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Ihr seht, in jenen uralten griechischen Märchen erscheinen die Riesen schon ebenso, wie in unseren deutschen. In der That hat der kindliche Sinn der Völker sich zu allen Zeiten an der Vorstellung von Gestalten übermenschlicher Größe und Stärke geweidet, weil eben der einfache Naturmensch kaum etwas Begehrenswerteres kannte als die Gaben körperlicher Kraft. Durch sie schien er alles erreichen zu können, und daher denn nun der Wunsch, Riesenstärke zu besitzen, daher die Sage von gigantischen Geschlechtern, deren Wohnstätten gewöhnlich in eine weite, unbekannte Ferne verlegt wurden. Selbst in späterer Zeit konnten Reisende, die aus entlegenen Gegenden kamen, der Begierde nicht widerstehen ihre Abenteuer in der Erzählung zu vergrößern und sich der wirklichen Bekanntschaft mit Riesen zu rühmen, um desto mehr Bewunderung zu erregen. Noch im sechzehnten Jahrhundert, als die Spanier meinten in den Patagoniern Magellan, der Ritter Pigafetta, Wallis und alle nach ihnen kommenden Seefahrer haben von Menschen erzählt, die so schnell laufen, als das beste Pferd im gestreckten Galopp, die einen halben Eimer Wasser in einem Zuge austrinken und die von solcher Größe sind, daß der Kopf des größten Europäers kaum ihren Gürtel berührt. Aber vor einer genaueren Prüfung hat keine dieser Fabeln bestehen können. Männer von etwas höherer Statur als der europäischen kennen gelernt zu haben, fabelten dieselben alsbald von einem nun wirklich entdeckten Riesenvolke. So gewaltig nun auch überall diese Riesen erscheinen, so sehr sie in Wuchs und Stärke das menschliche Maß überragen, so tief stehen sie an Geist und Gesinnung.
Ihre Roheit und Beschränktheit vermag nichts gegen den höhern Verstand selbst schwächerer Menschen, und trotz ihrer plumpen Kraft unterliegen sie überall den Helden. Wie wir den David siegen sehen über den Goliath, wie in den griechischen Sagen Herakles den Kakos und den Antäos überwindet und wie eben hier Odysseus des Polyphemos Meister wird, so fehlt es auch in unsern deutschen Sagen und Märchen nicht an ähnlichen Erscheinungen, die das Übergewicht geistiger Bildung auf die deutlichste Weise zeigen.
Doch Heil dem Odysseus, daß er dem ungeheuren Polyphemos entronnen ist. Was wird er nun beginnen? Er mag's nur wieder selbst erzählen, denn ihr wisset doch noch, daß er bei dem König Alkinoos sitzt und den Phäaken seine Abenteuer zum besten giebt?
»Ja«, fuhr er in seiner Erzählung fort, »mein alter Bock schmeckte mir vortrefflich. Als wir uns nun von dem Schrecken erholt und durch den Schlaf gestärkt hatten, banden wir unsere Schiffe wieder vom Ufer los und stachen in See. Wir fuhren und fuhren, bis wir an einer Insel von sonderbarer Gestalt landeten. Sie schwamm auf dem Meere umher und war ringsum von einer ehernen Mauer eingeschlossen. Das war die berühmte Insel, auf der Äolos wohnt, der König der Winde, dem die Götter jeglichen Wind in Verwahrung gegeben haben, daß er sie wehen und ruhen lassen kann, wie er will.«
»Hier ward ich einmal wieder freundlich aufgenommen und einen ganzen Monat lang köstlich bewirtet. In dem Palaste wohnten mit dem Könige seine sechs Söhne mit ihren sechs Schwestern. So in Gesellschaft der lieben Eltern freuten sich die Kinder täglich des lieblichen Mahls und lebten in traulicher Eintracht. Ich mußte ihnen ausführlich von Troja erzählen und alles, was mir nachher auf meiner unglücklichen Fahrt begegnet war; und als ich endlich um sicheres Geleit bat, da gab mir Äolos ein Geschenk, das mich ohne die Thorheit meiner Genossen höchst glücklich gemacht haben würde. Aber das ist nun einmal das Schicksal der Menschen sich durch eignen Unverstand ins Verderben zu stürzen.«
»In einem Schlauche von der Haut eines neunjährigen Stieres, den er selbst fest zuband mit silbernem Seile, hatte er sämtliche Winde eingeschlossen. Diesen gab er mir auf die Reise mit, damit ich mich seiner bediene, wenn etwa der rachsüchtige Poseidon mich wieder auf Irrwege führe. Ich legte den Schlauch auf den Boden des Schiffs, ohne den Genossen etwas von seinem Inhalte zu sagen, und so fuhren wir mit einem sanften Westwinde von Äolos' Insel weg und legten fast die ganze Länge des mittelländischen Meeres ohne Unfall zurück. Neun Tage und Nächte waren wir gefahren, als plötzlich in der zehnten Nacht die Ufer der heimischen Insel aus ferner Dämmerung auftauchten. Ja sie war es wirklich, die alte Ithaka! Schon sah ich die nächtlichen Wachtfeuer glänzen: das Ende meiner Irrsale war gekommen. Müde von der Hitze des Tages und der langen Anstrengung, legte ich mich im Schiffsräume nieder und überließ mich sorglos dem Schlummer und den süßen Heimatsträumen. Wußte ich doch, daß ich am Ufer des teuren Vaterlandes erwachen würde. Aber das Schicksal hatte es anders mit mir beschlossen!«
»Während ich schlief, besprachen sich die Gefährten über unser nahes Glück, dachten zurück an alles, was sie mit mir erduldet hatten, und wie arm sie trotz aller dieser Mühen in ihr Vaterland zurückkehrten. Mich hingegen betrachteten sie mit neidischen Blicken; meine reiche Kriegsbeute und die Menge meiner Gastgeschenke ärgerte sie. Überall, sagten sie, wo der hinkommt, wird er geehrt und beschenkt; wir aber müssen immer leer ausgehen und kommen als Bettler in die Heimat zurück. Was er nur da in dem Schlauche verborgen haben mag? Gewiß hat ihm Äolos darin ein köstliches Geschenk von Gold und Silber verwahrt.«
»So verlockte Neugier und Neid die Unglücklichen, und sie beschlossen den Schlauch zu untersuchen, den der König mit großem Bedachte so fest zugebunden hatte. Und kaum hatten sie das Band gelöst, da brachen alle Winde sausend hervor und rissen uns mit fürchterlicher Gewalt plötzlich zurück ins weite Meer, und immer weiter zurück, daß wir Tag und Nacht wie im Fluge wieder dahin getrieben wurden, woher wir gekommen waren. Weh uns Armen! Schon hatten wir gehofft in wenigen Stunden auf Ithaka zu landen, und siehe, nun waren wir wieder an der Insel des Äolos. Ganz ermattet stiegen wir aus, und nachdem wir uns durch Speise und Trank ein wenig erquickt hatten, machte ich mich mit meinem einzigen Freunde und dem Herolde auf den Weg nach Äolos' Behausung.«
»Hier fand ich die ganze Familie wieder in traulichem Kreise bei der Mahlzeit. Alle staunten bei meinem Eintritte in den Saal. Sie fragten, woher ich komme und was mir begegnet sei; denn sie hatten mich längst zu Hause geglaubt. Ich erzählte ihnen die tolle Verblendung meiner Gefährten und bat um neue Hilfe zu meiner zweiten Reise. Aber der König fuhr entsetzt auf und rief mir mit zornbebender Stimme zu: Unglückssohn, flieh! fliehe aus meinem Hause! Ich beherberge keinen Mann, den der Zorn der Götter verfolgt, und entsende keinen, den ihre Rache trifft! – Mit diesem Fluche jagte er mich aus seinem Palaste.«
»Ich eilte hinaus und kam bekümmert bei meinen Genossen an. Abermals mußten wir das wilde Spiel der Wellen wagen, und meinen Gefährten schwand der Mut. Sechs Tage ruderten wir rastlos fort, endlich am siebenten erblickten wir die Küste der Lästrygonen. Wir lenkten die Schiffe in einen sicheren und ruhigen Hafen hinein; ich band sie mit Stricken fest am Gestade und erstieg dann eine Anhöhe, ob ich vielleicht Spuren von Menschen erspähen könne. Aber nichts verriet mir den Fleiß menschlicher Hände, nirgends zeigten sich bebaute Felder, nur in weiter Ferne sah ich Rauch aufsteigen. Ich sandte zwei meiner Freunde mit einem Herolde aus, um das Land zu erforschen. Diese machten sich auf und gelangten in ein Gehölz, wo sie bald eine Wagenspur fanden, die sie verfolgten. So kamen sie an die Wohnungen der Eingebornen. Vor der Stadt begegnete ihnen ein lästrygonisches Mädchen, welches Wasser vom Brunnen geholt hatte: es war die Tochter des Lästrygonenkönigs Antiphates; diese fragten sie nach dem Volke und dessen Beherrscher. Das Mädchen bezeichnete ihnen sogleich die Wohnung ihres Vaters, und sie gingen arglos hinein. Aber wie erschraken sie, als sie nur die Mutter erblickten, ein baumhohes, fürchterliches Weib, das sogleich mit krähender Stimme den Gemahl herbeirief. Er kam, ein ungeschlachter Barbar von Riesengröße, und ohne ein Wort zu sprechen, packte er wie der Kyklop einen der Gesandten, um ihn zur Nachtkost zu verspeisen. Entsetzen ergreift die beiden andern; sie fliehen von Todesangst gejagt und eilen zu den Schiffen zurück. Wir sehen sie kommen, schon ahnen wir Schreckliches, aber eine noch grausenvollere Gewißheit folgte der Ahnung. Eine ganze Schar von Riesen, durch des Königs Gebrüll zusammengerufen, stürzte hinter ihnen her, und während wir noch die Schiffe loszubinden bemüht sind, fliegen schon ungeheure Steine auf uns los und zerschmettern Menschen und Schiffe. Ich allein hatte das meinige hinter einem Felsenhange befestigt, wohin die Steine nicht dringen konnten; schnell hieb ich mit dem Schwerte das Seil durch, rief alle Gefährten, welche noch nicht erschlagen waren, in mein Schiff, und nun arbeiteten wir uns hastig vom Lande los ins weite Meer hinein. Mit Schaudern sahen wir die Lästrygonen unsere armen Zurückgebliebenen aufspießen und zur unmenschlichen Mahlzeit nach Hause tragen. Die andern Schiffe versanken alle in den Abgrund.«
»Nun trieb die Strömung das einzige gerettete Schiff an die Insel Ääa. Hier herrschte die Göttin Kirke, eine Tochter des Helios und der Perse. Doch das wußten wir damals noch nicht, denn zunächst zeigte uns die Insel nur wildbewaldete Höhen. Das unablässige Rudern hatte uns ganz entkräftet, und die Betrübnis über die Folgen unserer Thorheit und über das klägliche Schicksal unserer Genossen nahm uns vollends allen Mut. Aber wir fanden doch einen sichern Hafen und somit einen Platz zum Ausruhen. Zwei Tage und zwei Nächte lagen wir in dumpfer Betäubung am Ufer, bis der gewaltige Hunger uns mahnte nach Lebensmitteln umherzuspähen. Ich ergriff Lanze und Schwert und ging in die nahe Waldung. Und ein Gott erbarmte sich meiner und sandte mir einen Hirsch mit hohem Geweih entgegen, der, ohne mich gewahr zu werden, zum Bache hinabstürzte, um seinen Durst zu löschen. Wie ein Blitz drang ihm mein Wurfspieß in die Seite, daß er jenseits wieder hervordrang, und mit einem Schrei sank das Tier zu Boden. Ich trat hinzu, und indem ich den Fuß gegen den Leib des Hirsches stemmte, zog ich den Speer wieder heraus. Mit schmeidigen Weidenruten band ich die Füße des Tieres zusammen, warf mir's mit Macht über den Nacken und trug es, unter der ungewohnten Last wankend und die Hand auf die Lanze gestützt, nach dem Schiffe.«
»Seht da, ihr Freunde«, rief ich, indem ich das Wild niederwarf, »noch sorgt ein Gott für unser Leben. Fasset Mut! Eher können wir ja doch nicht in das Reich des Todes versinken, als bis der vom Schicksal bestimmte Tag gekommen ist. Wohlan denn, so lange im Schiffe noch Speise und Trank ist, lasset uns fröhlich sein und der Pflege des Leibes nicht vergessen!«
»Und siehe, neues Leben goß der Anblick des stattlichen Tieres in die Adern meiner entkräfteten Genossen. Sie sprangen auf, wuschen sich die Hände und machten sich daran den Hirsch abzuhäuten und auszuweiden. Aus dem Fleische ward ein köstlicher Abendschmaus bereitet; wir aßen und tranken; der alte Mut kehrte wieder. Darauf erquickte uns ein süßer Schlaf am Gestade, und als die Morgenröte uns weckte, beschlossen wir auf Kundschaft auszugehen, ob vielleicht gastfreundliche Menschen die Insel bewohnten.«
»Ringsum war nichts zu sehen als öde Steppen und düsterschwarze Waldung. Aber mitten aus dem Dickicht wölkte ein starker Rauch sich empor. Dahin müssen wir gehen, rief ich; doch wer geht voran? – Die Gefährten traten alle scheu zurück; sie dachten noch mit Schrecken an den Kyklopen und an die Lästrygonen und fürchteten hier ein ähnliches Schicksal. Wohlan, sprach ich, teilt euch in zwei Haufen, den einen will ich anführen, den andern übergebe ich dem Eurylochos. Nun wollen wir losen. Diejenige Hälfte, deren Anführer das Los bestimmt, soll die gewagte Wanderung unternehmen.«
»Sie teilten sich unmutsvoll, auf jeder Seite standen zweiundzwanzig. Eurylochos und ich warfen zwei Lose in einen Helm. Der Helm ward geschüttelt, und siehe, des Eurylochos Los sprang zuerst heraus. Er machte sich darauf mit den Seinigen zögernd auf den Weg. Die armen Menschen weinten bitterlich, als sie von uns andern am Ufer Abschied nahmen; ich suchte sie wohl zu trösten, allein ich bedurfte selbst des Trostes, und mir ahnete nichts Gutes.«
»Der Rauch, den wir gesehen hatten, war aus der Behausung der Kirke aufgestiegen, einer heillosen Zauberin, gewandt in allerlei bösen Künsten, womit sie den Menschen schaden konnte. Sie besaß das Geheimnis Kräuter zu kochen, deren Genuß den Menschen sogleich in eine ihr beliebige Tiergestalt verwandelte, und schon erfüllte den Wildgarten, der ihre Wohnung umgab, eine ganze Schar von ausländischen Tieren – lauter Unglückliche, die ein Sturm oder Schiffbruch an die Küste verschlagen hatte und denen statt freundlicher Aufnahme ein trauriges Los zu teil geworden war. Aber der verständige Menschensinn war ihnen nicht genommen worden, daher schlichen alle die Löwen und Wölfe ganz friedlich umher, und nur dem Anblick schrecklich, trugen sie innen in der fühlenden Seele schweren Kummer. Das wußten meine Gefährten nicht und staunten daher die sanftmütigen Tiere an, die gleich freundlich wedelnden Hunden auf sie zukamen, als wollten sie dieselben bitten, sich von diesem gefährlichen Orte zu entfernen. Ach, daß sie doch die stumme Bitte verstanden hätten! Aber so gingen sie unwissend ihrem Verderben entgegen.«
Sie kamen an den Palast, in welchem die Göttin wohnte. Eben saß sie daheim und webte sich ein köstliches Gewand und sang mit heller, melodischer Stimme ein fröhliches Lied zur Arbeit. – Horch! den herrlichen Gesang! sprach einer der Freunde, laßt uns hineingehen! Und sie ließen laut rufend ihre Stimme erschallen, damit jemand herauskäme. Die Göttin, welche drinnen den Ruf der Männer vernahm, stand von ihrer Arbeit auf und öffnete die Pforte. Tretet herein, ihr Fremdlinge, fügte sie schmeichelnd, daß ich euch bewirte. Die Freunde gehorchten und gingen in das Haus; nur der besonnene Eurylochos blieb draußen und entzog sich dem Blicke der Zauberin, als ahnte er das Unheil.«
»Als sie in den Saal eingetreten waren, mußten sie sich ringsum auf schöngepolsterte Stühle setzen. Darauf reichte Kirke ihnen zu essen und mischte süßen Wein, aber in den Wein that sie heimlich jene verderblichen Kräuter. Und als die Armen von dem Gemisch getrunken hatten, siehe, da berührte die Zauberin sie alle mit ihrem Stabe, und im Augenblick waren sie in grunzende, borstige Schweine verwandelt. Eilig trieb Kirke diese nun hinaus und sperrte sie in den Kofen, schüttete ihnen Eicheln, Buchnüsse und rote Kornellen (Corneliuskirschen) vor und schloß lachend hinter ihnen den Stall.«
»Dies alles hatte Eurylochos mit Entsetzen aus seinem Versteck angesehen, und nachdem Kirke wieder in ihr Gemach gegangen war, eilte er mit klopfendem Herzen davon, um mir die böse Nachricht zu überbringen. Schon von ferne erschreckte mich sein bloßer Anblick; auch konnte er lange nicht sprechen, denn die Angst beklemmte sein Herz, und Thränen erstickten seine Stimme. Endlich erzählte er in abgebrochenen Worten das Schicksal der Freunde.«
»Ich sprang sogleich auf, hängte mein ehernes Schwert um die Schulter und warf den Bogen darüber. Führe mich den nämlichen Weg, rief ich hastig; ich will die Unglücklichen rächen, wenn ich sie nicht retten kann!«
»Er fiel mir zu Füßen und bat mich weinend, doch nicht mich selber noch aufzuopfern. Laß uns eilig fliehen von der verwünschten Insel, schrie er, damit wenigstens wir dem bösen Schicksale entrinnen!«
»Nun, so bleibe du ruhig zurück, antwortete ich höhnisch, und iß und trink dich satt hier am Gestade. Mich treibt Pflicht und Neigung. Ich werde den Weg schon allein finden.«
»Mit diesen Worten eilte ich von dannen und fand mich glücklich durch den Wald, bis ich im fernen Thale die Wohnung der Kirke liegen sah. Siehe, da kam mir ein blühender Jüngling entgegen; Hermes war es, ich erkannte ihn sogleich an seinem Stabe und dem stattlichen, jugendlichen Ansehen.«
»Freund, redete er mich an und faßte vertraulich meine Hand, was irrst du einsam durch dies wilde Waldgebirge, ganz unbekannt mit der Gegend? Weißt du auch, was dir bevorsteht? Deine Freunde liegen als Schweine in Kirkes Stalle eingeschlossen. Oder willst du sie etwa befreien? Armer Mann, das möchte dir kaum gelingen! Ich fürchte, sie wird auch dich zu den andern sperren, und du kehrst schwerlich zurück.«
»Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, und sah den Götterjüngling ratlos an.«
»Höre«, fuhr er fort, »ich will dir wohl und vermag dir zu helfen. Laß dich daher vor Kirkes Ränken warnen. Zuerst, wenn du hinkommst, wird sie dir ein süßes Weinmus mit jenem Gift einmengen, das jeden, der es genießt, ihrem Zauber unterwirft. Aber nimm hier die Gegenmittel. Mische sie heimlich hinzu, ehe du von der Speise issest, dann können dir ihre Kräuter nicht schaden. Hast du nun das Mus verzehrt, so wird sie auch dich in eitlem Wahne mit ihrem Zauberstabe berühren, um die Verwandlung zu vollenden. Aber diesen Augenblick nimm wahr sie ganz zu bändigen; spring mit gezücktem Schwert auf sie los, als wolltest du sie durchbohren, dann wirst du sie bittend zu deinen Füßen sehen. Was sie da bittet, schlag ihr nicht ab, aber laß dir mit einem hohen Eide bei den seligen Göttern schwören, daß sie ferner keine Tücke an dir üben wolle. Dann wird sie besänftigt sein, und allmählich im trauten Gespräche erlangst du auch wohl von ihr die Erlösung der unglücklichen Freunde.«
»Mit diesen Worten gab mir der Gott die heilsame Pflanze, die er aus dem Boden riß, und erklärte mir ihre Kraft und Beschaffenheit. Darauf eilte er zurück zum hohen Olympos. Ich sah ihm dankbar nach, verwahrte sein Kraut sorgfältig und prägte mir seinen Rat tief ins Herz. Ganz in Gedanken verloren fand ich mich an Kirkes Wohnung, ehe ich's dachte, und vernahm gleichfalls den himmlischen Gesang. Ich rief und sogleich öffnete mir die Göttin. Ich mußte mich auf einen schönen Sessel setzen, und bald war sie mit dem Weinmus da, wovon mir Hermes erzählt hatte. Aber als sie den Rücken wandte, mischte ich schnell meine Kräutchen darunter und aß nun ohne Furcht. Ich sah schon die Schadenfreude über meine Eßlust in ihren Mienen glänzen; aber da ich wußte, was sie nicht wußte, so lachte ich im Herzen.«
»Auf einmal senkte sie die Spitze ihres Zauberstabes auf mein Haupt und sprach: Wandre nun auch in den Kofen, mein Tierchen, wo deine Freunde sind! In demselben Augenblicke schob ich meinen Stuhl zurück, sprang hinter dem Tische hervor und mit gezogenem Schwerte rannte ich auf die Falsche los. Erstaunen und Schrecken ergriff sie bei der unerwarteten Wendung; sie warf sich zu Boden und umfaßte meine Kniee.« »Wer bist du, Mann? rief sie bewegt, und aus welchem Lande kommst du? Du bist der erste, an dem mein Zauber bricht; kein sterblicher Mensch hat bis jetzt seiner Stärke widerstanden. Ha! solltest du vielleicht Odysseus sein, von dem mir einmal Hermes geweissagt hat, er werde auf seiner langen Irrfahrt von Troja her bei mir einkehren und meine Künste zu Schanden machen? – Aber weg jetzt mit der grimmigen Miene! Stecke dein Schwert ein; alle Feindschaft schwinde zwischen uns. Setze dich vielmehr hier in Frieden zu mir, damit wir Vertrauen zu einander gewinnen.«
»O Göttin«, erwiderte ich, »wie könnte ich Vertrauen zu dir fassen, da du mich meiner lieben Freunde beraubt hast und ich nicht weiß, was du gegen mich noch beabsichtigst. Soll ich dir trauen, so gelobe mir mit dem großen Schwure der Götter, daß du keine Tücke mehr an mir üben willst, ich mag schlafen oder wachen.«
»Sie schwur mir auf der Stelle, wie ich es verlangte, und beruhigte dadurch mein Herz. Und nun zog sie mich sanft auf ihren Ruhesitz und liebkosete mich, wie ich's' lange nicht mehr gewohnt war. Mägde, schöngegürtete Töchter der Fluß- und Waldgötter, rüsteten unterdessen ein köstliches Mahl, und eine setzte Wasser in einem großen kupfernen Kessel über das Feuer, um mir in der Wanne ein laues Bad zu bereiten. Als das geschehen war, lud sie mich zum Bade ein, goß mir selber das Wasser über Haupt und Schultern und kleidete mich in prächtige Gewänder. Darauf mußte ich mich an die schöngeglättete Tafel setzen, welche mit leckeren Speisen besetzt war. Aber ich streckte keine Hand danach aus, sondern stützte bekümmert mein Haupt und versank in tiefe Traurigkeit. Kirke selbst ward traurig und nötigte mich oft mit schmeichelnden Worten, aber vergebens.«
»Wie könnte ich hier des Mahles fröhlich genießen, o Göttin«, seufzte ich, »hier in demselben Hause, in dem meine Unglücksgefährten gefangen wimmern! Ehe ich sie nicht von dem schrecklichen Banne befreit weiß, wirst du umsonst dich bemühen mit deinen Liebkosungen und Gaben mich zu erheitern.«
»Die Göttin ward gerührt. Sie ging hinaus in den Kosen, ließ die Schweine heraus und bestrich ein jedes mit einer heilenden Salbe, die sie mitgenommen hatte. Und welche Freude! Die Tiere richteten sich auf, das borstige Fell und die langen Rüssel verschwanden, und meine lieben Landsleute standen jünger und schöner vor mir, als sie vorher gewesen waren. Sie jauchzten laut auf und sprangen bald auf mich, bald auf ihre Befreierin zu, die sie nun sämtlich, und diesmal ohne weitere Arglist, bewirtete.«
»Höre, Odysseus«, sagte Kirke darauf zu mir, »bleibe noch eine Zeitlang bei mir und ruhe erst recht aus von deinen vielen Mühseligkeiten, ehe du wieder neue auf dich nimmst. Gehe hin und ziehe dein Schiff herauf ans trockene Ufer, verbirg dein Gerät und die Güter im Gebüsch, damit dir's nicht gestohlen werde, und dann komm mit deinen übrigen Leuten wieder hierher. Ich will sie alle beherbergen, und es soll ihnen an nichts mangeln.«
»Ich stutzte einen Augenblick: allein da ich das eidliche Versprechen der Göttin hatte, durfte ich keine Bosheit fürchten. Ich machte mich also sogleich auf den Weg und langte bei den lieben Gefährten an, die sich von Herzen freuten, als ich wohlbehalten und mit heiler Haut wiederkehrte. Sie kamen mir entgegengelaufen, wie Füllen ihren Müttern entgegenspringen, umarmten mich froh und beteuerten mir, der Anblick des Vaterlandes hätte sie nicht mehr entzücken können, als daß sie mich gerettet sähen und wieder hätten. Ich erzählte ihnen darauf von den glücklich entzauberten Freunden, und wie das alles gekommen war, und ihre Freude wuchs mit jedem Worte. Ich befahl ihnen das Schiff ans Land zu ziehen und die Geräte zu verbergen, und dann hieß ich sie alle mit mir gehen, wo Ruhe und herrliche Mahlzeiten ihrer warteten.«
»Siehe da erhob sich auf einmal der überkluge Eurylochos, dem die Furcht noch in allen Gliedern lag, und mahnte in langer Rede die Gefährten, doch ja nicht zu der Zauberin zu gehen; es würde ihr sicheres Verderben sein. Odysseus besäße immer mehr Vorwitz als Klugheit, und wenn ich damals die Gefährten nicht in des Kyklopen Höhle eingeladen hätte, so lebten die armen Zerschmetterten noch diesen Tag. Er rate also, man solle lieber ihm folgen und mich allein gehen lassen, wohin ich wolle.«
»Blutrot ward ich vor Zorn, als ich ihn so reden hörte. Durch und durch hätte ich ihn mit dem Schwerte gehauen – denn ich hatte es schon zum Streiche gefaßt –, wenn nicht alle andern mir in den Arm gefallen wären.« »Laß ihn doch laufen«, sagten sie, »wir folgen ihm doch nicht, wir gehen alle mit dir.«
»So führte ich sie denn sämtlich zu Kirkes Wohnung, und selbst Eurylochos schlich von weitem nach. Wie freuten sie sich, als sie hier im weiten Saale die Brüder alle gebadet und mit stattlichen Kleidern angethan beim fröhlichen Schmause sitzen sahen! Auch jene sprangen laut jauchzend auf, sie weinten einer an des andern Halse, und Kirke selber ward von dem Anblick gerührt. Jetzt wurden auch die Neuangekommenen gebadet und gespeist, und Kirke, die uns alle so heiter sah, sprach liebreich zu uns: »Freuet euch so lange bei mir, ihr Lieben, bis ihr all eurer Trübsal vergesset und der alte Mut euch wiederkehrt wie damals, als ihr zuerst euer Vaterland verließet.«
»Wir nahmen das dankbar an, denn es gefiel uns über die Maßen. Ich mußte immer um Kirke sein und kam nie von ihrer Seite. So brachten wir ein ganzes Jahr auf der verführerischen Insel zu und lebten alle Tage herrlich und in Freuden. Endlich aber regte sich doch in uns allen wieder die Sehnsucht nach dem lieben Vaterlande, und meine Gefährten drangen in mich, so oft sie meiner allein habhaft werden konnten, ich solle mich doch loszureißen suchen von der Kirke und sie um unsere Entsendung bitten.«
»Ich faßte ein Herz und offenbarte ihr unsere Wünsche eines Abends, ehe wir einschliefen. Ich umfing ihre Kniee und flehte sie um freundliche Entlassung an. Sie antwortete mir gütig, sie wolle mich nicht aufhalten gegen meine Neigung, doch müsse ich zuvor erst einen Befehl von ihr ausrichten, ehe ich den geraden Weg nach meinem Vaterlands einschlagen könne. Ich versprach alles und hörte mit Entsetzen folgenden Auftrag:
»In das Reich der Unterwelt will ich dich senden, den Geist des thebanischen Sehers Teiresias zu befragen, dem allein unter allen Schatten Persephone, die Königin des Hades, das köstliche Vorrecht verlieh mit wachen Sinnen wie ein Lebender auch dort noch zu wandeln, indes die andern Seelen nur schwebende Schatten sind.«
»Ich rang die Hände und jammerte. Weinend saß ich neben der Göttin und wünschte mir den Tod; das war ja die schwerste unter allen Prüfungen, die ich zu bestehen hatte. Jedoch beruhigte sie mich. Aber, rief ich, wer wird mir den Weg dahin weisen? Nimmermehr stieg ja ein lebender Mensch zum Hades hinab, nimmermehr kehrte von dort ein Lebender wieder zum Lichte.«
»Sorge nicht um dein Leben noch um einen Führer«, fuhr sie fort, »sondern spanne ruhig die Segel aus, setze dich mit deinen Gefährten ins Schiff und laß dich getrost von dem Nordwinde treiben, der jetzt eben wehet. So wirst du im fernen Westen an das Gestade des erdumfassenden Stromes Okeanos kommen, und da wird sich dir bald die Kluft zeigen, die zur Unterwelt hinabführt. Dort steig hinunter und nimm zum Opfer mit, was ich dir sagen werde. Hast du nämlich das weite Thal erreicht, durch welches die furchtbaren Flüsse Styx, Kokytos und Pyriphlegethon sich winden, dann grabe eine Grube in die Erde, eine Elle lang und breit, und gieß hinein Milch, Honig, Wein und Wasser zum Opfer für die Toten. Bestreue dies alles mit weißem Mehle, flehe auch die unterirdischen Götter an und gelobe ihnen bei deiner Zurückkunft nach Ithaka ein tadelloses Rind, und dem Teiresias noch besonders einen schwarzen, stattlichen Widder. Dann nimm zwei Schafe, ein männliches und ein weibliches, opfere sie, dein Gesicht nach dem Strome hinwendend, und laß ihr Blut in die Grube fließen; die Leiber aber sollen die Gefährten seitwärts abhäuten und verbrennen. Dann werden scharenweise aus der Ferne die Schatten der Toten nahen, begierig von dem Blute zu trinken; du aber wehre es ihnen mit gezücktem Schwerte, daß keiner trinke, bevor du den greisen Teiresias gesprochen hast. Bald wird auch dieser kommen und die Schicksale deiner Heimfahrt dir verkünden.«
»Unter diesen Gesprächen war die Morgenröte angebrochen. Ich stand traurig auf, warf Gewand und Mantel über, und auch Kirke hüllte sich in das glänzende, silberweiße Kleid, band den schönen Gürtel um und befestigte den feinen Schleier auf dem Haupte, um uns zu dem Schiffe zu begleiten. Ich durchlief das Haus, die Gefährten zu wecken und ihnen die nahe Abfahrt zu melden.«
»Noch sollte ich einen Verlust erleiden in dem Hause, worin es uns allen so wohl ergangen war. Elpenor, der jüngste von meinen Gefährten, hatte sich den Tag zuvor im Weine ein wenig übernommen, und um sich eine kühlere Lagerstätte zu suchen, war er auf das flache Dach des Hauses gestiegen. Bei den alten Griechen und Römern kannte man nicht jene spitz zugegipfelten Ziegeldächer, welche wir auf unsere Wohnungen stülpen. Meist waren sie platt, wie noch jetzt im Morgenlande und in den Ländern Südeuropas, so daß der Anblick einer solchen Ortschaft bei weitem etwas Freundlicheres hatte als die verdüsterten Giebelhäuser unsrer alten Städte. Auf diesem Altan des Daches (Söller nennt ihn die Bibel) versammelte man sich gern, sei's zur Rast, sei's zur Arbeit oder zur Zwiesprach in der Kühle des Abends, wo dann oft eine schöne Fernsicht sich öffnete und wohl auch von einem Dach zum andern verbindende Gänge führten. Jetzt wird der bezeichnete Raum zuweilen in einen Garten verwandelt, und auch diese Blumen- und Fruchtkrone gewährt eine heitere Zierde.
Als er nun jetzt am Morgen das Getöse der unten herumschwärmenden Gefährten vernahm, erhob er sich noch taumelnd und mit halbgeschlossenen Augen, aber seines luftigen Lagers vergessend stürzte er von der Höhe des Söllers herab und brach das Genick. Er war immer ein schwacher Mensch gewesen und gegen den Feind nicht eben tapfer.«
»Wir andern wanderten darauf mit schwerem Herzen nach dem Schiffe. Hier fanden wir schon die zwei Opferschafe angebunden, und auch für Mehl und Wein und Honig hatte Kirke freundlich gesorgt. Wir zogen das Schiff ins Meer, richteten den Mast auf und stiegen traurig ein. Ein günstiger Wind, den uns die Göttin nachsandte, führte uns in gerader Richtung den Enden der Erde und dem Okeanos entgegen.«