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Der Sommer zog ins Land und wandelte sich zum Herbst, und allmählich verblaßten die Erinnerung und die Sehnsucht, bis sie vollkommen versank vor einem neuen starken Eindruck, den das Leben ihm in den Weg schob.

Es war auf einem Wohltätigkeitsfest, als er zum ersten Male Karin von Klingenstur sah. Ihr wie von gesponnenem rötlichen Gold umflimmerter Kopf hob sich in überraschender Schönheit von dem Hintergrunde eines dunklen Samtvorhanges ab. Es war, als wenn Lichtstrahlen von ihm ausliefen, als wenn der metallische Glanz dieses wunderbaren Haares auch ihr zartes, schönes Gesicht durchleuchte und aus der Tiefe ihrer bernsteinfarbenen, anscheinend durchsichtig klaren Augen bräche. Man sah nicht oft ein so schönes und von so eigenartigem Reiz umflossenes Mädchen wie diese junge Schwedin, deren hohe, schlanke Gestalt sich mit jener ruhigen Anmut und Sicherheit in der Gesellschaft bewegte, die am besten bewies, wie sehr sie gewohnt war, hier in ihrem Element zu sein. Sie nahm die Huldigungen der Männerwelt als selbstverständlich entgegen, sehr kühl, sehr belanglos und von oben herab, aber zwischendurch wußte sie durch diese gleichgültige Kühle einen Strahl so bezaubernder Liebenswürdigkeit, anmutiger Neckerei und heimlicher Glut aufleuchten zu lassen, daß selbst diejenigen, die sich eben von ihrer spöttischen, überlegenen Kälte abgestoßen gefühlt hatten, wieder ihrem Reiz erlagen und ihr von neuem huldigten.

Von all dem wußte Hans Heinrich nichts; er trank nur mit Entzücken ihre Schönheit in sich, aber trotzdem zögerte er, sich ihr vorstellen zu lassen. Ohne daß er sich selbst davon Rechenschaft gab, war da seit dem Besuche in Sesenburg eine dunkle Unterströmung in seinem Empfinden, die ihn von den blonden Frauen zurückhielt. Sie brachte ihn auch vor dem Eindruck, den Karin auf ihn machte, in einen ihm selbst unverständlichen Zwiespalt des Wollens und Nichtwollens. Was war es nur, das ihn bei diesem schönen, blonden Mädchen so seltsam anzog und ebenso seltsam zurückstieß?

War es der Einfluß, der von dem Ringe und der Erzählung der Urahne ausging? Dagegen mußte er ankämpfen; einmal erkannt, mußte das Übel mit der Wurzel ausgerottet werden, ehe es ihn ganz zu einem Narren und Abergläubischen machte! Ohne Besinnen schritt er der Gruppe zu, in der Karin stand, und ließ sich ihr vorstellen.

Karin von Klingensturs Blick glitt kühl über Hans Heinrich von Sesenburg hin, und als er in den seinen traf, überrieselte es ihn fast wie ein körperliches Unbehagen, bei dem sich unwillkürlich der Gedanke aufdrängte, daß es vielleicht klüger gewesen wäre, der warnenden inneren Stimme zu folgen und dieser gefährlichen schönen Blonden fernzubleiben. Aber da lächelte Karin, und in ihre kühlen, prüfenden Augen trat ein leuchtender Glanz, der das ganze zarte Gesicht durchsonnte.

»Sesenburg? Standen Sie einstmals bei den Xer Ulanen? Waren Sie ein Kamerad Kurt von Veltins?« Kurt von Veltin? Ja, natürlich; Hans Heinrich entsann sich seiner sehr genau, wenn auch nicht mit besonderer Hochachtung und Zuneigung. Kurt Veltin war der leichtinnigste Leutnant des Regiments gewesen und hatte ihn recht häufig angepumpt. Die Erinnerung an ihn war wirklich keine angenehme. Aber in diesem Augenblick, vor dem Lächeln und Blick des schönen Mädchens, kam eine große Wandlung über diese mißliebigen Gedanken, und Hans Heinrich bekannte sich beinahe mit Wärme zu einer Kameradschaft, der er augenscheinlich ein besonders wohlwollendes Entgegenkommen verdankte.

Karin nickte. »O, dann sind Sie mir fast ein alter Bekannter. Kurt ist mein Vetter und hat mir damals – ich war noch ein halbes Backfischchen – so viel Liebes von Ihnen erzählt, daß ich Sie beinahe wie ein Stückchen Ideal ansehen lernte. Sie werden viel zu tun haben, Herr von Sesenburg, um mich in diesem hübschen Wahn durch Ihre persönliche Bekanntschaft nicht gar zu arg zu enttäuschen.« Dazu lachte sie mit einem Liebreiz und blickte mit so entzückender Schelmerei zu dem vor ihr Stehenden auf, daß diesem das Blut heiß zum Herzen schoß. Er fragte nun auch lächelnd, aber dabei bebte doch eine gewisse Erregung durch seinen Ton: »Wäre es da nicht vielleicht klüger gewesen, wenn die persönliche Bekanntschaft fortgefallen und der hübsche Wahn geblieben wäre? Das Leben ist im allgemeinen so arm an Illusionen, man soll sie nicht leichtsinnig zerstören.«

Der Blick Karins vertiefte sich, die Augen wurden dunkler und es war, als wenn aus ihnen tausend sehnsüchtige Fragen auftauchten. »Ja, das Leben ist sehr arm an Illusionen, oder richtiger, es macht uns arm daran; am ärmsten die, welche am reichsten waren.« – »O,« fiel er in ihr nachdenkliches Zögern ein, »solch alte Weisheit sollte ein so junger Mund noch nicht aussprechen.« – »Ach, über dem jungen Mund sitzen sehende Augen. Haben Sie die nicht auch?« – »Eigentlich nein; meine Augen haben keine richtige Veranlagung, Enttäuschungen zu sehen, und ich sollte meinen, daß die Ihren noch viel weniger dazu geeignet wären.«

Sie senkte vor seinem bewundernden Blick, der über ihre Augen wohl mehr und anderes sagte als seine Worte, langsam die Lider. Dann lachte sie leise auf. »Ich glaube, Sie haben recht. Aber Sie brauchen es sich trotzdem nicht so leicht vorzustellen, mir die Illusionen über Sie zu bewahren. Ich werde unbestechlich prüfen und haarscharf urteilen.« Dazu blitzten die Augen ihn übermütig und doch so seltsam lockend an. – »O weh, soll ich nicht doch lieber fliehen, ehe es zu spät wird?« – »Wenn Sie sich fürchten –?«

Die Lockung in den golden schillernden Sternen wurde leidenschaftlicher, verführerischer; sie verwirrte ihm die Sinne, und auch seine Augen flammten auf. »Ja, ich fürchte mich, aber ich werde bleiben.« Nun nickte sie kurz, fast gedankenabwesend, und blickte wieder kühl prüfend über ihn hin. »Warum sind Sie nicht Offizier geblieben? Sie müssen doch eine gute Figur in der Uniform gemacht haben?«

Die Frage selbst und die Art, in der sie gestellt wurde, ärgerte ihn, ärgerte ihn doppelt, da ihre Bedeutungslosigkeit in gar keinem Verhältnis stand zu dem, was sie vorher gesprochen hatten. »Es kam mir nicht allein auf die Form, sondern auch auf den Inhalt meines Berufes an«, antwortete er ziemlich schroff. Sie lächelte. »Ach so! Ihr Geist fand nicht genügend Befriedigung im lauten, frischen Reiterleben. Sie sind Denker, Dichter, Träumer. Richtig. Kurt deutete dergleichen damals an. Vielleicht war es gerade das, was meine Illusion über Sie weckte.«

Ein leiser Spott schien um den Mund Karins und in den kühlen Augen zu zucken. Hans Heinrich ärgerte sich noch mehr. »Dann bedaure ich, den Kampf um diese Illusionen von vornherein aufgeben zu müssen; er ist aussichtslos. Ich war und bin weder Dichter noch Träumer, kaum einmal das, was man unter Denker versteht, wenngleich ich freilich manchmal zu denken pflege, und zwar anders als andere.«

Nun lachte sie hell und lustig auf. »Alles falsch; gerade die geharnischte Abwehr bestärkt mich in meinem Glauben. Mein böser Herr von Sesenburg, so bequem kaufen Sie sich nicht von mir los, nachdem Sie einmal beteuert haben, sich nicht vor meiner haarscharfen Prüfung zu fürchten. Ich lege Hand auf Sie!« Die schlanke schöne Hand hob sich ihm entgegen, er ergriff sie wortlos, um sie an seine Lippen zu ziehen. Achtlos dessen, was er wollte, hielt sie seine Hand in halber Höhe fest und blickte auf den Ring an seinem Finger. »Ach bitte, zeigen Sie mir den Ring doch einmal. Er macht einen so fremdartigen, seltsamen Eindruck.«

Sie war ganz nahe an ihn herangetreten; das verwirrte ihn noch mehr, als er schon war. Die rötlich golden flimmernden, leicht gelockten Haare schienen ihm auf einmal wie ein feines Netz, das sich mit unzerreißbaren Maschen um ihn legte. »Ich kann ihn leider nicht vom Finger ziehen, er sitzt zu fest.« Sie lächelte ungläubig, und die kühlen, weißen Finger tippten kritisch auf den Reifen. »Bitte, probieren Sie es selbst, wenn Sie mir nicht glauben«, sagte er nervös gereizt. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, es bringt Unglück, wenn man sich einen Ring von anderen abstreifen läßt; das soll man nicht tun.« – »Sind Sie abergläubisch?« versuchte er zu spotten. »Ja, ich glaube an vieles, woran moderne Menschen nicht glauben. Meine Großmutter war eine Schottin; von ihr habe ich den Glauben an Übernatürliches und Geheimnisvolles geerbt. Sind Sie gar nicht abergläubisch?«

Er antwortete nicht gleich. War er abergläubisch oder war er es nicht? Vor ein paar Monaten wäre ihm ein lachendes Verneinen noch glatt über die Lippen geglitten, jetzt war er seiner nicht mehr ganz sicher. »Wenn ich es wäre, dann müßte ich Ihnen jetzt eine Verbeugung machen, abgehen und niemals wieder in Ihre Nähe kommen«, sagte er in einem Tone, der zwischen Ernst und Scherz so bedenklich schwankte, daß Karin sich nicht gleich in seiner Bedeutung zurechtfand. »Nie mehr in meine Nähe? Warum denn? Bin ich irgendwie gezeichnet, daß von mir Verderben ausgeht?« – »Das könnte vielleicht im allgemeinen stimmen, mein Fall ist aber ein besonderer«, lächelte er und ließ seine Augen auf den goldenen Haarwellen ruhen. »Eine Prophezeiung warnt mich vor den blonden Frauen. Sie bringen mir und meinem Geschlecht Unglück und frühen Tod.« – »Ah, wie interessant! Sie Armer, da sitzen Sie aber in lauter Fallstricken Ihres Glückes, wenn Sie um sich schauen«, lachte sie belustigt. »Wandern Sie aus, ziehen Sie in den südlichsten Süden, wohin das verderbliche Blond sich niemals getraut. Das heißt, wenn es Ihr Schicksal ist, daß eine blonde Frau Ihnen Unglück und frühen Tod bringt, dann würde es Sie auch dorthin verfolgen. Seinem Schicksal entgeht man nicht.«

Ihr Gesicht war wieder ganz ernst geworden und schimmerte jetzt, wie unter dem Druck einer starken Erregung, weiß wie ein Lilienblatt. Er achtete dessen nicht; kopfschüttelnd erwiderte er: »Nein, ganz so ist meine Prophezeiung nicht. Ich muß nicht durch eine blonde Frau unglücklich werden, ich kann es nur, wenn mich nicht eine dunkle Frau davor bewahrt.« – »Ah, wie bequem! Ihnen blieb die Wahl. Wenn noch Deutungen und Möglichkeiten offen bleiben, ist es keine richtige Prophezeiung.« – »Nein, die ist es auch nicht; es ist nur eine Warnung.« – »Ah so!« In ihre spöttisch blitzenden Augen trat eine entzückende Schelmerei, in die sich ganz leise eine kleine herausfordernde Koketterie mischte. »Dann freilich wäre eine Flucht vor den bösen, gefährlichen Blonden durchaus nutzbringend. Mein Herr von Sesenburg, machen Sie Ihre Verbeugung und fliehen Sie, ehe das blonde Verderben Sie mit Haut und Haaren packt!«

Diesmal küßte er die Hand, die sie, zur Flucht weisend, neckisch gegen ihn hob, sah sehr tief in die rätselhaften goldklaren Augen und sagte, auf ihren Ton eingehend: »Das verträgt sich nicht mit meiner Ehre als Edelmann und gewesener Offizier. Als solcher kennt man keine Flucht; man bekämpft die Gefahr oder man geht in ihr unter. Und wenn jedes einzelne dieser goldblonden Haare ein auf mein Herz gezücktes Schwert wäre, ich bleibe! Was würde sonst Kurt Veltin von einem ehemaligen Kameraden sagen?« – »Richtig, was würde Kurt Veltin und was würden meine Illusionen sagen?« lachte sie und in ihr weißes Gesicht trat wieder die feine Röte, die es sonst schmückte. »Ja, natürlich, die Illusionen –«

Ein hinzutretender Offizier, der Karin für den ihm zugesagten Tanz holen wollte, unterbrach die erneute Neckerei. »Auf Wiedersehen!« nickte sie ihm lächelnd zu, und ganz in Bewunderung ihrer dahinschreitenden Gestalt versunken, angeregt und entzückt von dem freien und doch so kühl sicheren Reiz ihres Verkehrs, stand er und blickte ihr nach.

»Lots Weib erstarrte zur Salzsäule, als sie rückwärts schaute. Es tut aber manchmal auch nicht gut, allzu stark vorwärts zu schauen«, sagte eine spöttisch gefärbte Stimme neben ihm, und als er hastig herumfuhr, stand Assessor Mindgereit neben ihm, ein älterer Kollege, dessen kluger Kopf und unterhaltendes, mit Geist und zeitweiser feiner Bosheit gewürztes Plaudern in Hans Heinrich, seit er ihn kannte, eine gewisse Sympathie erweckt hatte. Da diese gegenseitig zu sein schien, war trotz des erheblichen Altersunterschiedes – der Assessor stand dicht vor der Ernennung zum Regierungsrat – im Laufe des verflossenen Winters eine Art Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden Männern entstanden, und Hans Heinrich, der fremd in die Gesellschaft trat, hatte sich sogar oft der Führung des Älteren überlassen und war seinen Winken und Ratschlägen meistenteils und zu seinem Vorteile gefolgt.

Jetzt schoß ihm eine schnelle, verlegene Röte in das Gesicht. »Ah, Sie, Mindgereit! Verzeihung, ich sah Sie nicht früher!« – »Nein, das merkte ich, und daher erlaubte ich mir den biblischen Vergleich. Es ist zwar kein Sodom und Gomorrha, dem Sie nachblickten, aber ein gefährlicher Feuerbrand könnte es vielleicht doch sein.« – »Ich lernte die Dame eben erst kennen.« – »So so! Dafür waren Sie aber schon reichlich weit in ihrer Gnade vorgeschritten. Sie pflegt sonst nicht so leicht vielsagende Handküsse zu gestatten, und ihre Augen leuchten nicht immer so golden warm wie eben bei dem Abschied von Ihnen. Freilich –« er hielt ein und lächelte sonderbar vor sich hin. »Der Handkuß war sehr harmlos, eine Art Entschuldigung. Solchen Handkuß kann jede Dame gestatten«, verteidigte sich Sesenburg, während sein Gesicht – er fühlte es zu seinem Ärger – sich wieder rötete. »Und von dem Blick habe ich nichts gemerkt. Wie gesagt, ich kenne die junge Dame erst seit kaum einer Viertelstunde. Kennen Sie sie genauer?«

Mindgereit pfiff durch die Zähne. »Kennen! Wer kennt eine Frau genau! Besonders eine Frau wie diese, die die Rätselhaftigkeit einer Sphinx, die Kühle einer Nixe und die Klugheit eines reifen Weibes mit der anmutigen Schelmerei eines Backfisches und der verführerischen Schönheit einer Circe vereint! Kommen Sie nun mit mir? Im Sektzelte verkauft eine alte Freundin von mir: damit sie mich nicht allzu scharf rupft, habe ich versprochen, ihr einen fetteren Bissen, als ich bin, heranzuschleppen. Niemand kann dazu geeigneter sein als Sie, junger Krösus. Knöpfen Sie Ihre Taschen auf.« – »Mit Vergnügen«, antwortete Hans Heinrich und schritt neben dem Assessor vorwärts. »Dazu bin ich ja nur hier. Aber, Assessor, ehrlich währt am längsten, – knöpfen Sie nun auch Ihr Visier auf und erzählen Sie mir etwas über die junge Dame.«

»Die Damen sind erst vor kurzem hier aufgetaucht, und niemand außer dem russischen Gesandten kennt sie. Der hat sie auch in die Gesellschaft eingeführt. Man merkt es ihnen auch ohne Gesellschaftsgarantie an, daß sie vollkommene Damen mit einwandfreiem Auftreten sind. Also darüber können Sie beruhigt sein: eine Abenteurerin ist die blonde Schönheit nicht. Sie ist waschecht. Die Mutter der jungen Dame ist eine Baronin Lebanoff. Sie hat zum zweiten Male geheiratet, aber auch schon zum zweiten Male ihren Mann verloren. Ihr erster, der Schwede Klingenstur, hinterließ ihr drei Kinder, einen Sohn und zwei Töchter, weiter nichts, aber auch gar nichts. Den letzten Groschen von seinem und seiner Gattin bedeutendem Vermögen hatte er wahrscheinlich für den Revolver verbraucht, mit dem er sich den Weg in die Ewigkeit erschloß – oder erschoß, wie man's nehmen will. Frau von Klingenstur war ebenso schön, wie jetzt ihre Tochter ist, man kann sie noch eine schöne Frau nennen. Sie soll auch redlich mitgeholfen haben, das Vermögen durchzubringen; als es aber weg war, und sie mit ihren drei Kindern vor dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Untergang stand, da hat sie wohl doch neben ihrer Schönheit auch noch eine gute Portion Mut und Klugheit besessen.«

»Irgendwie und irgendwo«, fuhr Assessor Mindgereit in seinen Mitteilungen fort, »ist es ihr gelungen, entweder neue Mittel oder neuen Kredit aufzutreiben, sich damit nicht nur schlecht und recht über Wasser zu halten, sondern sogar ihren Platz in der Gesellschaft so zu behaupten, daß sie nach wohlanständiger Witwentrauer zum zweiten Male in den Hafen einer standesgemäßen Ehe, und diesmal in sehr wohlgeordnete, glänzende Verhältnisse, einlief. Wie der Stiefvater sich zu den Kindern erster Ehe gestellt hat, ist mir nicht bekannt. Sehr liebevoll und sympathisch ist kaum anzunehmen, denn – das heißt, erst muß ich sagen, daß Frau von Lebanoff ihrem zweiten Mann auch einen Sohn schenkte, ein zartes, schwächliches Kind, das völlige Gegenstück zu den schönen, blühend frischen und gesunden Sprößlingen ihrer ersten Ehe; und wenn dieser ihm täglich vor Augen stehende Gegensatz den nicht mehr ganz jungen Vater Lebanoff manchmal mit heimlichem Grimm erfüllte, kann man ihm das nicht verdenken. Am wenigsten, da sein Junge im sechsten Lebensjahre von einer Art Lähmung in den Beinen befallen wurde. Vielleicht war es auch nur eine Schwäche, aber jedenfalls etwas, das sich über die gesamte Entwicklung des armen Kindes legte und gegen das kein Arzt ein durchgreifendes Mittel wußte. Um diese Zeit begann der Vater Lebanoff auch allerlei körperliche Mahnungen an das Ende aller Dinge in sich zu fühlen, und es dauerte nicht lange, so legte er sich hin und starb. Da er kein so überaus liebenswürdiger Charakter gewesen sein soll, war sein Abgang für seine Witwe kein maßloser Verlust. Sie und die Stiefkinder, sagt man, haben aufgeatmet, besonders der älteste Sohn, der damals gerade preußischer Offizier wurde und die schönste Anlage dazu zeigte, in seines Vaters elegante, mit allerlei Liebhabereien gepflasterte Fußtapfen zu treten.

Frau von Lebanoff wußte, daß sie Vormünderin ihres jüngsten Sohnes und unbeschränkte Verwalterin aller Einnahmen sei. Ihr Mann hatte kurz nach der Geburt des Knaben in ihrem Beisein ein diesbezügliches Testament gemacht, das außerdem die Bestimmung enthielt, für den Fall, daß der Sohn unverheiratet vor der Mutter stürbe, sollte diese ohne Einschränkung und Bedingungen als Universalerbin das ganze Vermögen erhalten. Die Zukunft der drei Klingensturs schien also vollkommen gesichert, denn auf ein langes Leben des jungen Lebanoff konnte man kaum rechnen. Dann erwies es sich aber leider, daß der alte Lebanoff tückischerweise kurz vor seinem Tode heimlich das erste Testament umgeändert hatte, und zwar in seinem Schlußsatz, der jetzt folgendermaßen lautete: daß, im Falle Alex Lebanoff unverheiratet vor der Mutter stürbe, dieser nur eine im Verhältnis zu den sonstigen großen Einnahmen sehr bescheidene Rente zufiele, und das übrige, ihrer Verwaltung vollkommen entzogene Vermögen zu gemeinnützigen und volkswirtschaftlichen Stiftungen verwandt würde. – So, lieber Sesenburg, das ist die Geschichte der schönen, blonden Karin.«

Der sah ihn ganz verständnislos an. »Ja – was heißt das denn? Ich sitze immer und warte, wann nun endlich eine Mitteilung über die junge Dame, wann Ihr versteckter Hinweis auf Bedeutungsvolles und Interessantes kommen soll, und Sie erzählen mir eine ganz abseitsliegende Familiengeschichte. Die Mutter interessiert mich doch gar nicht! Meinetwegen kann sie noch mehrere Männer heiraten.«

»Halten Sie ein, Grausamer! Bedenken Sie, diese Dame kann Ihre Schwiegermutter werden!« – »Ach, Unsinn! Ich glaube wahrhaftig, Sie haben wieder einmal Ihren absonderlichen, tückischen Tag, genau so wie der alte Lebanoff, und haben mich nur tüchtig uzen wollen.«

Der Assessor lächelte. »Aber, mein Lieber, sind Sie begriffsstutzig! Verstehen Sie denn nicht? Ich gab Ihnen den Rahmen für das Bild, den goldenen Rahmen, in den die blonde Schönheit gehört und den sie für ihre Zukunft braucht.«

»Also der langen Rede kurzer Sinn war der, daß die junge Dame auf eine gute Partie losgeht und ich mich in acht nehmen soll, ihr nicht in die aufgestellten Schlingen zu gehen?«

»Sie irren sich,« erwiderte der Assessor, »warnen wollte ich Sie nicht. In solchen Dingen heißt es »Entweder – oder«. Entweder Ihr Interesse ist so groß, daß eine Warnung nicht hilft, oder so gering, daß sie nicht nötig ist. Nein, ich wollte Ihnen nur Anhaltspunkte geben, deren Sinn und Folgerung Sie sich selber machen können. Wären Sie ein armer Bursche, so würde ich Sie wirklich warnen, sich Finger und Herz zu verbrennen. Bei Ihrem Reichtum liegt kein Grund dafür vor. Sie würden voraussichtlich angenommen, und vielleicht könnte sich das kalte Herz der Schönen sogar für Sie erwärmen, denn Sie sind wirklich nicht übel. Es könnte angenehm klappen.« – »Danke, danke!«

Der Assessor sah nachdenklich zu seinem jungen Kollegen hinüber. »Sie sind in diesem Augenblick sehr giftig auf mich zu sprechen. Tut mir leid, bestätigt außerdem meine Annahme, daß Ihr sonst ziemlich ruhiges Gemüt etwas erregt ist. Na, na, fahren Sie nicht wieder auf! Ich will Ihnen nun wirklich sagen, was mich bewegte, den getreuen Eckhard zu spielen. Karin Klingenstur wird einen Mann, wie Sie, nie glücklich machen. Sie hat mehr Verstand als Herz, sie ist, soweit ich sie beobachtet habe, kalt wie eine Amphibie. Dabei ist in ihr eine heimliche, wilde Unruhe und Unzufriedenheit, gepaart mit bitterem Pessimismus und vielleicht sogar mit einem tiefwurzelnden Leid. Alles das brennt minutenweise in ihrem Blick, zittert hinter dem Goldton ihrer rätselhaften schönen Augen, zieht an und stößt ab, wird aber meisterhaft beherrscht von dem kalten, eisernen Willen dieser jungen und schon so alten, lebensklugen Frau. Sie läßt nicht in sich hineinsehen, sie wird stets ein verschlossenes Buch bleiben, auch für den Mann, der sie einmal gewinnt und sich dabei einbildet, sie zu besitzen. Vielleicht litt sie schon einmal Schiffbruch und hat dabei auch ihr Herz zerbrochen; vielleicht besaß sie nie eins.«

Hans Heinrich war seltsam erregt. Genau wie der Erzähler gesagt hatte, zog es auch ihn an und stieß ihn zugleich ab, brachte Unruhe und Zwiespalt in ihn und beherrschte ihn so wunderlich, daß er bald darauf das Herankommen eines beiderseitigen Bekannten als willkommene Gelegenheit ergriff, um sich von dem Assessor zu verabschieden und das Fest schneller zu verlassen, als es in seiner Absicht gelegen hatte. Er wollte ein weiteres Zusammentreffen mit diesem Mädchen, das einen so starken und nicht recht zu ergründenden Eindruck auf ihn gemacht hatte, für heute vermeiden, und als er dann in fast flüchtender Eile in seinem Heim anlangte, packte ihn wieder heftiger Ärger über die Torheit und Feigheit seines Tuns.

Hans Heinrich war, nachdem der erste Aufruhr seiner Empfindungen sich etwas gelegt hatte, entschlossen, zu einem Wiedersehen mit Karin nichts Besonderes beizutragen, es aber auch nicht zu vermeiden, sondern ruhig abzuwarten, wie das Schicksal ihn leiten wollte. Aber trotz dieses Entschlusses empfand er bei jedem Feste, das er mitmachte, eine heftige Spannung, die sich zu peinigenden Enttäuschungen wandelte, wenn er wieder und wieder das schöne Mädchen dort nicht fand. War sie vielleicht schon abgereist?

Den Assessor wagte er nicht zu fragen. Es war seit jenem Nachmittag eine leise Entfremdung zwischen die beiden Freunde getreten; sie gingen sich unmerklich aus dem Wege, und wenn ein Zusammentreffen nicht zu vermeiden war, hatte dieses einen anderen Ton als sonst. Es stand stets unter dem Schatten einer beiderseitigen heimlichen Verlegenheit.

Dann traf Hans Heinrich die lang Erwartete einmal ganz unerwartet in einem Wohltätigkeitskonzert. Sein Platz lag so, daß er gerade ihr feines Profil und eine Welle ihres goldenen Haares unter dem breitschattenden Hut sehen konnte, und der Reiz ihrer lichten Schönheit bezauberte ihn wieder so stark, daß er kaum einen Blick von ihr lassen konnte.

Sie hatte ihn anscheinend nicht bemerkt, aber plötzlich, mitten in einem Gesangsvortrage, dem sie reglos zu lauschen schien, wandte sie langsam den Kopf und sah ihn voll an, mit einem nachdenklich fragenden, fast traurigen Blick. Nur eine Sekunde lang, dann sah er wieder nur die Profillinie und die Haarwelle. Er hatte nicht einmal grüßen können, es war zu kurz gewesen, und der unerwartete, rätselhafte Blick hatte ihn auch so verwirrt, daß er gar nicht daran gedacht hatte, zu grüßen.

Hans Heinrich sagte sich, er war ein Narr, damals fortzulaufen, sie später nicht energischer zu suchen! Warum sträubte er sich gegen das starke Entzücken, das ihn zu diesem Mädchen hinzog, wie nie vorher zu einem anderen? Nur weil der Assessor ein paar törichte, vielleicht von Eifersucht und Haß gefärbte Bemerkungen über sie hingeworfen hatte? Nicht einmal solche, die ihr Bild wesentlich trübten oder auf abstoßende Flecken ihres Charakters und Lebens hinwiesen, sondern sie gaben sogar erst den richtigen Schatten, aus dem sich ihr lichtes, strahlendes Bild noch lichter und strahlender hervorhob. Ein Narr war er gewesen! Und doch – ein innerliches Widerstreben blieb, ein Nichtwollen all dem Wollen gegenüber.

In der nächsten Pause bahnte er sich einen Weg zu Karin. Sie stand von einem Kreise von Herren umgeben, und erwiderte seinen Gruß kühl und fremd, so daß er betreten sich nicht zu nähern wagte, sondern in einiger Entfernung stehenblieb und nicht recht wußte, ob er gehen oder bleiben sollte.

Da löste sie sich mit verabschiedender Kopfbewegung aus der Herrengruppe und trat auf ihn zu. Ein kleiner, feiner Spott spielte um ihre Lippen, als sie ihm die Hand entgegenstreckte. »Warnt die Schicksalsstimme wieder vor der bösen Blonden? Sie sehen mich an wie der Hansel im Märchen die Hexe vor dem Bratofen. Mache ich wirklich einen so erschreckenden Hexeneindruck?«

Dazu blickten die goldenen Augen so lockend und verführerisch, so schelmisch und lieblich, daß ihm das Blut zu Kopf schoß und er nur mühsam seine Gedanken so weit zusammenfassen konnte, um ihr im gleichen Ton zu antworten: »Ja, gnädiges Fräulein, einen erschreckenden Hexeneindruck! Der arme Hansel fühlt schon das Feuer im Backofen brennen.«

Sie lachte leise auf, und ihre Wangen färbten sich etwas tiefer. »Ah, da wollen wir schnell einen Riegel vor die Ofentür schieben. Ich werde Sie in kühlere und geschütztere Verhältnisse bringen. Ich will Sie meiner Mama vorstellen. Sie kennt Sie auch durch Kurt Veltins Erzählungen.« Sie war kokett – ganz sicher war sie das, sie spielte immer mit dem Feuer, verstand, es anmutig zu schüren und ebenso sicher in den richtigen Grenzen zu halten.

Angeregt und in gehobener Stimmung folgte er ihr. Der Assessor hatte recht geschildert. Die Baronin von Lebanoff war noch eine sehr schöne Frau; man konnte sich vorstellen, daß sie in der Jugend genau wie ihre Tochter ausgesehen hatte, dieselbe hochgewachsene, stolz getragene Gestalt, die durchsichtig feine Haut und das rötlich schimmernde Haar, nur dieses in einer dunkleren Schattierung und die Augen anders, ganz anders, samtbraun und tief, doch mit einem unruhigen, zerstreut suchenden Blick. Sie war ganz große Dame, sehr verbindlich und geschickt in der Unterhaltung, die durch die Beziehungen mit dem Neffen eine leicht vertrauliche Färbung erhielt, aber dabei doch jene feine Zurückhaltung und Unpersönlichkeit bewahrte, die die Meisterin der gesellschaftlichen Formen zeigt. Nichts von besonderem Entgegenkommen und bezwecktem Heranziehen, wie Sesenburg nach des Assessors Erzählungen fast gefürchtet hatte, nichts von schwiegermütterlichen Absichten, die er schon in allen Arten, auch in ihren feinsten und verstecktesten kannte, sondern alles in tadellosem Stil und ruhiger Vornehmheit. Karin stand schweigsam, fast gleichgültig etwas abseits von den beiden Plaudernden. Ihre Augen sahen mit eigentümlich leerem Blick über die Menge fort. Sie benutzte keine Gelegenheit, sich in das Gespräch zu mischen, und als Hans Heinrich, heimlich verstimmt über ihre Teilnahmslosigkeit, sich schneller verabschiedete, als es unbedingt nötig war, neigte sie den Kopf so kühl und fremd, daß er sich fast wie ein unberechtigter Eindringling in ihre Gedankenwelt vorkam.

Seine Verbeugung fiel daher auch steifer und kürzer aus, als er beabsichtigte. Da lächelte sie und streckte ihm die Hand hin. »Ich hoffe, wir treffen uns noch öfter«, sagte sie ganz einfach und sah ihn klar und ruhig an. »Es läßt sich mit Ihnen so angenehm plaudern; Sie verstehen, was und wie man es meint. Ich dachte es auch jetzt, als Sie mit Mama sprachen. Freilich, mit Mama sich gut zu unterhalten, ist kein Kunststück; bei ihr läuft alles so glatt und gerade. Bei mir springt und fliegt es oft, aber Sie verstehen mitzuspringen und mitzufliegen. Oder ist das zu schmeichelhaft ausgedrückt? Darf man das einem jungen Herrn nicht sagen?« Wieder zuckte es um ihren Mund wie Spott, aber die Augen blickten fast kindlich harmlos zu ihm auf. War das unbefangene Natürlichkeit, oder war es Koketterie? Ihm fehlte das Urteil dafür. Jedenfalls benahm sie sich anders als die Frauen, die er sonst kannte, souveräner, ganz ihren Augenblickseingebungen folgend und dadurch reizvoller und interessanter – wenigstens nach seinem Geschmack. Er fand sie entzückend. »Wenn Sie recht haben, gnädiges Fräulein, und ich Ihrem geistigen Fluge wirklich folgen kann, so dürfen Sie mir das auch unbesorgt sagen; ich verstehe wirklich, was und wie Sie es meinen.« – »Danke, es ist so angenehm, wenn man sich verstanden fühlt; man geht dann in unbefangener Sicherheit. Hat Mama Sie nicht aufgefordert, uns zu besuchen?« – »Nein, gnädiges Fräulein.« – »Ah! Mama ist oft etwas zerstreut, und ich glaube, sie ist auch formstrenger als ich. Vielleicht fand sie es nicht passend. Sie wird dann wohl recht haben. Also, auf Wiedersehen irgendwo sonst in der Welt, sie ist ja hier nicht so ausgedehnt!«

Da in diesem Augenblick das Konzert wieder begann, könnte Hans Heinrich das Gespräch nicht weiterführen, sondern mußte sich mit einer zweiten Abschiedsverbeugung und ihrem erwidernden freundlichen Kopfnicken begnügen.

Er war unbefriedigt und unzufrieden. Die Art und Weise, wie Karin ihn zuletzt behandelt hatte, war durchaus liebenswürdig, vertraulich und sogar sehr entgegenkommend gewesen. Bei jeder anderen Dame hätte er letzteres entschieden gefunden, bei ihr aber war es, als hätte sie gerade durch dieses so unbefangene Entgegenkommen eine trennende Mauer zwischen sich und ihn gezogen, eine Mauer, über die es kühl und gleichgültig herüberwehte wie eine Art von Kameradschaftlichkeit, die sich gleich Meltau auf blühende Frühlingsblumen legte. Und die Mutter? Korrekt, sehr korrekt, aber eigentlich hatte sie ihn doch abfallen lassen. Jede andere Mutter wäre ihm anders entgegengekommen.

Er war verstimmt und ärgerlich und mußte sich dabei doch zugestehen, daß für solche Empfindungen gar keine Veranlassung vorlag. Was wollte er denn? Wenn Frau von Lebanoff sich anders benommen hätte, wäre sein durch den Assessor geweckter Verdacht sicher sehr üppig ins Kraut geschossen, ebenso wenn Karin mit weniger Unbefangenheit ihm ihr Wohlwollen gezeigt hätte. Wohlwollen, ja, wahrhaftig, dieses steifleinene, nüchterne Wort war es gerade, was ihn ärgerte. Wohlwollen hatten sie ihm beide erwiesen, etwas, das man dem Bettler am Wege und dem Pudel auf der Straße allenfalls auch erweist – ein nichtswürdiges, erbärmliches Wort! Er würde sich hüten, den beiden wohlwollenden Damen wieder in den Weg zu laufen.

Der ungestüme Zorn legte sich aber bald, und ganz erstaunt sah Hans Heinrich auf ihn zurück. Ein Gefühl des Unbehagens beschlich ihn bei der Selbstkritik. Er kam sich fast krankhaft erregt vor. Seine gesunde Vernunft schien gelitten zu haben. Er kannte dieses Mädchen ja gar nicht; das Wenige, womit sie sich bis jetzt charakterisiert hatte, das leichte, neckische Geplauder, das über ihn hingesprüht war wie knisternde Funken, konnte höchstens ein Strohfeuer in ihm entzündet haben. Oder betörte ihn nur ihre lichte Schönheit? War es doch eine Stammesschwäche der Sesenburg, ihr Glück an den goldenen Faden eines blonden Frauenhaares zu knüpfen? Sollte sein Bestes sich an eine Äußerlichkeit binden, und zwar an eine Äußerlichkeit, die gegen die glückliche Erfüllung seines Schicksals sprach?

Hans Heinrich konnte keine Klarheit und Ruhe in seine Stimmung bringen. Ohne es richtig zu erkennen, fühlte er sich auch körperlich unbehaglich; irgend etwas lag ihm schwer in den Gliedern und quälte ihn. Seine Verstimmung wuchs, als es ihm nicht gelang, Karin so schnell wiederzusehen, wie er es heimlich doch gewünscht und gehofft hatte. Er wollte das Interesse, das sie zweifellos in ihm weckte, ernsthaft prüfen, um durch eine bestimmte Erkenntnis das Gleichgewicht seiner Seele wiederzugewinnen: so oder so wollte er Klarheit und Ruhe haben, aber natürlich mußte er dazu öfter mit ihr zusammenkommen, und gerade das wollte sich seinen Wünschen nicht fügen.

Mitten in diese ihm bis jetzt so fremde Unsicherheit und Zerrissenheit seiner Wünsche und Überlegungen traf die Nachricht vom Ableben seiner Ahne ein. Sie kam, nachdem Hans Heinrich sie fast täglich erwartet hatte, jetzt ganz überraschend. Der Erbe von Sesenburg nahm augenblicklich Urlaub und reiste ab nach dem Trauerort.

Es war eine andere Fahrt und Ankunft als damals im Frühling. Herbstlicher Sturm riß die letzten gelben und roten Blätter von den Bäumen, und der Regen goß in Strömen. Fröstelnd schritt Hans Heinrich vom Eisenbahnsteig der wartenden Kutsche zu. Ein junger, fremder Diener hatte ihn empfangen und berichtete in gedämpftem Tone, daß Johann den Herrn Baron um Entschuldigung bitten lasse für sein Fernbleiben; der große Schreck habe ihn niedergeworfen, er fühle sich zu schwach, um seinen Pflichten nachzukommen. »Ja,« nickte der Baron und schritt hastig durch den Regen, »ich kann es mir denken. Der alte Getreue hing an seiner Herrin, ihn wird es hart getroffen haben.« – »Ja, und der Schreck mit dem ...«

Hans Heinrich klappte seinen Schirm zu und stieg so schnell wie möglich in den Wagen. Er hörte nicht weiter, was der Diener sagte; ihm lag an seiner Trockenheit mehr als an den Mitteilungen, die er im Schloß noch immer zeitig genug erfahren würde. Die Fahrt dünkte ihn diesmal doch länger als damals. Während der schwere Wagen langsam durch den aufgeweichten Schmutz der Landstraße schwankte, gingen allerlei dunkle Gedanken mit ihm. Die Erzählung der nun Verstorbenen lebte in voller Schärfe wieder vor ihm auf. Er dachte all des Leides, das sie in ihrem langen Leben erlitten, er dachte an den alten Fluch, an den sie und ihre Vorgänger geglaubt und unter dem sie gelitten hatten, und unheimliche Schauer schüttelten ihn. Der Ring an seinem Finger brannte, und die dunklen, sehnsüchtigen Augen des alten Bildes blickten wieder in sein Erinnern hinein, nachdem das Licht zweier goldener Sterne sie eine Zeitlang vollständig aus dieser gelöscht hatte.

Nun wurde das Bild sein Eigentum, und er konnte alle seine damaligen Pläne mit ihm ausführen. Aber es lag ihm nicht mehr soviel daran wie damals, es war ein totes Bild, und die lebendige Wirklichkeit legte sich dämpfend auf die Sehnsucht von einst und ließ sie nur matt aufschimmern. Der Wagen rollte in den Schloßhof hinein, Lichter flackerten auf. Sie warfen aus der Halle heraus ihren Schein über die nassen Steine, und sie funkelten aus den Fenstern jener Zimmer, in denen die letzte Sesenburg gelebt hatte und gestorben war.

Das alte Schloß machte heute, wo eine Tote in ihm ruhte, einen lebendigeren Eindruck als damals, wo noch die Lebende in ihm weilte. In der schwarz ausgeschlagenen Halle stand die gesamte Dienerschaft des Hauses, vom jüngsten Gärtnerjungen bis hinauf zum alten Johann – ein kleines, ernstes Häuflein, das den neuen Gebieter ehrfurchtsvoll begrüßte. Dem alten, getreuen Diener der Verstorbenen zitterten die Knie, als er seinem jungen Herrn entgegentrat. Er sah sehr blaß und zusammengefallen aus, und Hans Heinrich, seine kalte Hand ergreifend, schnitt die von Tränen erstickte Begrüßungsrede mit den freundlichen Worten ab: »Aber Johann, warum sind Sie nicht in Ihrer Ruhe geblieben? Sie hätten doch an sich denken sollen: Sie müssen sich schonen, alter Freund!«

Johann schüttelte den grauen Kopf und neigte sich zum Kuß auf die ihm gereichte Hand. »Nein, Herr Baron, erst meine Pflicht und dann ich. So hab' ich's mein Leben lang bei der Gnädigen gehalten.« – »Gewiß, Johann, aber ich verlange das nicht. Sie hätten Ihre Pflicht jetzt, nach dem Tode der Gnädigen, getrost auf die Schultern eines Jüngeren laden können.« – »Nein, Herr Baron, das ging nicht, das hätte meine Ehre nicht gelitten. Solange meine Herrin noch im Schlosse weilt, steh' ich in ihren Diensten und sorge für alles. Herr Baron finden alles bereit, und wenn Herr Baron sich erfrischt haben und danach die Tote noch einmal sehen wollen, bitte ich, mich mit der Führung in das Sterbezimmer zu betrauen. Ich würde Herrn Baron dann Bericht erstatten.« – »Gut, Johann. Gewiß, kein anderer wie Sie kann und soll das. Aber ruhen Sie bis dahin noch etwas; Ihre Kräfte scheinen mir wirklich sehr mitgenommen.«

Der Alte nickte. »Ja, das sind sie. Es war auch zu furchtbar.« Dabei lief ein Schauer über seine Gestalt, und dem jungen Baron war es, als ob alle, die hinter ihm standen, auch schauerten und sich scheu zusammendrängten. Ja, der Tod wirft seine Schatten und weckt unheimliche Gefühle. Er merkte es an sich selbst, ihn schauerte auch, und der Gedanke, nachher zur Leiche der alten Dame geführt zu werden, hatte gar nichts Behagliches für ihn. Viel lieber hätte er die Erinnerung an sie bewahrt, wie sie ihm zuletzt begegnet war, mit der noch stolz und gerade getragenen Gestalt und den klaren, blassen Augen im hageren, faltigen Greisenantlitz. Aber diesem letzten Abschied von ihr war wohl nicht zu entgehen; es war eine Pietätspflicht, die man von ihm erwartete und verlangte, er mußte sie erfüllen.

Als seine Mahlzeit beendet war, erschien denn auch, ohne auf weiteren Befehl zu warten, wieder Johann, winkte dem jungen Diener, der lautlos und schweigsam beim Essen bedient hatte, sich zu entfernen, und blieb dann mit einem eigentümlich gespannten Zug im hageren Gesicht wartend an der Tür stehen. Hans Heinrich war beinahe ärgerlich über diese Dringlichkeit des sonst so geschickten, taktvollen Mannes. »Gleich, Johann. Ich wollte nur nicht mit dem letzten Bissen im Munde aufspringen.«

Johann schrak zusammen bei diesen in nicht ganz freundlichem Tone gesprochenen Worten. »Verzeihung, Herr Baron! Ich dachte nicht daran; ich wollte Herrn Baron durchaus nicht belästigen. Es ist auch nicht, um Herrn Baron zur Leiche zu führen; das hat ja noch Zeit bis morgen, eher wird der Sarg nicht geschlossen, – nein, ich wollte nur nicht, daß Herr Baron durch irgendein unvorsichtiges Wort erführen, was ich selbst mitteilen möchte.« – »Mitteilen?« Hans Heinrich horchte auf. Das klang so sonderbar. »Waren irgendwie noch besondere Umstände beim Tode der Ahne?«

Der Alte nickte mit dem Kopf und lehnte sich matt gegen die Wand. Seine Beine zitterten wieder, und der Baron sprang hastig zu, um ihn zu stützen. »Setzen Sie sich, Johann, hier, setzen Sie sich! Sie können sich ja kaum mehr aufrecht halten, und Sie müssen Ihre Kräfte sparen: denn morgen beim Begräbnis dürfen Sie doch nicht fehlen.« – »Nein, nein, auf dem letzten Gange will ich meine alte Herrin doch noch geleiten; das ist meine Pflicht und meine Ehre. Ich war ja auch der einzige und letzte, der bei ihrem Tode zugegen war, und davon zu berichten, bin ich eben zu Herrn Baron gekommen. Erlauben Herr Baron, daß ich spreche?« – »Gewiß, Johann, gern, das interessiert mich doch ungemein; aber wenn es Sie zu sehr aufregt, kann ich ja auch warten bis nach der Beerdigung.«

»Nein, nein, wer weiß, ob ich nach der Beerdigung noch dazu imstande bin. Mich hält nun nichts mehr im Leben.« Die Tränen liefen ihm über die Backen, aber er wischte sie hastig ab und fuhr fast atemlos fort: »Also, was ich zu berichten habe. Die Gnädige war gestern am Tage noch frisch und wohlauf wie immer, bloß sehr nachdenklich, so, als wenn eigentlich der Geist gar nicht bei ihr sei, sondern irgendwo in anderen Welten. Aber sie war im letzten Jahr manchmal so. Man mußte sich dann still beiseite halten und sie gehen lassen, bis sie wieder auf die Erde zurückkam. Bloß gestern hielt es den ganzen Tag an. Ich mochte nicht einmal mit Essen und Trinken kommen. Sie war so ganz allem Irdischen entrückt, saß still in ihrem Stuhl und sah immer ins Weite, ganz regungslos; man hätte denken können, sie wäre schon tot, wenn sie nicht so aufrecht dagesessen und so ruhig geatmet hätte. Auf einmal – es war schon dunkel, viel früher dunkel als sonst, denn der ganze Himmel hing voll schwerer Wolken – richtete sie sich auf, und im nächsten Augenblick stand sie neben mir und sagte: »Johann, wir gehen in den Turm.« Ach, Herr Baron, seit Sie damals hier waren, hatten ja die schrecklichen Gänge in den Turm aufgehört, und nun kam sie doch wieder damit. Ich habe sonst nie widersprochen, wenn die Gnädige etwas befahl – Widerspruch gab's bei ihr nicht –, aber diesmal tat ich's doch. ›;Frau Baronin sollten sich schonen‹, sagte ich. – ›;Es ist das letzte Mal, Johann; ich muß, sie hat es mir geboten. In dieser Nacht war sie bei mir; sie sprach davon, daß unsere Zeit erfüllt sei und wir zusammen gehen wollten. Ich muß zu ihr.‹ – Ach, Herr Baron, ich hab' mich so erschreckt! Die Gnädige war wohl oft sonderbar, aber immer bei ganz klarem Verstand, auch wenn sie im Turm war, immer ganz still, ohne ein Wort zu reden, und nun auf einmal solch sonderbares Zeug. Aber sie ließ mich gar nicht zur Besinnung kommen. So fest und leicht wie immer schritt sie vor mir her, daß ich kaum folgen konnte, dem Turm zu. Draußen strömte der Regen, und der Sturm heulte, aber sie ging unbeirrt vorwärts, ich mit dem Licht hinterher, während ich sonst immer vorangehen mußte. Sie schloß auch die Tür auf, und da – eben wie sie ins Turmzimmer trat, ein blendender Blitz, zu gleicher Zeit ein Donner, daß der Boden unter uns zitterte, und da stand das unselige Bild in lichten Flammen. Herr Baron, so was vergißt man nie wieder, so was ist nicht einfache Naturgewalt, wie man so sagt; das ist höllisches Werk! Die Augen der Hexe haben gelebt wie damals, als Sie meinten, daß es der Sonnenschein wäre, der in ihnen leuchtete. Nein, nein, höllisches Leben war es auch damals! Und unter dem Schleier hat sie gelächelt! Und meine Herrin hat auch gelächelt. In meine Kindheit muß ich zurückdenken, wenn ich mich solch eines Lächelns in ihrem Gesicht entsinnen will, ganz jung, ganz glücklich! – Sie hat die Arme ausgebreitet nach dem Bilde und hat etwas gerufen, was ich in meinem Schrecken und Grauen nicht verstanden hab', und dann sind die Arme herabgesunken, und sie selbst ist zusammengebrochen. Mich aber hat solche Angst und solches Entsetzen gepackt, daß ich zum erstenmal in meinem Leben meiner Herrin treulos geworden und fortgestürzt bin, blind und besinnungslos, bloß immer um Hilfe schreiend, bis auch ich zusammengebrochen bin. Und das kann ich mir nie mehr in meinem Leben verzeihen. Meiner Gnädigen untreu! Im Tode sie verlassen! Das ist wie Petrus, als er den Herrn verriet!«

Der alte Mann schluchzte verzweifelt auf und barg das Gesicht in den Händen. Hans Heinrich stand ganz verwirrt und fassungslos vor ihm, es war ihm unmöglich, jetzt gleich Ordnung in seine Gedanken zu bringen und sich von dem Eindruck, den die Erzählung des Alten unwillkürlich auf ihn gemacht hatte, zu befreien. Vorläufig beherrschte ihn nur ein angstvoller Gedanke, dem er auch, fühllos gegen Johanns verzweifelte Selbstanklagen, hastig Ausdruck gab. »Und die Leiche der Ahne? Kam die Hilfe noch rechtzeitig, blieb sie von den Flammen unversehrt?«

Der Alte blickte auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ja, ihr ist nichts geschehen. Die Flammen waren von selbst erloschen. Als die Leute mit Lichten und Lampen im Turmzimmer ankamen, war alles dunkel, nur schrecklich viel Rauch, und das Bild nicht einmal ganz verbrannt, bloß der obere Teil; und die Gnädige hat langgestreckt und friedlich lächelnd dagelegen. Ja, das Lächeln auf ihrem Gesicht ist geblieben, so mild und glücklich. Und daher denk' ich, daß sie auch mir verziehen hat, mir ungetreuem Knecht, der sie im Tode verließ.«

Wieder schluchzte der Alte auf, und nun legte Hans Heinrich seine Hand sanft auf den gebeugten Rücken. »Beunruhigen Sie sich doch nicht, Johann. Klagen Sie sich nicht zu hart an. Sie haben Ihrer Herrin die Treue bis zum Tode gehalten; erst als ihr Geist schon entflohen war, sind auch Sie entflohen, sind Sie menschlicher Schwäche erlegen. Darüber brauchen Sie sich keine Gewissensbisse zu machen. Ihre alte Herrin wird Sie einst dort oben ohne Vorwurf empfangen.«

Johann blickte auf. »Ja? Meinen der Herr Baron? Ich war ihr immer treu und gehorsam, mein Leben lang. Sie war mir das Höchste auf Erden, immer, und jetzt zuletzt war es auch nicht mein Herz, das ihr treulos wurde, es war mein elender, schwacher Körper, über den der böse Geist Macht erhielt. Das wird meine Gnädige jetzt wohl auch wissen, und daher hoffe ich auch, daß sie mir verzeihen wird.« – »Gewiß, Johann, das wird sie, und nun wollen wir zu ihrer Leiche gehen; ich möchte auch die Verklärung sehen, die der Tod über sie ausgegossen hat.«

Es war wirklich eine Verklärung; und alles Grauen, das heimlich in des Urenkels Seele gelegen hatte, schwand spurlos vor dem stillen, friedlichen Gesicht, das da vor ihm in den weißen Kissen lag. Die Ahne lächelte wirklich, und dieses befreite Lächeln glättete all die vielen, herben Schmerzensfurchen, die das Leben in ihr Antlitz gegraben hatte. Der Tod war als ein Beglücker und Erlöser gekommen, als einer, der freudige Botschaft brachte. Lächelnd ruhte sie aus vom langen, schweren Pilgergange.

Hans Heinrich war tief bewegt. Er empfand nur die Wohltat dieses Anblicks, und während er vor dem langen schmalen Sarge stand, lebte kein anderer Gedanke in ihm, als der an die Tote und an den Frieden, den sie endlich gefunden. Aber schon beim Rückweg in sein Zimmer wachte wieder die Erinnerung auf an die seltsamen Umstände, die diesen Tod begleitet hatten. Ein zufälliges Zusammentreffen, sagte seine Vernunft; aber dahinter reckten sich allerlei geheimnisvolle Verbindungen und Unerklärlichkeiten auf. Wieder suchte er sich damit zu helfen, daß die Fühlfäden dieser Seele schon überirdisch fein gewesen und über diese Welt hinausgetastet hätten; aber indem er damit die Möglichkeit eines solchen Hinaustastens unwillkürlich anerkannte, besann er sich gleich hinterher, daß diese Möglichkeit etwas sei, was sein Verstand verwarf. Sein gesunder Sinn kam in diesem unheimlichen alten Hause wieder und wieder in Verwirrung und verdunkelte sich in den Schatten, die hier in allen Winkeln lagerten und ein Unbehagen um sich verbreiteten, das sich vom Geistigen sogar auf das Körperliche übertrug.

Ihn fror und sein Kopf glühte. Wahrscheinlich hatte er sich bei dem häßlichen Weiter einen tüchtigen Schnupfen geholt. Er schellte, befahl, im Kamin neues Feuer anzulegen und ihm einen steifen Grog zu brauen, und nachdem er den starken Trunk hastig hinuntergegossen hatte, benutzte er schleunigst die ihn überfallende Müdigkeit, um den wohltuenden Schlaf zu suchen.

Hans Heinrich fiel auch bald in Schlaf, aber wohltuend, wie er gehofft hatte, war der Schlaf nicht. Schwere Träume beunruhigten ihn, und wirre Bilder zogen durch ihn hin. Alles, was der alte Johann ihm erzählt hatte, erwachte in seinen Träumen zur Wirklichkeit. Er befand sich im dunklen Turmzimmer, und plötzlich rollte der Donner, und der Blitz zuckte, und blendende Helle war um ihn. In dieser stand die Ahne und lächelte und wies mit der blassen Hand seitwärts, und als er ihrem Wink folgte, da sah er das Bild. Die Flammen loderten um dasselbe auf, und aus ihnen neigte sich der dunkle Kopf, und die sehnsüchtigen, fragenden Augen blickten zu ihm hin, mit süßer, zärtlicher Gewalt ihn an sich ziehend. Und da sank der Schleier. Hatten ihn die Flammen verzehrt, nur ihn, und das holde Gesicht unversehrt gelassen? Eine Sekunde lang war es frei; der blühende, weiche Mund lächelte, unter diesem Lächeln bildete sich ein Grübchen in der linken Wange. Er sah es deutlich! Aber da loderten die Flammen darüber hin und verschlangen es, verschlangen alles. Flammen, nichts als Flammen um ihn, und aus diesen heraus, wie eine dunkle Vision, der untere Teil des Bildes, das weiße Gewand und die Hände, schmale, durchsichtige Hände, an deren linker der Ring funkelte, während die rechte eine gelbe Tulpe hielt. Die Hände bewegten sich, sie lebten: die rechte streifte den Ring vom Finger. Wo war er geblieben? Er schien ins Wesenlose zu rollen. Auch die Hand schwand hin. Nur die rechte blieb, sie hob sich, sie winkte ihm mit der Blume; und dann schwand auch sie hin, die Flammen erloschen, und es blieb nur Dunkelheit und Leere.

Von Fieber geschüttelt, in Schweiß gebadet, erwachte der Schläfer. Tageslicht schien in sein Zimmer, aber erhellte es kaum. Der Himmel hing wie gestern schwer voll Wolken, und der Sturm heulte in klagenden Tönen um das alte Haus.

Hans Heinrich mußte sich erst besinnen, wo er war; sein Kopf schmerzte, und er fühlte sich an allen Gliedern wie zerschlagen. Ah, er hatte geträumt! In greifbarer Deutlichkeit stand der Traum vor seinem Gedächtnis, nur – der Schleier war verschwunden gewesen, aber das Gesicht darunter? Des Gesichtes konnte er sich nicht entsinnen, nicht ein Zug desselben war in seinem Gedächtnis geblieben. Natürlich, wie sollte es auch? Er hatte ja in Wirklichkeit dieses Gesicht niemals gesehen, und der Traum führte ihm doch nur Bilder vor, die er kannte, und das, was Johann ihm am Abend vorher so anschaulich geschildert hatte. Danach war es ziemlich natürlich gewesen, daß er sich im Traum mit diesen Dingen weiter beschäftigt hatte. Nach dem Begräbnis würde er sich das Bild ansehen, wenigstens seine Reste. Eine wunderliche Geschichte blieb es doch!

Die Beisetzung der alten Dame vollzog sich mit großer Feierlichkeit. Der ganze Adel der Umgegend, von dem Hans Heinrich wohl einige Namen, aber keinen einzigen Vertreter kannte, hatte sich eingefunden, um der letzten Freifrau von Sesenburg auf ihrem letzten Gang das Geleit zu geben. Man behandelte den jetzigen jungen Besitzer des Gutes etwas steif und förmlich, aber mit einer Art natürlicher Zusammengehörigkeit, die sich auf alte Ansässigkeit gründete, wenngleich diese kaum mehr durch etwas Persönliches betont worden war.

Nur wenige der Anwesenden hatten die Freifrau gekannt oder auch nur zu Gesicht bekommen. Einzelne alte Herren entsannen sich aus ihrer Kindheit der schönen, stolzen Sesenburgerin; doch das war schon so lange her, daß es fast wie eine Sage klang. Aber alle sprachen mit bewundernder Hochachtung von ihr, zugleich mit einem diskreten Bedauern über das schwere Schicksal, das über ihrem Leben gewaltet hatte. Dabei trafen den Urenkel vorsichtig prüfende Blicke, die ihm bewiesen, daß alle diese fremden Leute von der Geschichte seines Hauses mehr wußten, als er selbst bis vor einigen Monaten geahnt hatte. Das wirkte bedrückend auf ihn und machte ihn steifer und unzugänglicher, als es sonst seine Art war.

Befreit atmete er auf, als die ganze prunkvolle Feierlichkeit hinter ihm lag, die irdischen Reste der alten Freifrau unten in der Familiengruft ihren letzten Platz gefunden und die vielen fremden Gäste das Haus wieder verlassen hatten.

Es war ihm nicht wohl in den alten, weiten Räumen, und am liebsten wäre er nach der Abfahrt des letzten fremden Wagens auch wieder in die Familienkutsche gestiegen und abgefahren. Aber es gab doch allerlei zu ordnen und durchzusehen, was am besten und schnellsten am Ort selbst geschah, und so kam der Abend heran, ohne daß er seiner Absicht, noch einmal den alten Turm zu besuchen, nachgekommen war.

Die Dunkelheit überfiel ihn mit tiefem Unbehagen und heimlichem Grauen. Er war todmüde und fühlte sich an allen Gliedern wie zerschlagen. Irgend etwas Fremdes, Quälendes schlich ihm durch die Glieder. Nein, heute nichts mehr! Morgen war auch noch ein Tag, den er zur Hälfte hier verbringen mußte. Heute nur schnell ins Bett und ordentlich ausgeschlafen!

Und da kam wieder der Traum der vorigen Nacht zu ihm, wieder nichts als Flammen und in ihrem Rahmen ein süßes, blasses Gesicht, dessen Mund lächelnd ein Grübchen in die Wangen drückte. Vorüber! Weiße Hände winkten aus dem Dunkel, der Ring sank ins Wesenlose, und das Bild erlosch.

Dunkelheit und Leere legten sich atemraubend auf seine Brust. Röchelnd erwachte er.

Voller Sonnenschein durchflutete das ganze Zimmer. Er atmete tief und erlöst auf. Spuk der Nacht vergehe! Ihm war heute ganz leicht zumute, trotz des quälenden Traumes fühlte er sich ausgeruht und frisch. Er würde den Spuk bannen, indem er nun das Bild besichtigen ging. Wenn noch etwas davon zu retten war, wollte er seinem ersten Wunsche folgen und es ausbessern lassen, denn, so oder so, mußte man ihm eine Bedeutung einräumen; wenn nicht anders, blieb es ein Zeugnis alter Familienüberlieferung und hatte als solches Wert und Interesse.

Dann sah er, diesmal in Begleitung des jungen Dieners, da er dem alten Johann den Gang nicht mehr zumuten konnte, das Turmgemach betretend, daß an eine Erhaltung des Bildes nicht mehr zu denken war. Verkohlte Fetzen hingen über halbverbrannte Holzstücke des Rahmens. Nur ein Teil der Unterpartie, der weiße Kleidersaum und die weißen Hände waren noch erkennbar, diese freilich von seltsamer Plastik, fast aus dem Bilde heraustretend.

Hans Heinrich trat heimlich schauernd zurück. Gewaltsam riß er seinen Blick von dem Bilde los und ließ ihn durch den Raum schweifen. Seltsam, alles unversehrt bis auf das Bild! »War in der Nacht, als die Gnädige starb, ein so schweres Gewitter?« fragte er fast mechanisch, eigentlich nur, um seine Stimme zu hören und sich der Gegenwart eines Menschen bewußt zu werden. »Gewitter? Nein, Herr Baron, davon haben wir nichts bemerkt, nur Sturm und Regen.«

Bestürzt sah er in das Gesicht des Dieners. »Kein Gewitter? Aber das Bild? Johann sprach doch vom Blitz!« »Ach, Herr Baron, der alte Johann war ganz besinnungslos vor Schreck und Schmerz. Wir denken, er ist dabei mit dem offenen Licht an das Bild gekommen. Es hingen doch schon überall die Fetzen davon herunter, und da hat es Feuer gefangen, und so ist das gekommen.«

»Ah, so! Ja – aber – hm, dann hätte es doch zuerst unten brennen müssen, nicht oben.« »Ja, wirklich!« Der junge Mensch sah ganz verwirrt aus. Dann trat eine gewisse Unbehaglichkeit in sein Gesicht. »Herr Baron werden wohl wissen, von dem Bild ist immer viel geredet worden. Es hat so seine Bewandtnis –, da kann man nichts sagen. Ich weiß bloß, daß keiner von uns was von Gewitter gehört und gesehen hat, und taub und blind sind wir doch alle nicht.«

Hans Heinrich fühlte wieder einen Schauer über den Rücken laufen. Es war am besten, an diesen alten Geschichten gar nicht zu rühren; es kam dabei immer nur etwas heraus, was gegen alle Vernunft und moderne Auffassung verstieß. Er wandte sich, winkte dem Diener voranzugehen und folgte ihm dann hastig, fast wie auf der Flucht, um nicht noch einmal dem Verlangen nachzugeben, sich umzusehen und das Bild zu prüfen. Mit hartem Ruck drehte er den Schlüssel im Schloß und atmete dann auf. »Das Turmzimmer soll unberührt bleiben, bis ich weitere Bestimmungen treffe. Keiner soll es betreten!« »Sehr wohl, Herr Baron!«

Der junge Schloßherr atmete auf, als er aus dem dunkeln Gange heraus ins Tageslicht trat. Er empfand ein starkes Bedürfnis nach Luft und Licht. Ihn fror, und sein Kopf war wirr und dumpf. Schnell entschlossen trat er ins Freie und schritt in den Park hinaus.

Der sah anders aus, als bei seinem letzten Besuch: die Wege durchweicht, keine Blumen, kein Vogelgesang, nur entlaubte Bäume und die Tannen im dunkeln Kleide, dem die Sonne vergebens einen lichten Schimmer zu verleihen suchte. Der kleine Weiher war bedeckt mit braunen, faulenden Blättern, und die kopflose Göttin, deren Mängel im Frühling die lila Fliedertrauben liebevoll deckten, schien die halbzerbröckelten Fetzen ihres Gewandes wie fröstelnd an sich zu drücken. Allen Reizes entkleidet, lag der weite Park da; aber über ihn spannte sich ein blauer, wolkenloser Himmel, in Duft verschwimmende Bergspitzen über die Tannenwipfel. Es war doch schön hier, und die Luft wehte so erfrischend und belebend, als wolle sie alle grauen Spinnweben aus den Gedanken herausblasen. Über Hans Heinrich kam wieder ein wundersames Heimatsgefühl, in dem er halb gedankenlos immer weiter vorwärts schritt.

Auf einmal stieg der Weg sanft bergan. Er führte zu einen, kleinen, umbuschten Hügel, der oben sanft abgeplattet war und dessen Rasen noch merkwürdig grün schimmerte. Die Sonne überschüttete ihn mit ihrem goldensten Glanz, die Luft schien hier milder zu wehen, und als der Wanderer etwas weiter vortrat, stand er neben einem großen Rosenstrauch, dessen Zweige noch eine Fülle grüner Blätter trugen. Mitten in ihnen hing eine einzige purpurrote Blüte, noch ganz frisch, noch ganz sommerlich, in der Sonne erglühend.

Und wie Hans Heinrich sich überrascht und entzückt vorbeugte und die Hand nach ihr ausstreckte, durchfuhr es ihn wie ein Schlag: er wußte, daß er auf dem Grabe Nuramajas stand.

Das Bild stand wieder vor seinem Geiste. Die Züge Nuramajas aber hatten jetzt Ähnlichkeit mit denen Karins. Zum erstenmal seit dem Augenblick, als er die Todesnachricht der Ahne empfangen hatte, trat ihr Bild wieder in seine Gedanken, aber es hatte nichts Zwingendes mehr an sich, es war farblos und schemenhaft. Wunderlich! – Vergebens bemühte er sich, ihre lichte, blühende Schönheit klar und deutlich vor sein geistiges Auge zu zaubern. Es lag wie ein grauer Schleier über seinem Denken. Der Kopf tat ihm auch weh, eigentlich schon lange, aber er fühlte es erst jetzt quälend, und die Glieder waren ihm schwer wie Blei. Er wollte so schnell wie möglich abreisen, um sich zu Hause ins Bett zu stecken und ordentlich auszuheilen. Hier war sowieso nichts mehr für ihn zu tun; und sich in diesem dunkeln, öden Hause behaglich zu fühlen, war schon im gesunden Zustand fast unmöglich, wieviel weniger in solch einem jämmerlichen, wie er jetzt über ihm lag.

Der Weg bis nach dem Hause wurde ihm beinahe schwer. Es war auch alles so unfreundlich, die Sonne wieder hinter Wolken und der Wind so kalt, daß ihn fror, wie sonst kaum im härtesten Winter. Im Hause erwartete ihn der junge Diener und berichtete aufgeregt, daß Johann seit gestern Abend in starkem Fieber läge und phantasiere. Eben sei der Arzt bei ihm, und der hätte gebeten, Herrn Baron sprechen zu dürfen. »Ich werde hinübergehen, selbst nach Johann sehen und mit dem Doktor sprechen«, sagte Hans Heinrich erschreckt und vergaß im Augenblick sein eigenes Übelbefinden.

Indem klopfte es, und der Arzt steckte seinen Kopf zur Tür hinein. »Verzeihung, Herr Baron, daß ich so hineinplatze, aber es war im Augenblick niemand da, der mich melden konnte.« »Bitte, bitte, treten Sie näher, Herr Doktor. Was meinen Sie über Johann? Der alte, treue Mann liegt mir sehr am Herzen.« Der Doktor zuckte die Achseln und sah den Fragenden prüfend an. »Er wird es wohl nicht durchhalten. Es wird schnell zu Ende gehen.« »Ah, das täte mir unendlich leid! Kann irgend etwas Besonderes für ihn getan werden? Es käme auf keine Kosten an. Ich bleibe dann auch noch hier.« »Nein, Herr Baron; deshalb komme ich eben zu Ihnen. Reisen Sie so schnell wie möglich. Es liegt Ansteckungsgefahr vor. Johann hat Typhus, und es sind im Dorf schon mehrere Erkrankungen vorgefallen. Wer nicht nötig hat, zu bleiben, soll gehen.«

»Ah!« sagte Hans Heinrich und fühlte jetzt wieder seinen Kopf und die Schwere in seinen Gliedern, und auf einmal brannte es in seinen Adern und brannte es in seinem Hirn, und überall waren Flammen. Er stand mitten darin, weiße Hände winkten, und Rosen dufteten. Aber dann kam ein anderes zartes Wesen mit braunen, tiefen Augen, in denen eine süße, zwingende Gewalt lag, und hob die Hand, daß der Rubin an deren Finger auffunkelte, und die Schlange ringelte sich auf Karin zu. Die floh davon mit lautem Geschrei. Oder schrie er selbst so? Tausend Stimmen um ihn schrien, und sein Kopf wollte fast springen vor rasenden Schmerzen bei diesem Geschrei. Da hob die Urahne die Hand und alle Stimmen schwiegen. Es war ganz still um ihn, und in der Stille schwebte wieder die mit den dunklen Augen und dem Grübchenlächeln im zarten Gesicht. Sie legte die weiße, kühle Hand auf seinen schmerzenden Kopf und fächelte ihm mit einer gelben Blume frische Luft zu. Da wurde ihm ganz frei und leicht, und er sagte laut: »Du bist die Erlöserin. Nun wird mein Geschlecht wieder blühen, da es vom Fluch befreit ist.« Danach kam eine große, dunkle Leere, durch die die Zeit mit schwerem Flügelschlage rauschte, eintönig, endlos, fast dicht bis an die Tore des Todes.

»Lieber Geheimrat, ich bin in größter Verlegenheit, beinahe in Verzweiflung. Vielleicht wissen Sie Rat. Ich habe in meiner Not an Sie telephoniert und bin so froh, daß Sie gleich gekommen sind. Tausend Dank dafür!« Frau von Lebanoff reichte dem eintretenden älteren Herrn ihre schöne, schlanke Hand und sah mit unruhigem Blick in sein kluges, ruhiges Gesicht. »Ist Ihrem Sohn etwas Besonderes zugestoßen? Er schien gestern doch ganz wohl.«

»Nein, Gott sei Dank, das ist es nicht. Es geht Alex nicht schlechter als gewöhnlich, es betrifft ihn nur mittelbar. Es ist nämlich, daß sein Fräulein – sie war ja gar nicht besonders, lange nicht das, was man von ihr verlangen konnte – Sie kannten sie ja, Herr Geheimrat –, eigentlich war sie eine unzuverlässige Person, und das hat sich ja eben wieder erwiesen, aber Alex war an sie gewöhnt und, Sie wissen, er gewöhnt sich so schwer. Ja, also denken Sie nur, ihr Vater ist ganz plötzlich gestorben und die Schwester, die die gelähmte Mutter pflegt, schwer erkrankt. Sie ist sofort abgereist, und Alex sitzt nun ohne Fräulein da. Er, der jeden Augenblick jemand um sich haben muß, der so vieler körperlicher Umsorgung bedarf! Wo bekommen wir nun eine zuverlässige Person für ihn her?«

Sie rang die Hände, und ihre Augen irrten suchend und unruhig im Zimmer umher. Die vornehme Beherrschtheit, die im Salon über ihr lag, war vollkommen verschwunden; sie zeigte sich jetzt nur als nervöse, fieberhaft erregte Frau. Der Geheimrat schüttelte den Kopf. »Aber, verehrte Baronin, das ist doch kein Grund, um sich so aufzuregen. Sie tun sich damit mehr Schaden, als die Sache wert ist.« »Sagen Sie das nicht. Sie kennen Alex doch nun schon von unserem mehrfachen Aufenthalt in München. Sie wissen, wie jeder Wechsel, jede Aufregung auf seinen Zustand wirkt, und Sie wissen auch, was mir die Erhaltung dieses Kindes wert ist.« »Gewiß; aber Sie haben doch eine Jungfer mit, und die beiden jungen Damen –«

»Ich bitte Sie, lieber Geheimrat, welche Verkennung der Verhältnisse! Die Jungfer ist ganz unbrauchbar zur Krankenpflege: sie ist ein Kleinod für alles, was in ihr Fach schlägt, aber doch nicht für das, was Alex braucht. Und meine Töchter? Lieber Geheimrat, können Sie sich Karin auf solchem Posten denken? Und Ebba, das unbedachte Kind? Nein, nein, davon kann nicht die Rede sein.« »Ich meinte auch nur zur augenblicklichen Aushilfe, bis man etwas Passendes gefunden hat.« »Auch so lange nicht. Die einzige, die einspringen kann, bin ich, und Sie kennen meine Nerven.«

Der Arzt ärgerte sich heimlich. Vier weibliche Personen und recht eigentlich keine weibliche Hand und kein weibliches Herz, das sich im Notfall eines kleinen, armen und meistenteils gutartigen und bescheidenen Kranken annehmen wollte; denn auch das Muttergefühl der schönen Frau an seiner Seite schätzte er als wenig ausreichend für eine liebevolle und sorgsame Hilfe. »Hm, so genau bin ich nun doch nicht unterrichtet über das, was Sie von einer solchen Dame verlangen, und was Sie ihr bieten.«

»Aber, lieber Geheimrat, verlangen? Fast nichts. Nun ja, sie muß sich Alex ganz widmen, seine körperliche Pflege vollkommen übernehmen. Aber Sie wissen ja, wie wenig der Junge verlangt. Und dann freilich müßte sie ein taktvolles Benehmen, gute Formen und Bildung haben; aber das ist ja ziemlich selbstverständlich, kaum eine Forderung zu nennen. Dann muß sie außer Deutsch Französisch beherrschen; denn vorläufig, besonders auf Reisen, muß sie Alex auch geistig versorgen, ihm Stunden geben und, soweit sein Verständnis und seine Lust ausreichen, ihn unterrichten. Und dann – das ist die Hauptsache – muß sie verstehen, mit ihm umzugehen, ihn zu fesseln, muß für ihn sorgen und ihn lieben, wie, nun, wie ich es tun würde, wenn meine Gesundheit und die anstrengenden Pflichten für meine anderen Kinder mich nicht so stark in Anspruch nähmen. Aber das ist doch alles nicht schwer!«

»Hm, es heißt Gouvernante, Krankenpflegerin und Mutter in einer Person vereinigen«, faßte der Doktor mit einem starken Anklang von Spott zusammen. Frau von Lebanoff zog die Brauen hoch. »Es gibt eine Unzahl unversorgter Mädchen aus guter Familie, die sich um solch einen Posten reißen würden.« – »Ja, vielleicht; aber sie sind etwas selten zu finden.« – »Das ist es ja, lieber Geheimrat, das Finden, das augenblickliche Finden! Es ist doch eine entzückende Aussicht für solch ein armes, unversorgtes Mädchen, den ganzen Winter an der Riviera zu verleben, die Welt kennenzulernen, ihre Schönheit genießen zu können!«

Der Geheimrat räusperte sich. »Genießen? Das ist doch wohl etwas zu viel gesagt, Frau Baronin. Für Genuß bleibt nach all dem, was Sie als Pflichten aufzählten, kaum noch viel Zeit. Erfüllte denn die vergangene Dame all das, was Sie verlangen?« Frau von Lebanoff überhörte die letzte Frage. »Aber ich bitte Sie, wer seine Zeit einzuteilen weiß, findet immer noch Gelegenheit zum Genuß. Schließlich ist solches Mädchen doch auch nicht gerade zum Genießen da, sondern zuerst zur Pflichterfüllung.«

Jetzt wurde es dem Geheimrat doch zu viel; das Lächeln verschwand, und er runzelte die Stirn. »Pflichten, wie die von Ihnen verlangten, müssen mit Lust und Liebe erfüllt werden, und bei geistiger und körperlicher Überbürdung ist man auf die Dauer nicht mehr imstande, Lust und Liebe aufzubringen. Sie verlangen ein Ideal.« – »Aber, Herr Geheimrat!« – »Ja, ein Ideal. Aber trotzdem glaube ich, eine Dame zu kennen, die all das in gewissem Maße erfüllen, sogar tadellos erfüllen würde.«

»Sie wissen jemand?« Die Entrüstung war im Nu verflogen. »Welch ein Glück! Lieber Geheimrat, warum ließen Sie mich so lange reden, anstatt mir gleich die Last vom Herzen zu nehmen? Wo ist sie, die Perle?« – »Ich weiß durchaus nicht bestimmt, ob die Wünsche der jungen Dame von dem, was Sie bieten, befriedigt würden.« – »Aber natürlich, lieber Geheimrat; es kommt mir auf das Gehalt gar nicht an. Bestimmen Sie, ich gebe, was Sie für recht finden, es ist bewilligt, nur schaffen Sie mir die Person zur Stelle, schnell zur Stelle.«

»Nein, Frau Baronin, das Gehalt allein macht es in diesem Falle nicht. Die Dame, an die ich denke, würde keinen Familienanschluß verlangen; Rücksichten freilich, die verlangt aber auch jedes Dienstmädchen.« – »Natürlich, wir sind doch keine Unmenschen! Aber was heißt in diesem Falle Rücksichten? Sie kann nicht mit uns essen, Tee trinken, spazieren fahren!« – »Nein, daran würden sie schon ihre Pflichten hindern, und das würde sie auch nicht wünschen; aber sie würde ein eigenes Zimmer verlangen.«

»Zugestanden, wenngleich die früheren Fräuleins stets ein Zimmer mit Alex teilten und somit seine Nachtruhe besser bewachen konnten.« – »Was sie wahrscheinlich doch nicht taten. Diese wird es tun, ich stehe dafür ein; aber sie muß ein eigenes Zimmer neben Alex haben.« – »Gut, gut, und weiter?« – »Sie müßte die Stellung und Behandlung einer Gouvernante haben, denn sie ist sehr gebildet.« – »Nein, danke. Danach ergeben sich doch allerlei Ansprüche, die mich stören würden. Wissen Sie nichts anderes?« – »Nein, Frau Baronin. Ich glaube auch nicht, daß Sie etwas anderes brauchen könnten.«

Der Geheimrat stand auf und griff nach seinem Hut. »Lieber Geheimrat, seien Sie doch nicht gleich empfindlich. Ich kann und will mir nicht jemand aufladen, der nur Ansprüche macht.« – »Davon war nicht die Rede, Frau Baronin. Mein Schützling ist bescheiden und anspruchslos, aber –« »Bringen Sie sie her, Geheimrat, so schnell wie möglich. Schließlich kommt alles auf Alex an. Ich arme, geängstigte Mutter will mich ja zu allem verstehen, was in den Grenzen der Möglichkeit liegt, wenn sie nur Alex gefällt. Ich will auch so schnell wie möglich fort. Dieses gräßliche Januarwetter bekommt mir nicht; dem Jungen tut es auch nicht gut, und meine beiden Mädchen können es auch nicht vertragen.« – – –

»Wenn Mama sich nur nicht etwas ganz Unpassendes aufhängen läßt,« sagte Karin, als im Nebenzimmer die Tür klappte. »Mama ist viel zu aufgeregt. Mit Ruhe kommt man weiter.« »Ja, aber nicht jeder ist solch ein kaltblütiger Fisch wie du«, lachte Ebba, und ihre schönen, weißen Zähne blitzten hinter den vollen, roten Lippen. »Mama hat Temperament, ebenso wie ich! Leider Gottes ist das alles, was ich von ihr habe. Du hast auch darin das bessere Teil erwählt.« Dazu fuhr sie sich in komischer Verzweiflung mit beiden Händen in das lockige, aber wirklich weder durch Farbe noch Fülle sich auszeichnende dunkelblonde Haar.

Karin schüttelte mißbilligend den Kopf. »An dir ist Hopfen und Malz verloren, selbst Madame Moniers hat aus dir keine wirkliche Dame machen können. Mama hätte dich noch ein Jahr in Pension lassen sollen.« »Und meinst du, was in zwei Jahren – zwei verlorenen, unersetzlichen Jugendjahren! – nicht gelungen ist, das würde im dritten als Wunderblüte aufschießen?« »Sei doch nicht albern, Ebba!« »Predige nicht, ich kann das nicht vertragen! Du hast überhaupt keinen Schimmer von den Pflichten einer älteren Schwester; denn sonst hättest du während dieser meiner zwei Kerkerjahre einen deiner unzähligen Verehrer erhört und machtest mir nicht bei meinem bescheidenen Fluge in die Welt eine so empörend gefährliche Konkurrenz! Wer wird mich neben dir sehen?«

Mit geballten Fäusten stand sie vor der Schwester, halb lachend, halb ernsthaft verzweifelt, den Blick der graublauen Augen in Karins unbewegtes Gesicht bohrend. Die betrachtete sie prüfend. Nein, hübsch war Ebba nicht, aber sie hatte eins jener Gesichter, die durch ihre Frische oft stärker wirken und mehr auffallen als fein geschnittene Schönheit. »Unsinn! Von Konkurrenz zwischen uns beiden kann keine Rede sein. Du hast so sehr deine Eigenart, und wie du selbst wissen wirst, eine sehr anziehende, daß wir sehr gut nebeneinander bestehen können.«

Gähnend warf sich Ebba auf einen Sessel und sah mißmutig hinüber zu Karin, die ein Buch ergriffen hatte und sich darin vertiefte. Ein Weilchen herrschte Ruhe, dann fragte Ebba: »Sag' mal, ehrlich, Karin, warum bist du nicht schon verheiratet? Ist es so schwer, einen Mann zu bekommen?« «Das wirst du am besten an dir selbst ausprobieren«, lächelte Karin. »Was mich anbetrifft, so finde ich nicht, daß es schwer ist, einen Mann zu bekommen. Zehn kann man für einen haben; aber den Mann zu finden, den man haben möchte – das ist freilich schwer.« »Gott, ja, du wirst wohl unsinnige Ansprüche machen. Ich würde bescheidener und gescheiter sein; ich würde schnell zugreifen. Du, Karin,« – unter halb gesenkten Wimpern sah sie zu jener hinüber, mit dem gespannten Blick des Jägers, der ein scheues Wild beschleicht – »wenn Tibor Revoscény reich und berühmt gewesen wäre, hätte er der Gewünschte sein können?«

Karins Gesicht war tief erblaßt; ihre Hände zitterten, und sie lehnte sich kraftlos in den Sessel zurück. Aber nur eine Sekunde lang, dann richtete sie sich auf und zwang ein Lächeln auf ihre weißen Lippen. »Kleine Närrin, wie kommst du auf solche Albernheiten! Es ist fast eine Beleidigung, eine Karin von Klingenstur in Beziehung mit einem kleinen, unbekannten Maler zu bringen; ich verbitte mir das für künftighin. Was den Gewünschten anbetrifft, so will ich dir vertrauen, da deine Neugier doch nicht eher ruht, daß, als wir jetzt in Berlin waren, ich ihn beinahe gefunden hätte. Nur wurde er leider krank, lebensgefährlich krank, so daß dadurch die Fäden zwischen uns zerrissen. Vielleicht ist er jetzt schon tot. Ein lieber Freund von ihm, einer, der mich haßte, weil ich ihn zurückgewiesen hatte, erzählte mir das. Ich weiß nicht, ob es richtig war. Wahrscheinlich, denn ich sah ihn nicht mehr. Unser Aufenthalt war auch nur noch kurz; aber ich wußte, daß ich ihn gewinnen würde – ja, sicher!«

Sie war aufgesprungen und schritt hastig im Zimmer umher. Sie sprach auch hastiger und mehr als sonst. Ebba sah und fühlte das alles. Also doch, da war der verwundbare Punkt in dieser Siegfriedshaut: Tibor Revoscény! Wie mußte der Pfeil in der Wunde brennen, daß Karin sich, um zu verbergen, daß er traf, sogar zu Vertraulichkeiten hinreißen ließ, die sonst nie einen Blick in ihr Inneres gestattete, nie über ihre Erlebnisse, Ziele und Aussichten sprach. Noch jetzt, nach zwei Jahren, diese leidenschaftliche Empfindlichkeit! Kein Mensch würde das der beherrschten, kühlen Karin zutrauen. Selbst Mama hatte keine Ahnung davon. Nur sie, das Kind, wie man sie albernerweise noch jetzt oft nannte, hatte schon damals als kaum Sechzehnjährige so etwas herausgefühlt. Karins lichte Schönheit hatte er gemalt, sie geliebt und ihr Herz erobert!

Zu dumm, daß sie gerade damals in Pension geschickt wurde und nicht miterleben konnte, wie sich die Sache weiter entwickelte, ob Karin zum Bewußtsein ihrer Liebe erwachen und was dann geschehen würde? Jetzt freilich hatte sie eben erfahren, daß Karin erwacht und daß da ein Kampf und Schmerz durchgefochten war. Eigentlich konnte sie sich, auch ohne dabei gewesen zu sein, ungefähr denken, wie alles sich abgewickelt hatte; Karins hochmütige Worte gaben eine genaue Erläuterung zu ihrem Handeln. Abfallen hatte sie ihn lassen, ihr widerspenstiges Herz bezwungen. Ja, Karin war klug und zielbewußt und doch so schwach, daß sie noch nach zwei Jahren keine Anspielung vertragen konnte!

Ebba sprang auf. Sie hatte kaum gehört, was Karin sprach. Ihre Gedanken waren so vollkommen mit dem, was sie eben erlauscht hatte, und mit sich selbst beschäftigt gewesen, daß Karins Worte nur noch halb in ihr Bewußtsein fielen. Ein Gefühl junger, stolzer Kraft durchrieselte ihre Brust, sie fühlte sich Karin überlegen, stärker und freier als diese. Sie nahm keinen Ballast der Erinnerung mit in ihr junges Leben, sie würde leichter und sicherer an ein gewünschtes Ziel gelangen. »Pah, man muß nur wollen und wissen, was man will! Unter den vielen Männern muß sich doch einer finden, der zu mir und meinen Wünschen paßt, und dann nehme ich den einfach!«

Karin zwang sich zu einem Lächeln. Sie war noch blaß, und in ihren Augen lag es wie ein dunkler Schmerz, aber die Lippen lächelten. »Jawohl, greife nur zu; hoffentlich tust du einen guten Griff. Mir eilt es nicht.« »Wir müssen doch leider ernsthaft daran denken, unsere Zukunft zu versorgen, wir arme Kirchenmäuse. Wenn Alex heute stirbt, sitzen wir morgen da und können Hungerpfötchen saugen. Gräßlich, immer das Damoklesschwert über sich zu fühlen! Die arme Mama! Ihre Aufregung und Sorge ist doch berechtigt!«

»Sprich nicht davon! Es ist genug, daß man es jeden Augenblick fühlt, daß die Kette, an der man liegt, immer klirrt. Wenn Mama klüger und vorsichtiger gewesen wäre, hätte so etwas nicht vorkommen dürfen. Unsern Vater und sich hätte sie besser in Zucht und Ordnung halten müssen. Die Eltern waren reich; und da sie Pflichten gegen ihre Kinder hatten, durften sie nicht verschwenden.« »Ach, geh! Papa und Mama waren eben noble Naturen!« »Jawohl, ebenso wie Roderich, der schon jetzt die Hälfte vom Einkommen des fremden Mannes vergeudet!« »Der fremde Mann? Aber Karin, er war doch unser zweiter Vater!« »Mir niemals! Mir war er stets der fremde Mann. Ich habe ihn nicht leiden können vom ersten Augenblick an. Ich habe aufgeatmet, als er tot war.« »Aber Karin, das ist ja eigentlich schrecklich! So habe ich das nie empfunden.«

»Ich war auch älter als du« – Karin atmete schwer – »und anders geartet. Ah, reden wir nicht davon. Wenn man etwas in Worte kleidet, sieht es vielleicht schlimmer aus, als es im Grunde ist. Glücklicherweise liegt das ja nun hinter uns. Mama ist jetzt berechtigte Besitzerin des Geldes, das für uns ausgegeben wird. Man kann es genießen, ohne sich seiner Charakterlosigkeit zu schämen; man ist im Recht.« »Wie man es nehmen will«, behauptete Ebba hartnäckig. »Aber deshalb brauchst du dich doch nicht so aufzuregen. Ich bin ganz erstaunt über dich! Du bist ja ein heimlicher Feuerbrand!«

Jetzt zuckte Karin zusammen, strich sich hastig mit der Hand über das heiße Gesicht und lachte kurz und gezwungen auf. »Du bist eben eine Meisterin darin, Funken aus dem Stein zu schlagen. Wenn man auf dein kunterbuntes Geschwätz eingeht, kommt man schließlich in Aufregung. Wir wollen spazierenfahren, damit man etwas anderes sieht und hört als die Pflegerinnengeschichte.« – – –

Der Geheimrat hatte, als er Frau von Lebanoff verließ, dem Kutscher gleich den Weg angegeben, den er einschlagen sollte, und bald darauf hielt sein Wagen vor einer jener hochstöckigen, häßlichen Mietskasernen, wie die Großstadt sie schafft. Im vierten Stock saß er wenige Minuten darauf in dem Hinterstübchen einer Pension einem jungen Mädchen gegenüber, dessen zierliche, schlanke Gestalt in dunkle Trauergewänder gehüllt war. Sie sah mit großen, dunklen Augen, in deren Blick eine wunderbare Wärme und Weichheit schimmerte, halb ängstlich, halb erwartungsvoll zu ihm auf, als er, eine ihrer fast durchsichtig zarten Hände fassend, sagte: »Ich glaube beinahe, daß ich Ihnen eine erwünschte Nachricht, oder besser gesagt, einen Vorschlag für Ihre Zukunft bringe. Aber ich möchte erst wissen, wie sich die Gegenwart gemacht hat? Sie ließen sich so lange nicht bei uns sehen.«

In das liebreizende, aber sehr blasse Gesicht der vor ihm Sitzenden schoß eine schnelle Röte, und die Augen senkten sich verlegen. »Ich dachte ... Ach, lieber Herr Geheimrat, rechnen Sie es mir nicht als Undankbarkeit an, wenn ich nicht kam. Ich wollte Sie nur nicht immer wieder mit meinen Angelegenheiten belästigen.« Der Blick, der sich jetzt wieder voll zu dem alten Herrn aufhob, war tieftraurig und von einem silbernen Tränenschimmer verhüllt.

Der Geheimrat faßte die zuckenden, schmalen Finger fester in die seinen. »Sie närrisches Kind! Sie wissen doch, wie Sie mir ans Herz gewachsen sind, und wie meine Sorge um Sie nicht nur dem Versprechen entspringt, das ich Ihrem Vater gab, sondern auch meinem eigenen Empfinden. Wenn Sie nicht so eigensinnig wären –« »Verzeihen Sie mir den Eigensinn, mein lieber, verehrter Freund! Aber Sie wissen, es liegt nun einmal eine Neigung zur Selbständigkeit in mir. Vaters lange Krankheit hat sie entwickelt. Ich war immer auf mich selbst gestellt, und außerdem – ich brauche Arbeit und bestimmte Pflichten; ich konnte und durfte keine arbeitslose Zuflucht in Ihrem Hause suchen, so gütig sie auch geboten wurde.«

»Hm – ja, ja, ich weiß; ich sage auch schon nichts«, brummte der alte Herr begütigend. Er wußte am besten, was die feinfühlige Kleine gegen solches Schutzverhältnis einzuwenden hatte: die lächerliche, unfreundliche Eifersucht seiner alternden Frau, die sich gegen dieses arme, hilfsbedürftige und so fein und rein empfindende junge Geschöpf wandte. »Reden wir nicht weiter darüber. Sagen Sie mir lieber, ob Sie Erfolg hatten mit Ihren Gesuchen nach Stunden? Wie geht es dem kleinen Werner?«

Die Röte, die schon im Abblassen war, schlug wieder hell in dem jungen Gesicht auf. »O, der Junge war zwar sehr ungezogen, aber ich hätte ihn mir doch schon ganz gut zur Hand gezogen. Ich glaube, er hatte mich lieb, aber – aber der Vater kümmerte sich zu viel um die Stunden. Ich konnte nicht, – ich mußte, – ich habe sie aufgegeben.« – »So, so!« Der Geheimrat ballte heimlich die Faust. »Ich kenne den lieben Herrn, – ich war gleich nicht für Annahme der Stunden.« – »Ich muß und will aber doch verdienen.« – »Na ja, na ja, deshalb bin ich eben gekommen. Sie müssen überhaupt aus dieser rauhen Luft heraus. Sie brauchen Wärme, Sonne, Erholung. Wenn es auch sonst vielleicht kein Paradies sein wird, aber darin hat es seine Vorteile. Hören Sie mal zu, liebes Kind!«

Und nun berichtete der Geheimrat von der Stellung bei Frau von Lebanoff. In die mit gespannter Erwartung an seinem Munde hängenden dunklen Augen trat ein leuchtender Glanz. »Ein krankes, liebebedürftiges Kind. O, das ist ja wie ein Gottesgeschenk!« »Na, na! So ganz Gottesgeschenk wird es wohl nicht sein; der gute Alex hat ganz empfindliche Launen, und seine Familie besteht nicht aus flöteblasenden Engeln«, lachte der Geheimrat. »Bloß, mein liebes Baroneßchen, werden Sie sich auch darein finden, daß Frau von Lebanoff Sie nicht als Standesgenossin betrachten will und wird?«

»O, lieber Herr Geheimrat, Sie wissen, wie wenig Wert ich auf meinen Titel lege, und wie wenig er mir auch nützt. Er schadet eher, und wenn Sie meinen Namen noch nicht genannt haben, so möchte ich Sie bitten, mich einfach unter dem Namen meiner Mutter, als Marie Fourriere, einzuführen. Ich habe dann viel freiere und unbefangenere Bewegung und – ich glaube, meinem Vater würde es auch so lieber sein.« – »Ich verstehe, verstehe vollkommen und finde es sehr richtig. Ihre Stellung wird dadurch viel einfacher und bequemer, für Sie und auch für Frau von Lebanoff. Nein, ich habe Ihren Namen noch nicht genannt, das geht also ohne Schwierigkeit. Wären Sie bereit, noch am heutigen Tage in Ihren neuen Beruf einzutreten?« – »Ja. mich hält hier nichts, und meine Habe ist rasch zusammengepackt.« – »Dann lasse ich Ihnen eine halbe Stunde Zeit, hole Sie dann ab, um Sie zu Frau von Lebanoff zu führen, und bespreche unterwegs mit Ihnen noch alles, was über diese Sache zu besprechen ist. Kopf hoch!« – – –

Als Karin und Ebba von ihrer sehr lange ausgedehnten Autofahrt zurückkehrten, fanden sie die Jungfer schon mit dem Packen der Koffer beschäftigt. »Frau Baronin hat gesagt, daß wir noch in dieser Nacht abfahren. Das neue Fräulein für den jungen Herrn Baron ist angestellt und kommt schon um acht Uhr. Frau Baronin sagt, daß uns dann nichts mehr hielte.«

»Ausgezeichnet!« nickte Ebba. »Je eher wir aus dieser Barbarenkälte herauskommen, desto besser. Ich habe von dem rauhen Winde eine ganz rote Nase bekommen. Es war eine verrückte Idee, bei dem Lüftchen im offenen Auto zu fahren, Karin, ganz rücksichtslos gegen unseren Teint.« – »Meiner verträgt es«, lächelte Karin ungerührt. – »Du denkst immer nur an dich! Deine Samthaut mag es vertragen, meine nicht. Kuni, wie sieht denn die neue Samariterin aus?« – »O, gnädiges Fräulein!« Kuni hielt im Packen ein und machte ein Gesicht, in dem ganze Romanbände von Mitteilungsdurst lagen. »So eine haben wir noch nie gehabt! Wie eine verwunschene Prinzessin! Wissen gnädiges Fräulein, so eine auf der Erbse, so fein und zart, zum Zerbrechen. Aber sie hat den jungen Herrn gehoben, als wenn er ein Federchen wäre. Kräfte hat sie also. Und der junge Herr ist gleich ganz begeistert gewesen.«

Die Schwestern gingen in das Empfangszimmer. Frau von Lebanoff, die eben auch eintrat, seufzte, und ihre Augen wanderten ruhelos hin und her. »Wir können wenigstens noch heute in der Nacht reisen, vorwärtskommen, in ein besseres Klima. Alex hat es so notwendig und ich auch. Ich bin wie zerbrochen. Solche Unruhe und Aufregung macht mich ganz elend.« – »Mama, du hast Ersatz gefunden und hoffentlich guten; der Geheimrat empfiehlt nichts Schlechtes«, meinte Karin. – »N–ein – nur –! Es war aber auch gar nichts zu machen, Alex war ganz begeistert. Erst sah er sie mit großen Augen an, ganz starr, – das war nun freilich nicht so verwunderlich, denn sie ist leider ein entzückendes Persönchen –« »Aber Mama, leider?«

»Ja, sie sieht wie unsersgleichen aus, ganz so, und sie hat auch im Auftreten und Benehmen etwas, das nicht eine Spur untergeordnet ist.« – »Aber, Mama, eine solche Person hätte ich nun doch nicht genommen. Da hättest du lieber warten sollen.«

»Sie ist bescheiden und zurückhaltend, aber es gibt eine Art, eine unerklärbare, die die Dame kennzeichnet, der man nicht das zumuten kann, was man anderen zumutet, die unwillkürlich Rücksichten aufzwingt. Es ist mir sehr unangenehm.«

»Ach, Mama, wenn deine augenblickliche Aufgeregtheit da nur nicht sieht und fühlt, was gar nicht vorhanden ist! Hat sie sich denn nicht zu allen notwendigen Dienstleistungen für Alex bereiterklärt?« – »Doch, mit größter Bereitwilligkeit, und der Junge, – nur einmal hat sie ihm mit der Hand über die Haare gestrichen – mit einer Hand, so fein und schön, wie ich sie selten gesehen habe –, nur ihn berührt, und da hat er aufgestrahlt, beide Arme um ihren Hals geworfen und gesagt: ›;Die will ich, die muß bei mir bleiben, immer, die hab' ich lieb!‹ Denkt nur, Alex, der gar nicht leicht zugänglich ist! Ich glaube, der Junge wäre in Krämpfe gefallen, wenn ich sie ihm nicht gelassen hätte. Er wurde schon ganz aufgeregt, als sie nur fortging, um ihre Sachen zu ordnen. Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als sie zu nehmen. Sie hätte Bedingungen machen können, wie sie wollte. Aber sie war auch darin sehr anständig, nichts von Ansprüchen mit Vergnügungen und freier Zeit und dergleichen, nur ein eigenes Zimmer und ein ziemlich hohes Gehalt; aber das hatte schon der Geheimrat vorher ausgemacht, und das ist ja schließlich auch Nebensache. Wenn sie bloß nicht so wunderhübsch und eigenartig wäre!«

Dabei sah Frau von Lebanoff so verzweifelt aus, daß nun doch beide Töchter auflachten. »Ich gehe, mir die Wunderbare mal anzusehen, um mir ein eigenes Urteil zu bilden, – ganz unparteiisch, ganz ohne Begeisterung«, erklärte Ebba. Als sie nach kurzer Zeit wiederkam, ließen beide ihre Bücher sinken, in denen sie geblättert hatten, und selbst in Karins Blick lag eine gewisse Spannung. »Nun?« fragte Frau von Lebanoff.

Ebba wiegte nachdenklich den Kopf und setzte sich dann neben die Mutter. »Sie gefällt mir, Mama, und du hast recht: sie macht ganz den Eindruck einer Dame, trotzdem sich kaum sagen läßt, woran das liegt, denn sie ist gar nicht anmaßend. Der Junge sieht sie immer ganz verklärt an. Ich kann machen, was ich will, ich bringe ihn wohl mal zum Lachen, aber so zutraulich, so, ich möchte sagen, zart, wie er mit der umgeht, ist er mit mir nie. Ganz lächerlich! – Du, Mama, aber auffallend hübsch finde ich sie nicht. Die Hände sind bezaubernd. Ich habe doch auch nicht üble Hände, aber ihre sind noch schöner, wie modelliert, Meisterwerke! Aber sonst? Ein bißchen verhungert sieht sie aus, blaß, bis auf den Mund, der ist köstlich rot und weich, und die Augen sind hübsch, mit so einem eigentümlich sehnsüchtigen Blick. Aber so etwas sieht man doch oft. Ich begreife dich nicht, Mama!«

Frau von Lebanoff runzelte die Stirn. »Das verstehst du nicht, Ebba: diese kleine Person hat einen Reiz, der sich nicht durch das Aufzählen von Äußerlichkeiten ergründen läßt, er liegt im ganzen über ihr.«

* * *

 


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