Ludwig Bechstein
Rheinsagen
Ludwig Bechstein

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Die Schlangenjungfrau im Heidenloch bei Augst

Zwischen Basel und Rheinfelden liegt ein uralter Ort, der heißt Augst, vom römischen Wort Augusta. Römerkaiser hatten dort ihren Hofhalt und bauten eine schöne Wasserleitung. An dieser ist ein SchlauflochSchlüpfloch und unterirdischer Gang, der sich weit in die Erde hineinzieht. Niemand hat noch dessen Ende gesehen, und er heißt im Volke das Heidenloch.

Da war im Jahre 1520 ein Schneider zu Basel, der hieß Leonhard, der war auch eines Schneiders Sohn und fast ein Simpeleinfältiger Mensch . Er stammelte, statt zu reden, und war zu gar wenigen Dingen zu gebrauchen. Den trieb eines Tages die Neugier, doch zu versuchen, wie weit der hohle Gang eigentlich in die Erde hineingehe. Da nahm er eine Wachskerze, zündete sie an und ging in das Schlaufgewölbe hinein.

Leonhard kam an eine eiserne Pforte, die tat sich vor ihm auf. Und da kam er durch mehr als ein hohes und weites Gewölbe, endlich gar in einen Lustgarten, darinnen standen viele schöne Blumen und Bäume, und in der Mitte des Gartens stand ein wohlerbauter Palast. Alles umher aber war still und menschenleer. Die Türe zu dem stattlichen Lusthaus stand offen; da ging Leonhard hinein und trat in einen Saal. Darin erblickte er eine schöne Jungfrau, die trug auf ihrem Haupt ein goldig Krönlein und hatte fliegende Haare. Aber – o Scheuel und Greuel! – von des Leibes Mitte abwärts war sie eine häßliche Schlange mit langem Ringelschweif. Hinter der Jungfrau stand ein eiserner Kasten, darauf lagen zwei schwarze Hunde, die sahen aus wie Teufel und knurrten wie grimmige Löwen.

Die Jungfrau grüßte Leonhard sittiglich, nahm von ihrem Hals einen Schlüsselbund und sprach: »Siehe, ich bin von königlichem Stamme und Geschlecht, aber durch böse Macht also verwünscht und zur Hälfte in ein greulich Ungetüm verwandelt. Doch kann ich wohl erlöset werden. Wenn ein reiner Junggeselle mich trotz meiner Ungestalt dreimal auf den Mund küsset, dann erlange ich meine vorige Menschengestalt wieder, und mein ganzer Schatz ist sein.« Und da machte sie sich zu dem Kasten, stillete die murrenden Hunde, schloß den mittlern Deckel mit einem ihrer Schlüssel auf und zeigte Leonhard, welch ein großes Gut an Gold und Kleinodien darinnen enthalten sei. Sie nahm auch etliche goldne und silberne Münzen heraus und gab sie Leonhard und blickte ihn seufzend und gar inniglich an.

Leonhard hatte in seinem Leben noch keine Maid geküßt; es ward ihm jetzt warm ums Herz, und er wagte es, der Schlangenjungfrau einen Kuß auf ihren schönen Mund zu geben. Da erglühten ihre Wangen und erfunkelten ihre Augen; ihr Antlitz strahlte vor Freude, und sie lachte vor Lust und Hoffnung der Erlösung. Und da geschah der zweite Kuß, und dabei ringelte sich der Schlangenschweif um ihn. Da schauderte ihn, und er riß sich mit Gewalt los, nahm seine noch brennende Kerze und entwich. Die Jungfrau stieß hinter ihm ein wehklagendes Geschrei aus, das ihm durch Mark und Bein drang, und er kam aus dem Gang und Loch heraus, er wußte gar nicht wie.

Seitdem empfand der Jüngling eine brennende Sehnsucht nach der Schlangenjungfrau. Immerdar trieb es ihn zurück zu ihr, um das Werk der Erlösung zu vollbringen. Aber nun vermocht' er nimmer den Eingang zur Schlangenhöhle wiederzufinden, und es soll auch nach ihm keinem wieder geglückt sein.


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