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In einem weiten Walde war des Wildes viel und stand darin ein großer Baum mit vielen Ästen, auf dem hatte ein Rabe sein Nest. Da sah er zu einer Zeit den Vogelsteller kommen und ein Garn unter den Baum spannen, erschrak und bedachte sich und dachte: Spannt dieser Weidmann sein Jagdzeug deinetwegen oder wegen andrer Tiere? Das wollen wir doch sehen! Indem so streute der Vogelsteller Samen auf die Erde, richtete sein Garn und stellte sich auf die Lauer. Bald darauf kam eine Taube mit einer ganzen Schar andrer Tauben, deren Führerin sie war und da sie den Samen sahen und des Garns nicht acht hatten, so fielen sie darauf und das Netz schlug zusammen und bedeckte sie alle. Des freute sich der Vogler und die Tauben flatterten unruhig hin und her. Da sprach die Taube, welche die Führerin war, zu den andern Tauben: »Verlasse sich keine auf sich allein und habe keine sich selbst lieber als die andern, sondern lasset uns alle zugleich aufschwingen, vielleicht, daß wir das Garn mit in die Höhe nehmen, so erledigt eine jegliche sich selbst und die andern mit ihr.« Diesem Rate folgten die Tauben, flogen zugleich auf und hoben das Garn mit in die Lüfte. Der Vogelsteller hatte das Nachsehen und das Nachlaufen, um zu gewahren, wo sein Netz wieder herab zur Erde fallen werde; der Rabe aber dachte bei sich: Du willst doch auch nachfolgen und sehen, was aus diesem Wunder werden will.
Als die kluge Führerin der Tauben sah, dass der Jäger ihrem Fluge nachlief, sprach sie zu ihren Gefährtinnen: »Sehet, der Weidmann folgt uns nach; beharren wir auf der Richtung über dem Wege, so bleiben wir ihm im Gesicht und werden ihm nicht entgehen, fliegen wir aber über Berge und Täler, so vermag er uns nicht im Auge zu behalten und muß von seiner Verfolgung abstehen, da er daran verzweifeln wird, uns wiederzufinden. Nicht weit von hier ist eine Schlucht, da wohnt eine Maus, meine Freundin, ich weiß, daß, wenn wir zu ihr kommen, sie uns das Netz zernagt und uns erlöst.«
Die Tauben folgten dem Rat ihrer Führerin und kamen dem Vogler aus dem Gesicht. Der Rabe aber flog langsam hinter ihnen her, um zu sehen, was aus dieser Geschichte werden würde und auf welche Weise sich wohl die Tauben von dem Netz erledigen würden, und ob er nicht lernen werde, in eigener Gefahr ihr Rettungsmittel zu gebrauchen.
Indessen erreichten die Tauben jene Schlucht, wo das Mäuschen wohnte, ließen sich nieder und sahen, daß die Maus wohl hundert Löcher und Aus- und Eingänge zu ihrer unterirdischen Wohnung hatte, um an vielen Enden bei drohender Gefahr sich verbergen zu können. Die Maus hieß Sambar, und die kluge Taube rief nun der Freundin: »Sambar, komm heraus!«
Da rief das Mäuslein inwendig: »Wer bist du?«
Und da rief die Taube: »Ich bin es, die Taube, deine Freundin!«
Und da kam das Mäuslein, guckte aus einem der Löcher vorsichtig und fragte: »O liebe Gesellin, wer hat dich so überstrickt?«
Da sprach die Taube: »O liebe Freundin! Weißt du nicht, daß keiner lebt, dem Gott nicht ein widerwärtiges Verhängnis schickt? Und der Betrügerinnen arglistigste ist die Zeit! Sie streute mir süße Weizenkörner und verbarg meinen Augen das trugvolle Netz, so daß ich mit meinen Freundinnen hineinfiel. Niemand verwahret sich der Schickung, die von oben kommt, ja Mond und Sonne leiden auch Verfinsterung, und aus des Sees grundloser Tiefe lockt der Menschen Trug den Fisch, wie er den Vogel aus der Lüfte Meer herab in seine falschen Schlingen zieht.«
Als die Taube dies mit vieler Beredsamkeit gesprochen, begann die Maus das Netz zu zernagen, und zwar an dem Ende, wo ihre Gespielin, die Taube, lag, diese aber sprach: »Fange an bei den andern, meinen Schwestern, und wenn du sie alle erledigt hast, dann erledige auch mich.«
Aber die Maus folgte ihr nicht, ob sie gleich wiederholt bat, und wie sie noch einmal die Maus darum ansprach, so fragte diese: »Was sagst du mir dies so oft, als ob du nicht auch wünschtest, frei zu sein?«
Darauf antwortete die Taube: »Laß meine Bitte dir nicht mißfallen; diese meine Schwestern haben mir vertraut als ihrer Führerin; sie folgten willig mir und voll Vertrauen, und durch meine Unvorsichtigkeit gerieten sie unter das Netz, darum ist es billig, daß ich auf ihre Erlösung eher denke als auf die meinige, zumal es nur durch ihre gemeinsame Hilfe gelang, auch mich zu erheben samt des Voglers Garn. Auch möchtest du ermüden bei den andern, weißt du aber mich, deine liebste Freundin, noch im Netz, so wirst du mich nicht verlassen.«
Darauf sprach das Mäuslein: »O liebe gute Taube, Taubenherz; viele Ehre macht dir diese Gesinnung und muß die Liebe stärken zwischen dir und deinen Gesellinnen.« Und sie zernagte das Netz allenthalben, und die Tauben flogen frei und fröhlich ihren Weg, die Maus aber schlüpfte wieder in ihr Löchlein.
Das alles hatte der Rabe, der in der Nähe sich auf einem Baum niedergelassen hatte, gesehen und mitangehört, und er hielt hierauf ein Selbstgespräch: »Wer weiß«, sprach er, »ob ich nicht auch in gleiche Lage und Gefahr komme wie diese Tauben. Dann ist es doch gar herrlich, edle Freunde zu haben, die uns aus der Not helfen. Mit dieser Maus möchte mir Freundschaft allewege frommen!«
Und da flog er von seinem Baum und hüpfte zu der Schlucht und rief: »Sambar, komm heraus!«
Und drinnen rief das Mäuselein: »Wer bist du?«
Da sprach er: »Ich bin der Rabe und habe gesehen, was deiner lieben Freundin, der Taube, begegnet ist und wie Gott sie erledigt hat durch deine Treue, deshalb komme ich, auch deine Freundschaft zu suchen.«
Da sprach Sambar, das kluge Mäuslein, ohne daß es hervorkam: »Es kann nicht Freundschaft sein zwischen dir und mir; ein Weiser strebt nur zu erlangen das, was möglich ist, und für unweise gilt, der das Unmögliche erringen will. So führe einer Schiffe übers Land und Karren übers Meer. Wie könnte zwischen uns Gesellschaft sein, da ich dein Fraß bin und der Fresser du?«
Da sprach der Rabe: »Mäuselein, versteh mich wohl und sinn meiner Rede nach. Was frommte mir, fräße ich dich auf, dein Tod! Dein Leben soll mir hilfreich sein und deine Freundschaft so beständig wie Ambra, das lieblich duftet, ob man auch verhüllt ihn trägt.«
Darauf sprach die Maus: »Wisse, Rabe, der Haß der Begierde ist der größte Haß. Löwe und Elefant hassen einander ihrer Stärke halber, das ist ein edler und gleicher Haß des Mutes und des Streites; aber der eingefleischte Haß des Starken gegen den Schwachen, das ist ein unedler und ungleicher Haß; so haßt der Habicht das Rebhuhn, die Katze die Ratte, der Hund den Hasen, und du – mich. Erhitze Wasser am Feuer, daß es gleich dem Feuer dich brennt, es wird darum doch kein Feuer sein, auch nie des Feuers Freund, sondern es wird, in das Feuer geschüttet, dieses dennoch dämpfen. Die Weisen sagen: Wer seinem Feind anhängt, gleicht dem, der eine giftige Schlange in seine Hand nimmt; er weiß nicht, wann sie ihn beißen wird. Der Kluge traut seinem Feinde niemals, sondern er hält sich fern von ihm, sonst geschieht ihm, wie einst dem Manne mit der Schlange geschah.«
Der Rabe fragte: »Wie geschah dem?« Und da erzählte ihm die Maus folgendes Märchen: