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»Ich hatte einst«, sprach der Rabe – so erzählte der weise Ratgeber des Rabenköniges – zu den aufhorchend um ihn versammelten Vögeln, »einen guten Freund, auch einen Vogel; sein Name gehört nicht zur Sache. Derselbe hatte die Gewohnheit, wenn er sein Nest verließ, das in der Nachbarschaft des meinen in einer Felskluft sich befand, oft sehr lange wegzubleiben, so daß ich manchesmal glaubte, er sei in der Fremde verunglückt oder gestorben oder gefangen oder habe sich anderswo häuslich niedergelassen. Da geschah es, daß ein Hase jene Felskluft fand und in ihr das weiche warme Vogelnest und sich hineinbettete. Ich hielt nicht für weise, mich in fremde Angelegenheiten zu mischen, und gedachte bei mir, weshalb solltest du dem Hasen die Wohnung wehren, da doch vielleicht der Vogel nicht wiederkehrt? Auf einmal vernahm ich ein Gezänk unter mir, denn der Baum, welcher mein Nest trug, stand dicht neben dem Felsen. Mein Nachbar, der Vogel, war wieder da, saß außen vor dem Felsloche und kreischte: ›Das ist mein Nest! Packe dich gleich heraus!‹ Drinnen aber saß der Hase und rief: ›Ich bin im Besitze dieser Wohnung und schon eine geraume Zeit. Da könnte jeder kommen, dem sie anstünde, und könnte sagen: Ziehe aus!‹
›Du bist ein ehrvergessener, schlechter Hase!‹ schrie der Vogel. ›Ein Räuber bist du! Das Nest ist mein, und du wirst es räumen!‹
›Nein – ich werde es nicht räumen!‹ erwiderte der Hase. ›Schimpfe und schwätze du, soviel du willst! Glaubst du, eine gerechte Sache zu haben, so verklage mich! Vor dem Richter will ich dir Rede stehen, hier aber nicht.‹
Hierauf verwahrte der Hase seine Türe und zog sich in das Innere der Felskluft zurück.
Eine Zeit darauf kam der Vogel wieder und sagte zum Hasen: ›Ich weiß einen frommen, redlichen Alten, der soll Recht sprechen zwischen dir und mir! Folge mir zu ihm.‹ – ›Wer ist es? Wie heißt er?‹ fragte der Hase. ›Ich habe ihn noch nicht gesprochen‹, antwortete der Vogel. ›Er lebt noch nicht lange in dieser Gegend, er ist ein frommer Einsiedler, welcher den ganzen Tag fastet und betet und voll ehrbaren Wesens sich zeigt. Er soll früher ein Maushund gewesen sein, hat sich aber längst der Katzennatur abgetan und aller Üppigkeit der Welt, allen schnöden Mäusefraßes. Er vergießt kein Blut, nährt sich von Wurzeln, Gras und Kräutern, sein Getränk ist nur klares Wasser. Er wird ganz gewiß unparteiisch über uns Urteil sprechen.‹
›Eine Katze? Ein alter Maushund?‹ fragte mißtrauisch der Hase. ›Dem traue ich nicht sonderlich. Das Sprichwort sagt: Die Katze läßt das Mausen nicht.‹
Aber der Vogel hörte nicht auf, in den Hasen zu dringen, bis dieser mit ihm ging. Ich folgte von ferne nach, zu sehen, wie das ablaufen werde. Die Katze, eigentlich ein großer wilder Kater, saß, wie ich von weitem sah, vor ihrer Wohnung und sonnte sich, dehnte sich behaglich aus, beleckte sich die Pfoten und strich den Bart, plötzlich, wie sie den Vogel und den Hasen kommen sah, huschte sie in ihr Gemach, und als die beiden Gefährten zu ihr eintraten, fanden sie dieselbe in ein härenes Büßergewand gehüllt, in betender Stellung auf den Knien liegen. Da gewann der Hase Zutrauen und freute sich, einen so heiligen Mann kennenzulernen, und nun entschuldigten beide um die Wette die Störung in der Andacht und baten, ihrem Anliegen ein geneigtes Ohr zu leihen.
›Liebe Freunde‹, sprach der Maushund mit leiser und heiserer Stimme, indem er die Augen frömmelnd verdrehte, ›ich bin alt, meine Augen sind trübe und dunkel, um mein Gehör stehet es sehr übel, gehet nahe herzu und redet recht laut, daß ich ja alles richtig vernehme.‹
Nun erzählten Vogel und Hase, wie sie miteinander ob des von einem verlassenen, vom andern in Besitz genommenen Nestes in Streit und Hader gekommen und sich dahin vereinigt, sich seinem unparteiischen Urteilsspruche zu unterwerfen. Als sie beiderseits schwiegen, sprach der wilde Maushund wieder ganz heiser: ›Hab euch wohl verstanden, liebe Kinder, wohl verstanden. Ich will euch gut beraten und euch weisen die Wege der Gerechtigkeit. Oh, daß mich der Himmel erleuchte, ein rechtes und richtiges Urteil in dieser eurer so überaus wichtigen Sache zu fällen und in diesem schwierigen Falle die Wahrheit zu finden! Denn besser ist es, eine Sache geht verloren durch die Beleuchtung mit der Fackel der Wahrheit, als daß sie durch Lug und Trug und Unwahrheit fälschlich gewonnen werde. Ach – ach! Was haben wir denn hienieden? Keine bleibende Stätte! Nur das eine nehmen wir mit hinüber in die zukünftige Welt, die Werke, die wir vollbracht haben zu unserer Seelen Heil oder zur Verdammnis. Gönnte doch ein jeglicher seinem Nächsten hienieden Gutes! Tretet getrost näher, liebe Kinder, und ruhet euch aus, derweil ich im Gebet um Erleuchtung in eurer Sache flehe.‹
Hase und Vogel vertrauten diesen heuchlerischen Worten des falschen, heimtückischen, wilden Katers, ich aber, der ich nahe geflogen war und jedes Wort vernommen hatte, hörte nur noch, wie die Katze ihre Türe zuwarf und wie der Vogel drinnen jämmerlich schrie. Das ungetreue Tier hatte Vogel und Hasen erwürgt, verspeiste beide und bezog dann jene verlassene Wohnung, welche besser gelegen und eingerichtet war als die armselige des Maushundes, worauf ich alsbald von dort auswanderte.
Sehet hier ein Beispiel, wie blindes Vertrauen, das man auf unbekannte Leute setzt, die sich, gleich den Adlern, uns durch ihre Arglist und Bosheit nähern, sich bestraft. Der Adler ist unter den Vögeln gerade das, was der Wolf unter den vierfüßigen Tieren. Und ich bleibe dabei und wiederhole es euch dringend und warnend, ja warnend: wählt nimmer den Adler zum König!«
»Mit erhobener Stimme«, fuhr der alte Geheimrat Rabe dem Könige, seinem Herrn, zu erzählen fort: »endete der gewandte Volksredner seinen Vortrag, und was war die Folge? Kein Vogel wollte nun den Adler zum Könige haben, es wurde nichts aus der ganzen Königswahl, die Rednergabe des Raben feierte einen glänzenden Sieg, wenig fehlte, so hätte man ihn zum Könige ausgerufen.«
»Und was sagte der Adler dazu?« fragte der König.
»Das soll mein gnädigster König und Herr sogleich erfahren«, erwiderte der Geheimrat. »Der Adler sprach zum Raben: ›Sprich Rabe, was habe ich dir jemals zuleide getan? Aus welchem Grunde wälzest du so viele Schmach auf mich? Nie habe ich etwas wider dich verschuldet, und du mit deinen giftigen und verleumderischen Worten raubst mir heute eine herrliche Krone, die ich schon nahe über meinem Haupte schweben fühlte! Aber bei aller Wahrheit schwöre ich dir heilig und teuer, du Lästerredner: ein Baum, in den ein Mensch mit der Axt haut, wächst wieder zusammen, und eine Schwertwunde durch Fleisch und Bein mag wieder heilen. Aber die Wunden, welche die Zunge schlägt, die heilen nicht, und ihre Schande gewinnt kein Ende. Deine Worte sind mir ein glühendes Schwert, das mir immerdar im Fleische wütet. Feuer mag durch Wasser gelöscht werden und der Brand des Haders durch Schweigen; der Schlangen Giftbiß heilt durch Theriak und die Wunde der Traurigkeit durch Hoffnung. Aber das Feuer der Feindschaft, in das die Zunge Öl gießt, das brennt sonder Ende. Heute hast du einen Dornbusch gepflanzt zwischen dein Geschlecht und mein Geschlecht, der soll dauern und grünen von Welt zu Welt, bei unserm und unserer Kinder und spätesten Enkel Leben, und soll euch die bitterste Frucht des Hasses tragen! Das sei dir zugeschworen bei Jovis Blitzen!‹
Als die Vögel die Zornworte des Adlers vernahmen, erschraken sie, hoben ihre Schwingen und flogen davon nach allen vier Winden, und der Adler flog auch davon, und keiner sagte weiter ein Wort, und nur der Rabe saß einsam und verlassen auf dem Steine, der ihm als Rednerkanzel gedient hatte, und wurde sehr nachdenklich und sprach zu sich selber: Nun habe ich auch geredet. Weiser wäre gewesen, wenn ich geschwiegen hätte. Die alten Weisen sagten: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Jetzt habe ich durch meine Warnung mir und meinem Geschlechte der Aaren ewigen Haß heraufbeschworen. Der Adler hat mich mit Machtworten niedergeschmettert, und keiner der andern Vögel hat auch nur den Schnabel aufgetan, das Wort für mich zu nehmen, trotz ihres vorherigen tollen Zujauchzens. Sie waren klug, sie haben das Gold des Schweigens gefunden; sie haben nicht Neigung gehabt, ihre Zungen zu verbrennen, wie ich getan, ich alter Narr und alberner Schwätzer. Jene gedachten der Zukunft, ich hatte nur die Gegenwart im Auge. Stütze sich doch kein weiser Mann auf seine Weisheit und kein Starker auf seine Stärke und belade sich nicht, um andern zu nützen, mit Feindschaft, sonst ist er der Tor, der Gift genießt, um hernach dessen Wirkungen mit Theriak zu hintertreiben; solches Tun kann leicht fehlschlagen. Für den unweisesten und allerdümmsten aller Vögel muß ich mich von heute an und immerdar selbst halten. Konnte ich nicht dessen eingedenk sein, was die alten Weisen sagten: das ist der schädlichste Verlust, den sich einer durch Worte zuzieht – bevor ich mit meinem dummen Schnabel die ewige Feindschaft der Adler gegen mein Geschlecht entzündete!
So klagte der Rabe und nahm sich seine unweise Rede dermaßen zu Herzen, daß er bald darauf erkrankte und starb.
»Siehe, mein König«, endete der Geheimrat seine Mitteilung, »das ist die Ursache des Adlerhasses gegen uns.«
»O wehe!« seufzte der König. »Wollte der Himmel, daß jener unweise Rabe nie aus dem Ei gekrochen wäre, statt uns in diese Not zu bringen. Jetzt werden uns noch die Zähne von den sauren Träublein stumpf, die unsere Väter gegessen haben. Aber nun rede weiter, was soll es werden, was sollen wir tun?«