremde ein so sehr genauer Prüfstein. Jeden nötigt er, seinen Standpunkt zu wählen. Im Grunde freilich ist die einzige Gewähr der rechten Einsicht, Stellung gewählt zu haben, ehe man kommt. Sehen kann gerade in Rußland nur der Entschiedene. An einem Wendepunkt historischen Geschehens, wie ihn das Faktum »Sowjet-Rußland« wenn nicht setzt, so anzeigt, steht gar nicht zur Debatte, welche Wirklichkeit die bessere, noch welcher Wille auf dem besseren Wege sei. Es geht nur darum: Welche Wirklichkeit wird innerlich der Wahrheit konvergent? Welche Wahrheit bereitet mit dem Wirklichen zu konvergieren innerlich sich vor? Nur wer hier deutlich Antwort gibt ist »objektiv«. Nicht seinen Zeitgenossen gegenüber (darauf kommt es nicht an), sondern dem Zeitgeschehen gegenüber (das ist entscheidend). Nur wer, in der Entscheidung, mit der Welt seinen dialektischen Frieden gemacht hat, der kann das Konkrete erfassen. Doch wer »an Hand der Fakten« sich entscheiden will, dem werden diese Fakten ihre Hand nicht bieten. – Heimkehrend findet man vor allem eins: Berlin ist eine menschenleere Stadt. Menschen und Gruppen, die in seinen Straßen sich bewegen, haben die Einsamkeit um sich. Unaussprechlich scheint der Berliner Luxus. Und er beginnt schon auf dem Asphalt. Denn die Breite der Bürgersteige ist fürstlich. Sie machen aus dem ärmsten Schlucker einen Grandseigneur, welcher auf der Estrade seines Schlosses wandelt. Fürstlich vereinsamt, fürstlich verödet sind die Berliner Straßen. Nicht nur im Westen. In Moskau gibt es drei, vier Stellen, an denen ohne jene Strategie des Drängens und Sichwindens nicht vorwärts zu gelangen ist, die man sich in der ersten Woche (gleichzeitig also mit der Technik, sich auf Glatteis zu bewegen) aneignet. Tritt man auf den Staleschnykow, so atmet man auf: hier endlich darf man unbedenklich vor Auslagen haltmachen und seiner Wege gehen, ohne an dem schlenderhaften Serpentinengange teilzunehmen, an den der schmale Bürgersteig die meisten gewöhnt hat. Aber welch eine Fülle hat diese nicht nur von Menschen überschwemmte Zeile und wie ausgestorben und leer ist Berlin! In Moskau drängt die Ware überall aus den Häusern, sie hängt an Zäunen, lehnt an Gattern, liegt auf dem Pflaster. Alle fünfzig Schritt stehen Weiber mit Zigaretten, Weiber mit Obst, Weiber mit Zuckerwerk. Sie haben ihren Waschkorb mit der Ware neben sich, manchmal auch einen kleinen Schlitten. Ein buntes Tuch aus Wolle schützt Äpfel oder Apfelsinen vor der Kälte, zwei Musterexemplare liegen obenauf. Daneben Zuckerfiguren, Nüsse, Bonbons. Man denkt, eine Großmutter hat vor dem Weggehen im Hause Umschau gehalten nach allem, womit sie ihre Enkel überraschen könnte. Nun bleibt sie unterwegs, um sich ein bißchen auszuruhen, an der Straße stehen. Berliner Straßen kennen solche Posten mit Schlitten, Säcken, Wägelchen und Körben nicht. Verglichen mit den Moskauern sind sie wie eine frisch gefegte leere Rennbahn, auf der ein Feld von Sechstagefahrern trostlos voranhastet.
Die Stadt scheint schon am Bahnhof sich herzugeben. Kioske, Bogenlampen, Häuserblöcke kristallisieren zu niewiederkehrenden Figuren. Doch das zerstiebt, sowie ich nach Namen suche. Ich muß mich trollen... Zu Anfang gibt es nichts als Schnee zu sehen, den schmutzigen, der schon Quartier bezogen hat, und den reinen, der langsam nachrückt. Gleich mit der Ankunft setzt das Kinderstadium ein. Gehen will auf dem dicken Glatteis dieser Straßen neu erlernt sein. Die Häuserwildnis ist so undurchdringlich, daß nur das Blendende im Blick erfaßt wird. Ein Transparent mit Inschrift »Kefir« leuchtet in den Abend. Ich merke mir's, als wäre die Twerskaja, die alte Straße nach Twer, auf der ich jetzt bin, noch wirklich Chaussee und weit und breit nichts zu sehen als Ebene. Ehe ich Moskaus wirkliche Landschaft entdeckt, seinen wirklichen Fluß gesehen, seine wirklichen Höhen gefunden habe, ist jeder Straßendamm schon ein umstrittener Fluß, jede Hausnummer ein trigonometrisches Signal und jeder seiner Riesenplätze mir ein See geworden. Nur eben, daß ein jeder Schritt und Tritt hier auf benanntem Grunde getan wird. Und wo nun einer dieser Namen fällt, da baut sich Phantasie um diesen Laut im Handumdrehen ein ganzes Viertel auf. Das wird der späteren Wirklichkeit noch lange trotzen und spröd wie gläsernes Gemäuer darin steckenbleiben. Die Stadt hat in der ersten Zeit noch hundert Grenzbarrieren. Doch eines Tages sind das Tor, die Kirche, die Grenze einer Gegend waren, unversehens Mitte. Nun wird die Stadt dem Neuling Labyrinth. Straßen, die er weit voneinander angesiedelt hat, reißt eine Ecke ihm zusammen, wie die Faust eines Kutschers ein Zweigespann. Wie vielen topographischen Attrappen er verfällt, ließe in seinem ganzen passionierenden Verlauf sich einzig und allein im Film entrollen: die Großstadt setzt sich gegen ihn zur Wehr, maskiert sich, flüchtet, intrigiert, verlockt, bis zur Erschöpfung ihre Kreise zu durchirren. (Das kann zunächst sehr praktisch angegriffen werden; für Fremde sollten während der Saison in großen Städten »Orientierungsfilme« laufen.) Am Ende aber siegen Karten und Pläne: abends im Bett jongliert die Phantasie mit wirklichen Gebäuden, Parks und Straßen.
Das winterliche Moskau ist eine stille Stadt. Leise spielt sich das ungeheure Getriebe der Straßen ab. Das macht der Schnee. Aber das macht auch die Rückständigkeit des Verkehrs. Autosignale beherrschen das Großstadtorchester. Aber in Moskau gibt es erst wenig Autos. Sie werden nur bei Hochzeiten und Todesfällen und zum beschleunigten Regieren aufgeboten. Freilich setzen sie abends hellere Lichter auf, als sie in irgendeiner andern Großstadt es dürfen. Und die Lichtkegel stoßen so blendend vor, daß wer einmal davon ergriffen ist, hilflos sich nicht von der Stelle wagt. Vorm Kremltor stehen im blendenden Licht die Posten in den frechen ockergelben Pelzen, über ihnen funkelt das rote Signal, das den Verkehr in der Durchfahrt regelt. Alle Farben von Moskau schießen hier, im Zentrum der russischen Macht, prismatisch zusammen. Lichtbündel aus den überstarken Autolampen jagen durchs Dunkel. In ihrem Schein scheuen die Pferde der Kavalleristen, die im Kreml ein großes Übungsfeld haben. Fußgänger schlagen sich zwischen Autos und zwischen ungebärdigen Gäulen durch. Lange Folgen von Schlitten, auf denen man Schnee abführt. Einzelne Reiter. Stumme Rabenschwärme haben im Schnee sich niedergelassen. Das Auge ist unendlich mehr beschäftigt als das Ohr. Die Farben bieten ihr Äußerstes gegen das Weiß auf. Der kleinste bunte Fetzen glüht im Freien. Bilderbücher liegen im Schnee; Chinesen verkaufen kunstvolle papierne Fächer, häufiger noch papierne Drachen in der Form exotischer Tiefseefische. Tagaus, tagein ist man auf Kinderfeste eingerichtet. Es gibt Männer, die Körbe voll Holzspielzeug haben, Wagen und Spaten; gelb und rot sind die Wagen, gelb oder rot die Schaufeln der Kinder. All dies geschnitzte und gezimmerte Gerät ist schlichter und solider als in Deutschland, sein bäuerlicher Ursprung ist deutlich sichtbar. Eines Morgens stehen am Straßenrand niegesehene winzige Häuschen mit blitzenden Fenstern und einem Zaun um den Vorplatz: Holzspielzeug aus dem Gouvernement Wladimir. Das heißt: ein neuer Warenschub ist eingetroffen. Ernsthafte, nüchterne Bedarfsartikel werden im Straßenhandel verwegen. Ein Korbverkäufer mit allerhand Ware, bunter, wie man sie überall auf Capri kaufen kann, doppelten Henkelkörben mit quadratisch strengen Mustern, trägt auf der Spitze seiner Stange glanzpapierne Bauer mit glanzpapiernen Vögelchen im Innern. Aber auch ein wirklicher Papagei, ein weißer Ara, ist manchmal zu sehen. In der Mjassnitzkaja steht eine Frau mit Weißwaren, auf Tablett oder Schulter hockt ihr der Vogel. Den malerischen Hintergrund zu solchen Tieren muß man sich anderswo, beim Stand der Photographen, suchen. Unter den kahlen Bäumen der Boulevards stehen Paravents mit Palmen, Marmortreppen und südlichen Meeren. Und noch ein anderes gemahnt hier an den Süden. Das ist die wilde Mannigfaltigkeit des Straßenhandels. Schuhkrem und Schreibzeug, Handtücher, Puppenschlitten, Schaukeln für Kinder, Damenwäsche, ausgestopfte Vögel, Kleiderbügel – alles drängt auf die offene Straße, als wären nicht 25° unter Null, sondern voller neapolitanischer Sommer. Lange war mir ein Mann geheimnisvoll, der vor sich eine dicht beschriftete Tafel hatte. Ich wollte einen Wahrsager in ihm sehen. Endlich einmal gelang mir, ihn bei seinem Treiben zu belauschen. Ich sah, daß er von seinen Lettern zwei verkaufte und einem Kunden sie als Initialen in den Galoschen befestigte. Dann die breiten Schlitten mit den drei Fächern für Cacaouettes, Haselnüsse und Semitschky (Sonnenblumenkerne, die nun nach einer Verfügung der Sowjets an öffentlichen Orten nicht mehr gekaut werden dürfen). Garköche sammeln sich in der Nähe der Arbeitsbörse. Sie haben heiße Kuchen zu verkaufen und in Scheiben gebratene Wurst. All das geht aber lautlos vor sich, Rufe, wie sie im Süden jeder Händler hat, sind unbekannt. Die Leute wenden sich an den Passanten eher mit Reden, gesetzten, wenn nicht geflüsterten, in denen etwas von der Bettlerdemut liegt. Nur eine Kaste zieht hier laut durch die Straßen, das sind die Lumpensammler mit ihrem Sack auf dem Rücken; ihr melancholischer Ruf durchklingt ein oder mehrmals wöchentlich jedes Viertel. Der Straßenhandel ist zum Teil illegal und vermeidet dann jedes Aufsehen. Frauen, in offener Hand auf einer Lage Stroh ein rohes Stück Fleisch, ein Huhn, einen Schinken, stehen und bieten es den Passanten an. Das sind Verkäuferinnen ohne Erlaubnis. Sie sind zu arm, um die Gebühr für einen Warenstand zu zahlen, und haben keine Zeit, um eine Wochenkonzession auf einem Amt sich viele Stunden anzustellen. Kommt ein Milizionär, dann laufen sie einfach davon. Der Straßenhandel gipfelt in den großen Märkten, an der Smolenskaja und am Arbat. Und an der Sucharewskaja. Dieser berühmteste liegt unter einer Kirche, die sich mit blauen Kuppeln über den Buden aufhebt. Zuerst passiert man das Viertel der Alteisenhändler. Die Leute haben ihre Ware einfach im Schnee liegen. Man findet alte Schlösser, Meterstäbe, Handwerkszeug, Küchengerät, elektrotechnisches Material. An Ort und Stelle führt man Reparaturen aus; ich sah über einer Stichflamme löten. Sitze gibt es hier nirgends, alles steht aufrecht, schwatzt oder handelt. Auf diesem Markt läßt die architektonische Funktion der Ware sich erkennen: Tücher und Stoffe bilden Pilaster und Säulen; Schuhe, Walinki, die an Schnüren gereiht überm Verkaufstische hängen, werden zu Dächern der Bude; große Garmoschkas (Ziehharmoniken) bilden tönende Mauern, also gewissermaßen Memnonsmauern. Ob in den wenigen Ständen mit Heiligenbildern noch heute im geheimen jene seltsamen Ikonen, deren Verkauf schon der Zarismus unter Strafe stellte, zu bekommen sind, weiß ich nicht. Da gab es die Muttergottes mit den drei Händen. Sie ist halbnackt. Aus dem Nabel steigt eine kräftige, wohlgebildete Hand. Rechts und links breiten die beiden andern in der Gebärde des Segnens sich aus. Die Dreiheit dieser Hände wird für ein Symbol der heiligen Dreifaltigkeit erachtet. Es gab ein anderes Andachtsbild der Gottesmutter, das sie mit offenem Unterleibe darstellt; Wolken treten daraus statt der Eingeweide; in ihrer Mitte tanzt das Christuskind und hält in der Hand eine Geige. Da der Verkaufszweig der Ikonen zum Papier- und Bilderhandel rechnet, so kommen diese Buden mit Heiligenbildern neben die Stände mit Papierwaren zu stehen, so daß sie überall von Lenin-Bildern flankiert sind, wie ein Verhafteter von zwei Gendarmen. Das Straßenleben setzt auch nachts nicht völlig aus. In dunklen Torwegen stößt man auf Pelze wie Häuser. Nachtwächter hocken darin auf ihren Stühlen und machen von Zeit zu Zeit sich schwerfällig auf.
Der Bettel ist nicht aggressiv wie im Süden, wo die Aufdringlichkeit des Zerlumpten noch immer einen Rest von Vitalität verrät. Hier ist er eine Korporation von Sterbenden. Die Straßenecken mancher Viertel sind mit Lumpenbündeln belegt – Betten in dem riesigen Lazarett »Moskau«, das unter freiem Himmel daliegt. Lange flehende Reden gehen die Leute an. Da ist ein Bettler, der beginnt immer, wenn ein Passant, von dem er sich etwas verspricht, ihm näher kommt, ein leises, ausdauerndes Heulen; das richtet sich an Fremde, die nicht Russisch können. Ein anderer hat genau die Haltung des Armen, für den der heilige Martin auf alten Bildern mit dem Schwert seinen Mantel durchschneidet. Er kniet mit beiden vorgestreckten Armen. Kurz vor Weihnachten saßen tagtäglich im Schnee zwei Kinder an der Mauer des Revolutionsmuseums, mit einem Fetzen bedeckt, und sie wimmerten. (Aber vor dem Englischen Klub, dem vornehmsten Moskaus, dem früher dieses Gebäude gehörte, wäre ihnen auch das nicht möglich gewesen.) Moskau müßte man kennen, wie solche Bettelkinder es tun. Die wissen zu bestimmter Zeit in einem ganz bestimmten Laden eine Ecke neben der Tür, wo sie sich zehn Minuten wärmen dürfen, wissen, wo sie an einem Tag der Woche sich zu bestimmter Stunde Krusten holen können und wo in aufgestapelten Leitungsröhren ein Schlafplatz frei ist. Den Bettel haben sie zu einer großen Kunst mit hundert Schematismen und Varianten entwickelt. Sie kontrollieren an belebten Ecken die Kundschaft eines Pastetenbäckers, gehen den Käufer an und begleiten ihn winselnd und bittend, bis er ein Stück von seinem heißen Kuchen an sie abgetreten hat. Andere haben bei einer Kopfstation der Trambahn ihren Stand, treten in einen Wagen, singen ein Lied und sammeln Kopeken. Und es gibt Stellen, freilich nur wenige, an denen selbst der Straßenhandel das Gesicht des Bettels hat. Ein paar Mongolen stehen an der Mauer von Kitai Gorod. Sie sind nicht mehr als fünf Schritt einer vom andern entfernt und handeln mit Ledermappen; ein jeder mit genau der gleichen Ware wie sein Nebenmann. Es muß dahinter wohl eine Abmachung stecken, denn so einander aussichtslose Konkurrenz zu machen, kann nicht ihr Ernst sein. Wahrscheinlich ist in ihrer Heimat der Winter nicht weniger rauh und sind auch ihre zerlumpten Pelze nicht schlechter als die Pelze der Eingeborenen. Dennoch sind sie die einzigen in Moskau, mit denen man des Klimas wegen Mitleid hat. Selbst Priester, die für ihre Kirche betteln gehen, gibt es noch. Aber sehr selten sieht man jemanden geben. Der Bettel hat die stärkste Grundlage verloren, das schlechte gesellschaftliche Gewissen, das so viel weiter als das Mitleid die Taschen öffnet. Im übrigen erscheint es ein Ausdruck des wandellosen Elends dieser Bettelnden, vielleicht ist es auch nur die Folge einer klugen Organisation, daß unter sämtlichen Institutionen Moskaus sie die allein Verläßlichen sind und unverändert ihren Platz behaupten, während ringsumher sich alles verschiebt.
Beförderung in der Trambahn ist in Moskau vor allem eine taktische Erfahrung. Hier lernt der Neuling sich vielleicht am ersten ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung schicken. Auch wie einander technischer Betrieb und primitive Existenzform ganz und gar durchdringen, dies weltgeschichtliche Experiment im neuen Rußland stellt eine Trambahnfahrt im kleinen an. Die Schaffnerinnen stehen angepelzt auf ihrem Platz in der Elektrischen wie Samojedenfrauen auf dem Schlitten. Ein zähes Stoßen, Drängen, Gegenstoßen bei dem Besteigen eines meistenteils schon bis zum Bersten überfüllten Wagens geht lautlos und in aller Herzlichkeit vonstatten. (Nie habe ich bei der Gelegenheit ein böses Wort vernommen.) Ist man im Innern, so beginnt die Wanderung erst. Durch die vereisten Scheiben kann man nie erkennen, an welcher Stelle sich der Wagen gerade befindet. Erfährt man es, so hilft es noch nicht viel. Der Weg zum Ausgang ist durch einen Menschenkeil verrammelt. Da man nun hinten einzusteigen hat, aber vorn den Wagen verläßt, so hat man sich durch diese Masse durchzufinden. Meist spielt sich die Beförderung freilich schubweise ab; an wichtigen Stationen wird der Wagen beinahe ganz geräumt. Also ist selbst der Moskauer Verkehr zum guten Teil ein Massenphänomen. So kann man denn auf ganze Schlittenkarawanen stoßen, die in langer Reihe die Straße versperren, weil Fuhren, die ein Lastauto erfordern, auf fünf, sechs große Schlitten verladen werden. Die Schlitten hier bedenken erst das Pferd, danach den Fahrgast. Sie kennen nicht den kleinsten Überfluß. Ein Futtersack für den Gaul, eine Decke für den Benutzer – und das ist alles. Mehr als zwei haben nicht Platz auf der schmalen Bank, und da es keine Lehne gibt (wenn man nicht eine niedrige Kante so nennen will) muß man bei plötzlichen Kurven gut balancieren. Alles ist auf die schnellste Gangart berechnet; lange Fahrten bei Kälte verträgt man nicht gut, und ohnehin sind die Entfernungen in diesem Riesendorfe unabsehbar. Dicht am Bürgersteig lenkt der Iswoschtschik entlang. Der Fahrgast thront nicht, sieht nicht höher hinaus als alle anderen und streift mit seinem Ärmel die Passanten. Auch dies ist für den Tastsinn eine unvergleichliche Erfahrung. Wo Europäer in geschwinder Fahrt Überlegenheit, Herrschaft über die Menge genießen, ist der Moskowiter im kleinen Schlitten dicht unter Menschen und Dinge gemischt. Hat er dann noch ein Kistchen, ein Kind oder einen Korb mitzuführen – für all dies ist der Schlitten das erschwinglichste Beförderungsmittel –, so ist er wahrhaft eingekeilt ins Treiben der Straße. Kein Blick von oben herab: ein zärtliches, geschwindes Streifen an Steinen, Menschen und Pferden entlang. Man fühlt sich wie ein Kind, das auf dem Stühlchen durch die Wohnung rutscht.
Weihnachten ist ein Fest des russischen Waldes. Es siedelt sich mit Tannen, Kerzen, Baumschmuck für viele Wochen in den Straßen an. Denn die Adventszeit griechisch-orthodoxer Christen überschneidet sich mit der Weihnacht derjenigen Russen, die das Fest nach westlichem, das heißt nach neuem, staatlichem Kalender feiern. Nirgends sieht man an Tannenbäumen schöneren Behang. Schiffchen, Vögel, Fische, Häuser und Früchte drängen sich bei den Straßenhändlern und in den Läden, und das Kustarny-Museum für Heimatkunst hält jedes Jahr um diese Zeit für all dies eine Art von Mustermesse. An einer Straßenkreuzung fand ich eine Frau, die Baumschmuck verkaufte. Die Glaskugeln, gelbe und rote, funkelten in der Sonne; es war wie ein verzauberter Apfelkorb, wo Rot und Gelb sich in verschiedene Früchte teilen. Tannen durchfahren die Straßen auf niedrigen Schlitten. Die kleinen putzt man nur mit Seidenschleifen; blau, rosa, grün bezopfte Tännchen stehen an den Ecken. Den Kindern aber sagt das weihnachtliche Spielzeug auch ohne einen heiligen Nikolaus, wie es tief aus den Wäldern Rußlands herkommt. Es ist, als ob nur unter russischen Händen das Holz grünt. Grünt – und sich rötet und golden sich überzieht, himmelblau anläuft und schwärzlich erstarrt. »Rot« und »schön« ist russisch ein Wort. Gewiß sind die glühenden Scheiter im Ofen die zauberhafteste Verwandlung des russischen Waldes. Nirgends scheint der Kamin so herrlich zu glühen wie hier. Glut aber fängt sich in allen den Hölzern, an denen der Bauer schnitzelt und pinselt. Und wenn der Lack sich dann darüberlegt, ist es gefrorenes Feuer in allen Farben. Gelb und rot auf der Balalaika, schwarz und grün auf der kleinen Garmoschka für Kinder und alle abgestuften Töne in den sechsunddreißig Eiern, von denen immer eines im andern steckt. Aber auch Waldnacht wohnt in dem Holz. Da sind die schweren kleinen Kästen mit dem scharlachroten Innern: außen auf schwarzem, glänzendem Grunde ein Bild. Unter dem Zarentum stand diese Industrie vor dem Erlöschen. Jetzt kommen neben neuen Miniaturen die alten, goldverbrämten Bilder aus dem Bauerndasein wiederum zum Vorschein. Eine Troika mit den drei Rossen jagt in das Dunkel, oder ein Mädchen in meerblauem Rock steht neben dem Gebüsch, das grün aufflammt, und wartet in der Nacht auf den Geliebten. Keine Schreckensnacht ist so dunkel wie diese handfeste Lacknacht, in deren Schoß alles, was aus ihr auftaucht, geborgen ist. Ich sah einen Kasten mit einer Frau, die sitzend Zigaretten verkauft. Neben ihr steht ein Kind und will davon holen. Stockdunkle Nacht auch hier. Aber rechts ist ein Stein und links ein blätterloses Bäumchen zu erkennen. Auf der Schürze der Frau liest man »Mosselprom«. Das ist die sowjetische »Madonna mit den Zigaretten«.
Grün ist der höchste Luxus des Moskauer Winters. Es leuchtet aber aus dem Laden in der Petrowka nicht halb so schön wie die papiernen Bündel künstlicher Nelken, Rosen, Lilien auf der Straße. Auf Märkten haben sie als einzige keinen festen Stand und tauchen bald zwischen Lebensmitteln, bald zwischen Webwaren und Geschirrbuden auf. Aber sie überstrahlen alles, rohes Fleisch, bunte Wolle und glänzende Schüsseln. Andere Sträuße kennt man zu Neujahr. Auf dem Straßnojplatz sah ich im Vorübergehen lange Gerten, beklebt mit roten, weißen, blauen, grünen Blüten, ein jeder Zweig von einer anderen Farbe. Wenn von Moskauer Blumen die Rede ist, darf man nicht die heroischen Weihnachtsrosen vergessen. Und nicht die riesenhohen Stockrosen aus Lampenschirmen, die der Verkäufer durch die Straßen führt. Auch nicht die gläsernen Kästchen voll Blumen, zwischen denen das Haupt eines Heiligen durchblickt. Und nicht das, was der Frost hier eingibt, die bäuerischen Tücher, auf denen die Muster, die mit blauer Wolle ausgenäht sind, Eisblumen an den Scheiben nachbilden. Endlich die glühenden Zuckerbeete auf Torten. Der »Zuckerbäcker« aus den Kindermärchen scheint nur in Moskau noch zu überleben. Nur hier gibt es Gebilde aus nichts als gesponnenem Zucker, süße Zapfen, an denen die Zunge für die bittere Kälte sich schadlos hält. Am innigsten vereinen Schnee und Blüten sich im Zuckerguß; da endlich scheint die marzipanene Flora den Wintertraum von Moskau, aus dem Weiß zu blühen, ganz erfüllt zu haben.
Hin und wieder stößt man auf Trambahnwagen, die ringsherum mit Bildern von Betrieben, von Massenmeetings, Roten Regimentern, kommunistischen Agitatoren bemalt sind. Das sind Geschenke, die von der Belegschaft irgendeiner Fabrik dem Moskauer Sowjet gemacht worden sind. Auf diesen Wagen laufen nun die einzigen politischen Plakate, die heute noch in Moskau zu sehen sind. Aber es sind bei weitem die interessantesten. Denn unbeholfenere Geschäftsplakate als hier sieht man nirgends. Das trostlose Niveau der Bildreklame ist die einzige Ähnlichkeit zwischen Paris und Moskau. Zahllose Mauern um Kirchen und Klöster bieten ringsum die schönsten Anschlagflächen. Aber längst sind die Konstruktivisten, Suprematisten, Abstraktivisten, die während des Kriegskommunismus ihre graphische Propaganda in den Dienst der Revolution gestellt haben, entlassen. Heute verlangt man nur banale Deutlichkeit. Die meisten dieser Plakate stoßen den Westler ab. Moskauer Läden aber laden wirklich ein; sie haben etwas von Wirtshäusern an sich. Die Firmenschilder weisen senkrecht in die Straßen, wie sonst nur alte Gasthausembleme, goldene Friseurbecken oder allenfalls vor einem Hutgeschäfte ein Zylinder. Auch finden sich vereinzelt hier am ehesten noch hübsche, unverdorbene Motive: Schuhe fallen aus einem Korb; mit einer Sandale im Maul rennt ein Spitz davon. Vorm Eingang einer türkischen Küche Pendants: Herren mit fezgeschmücktem Haupte je vor einem Tischchen. Für einen primitiven Geschmack ist Anpreisung noch immer an Erzählung, an Beispiel oder Anekdote gebunden. Dagegen überzeugt die westliche Reklame in erster Linie durch den Kostenaufwand, welchem die Firma sich gewachsen zeigt. Hier gibt fast jede Aufschrift noch die Ware an. Die große schlagende Devise ist dem Handel fremd. Die Stadt, die so erfinderisch in Abkürzungen aller Art ist, besitzt noch nicht die einfachste – den Firmennamen. Oft leuchtet Moskaus Abendhimmel in erschreckendem Blau: dann hat man, ohne es zu merken, durch eine der riesigen blauen Brillen dareingesehen, die von den Optikerläden wie Wegweiser vorstoßen. Aus den Torbogen, an den Rahmen der Hausportale springt in verschieden großen schwarzen, blauen, gelben und roten Buchstaben, als Pfeil, als Bild von Stiefeln oder frisch gebügelter Wäsche, als ausgetretene Stufe oder als solider Treppenabsatz ein stumm in sich verbissenes, streitendes Leben die Passanten an. Man muß in der Tram die Straßen durchfahren haben, um aufzufangen, wie sich dieser Kampf durch die Etagen fortsetzt, um endlich auf Dächern in sein entscheidendes Stadium zu treten. Bis dort hinauf halten allein die stärksten, jüngsten Parolen und Wahrzeichen durch. Erst vom Flugzeug aus hat man die industrielle Elite der Stadt, Kino- und Auto-Industrie, vor Augen. Meist aber sind die Dächer Moskaus unbelebtes Ödland und haben weder die strahlende Laufschrift der Berliner, noch den Schornsteinwald der Pariser oder die sonnige Einsamkeit südlicher Großstadtdächer.
Mit Moskaus Straßen hat es eine eigentümliche Bewandtnis: das russische Dorf spielt in ihnen Versteck. Tritt man durch irgendeine der großen Torfahrten – oft sind sie durch schmiedeeiserne Gitter verschließbar, aber ich habe nie eins versperrt gefunden –, dann steht man am Beginn einer geräumigen Siedlung. Da öffnet, breit und ausladend, sich ein Gutshof oder ein Dorf, der Grund ist uneben, Kinder fahren im Schlitten, Schuppen für Holz und Geräte füllen die Winkel, Bäume stehen verstreut, hölzerne Stiegen geben der Hinterfront von Häusern, welche von der Straße her städtisch wirken, das Äußere eines russischen Bauernhauses. Kirchen stehen häufig auf diesen Höfen, nicht anders wie auf einem weiten Dorfplatz. So wächst die Straße um die Dimension der Landschaft. Auch gibt es keine westliche Stadt, die in ihren riesenhaften Plätzen so dörflich gestaltlos und immer wie von schlechtem Wetter, tauendem Schnee oder Regen aufgeweicht daliegt. Kaum einer dieser weiten Plätze trägt ein Denkmal. (Dagegen gibt es in Europa beinahe keinen, dem nicht im neunzehnten Jahrhundert die geheime Struktur durch ein Denkmal profaniert und zerstört worden wäre.) Wie jede andere Stadt, so baut auch Moskau mit Namen eine kleine Welt im Innern auf. Da gibt es ein Kasino, das »Alkasar« heißt, ein Hotel namens »Liverpool«, ein Logierhaus »Tirol«. Bis zu den Zentren des städtischen Wintersports braucht es von da noch immer eine halbe Stunde. Man trifft zwar Schlittschuhläufer, Skifahrer in der ganzen Stadt, aber die Rodelbahn liegt mehr im Innern. Hier starten Schlitten verschiedenster Konstruktion: von einem Brett, das vorn auf Schlittschuhkufen läuft und hinten im Schnee schurrt, bis zu den komfortabelsten Bobsleighs. Nirgends sieht Moskau aus wie die Stadt selber; am ehesten noch wie sein Weichbild. Der nasse Grund, die Bretterbuden, lange Transporte von Rohmaterial, Vieh, das zum Schlächter getrieben wird, dürftige Schenken trifft man in den belebtesten Teilen an. Noch ist die Stadt durchsetzt von hölzernen Häuschen, genau der gleichen slawischen Bauart, wie man sie überall im Umkreis von Berlin trifft. Was als märkischer Steinbau so trostlos wirkt, lockt hier mit schönen Farben aus dem warmen Holz. In den Vorstadtstraßen zu seiten der breiten Alleen wechseln Bauernhütten mit Jugendstilvillen oder der nüchternen Fassade eines achtstöckigen Hauses. Der Schnee liegt hoch, und entsteht mit einmal eine Stille, so kann man glauben, tief im Innern Rußlands in einem Dorf zu sein, das überwintert. Sehnsucht nach Moskau macht nicht nur der Schnee mit seinem Sternenglanz bei Nacht und seinen blumenähnlichen Kristallen tags. Das tut auch der Himmel. Denn immer tritt zwischen geduckten Dächern der Horizont der weiten Ebenen in die Stadt. Nur gegen Abend wird er unsichtbar. Dann aber bringt die Wohnungsnot in Moskau ihren erstaunlichsten Effekt hervor. Durchstreift man in der frühen Dunkelheit die Straßen, so sieht man in den großen und den kleinen Häusern beinahe jedes Fenster hell erleuchtet. Wäre der Lichtschein, der von ihnen ausgeht, nicht so ungleichmäßig, man glaubte, eine Illumination vor sich zu haben.
Die Kirchen sind fast verstummt. Die Stadt ist so gut wie befreit von dem Glockengeläut, das sonntags über unsere großen Städte eine so tiefe Traurigkeit verbreitet. Aber noch gibt es in ganz Moskau vielleicht keine Stelle, von der aus nicht zumindest eine Kirche sichtbar ist. Genauer: auf welcher man nicht mindestens von einer Kirche überwacht würde. Der Untertan des Zaren war in dieser Stadt von mehr als vierhundert Kapellen und Kirchen, will sagen von zweitausend Kuppeln rings umstellt, die allerorten in den Ecken sich verborgen halten, einander decken, über Mauern lugen. Eine Ochrana der Architektur war um ihn. All diese Kirchen wahrten ihr Inkognito. Es stoßen nirgends hohe Türme in den Himmel. Mit der Zeit erst gewöhnt man sich, die langen Mauern und Haufen von niedrigen Kuppeln zum Komplexe von Klosterkirchen zusammenzufassen. Dann wird auch klar, warum an vielen Stellen Moskau so abgedichtet wirkt wie eine Festung; die Klöster tragen heute noch die Spuren der alten wehrhaften Bestimmung an sich. Hier ist Byzanz mit seinen tausend Kuppeln nicht das Wunder, das sich der Europäer von ihm erträumt. Die meisten Kirchen sind nach einer schalen und süßlichen Schablone aufgeführt: ihre blauen, grünen und goldenen Kuppeln sind ein kandierter Orient. Betritt man eine dieser Kirchen, so findet man zuerst ein geräumiges Vorzimmer mit einigen spärlichen Heiligenbildern. Es ist düster, sein Halbdunkel eignet sich zu Konspirationen. In solchen Räumen kann man sich über die bedenklichsten Geschäfte, wenn es sich trifft auch über Pogrome, beraten. Daran stößt der einzige Andachtsraum. Im Hintergrunde hat er ein paar Treppchen, die zu der schmalen, niedrigen Estrade führen, auf der man an den Heiligenbildern sich entlangschiebt, zu der Ikonostase. In kurzem Abstand folgt Altar auf Altar, ein glimmendes, rotes Lichtchen bezeichnet jeden. Die Seitenflächen werden von großen Heiligenbildern eingenommen. Alle Teile der Wand, die so nicht mit Bildern bedeckt sind, sind mit leuchtendem Goldblech bezogen. Von der kitschig gemalten Decke hängt ein kristallner Kronleuchter herab. Dennoch beleuchten immer nur Kerzen den Raum, einen Salon mit geheiligten Wänden, vor denen das Zeremoniell sich abrollt. Die großen Bilder werden durch Bekreuzigen gegrüßt, dann folgt ein Kniefall, bei dem die Stirn den Boden berühren muß, und unter neuer Bekreuzigung wendet der Betende oder Büßende sich zu dem nächsten. Vor kleinen, verglasten Bildern, welche gereiht oder vereinzelt auf Pulten liegen, unterbleibt der Kniefall. Man beugt sich über sie und küßt das Glas. Auf solchen Pulten sind neben kostbarsten alten Ikonen Serien der schreiendsten Öldrucke ausgelegt. Viele Heiligenbilder haben außen an der Fassade Posten bezogen und blicken von den obersten Gesimsen unter dem blechernen Wetterdach wie geflüchtete Vögel hinunter. Aus ihren geneigten Retortenköpfen spricht Trübsal. Byzanz scheint keine eigene Form des Kirchenfensters zu kennen. Ein zauberischer Eindruck, der nicht anheimelnd ist: die profanen, unscheinbaren Fenster, die aus Versammlungsräumen und Türmen der Kirche wie aus Wohnräumen auf die Straße gehen. Dahinter haust der orthodoxe Priester wie der Bonze in seiner Pagode. Die unteren Teile der Basilius-Kathedrale könnten der Grundstock eines herrlichen Bojaren-Hauses sein. Wenn man jedoch von Westen her den Roten Platz betritt, erheben ihre Kuppeln sich allmählich am Himmel wie ein Rudel feuriger Sonnen. Immer behält dieser Bau sich etwas zurück, und überrumpeln könnte die Betrachtung ihn einzig von der Höhe des Flugzeuges aus, gegen das die Erbauer sich zu salvieren vergaßen. Man hat das Innere nicht nur ausgeräumt, sondern wie ein erlegtes Wild es ausgeweidet. (Und anders konnte es wohl auch nicht enden, denn selbst im Jahre 1920 hat man hier noch mit fanatischer Inbrunst gebetet.) Mit der Entfernung des gesamten Inventars ist das bunte vegetabilische Geschlinge, das durch alle Gänge und Wölbungen als Wandmalerei fortwuchert, hoffnungslos bloßgestellt; eine gewiß viel ältere Bemalung, die sparsam in den Innenräumen die Erinnerung an die farbigen Spiralen der Kuppeln wachhielt, verzerrt sie nun in eine triste Spielerei des Rokoko. Die gewölbten Gänge sind eng, weiten sich plötzlich zu Altarnischen oder runden Kapellen, in die von oben aus den hohen Fenstern so wenig Licht dringt, daß einzelne Devotionalien, die man stehen ließ, kaum erkennbar sind. Viele Kirchen stehen so ungepflegt und so leer. Aber die Glut, die von Altären nur vereinzelt noch in den Schnee hinausleuchtet, ist wohlbewahrt geblieben in den hölzernen Budenstädten. In ihren schneebedeckten engen Gängen ist es still. Man hört nur den leisen Jargon der Kleiderjuden, die da ihren Stand neben dem Kram der Papierhändlerin haben, die versteckt hinter silbernen Ketten thront, Lametta und wattierte Weihnachtsmänner vors Gesicht gezogen hat wie eine Orientalin ihren Schleier.
Noch der mühseligste Moskauer Werktag hat zwei Koordinaten, welche jeden Augenblick in ihm sinnlich bestimmen werden als Erwartung und Erfüllung. Das ist die Vertikale der Mahlzeiten, gekreuzt von der abendlichen Horizontale des Schauspiels. Man ist von beiden niemals weit entfernt. Moskau steht voller Wirtschaften und Theater. Posten mit Näschereien patrouillieren durch die Straßen, viele der großen Lebensmittelhäuser schließen erst gegen elf Uhr in der Nacht, und an den Ecken öffnen sich Tee- und Bierstuben. »Tschainaja«, »Piwnaja« – meist aber beides – hat man auf einen Hintergrund gepinselt, auf dem ein stumpfes Grün vom oberen Rand her allmählich und verdrossen in ein schmutziges Gelb verläuft. Zum Bier gibt es eigentümliche Zukost: winzige Stückchen getrocknetes Weißbrot, Schwarzbrot mit einer Salzkruste überbacken und getrocknete Erbsen in Salzwasser. In gewissen Kneipen kann man so tafeln, und noch dazu an einer primitiven »Inszenirowka« seine Freude haben. Man nennt so einen epischen oder lyrischen Stoff, der für das Theater verarbeitet wurde. Oft sind es schnöd in Chöre aufgeteilte Volksgesänge. In dem Orchester solcher Volksmusik lassen sich neben Ziehharmoniken und Geigen manchmal als Instrumente Rechenbretter hören. (Sie stehen in allen Läden und Büros. Nicht die kleinste Verrechnung ist ohne sie denkbar.) Der Wärmerausch, der beim Betreten dieser Stuben, beim heißen Tee, beim Genuß der scharfen Sakuska den Gast überkommt, ist Moskaus heimlichste Winterwollust. Darum kennt der die Stadt nicht, der sie nicht im Schnee kennt. Denn es will jede Gegend in der Jahreszeit bereist sein, in welche das Extrem ihres Klimas fällt. Ihm ist sie ja vor allem angepaßt, und erst aus dieser Anpassung versteht man sie. In Moskau ist das Leben im Winter um eine Dimension reicher. Der Raum verändert sich buchstäblich, je nachdem er heiß oder kalt ist. Man lebt auf der Straße wie in einem frostigen Spiegelsaal, jedes Einhalten und Besinnen fällt unglaublich schwer. Es braucht schon einen halbtägigen Vorsatz, um einen fertig adressierten Brief in den Kasten zu stecken, und trotz der strengen Kälte bedeutet es eine Willensleistung, in ein Geschäft zu gehen, um etwas zu kaufen. Doch hat man endlich ein Lokal gefunden, dann mag der Tisch bestellt sein wie er will – mit Wodka, der hier mit Kräutern versetzt wird, mit Kuchen oder einer Tasse Tee: Wärme macht Zeit im Verrinnen selber zum Rauschtrank. Sie fließt in den Ermüdeten hinein wie Honig.