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Die Eisenbahnkatastrophe vom Firth of Tay

Als am Anfang des vorigen Jahrhunderts die ersten Versuche in der Eisengießerei, die ersten Experimente mit der Dampfmaschine gemacht wurden, da war das etwas ganz andres, als wenn heute Techniker und Gelehrte an einem neuen Flugzeug, ja selbst an einer Weltraumrakete oder was es sonst immer sein mag, arbeiten. Heute weiß man, was Technik ist. Diese Gelehrten und Ingenieure haben die Aufmerksamkeit der ganzen Erde, Zeitungen geben von ihrer Arbeit Nachricht, große Konzerne geben ihnen das Geld für ihre Untersuchungen. Die Männer aber, die um die Wende des vorigen Jahrhunderts jene Erfindungen gemacht haben, die das Gesicht der ganzen Erde verwandelten – die Erfinder des mechanischen Webstuhls oder der Gasbeleuchtung, der Eisengießerei oder der Dampfmaschine –, von diesen großen Technikern und Ingenieuren wußte im Grunde niemand, was sie machten, ja, ihnen selber war die Tragweite ihrer Arbeit vollkommen unbekannt. Es ist schwer, irgendeine dieser wichtigen Erfindungen wesentlicher zu nennen als andere. Für die heutigen Menschen lassen sie sich für ihre Anwendung getrennt kaum mehr vorstellen. Trotzdem kann man sagen, daß die sinnfälligsten Veränderungen des Erdballs im Lauf des vorigen Jahrhunderts alle mehr oder weniger mit der Eisenbahn zusammenhingen. Von einem Eisenbahnunglück erzähl' ich euch heute. Aber nicht nur so als Schrecken und Graus, sondern ich will es in die Geschichte der Technik, besonders in die des Eisenbaus hineinstellen. Es ist da von einer Brücke die Rede. Diese Brücke stürzt ein. Gewiß ist das schrecklich für die 200 Menschen, die dabei ums Leben kamen, für ihre Angehörigen und viele andere. Aber doch will ich euch dieses Unglück darstellen nur wie einen kleinen Zwischenfall in einem großen Kampfe, in dem die Menschen siegreich geblieben sind und siegreich bleiben würden, wenn sie nicht etwa selbst ihre Arbeit wieder vernichten.

Als ich mir überlegte, wovon ich heut mit euch spreche, holte ich mir wieder einmal eins meiner Lieblingsbücher vor. Es ist ein dickes Buch mit Bildern ungefähr von 1840, eigentlich nur Quatschgeschichten und Ulk. Aber an dem, was die Leute damals im Scherz sich zusammenreimten, können wir heute manches Seltsame ablesen. Kurz und gut, da ist von den Abenteuern eines kleinen phantastischen Kobolds die Rede, der sich im Weltraum zurechtfinden will. Und als er in die Gegend der Planeten kommt, da stößt er auf eine lange Brücke aus Gußeisen, die ungezählte Weltkörper miteinander verbindet. »Eine Brücke, deren beide Enden man nicht zugleich zu überblicken vermochte und deren Pfeiler sich auf Planeten stützten, führte auf wundervoll geglättetem Asphalt von einer Weltkugel auf die andere. Der dreihundertdreiunddreißigtausendste Pfeiler ruhte auf dem Saturn. Da sah unser Kobold, daß der berühmte Ring dieses Planeten nichts anders war, als ein rings um ihn laufender Balkon, auf welchem die Saturnbewohner abends frische Luft schöpften.« Seht ihr nun, was ich meinte, als ich sagte, daß die Leute damals eigentlich noch nicht recht wußten, was sie mit der Technik anfangen sollten. Sie hatte für sie noch eine komische Seite. Und daß nun gar, wie es ja besonders bei Eisenbauten der Fall ist, nur noch nach Formen und Berechnungen sollte gebaut werden dürfen, kam den Leuten sehr komisch vor. Die ersten Bauten dieser Art waren denn auch mehr Spiel. Mit Wintergärten und Passagen, also mehr mit Luxusgebäuden begann der Eisenbau. Sehr schnell fand er aber seine richtigen technischen Anwendungsgebiete, und nun kamen ganz neue Konstruktionen zum Vorschein, die in der Vergangenheit kein Vorbild hatten. Nicht nur daß sie auf dieser neuen Technik beruhten, sie dienten auch ganz neuen Bedürfnissen. Damals baute man die ersten Ausstellungspaläste, die ersten Markthallen und vor allem die ersten Bahnhöfe. ›Eisenbahnhöfe‹ pflegte man sie noch damals zu nennen, und man verband mit ihnen die sonderbarsten Vorstellungen. Ein besonders couragierter belgischer Maler, Antoine Wiertz, hat sich um die Mitte des Jahrhunderts sogar drum beworben, die Wände dieser ersten Bahnhöfe mit großen feierlichen Bildern ausmalen zu dürfen.

Nun wollen wir aber, ehe wir uns die große, 3000 Meter breite Mündung des Tay-Flusses im mittleren Schottland, den Firth of Tay, ansehen, ein wenig zurückschauen. 1814 hat Stephenson seine erste Lokomotive gebaut; aber erst das Walzen der Schienen, das 1820 gelang, machte die Eisen- Bahn möglich. Ihr dürft euch das aber nicht so vorstellen, als ob nun planmäßig Schritt für Schritt getan worden wäre. Nein, alsbald entbrannte grade der Schienen wegen ein großer Streit. Unter keinen Umständen, so behauptete man, könne man je für das englische Schienennetz – und damals dachte man doch natürlich nur an ein winziges – Eisen genug auftreiben. Man müsse, so meinten viele Sachverständige ernsthaft, die ›Dampfwagen‹ auf Granitstraßen laufen lassen. 1825 wurde dann die erste Eisenbahnlinie eröffnet, und noch heute gibt es auf der einen ihrer Kopfstationen die »Lokomotive Nr. 1« zu sehen, die ihr sicher, wenn ihr einmal dahin kommt, auf den ersten Blick eher für eine Dampfwalze zur Planierung der Straßen halten würdet als für eine richtige Lokomotive. In Europa, auf dem Festland, baute man zuerst nur ganz winzige Strecken aus, die man ebensogut mit der Pferdepost, ja zu Fuß hätte zurücklegen können. Das habt ihr vielleicht einmal gehört, daß Nürnberg und Fürth die beiden ersten deutschen Städte waren, die eine Eisenbahn verbunden hat; dann kam Berlin und Potsdam usw. Im ganzen hat man das alles eher als eine Kuriosität angesehen. Und als man der Nürnberger Eisenbahn wegen ein Gutachten von den Medizin-Professoren der Universität Erlangen forderte, dann hieß es, man solle doch ja um gar keinen Preis diese Einrichtung zulassen: von der schnellen Bewegung müßten die Passagiere gehirnkrank werden, ja, schon der bloße Anblick dieser sausenden Züge könne die Leute in Ohnmacht versetzen. Zumindest müßten also zu beiden Seiten der Schienen drei Meter hohe Bretterwände errichtet werden. Gegen die zweite deutsche Eisenbahn, die von Leipzig nach Dresden lief, strengte ein Müller einen Prozeß an, weil sie ihm den Wind abfange, und als sie einen Tunnel erforderte, gaben die Ärzte wieder Gutachten dagegen ab, weil ältere Leute durch den plötzlichen Luftdruckwechsel vom Schlage gerührt werden könnten. Wie die Leute so in der ersten Zeit über die Eisenbahn dachten, das seht ihr vielleicht am besten an dem, was ein großer englischer Gelehrter, der in andern Dingen nicht auf den Kopf gefallen war, vom Eisenbahnfahren sagte: das sehe er überhaupt nicht mehr als Reisen an, das hieße einfach, an einen Ort verschickt werden, nicht viel anders, als wäre man ein Paket.

Und neben diesen Kämpfen um Nutzen oder Schaden der Eisenbahn liefen nun immer die mit dem Material. Nur schwer machen wir uns heut eine Vorstellung von der Ausdauer dieser ersten Eisenbahningenieure, von den riesigen Zeiträumen, mit denen sie für ihre Arbeiten rechnen mußten. Als man im Jahre 1858 den zwölf Kilometer langen Tunnel durch den Mont Cenis anlegte, machte man sich auf eine Arbeitsdauer von sieben Jahren gefaßt. Und nicht anders war es bei der Brücke über den Tay. Dazu kam hier noch ein besonderer Umstand. Man mußte nicht nur an die Lasten denken, die diese Brücke zu tragen hatte, sondern auch an die furchtbaren Stürme, die vor allen Dingen im Herbst und Frühjahr über die schottische Küste rasen. Während des Baus an dieser Brücke, der von 1872 bis 1878 dauerte, gab es Monate, wo die Orkane kaum aussetzten, so daß man nicht mehr als fünf bis sechs Tage in vier Wochen nutzen konnte. Als endlich die Brücke schon fast ganz fertig war, im Jahre 1877, riß ein Sturmwind von unerhörter Wucht zwei 45 m lange Eisenträger von ihren steinernen Pfeilern und machte jahrelange Arbeit von neuem zunichte. Um so größer war der Triumph, als dann im Mai 1878 die Brücke unter großen Feierlichkeiten eingeweiht wurde. Nur eine einzige Stimme warnte: das war allerdings einer der größten englischen Brückenbauingenieure, J. Towler. Der meinte, daß sie die großen Stürme nicht lange aushalten werde, und nur allzu früh werde man wieder von der Brücke am Tay hören.

Anderthalb Jahre später, am 28. Dezember 1879, nachmittags 4 Uhr, ging der fahrplanmäßige Personenzug, sehr stark besetzt, von Edinburgh nach Dundee ab. Es war Sonntag, in den sechs Waggons waren 200 Passagiere untergebracht. Es war wieder einer jener schottischen Sturmtage. Um 7 Uhr 15 abends hätte der Zug in Dundee ankommen sollen, aber 7 Uhr 14 war es schon, da signalisierte ihn erst das Bahnwärterhaus im südlichen Brückenturm. Und was man nach diesem letzten Signal als allerletztes von dem Zug hörte, das werde ich euch jetzt mit den Worten von Theodor Fontane sagen. Es ist ein Stück aus einem Gedicht, das »Die Brück' am Tay« heißt.

»Und es war der Zug. Am Süderturm
Keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
Und Johnie spricht: ›Die Brücke noch!
Aber was tut es, wir zwingen es doch.
Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
Die bleiben Sieger in solchem Kampf.
Und wie's auch rast und ringt und rennt,
Wir kriegen es unter, das Element.

Und unser Stolz ist unsre Brück';
Ich lache, denk' ich an früher zurück,
An all den Jammer und all die Not
Mit dem elend alten Schifferboot;
Wie manche liebe Christfestnacht
Hab' ich im Fährhaus zugebracht
Und sah unsrer Fenster lichten Schein
Und zählte und konnte nicht drüben sein.

Auf der Norderseite, das Brückenhaus –
Alle Fenster sehen nach Süden aus,
Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh'
Und in Bangen sehen nach Süden zu;
Denn wütender wurde der Winde Spiel,
Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel',
Erglüht es in niederschießender Pracht
Überm Wasser unten ... Und wieder ist Nacht.«

Augenzeugen dessen, was an diesem Abend geschehen war, gab es nicht. Keiner von denen, die im Zuge waren, wurde gerettet. So weiß bis heute niemand, ob nicht der Sturm, schon ehe der Zug auf der Brücke war, die Mitte einfach weggerissen hat, ob nicht die Lokomotive ins Leere raste. Der Sturm jedenfalls soll ungeheuerlich getobt haben, daß alle Geräusche in ihm untergingen. Trotzdem behaupteten andere Ingenieure damals und gewiß vor allem diejenigen, die die Brücke gebaut hatten, es sei der Zug gewesen, den der Sturm aus den Gleisen gehoben und gegen das Geländer geschleudert hätte. So sei die Brustwehr gerissen, und die Brücke selber sei erst sehr viel später in sich zusammengefallen. – Nicht das Krachen des stürzenden Zuges war also das erste, was auf das Unheil schließen ließ, sondern ein Feuerschein, der damals drei Fischern auffiel, ohne daß sie ahnen konnten, er sei aus der stürzenden Lokomotive hervorgeschossen. Als diese Männer dann die südliche Brückenstation alarmierten und diese Verbindung mit der nördlichen suchte, da meldete diese sich nicht mehr. Die Drähte waren gerissen. Nun benachrichtigte man den Stationsvorsteher von Tay, der sofort mit einer Lokomotive aufbrach. In einer Viertelstunde war er zur Stelle. Vorsichtig fuhr er auf die Brücke hinaus. Kaum aber hatte er nach einem Kilometer ungefähr den ersten Mittelpfeiler erreicht, als der Lokomotivführer mit einer solchen Plötzlichkeit die Bremse zog, daß die Maschine fast aus den Gleisen sprang. Er hatte im Mondlicht eine klaffende Lücke entdeckt. Der mittlere Teil der Brücke war fort.

Wenn ihr die »Funkstunde« aufschlagt, findet ihr ein Bild von der eingestürzten Brücke, das damals in der Leipziger Illustrierten Zeitung erschienen ist. Diese Brücke hat, wenn man ihr auch die Eisenkonstruktion gleich ansieht, dennoch mit einer hölzernen mancherlei Ähnlichkeit. Die Eisenkonstruktion war eben noch in den Anfängen, hatte ihr ganzes Vertrauen zu sich noch nicht gefunden. Nun kennt ihr aber alle, wenigstens aus Bildern, den Bau, in dem das Eisen zum erstenmal mit stolzestem Selbstbewußtsein sich aufreckt, den Bau, in dem zugleich die Berechnung des Ingenieurs sich ein Denkmal gesetzt hat. Das ist der Turm, den Eiffel grade zehn Jahre nach dem Einsturz der Tay-Brücke für die Pariser Weltausstellung beendet hat. Der Eiffelturm, der, als er entstand, eigentlich zu gar nichts nütze war, nur ein Wahrzeichen, wie man sagt, ein Weltwunder. Dann aber kam die Erfindung der Radiotelegraphie. Mit einem Schlage hatte der große Bau seinen guten Sinn. Heute ist der Eiffelturm der Pariser Sender. In 17 Monaten hatten Eiffel und seine Ingenieure den Turm aufgebaut. Bis auf ein zehntel Millimeter war jedes Nietloch in den Werkstätten vorbereitet worden. Jedes der 12 000 Metallstücke war vorher auf den Millimeter genau bestimmt, jeder der zweieinhalb Millionen Niete. Auf diesem Werkplatz ertönte kein Meißelschlag, selbst dort im Freien herrschte, wie im Atelier des Konstrukteurs, der Gedanke über die Muskelkraft, die er auf sichere Gerüste und Krane übertrug.


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