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Wer von euch kennt Godins Märchenbuch? Vielleicht unter allen Kindern, die zuhören, nicht ein einziges. In den letzten 30 Jahren des vorigen Jahrhunderts konnte man es aber in vielen Kinderstuben sehen. Unter anderem auch in der Kinderstube dessen, der jetzt mit euch spricht. Es kam beim Verlag immer wieder von neuem heraus, jedesmal sah es anders aus, weil die bunten Bilder je nach der Mode wechselten. Von den schwarzen allerdings blieben eine ganze Menge von Anfang bis Ende in allen Auflagen. Mit einem Märchen, das in diesem Buch steht, fangen wir an: »Schwester Tinchen«. Gleich auf der zweiten Seite von diesem Märchen ist so ein schwarzes Bild, das in allen Auflagen drinblieb. Da sieht man fünf Kinder jämmerlich aneinandergekuschelt neben einer zerstrubbelten Hütte. Es geht ihnen wirklich traurig. Am Morgen war ihre Mutter gestorben, und einen Vater hatten sie sowieso lange nicht mehr. Es sind aber vier Jungens und ein Mädchen. Das Mädchen heißt eben Tinchen. Das ist aber alles nur der Vordergrund. Im Hintergrund gibt es eine zarte, ganz puppenhafte Fee mit einem Lilienstengel, die heißt Concordia. Auf deutsch: Eintracht. Sie sagt den Kindern, sie will sie beschützen, wenn sie sich immer miteinander vertragen. Kaum hat der böse Zauberer, der ihr Feind ist, das gehört, kommt er mit einer Menge von Geschenken; die wirft er unter die Kinder, damit sie sich streiten. Die Jungen, nicht faul, fangen auch gleich an zu balgen. Und nur das kleine Mädchen macht nicht mit. Darum können die Teufel sie auch nicht in ihren Sack stecken, wie sie es alsbald mit den Jungens tun. Bis hierher ist das nun, werdet ihr sagen, eine ziemlich alberne Geschichte. Das finde ich auch. Also wird wohl noch etwas kommen. Und das tut es auch. Nun nämlich muß das kleine Mädchen die Brüder natürlich aus dieser niederträchtigen Zauberwirtschaft, wo die Teufel sie hingebracht haben, befreien. Und da ist der guten Frau, die sich dies Märchen ausgedacht hat und die sonst keine besondere Dichterin war, etwas sehr Schönes eingefallen. Ihr kennt ja die Aufgaben, die die Befreier in den Märchen erfüllen müssen. Da müssen sie durch eine Tür, vor der zwei wilde Männer mit Keulen stehen wie früher auf dem Titelblatt der Vossischen Zeitung. Und dann kommen sie in einen sauber gebohnerten Saal, wo zwei frisch gewichste Drachen sich anfauchen, durch die müssen sie dann hindurch. Und schließlich liegt dann im letzten Zimmer eine Kröte oder ein ähnliches Scheusal, die müssen sie küssen, damit sie sich in eine Prinzessin verwandelt. Bei Schwester Tinchen, die ja eben auch nur ein kleines Mädchen ist und der man keine blutrünstigen Heldentaten zumuten kann, geht alles viel manierlicher zu. Nämlich sie muß gar nichts machen, sie darf nur, wenn sie ihre Brüder erlösen will, keinen Augenblick auf ihrem Wege durchs Land des bösen Zauberers – bis sie in seine Höhle kommt – stehenbleiben. Und der Zauberer, der will ihr das natürlich unmöglich machen, indem er sie mit seinen Gaukelbildern aufzuhalten sucht. Würde sie nur ein einziges Mal sagen: Hier will ich bleiben, so hätte er sie in seiner Gewalt. Jetzt lese ich vor, welche Fallstricke er ihr legt: »Tinchen schritt getrost über die Grenze ins Zauberland, sie dachte nur an ihre Brüder. Anfangs sah sie nichts Besonderes. Bald aber führte der Weg sie durch ein weites Zimmer, welches ganz mit Spielsachen angefüllt war. Hier standen kleine Buden mit allem Möglichen ausgestattet, Karussells mit Pferdchen und Wagen, Schaukeln und Wiegepferde, vor allem aber die herrlichsten Puppenstübchen. An einem kleinen gedeckten Tisch saßen große Puppen auf Lehnstühlen, und die größte und schönste unter ihnen stand bei Tinchens Anblick auf, machte ihr eine zierliche Verbeugung und redete sie mit einem wunderfeinen Stimmchen an: Wir haben schon lange auf dich gewartet, liebes Tinchen, komm und speise mit uns zu Mittag. Während sie noch sprach, erhoben sich auch alle anderen Puppen, selbst die Wickelpüppchen in den Betten richteten ihre Köpfchen in die Höhe, und Tinchen setzte sich ganz entzückt in den kleinen Lehnstuhl, der am Puppentisch für sie bereitstand. Es waren gute Sachen aufgetragen, Tinchen ließ sich's schmecken, und als nach Tisch alle die Püppchen anfingen zu tanzen und sich unter dem übrigen Spielzeug umherzubewegen, kam Tinchen vor Freude so außer sich, daß sie in die Hände klatschte und jubelte: O, wie schön ist's hier. Hier möchte –.« Was will sie wohl sagen? Natürlich will sie sagen: Hier möchte ich bleiben. Aber das darf sie ja nicht sagen, wenn sie ihre Brüder erlösen will. Darum kommt nun gleich ein blaues Vögelchen, setzt sich auf ihre Schulter und erinnert sie mit dem Verschen:
»Tinchen, lieb Tinchen mein,
Denk an die Brüder dein!«
So kommt sie also durch die verschiedensten Reiche, immer taucht zur rechten Zeit das Vögelchen auf, und wir könnten ihr überall nachgehen, wenn das nicht eben die Berlinstunde des Rundfunks wäre und ich nicht auf geheimnisvollem unterirdischen Wege, während Tinchen im Zauberland ist, nach Berlin müßte. Da kommt Tinchen nämlich auch hin, und wie sie so vor einem von den Kuchenhäuschen steht, da öffnet sich die Tür und zwei kleine braune Leute treten heraus, welche sich Tinchen mit zierlichen Knicksen nähern und sprechen: »Willkommen in unserem Land.« »Wer seid Ihr denn und wie heißt Euer Land«, fragt sie neugierig. »Ei, kennst Du das Schlaraffenland nicht?« sagen beide Leutchen zugleich. »Wir sind Pfefferkuchenmännchen und -frauchen. Hier will ich Dir mein schönes großes Herz schenken«, sagt das Männchen freundlich, indem es ein Herz von der Brust abnahm, das ringsum mit Mandeln daran festgesteckt war. »Und ich gebe Dir meine schöne weiße Blume«, sagte das Frauchen und reichte ihr die Tulpe, welche sie in der Hand hielt. Dann kommt noch eine Menge von solchem Kuchen- und Schokoladengelichter, und alle reden ihr zu, zu bleiben. »Oh, wie gerne möchte ich.« Da ist aber wieder der Vogel bei Tinchen und sorgt dafür, daß sie sich nicht vergißt.
An dieses Märchen werdet ihr euch vielleicht erinnern, wenn ihr später in der obersten Klasse etwas von Goethes größtem Theaterstück, nämlich dem Faust, hört. Faust hat bekanntlich einen Vertrag mit dem Teufel gemacht. Der Teufel muß alles für ihn tun, bekommt aber seine Seele. Es ist nur die Frage, wann er sie holen darf. Und das darf er nicht eher, als bis Faust einmal ganz zufrieden und glücklich ist und will, daß alles so bleibt, wie es ist. Da gibt es zu seinem Unglück auch kein blaues Vögelchen, und wie er eines Tages, freilich bereits als ururalter Mann ausruft:
»Zum Augenblicke möcht' ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön« –
da fällt er tot um. – Der Mann wird ja nie in Berlin ankommen, denkt ihr. Es ist aber wie mit dem Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Swinegel. Der sitzt bekanntlich in einer Ackerfurche, und wenn der Hase ganz außer Atem ankommt, dann ruft er: Ick bün schon da. Ich bin nämlich schon längst in Berlin, wo ihr eben erst hinwollt. Denn so wie ich die Zaubergalerie beschrieben habe, durch die das kleine Mädchen mutig hindurchgehen muß, ohne sich aufzuhalten, so könnte ich manche Galerie in Berlin beschreiben, durch die ihr alle auch schon mutig, ohne euch aufzuhalten, gewandert seid. Oder, wenn die Mutter viel Zeit beim Besorgen hatte, vielleicht auch mit Aufenthalt. Und jetzt ahnt ihr am Ende schon, worauf ich hinauswill und wo es diese langen Spielzeuggalerien ohne Feen und Zauberer in Wirklichkeit mitten in Berlin gibt. In den Kaufhäusern.
Ich habe mir gesagt, die Erwachsenen haben im Rundfunk allerhand Fachvorträge, die sie sehr interessieren, trotzdem oder eben weil sie von der Sache, über die gesprochen wird, mindestens soviel verstehen wie der Mann, der spricht. Warum soll man solche Fachvorträge nicht auch für Kinder machen. Zum Beispiel über Spielzeug, trotzdem oder eben weil sie von Spielzeug mindestens ebensoviel verstehen wie der Mann, der hier spricht. Darum bin ich einmal mittags, wenn die Warenhäuser am leersten sind, ganz langsam, wie ich es als Junge nie gekonnt und gedurft hätte, von Tisch zu Tisch spaziert; habe mir alles ganz genau angesehen, was es für neue Spielsachen gibt, was sich an den alten, die es gab, wie ich klein war, verändert hat, welche am Ende ganz und gar verschwunden sind. Und gerade mit diesen verschwundenen will ich nun anfangen. Ja, über den Anfang werden wir heute gar nicht hinauskommen, und die Fortsetzung meiner Wanderung werdet ihr, wenn es euch Spaß macht, in einer Woche euch anhören. Da habe ich zum Beispiel überall nach einem alten Gesellschaftsspiele gefragt, das hieß »Der Glücksangler«. Das scheint es wirklich nicht mehr zu geben. Ich bekam es eines Tages zum Geburtstag; es ist so schön, daß ich es beschreiben will. Zuerst liegen im Kasten vier zusammengeleimte Pappwände. Man nimmt sie heraus und stellt sie auf einen Tisch. Die Wände sind mit glänzendem bedruckten Papier bespannt; sie stellen Wasserpflanzen, Fische, Muscheln, Tang dar, wie sie im Wasser herumschwimmen oder auf dem Meerboden liegen. In einem anderen Fach des Kastens liegen ungefähr 20 bis 30 verschiedene Fische, die haben einen Ring durch die Nase gezogen. Warum wohl einen Ring? Was doch eigentlich das Vorrecht von den Kamelen ist. Damit hat es diese Bewandtnis. Der Ring ist aus Eisen. Und nun kommen die Angeln, fünf oder sechs zierliche Stöckchen mit einer roten Schnur dran, an deren Ende statt des Regenwurms ein zierlicher kleiner Magnet hängt. Wer zum Schluß am meisten Fische gefangen hat, hat gewonnen. Und, da das Angeln natürlich nach Regeln geht und die Fische in diesem Wasser alle verschieden numeriert sind, so gibt es am Schluß dieses Angelns statt Fischessen Kopfrechnen. Also das ist zum Beispiel verschwunden. Es scheint aber noch etwas viel Schöneres verschwunden zu sein. Nämlich eine besondere Abart von Spieluhren. Viele von euch kennen vielleicht überhaupt keine. Kästen sind das, die haben innen eine Musik, an der Seite eine Kurbel und oben irgendeine Landschaft oder eine Stadt, in der, wenn man die Kurbel dreht, zur Musik sich etwas bewegt. Nun habe ich schon auf diesem Rundgang allerhand Spieluhren zu sehen bekommen, wo zum Beispiel Kühe gemolken wurden, ein Hund in die Höhe springt, ein Sennhirt aus der Hütte tritt und wieder zurückspaziert. Das ist schön, aber lange nicht so merkwürdig und so spannend wie diese Spieldose, an die ich mich besinne, trotzdem ich sie nie besessen habe, sondern sie nur, wie ich klein war, eines Tages in einem Geschäft sah. Wenn man da drehte, dann klang eine feine Schlachtmusik aus dem Kasten; es öffneten sich die schweren Papptore einer finsteren Festung, in die man von oben nicht hineinsehen konnte, eine Kompanie Soldaten marschierte heraus, zog bei klingendem Spiel im Bogen durchs grüne Gras, kam dann von hinten durch ein Tor, das sich inzwischen geöffnet hatte, in die Festung wieder hinein und blieb nun eine kleine Weile, immer mit Musik, da drinnen im Dunkeln. Weiß der Teufel, wie es ihnen erging, bis sie alle säuberlich wieder herauskamen. Nach so etwas habe ich vergebens gesucht. Auch die kleinen Bücher kann ich nicht mehr finden, die man in der Schulbuchhandlung bekam und mit deren Erwerb man sich den Einkauf von Rechenheften versüßte – ein Einkauf, der mir womöglich noch widerwärtiger war als jede einzelne Rechenstunde, weil das Heft in seinen leeren Karos all diese Stunden zu einer einzigen Schreckenssumme addiert enthielt – Schnellbücher oder wie sie mögen geheißen haben, Folgen von winzigen Photos, die einen Ringkampf oder eine Fußballschlacht in allen Phasen enthielten und an denen man schnell mit dem Daumen entlang fahren mußte, damit die Bilder, eines dicht nach dem anderen, vorbeischossen. Mit so einem Buch in der hohlen Hand konnte man bequem eine Rechenstunde in eine Kinovorstellung verwandeln. Dafür gibt es allerdings immer noch das umfangreiche Spielzeug mit dem schönen Namen Lebensrad. Es beruht genau auf demselben Trick. Nur sind die Bilder nicht in ein Buch geheftet sondern stehend, mit der Bildfläche nach innen, auf eine Scheibe montiert. Um das Ganze ist eine Wand gezogen. In dieser Wand sind Ritzen. Und wenn man die Scheibe schnell dreht – die Wand bewegt sich aber nicht mit – dann sieht man durch solchen Ritz ebenfalls Menschen wie bewegt und lebendig. Darum heißt das Ganze ein Lebensrad. Das sah ich in der Abteilung »Spiele«.
Ehe ich aber näher davon erzähle, will ich einmal die Galerie im ganzen beschreiben. Zufällig fing ich mit dem Puppenreich an, von dem ich aber erst nächstes Mal etwas erzähle. Daran schließt sich die Tierpromenade, die sich von keinem Zauberer lumpen läßt. Es ist nicht zu beschreiben, was ich da für Tierarten antraf. Blaue und rosafarbene Hunde, Rosse, die von weitem aussahen wie Gebilde aus Apfelsinenschalen, so gelb waren sie, Affen und Hasen so künstlich gefärbt wie die Tulpen, die die Blumenfrauen am Potsdamer Platz verkaufen. Ganz zu schweigen von Felix dem Kater, der in ungeheuren Mengen zu haben war, und von den Bibabotieren, die man wie einen Handschuh über die Finger ziehen kann und mit denen eine nette Verkäuferin mir die unbeschreiblichsten Kunststücke vormachte, bis sie begriffen hatte, daß ich sowieso nicht und unter gar keinen Umständen kaufen werde. So dachte ich wenigstens noch in der Tiergalerie. Später habe ich dann doch nicht widerstehen können und etwas gekauft. Das ist ein sehr komisches Spiel, ich glaube ganz neu, jedenfalls habe ich noch niemals davon gehört. Nichts weiter als eine kleine Schachtel mit 15 oder 20 verschiedenen Gummistempeln. Auf diesen Stempeln gibt es Stücke von Landschaften, Häuser, kleine Figuren, Luftschiffe, Autos, Boote, Brücken etc. etc. Dabei liegt ein Stempelkissen. Nun nimmt man sich einen großen Bogen Papier her und kann stundenlang verschiedene Landschaften, Gegenden, Ereignisse und Geschichten zusammenstempeln. Das war aber schon in der Abteilung »Gesellschaftsspiele«, die auf die Galerie mit den Tieren folgt. Ich hätte fast vergessen zu sagen, wie viele Osterhasen es jetzt schon in der Tiergalerie gab. Die Warenhäuser sind eben wichtige Punkte und werden von den Osterhasen, wenn sie einen Angriff vorhaben, zuerst besetzt.
Jetzt mal alle einen Augenblick weghören. Was ich jetzt sage, ist nämlich nichts für Kinder. Ich will doch nächstes Mal diese Wanderung zu Ende erzählen. Da habe ich aber die größte Angst, es wird inzwischen Briefe regnen, wo ungefähr drinsteht: »Ja, sind Sie denn ganz verrückt? Denken Sie denn, die Kinder quengeln nicht sowieso schon von früh bis spät, den ganzen Tag. Und nun setzen Sie ihnen noch solche Sachen in den Kopf und erzählen ihnen von tausend Spielsachen, von denen sie bis jetzt Gott sei Dank noch nichts wußten, die sie nun alle werden haben wollen, und womöglich noch von Sachen, die es überhaupt nicht mehr gibt.« Was soll ich dann darauf antworten? Ich könnte es mir ja leicht machen und euch bitten, verratet nichts von der ganzen Geschichte, laßt euch nichts anmerken, dann können wir in einer Woche schön weitermachen. Aber das wäre eine Gemeinheit. Also bleibt mir nichts übrig, als ganz ruhig zu sagen, was ich mir in Wirklichkeit denke: Je mehr ein Mensch von einer Sache versteht und je mehr er weiß, wieviel Schönes von einer bestimmten Art es gibt – ob das nun Blumen, Bücher, Kleider oder Spielsachen sind –, desto mehr kann er an allem, was er davon weiß und sieht, seine Freude haben, desto weniger ist er darauf versessen, es gleich zu besitzen, sich zu kaufen oder schenken zu lassen. Die von euch, die nun zum Schluß doch zugehört haben, trotzdem sie nicht sollten, die müssen das jetzt ihren Eltern erklären.