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Das große Ereignis, daß man den Namenszug erhalten und damit beinahe Garde werden sollte, warf seine Schatten voraus. Gewiß, das Regiment hatte stets das denkbar Beste geleistet, im Kriege hatte es sich bewährt wie nur wenige und in der langen Friedenszeit hatte es verstanden, auf der alten Höhe seines Ruhmes zu bleiben. Bei allen Besichtigungen waren die Vorgesetzten immer des Lobes voll gewesen, man hatte das Regiment den anderen Truppenteilen als leuchtendes Vorbild hingestellt, aber trotz alledem genügte das nun mit einem Male nicht mehr. Wer da der Ehre teilhaftig werden soll, anstatt der Regimentsnummer einen Namenszug auf den Achselklappen zu führen, wer fortan Goldstickereien tragen will, der muß noch viel mehr leisten als bisher, der muß nicht nur mit zur Garde gerechnet werden, der muß auch dasselbe leisten, wie die Elitetruppe selbst.
Vom Generalkommando herab war die Parole gegeben: Seine Exzellenz der kommandierende General hoffe an dem Tag, an dem Seine Hoheit erscheinen würde, um das Regiment gewissermaßen persönlich in Empfang zu nehmen, die Truppe in einem Zustande anzutreffen, der über jedes Lob erhaben sei – nur so könne es sich der hohen Ehre und der seltenen Auszeichnung würdig erweisen.
Die Division und die Brigade hatten dasselbe nur noch mit etwas deutlicheren Worten gesagt, und wenn man jetzt die Divisions- und Brigade-Befehle las, die fast täglich einliefen, dann konnte man leicht in Versuchung kommen, zu glauben, daß das Regiment bis zu dieser Stunde sich in einem gänzlich verwahrlosten Zustande befunden habe und daß es die höchste Zeit sei, dieser Lotterwirtschaft ein Ende zu machen.
Oberst von Eckern schüttelte zwar über diese »vorgesetzten Schreiben«, die auf seinen Schreibtisch im Regimentsbureau niederregneten, verwundert den Kopf, aber die nervöse Unruhe der Exzellenzen steckte ihn schließlich an. Wenn an dem großen Tag, an dem Seine Hoheit erschien, irgend etwas nicht klappte, wenn nicht die geringste Kleinigkeit tadellos war, dann konnte ihm das den Hals kosten.
So schwebte an jenem Tage das Schwert des Damokles noch mehr als sonst an einem ganz dünnen seidenen Faden über seinem Haupte, der brauchte nur zu reißen – und er war eine Leiche. Aber er wollte noch nicht sterben, wenigstens sollte nicht gerade der Ehrentag des Regiments sein Todestag sein.
So übertrug er denn die Wünsche und Winke der Höheren in strenge dienstliche Befehle. Die drakonischen Gesetze, die sich doch auch durch ihre Härte auszeichneten, waren zärtliche Versprechungen und Liebkosungen im Verhältnis zu den Strafen, die vom Regiment aus angedroht wurden, wenn nicht alles bis ins kleinste tadellos funktionieren sollte. Dem Oberst taten seine Offiziere und seine Mannschaften aufrichtig leid, aber es ging nun einmal nicht anders, er mußte Unmögliches verlangen, um wenigstens das Menschenmögliche zu erreichen. War mit Gottes Hilfe der große Tag erst glücklich vorüber, dann wollte er die Zügel schon locker lassen, dann sollten auch die Mannschaften ein paar Tage Ruhe haben, um sich erholen zu können.
Aber vorläufig war an Ruhe noch nicht zu denken. Auf dem Kasernenhof und auch auf dem Exerzierplatz herrschte ein Leben und ein Treiben, als wäre das Vaterland dem Verderben nahe, als sei gerade dieses Regiment bestimmt, es vor dem äußersten zu schützen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend wurde exerziert und marschiert, geschimpft und geflucht, gedroht und geschmeichelt – es war ein Lärm, daß man oft sein eigenes Wort nicht verstand. Und zwischendurch ertönte der dumpfe Ton der kleinen Trommel, der schrille Klang der Piccolo-Flöten, denn in einer Ecke des Hofes marschierten die Krummen und die Unmusikalischen der zwölf Kompagnien, um doch noch den militärischen Rhythmus zu begreifen, der darin besteht, daß man, so oft die Trommel erschallt, den linken Fuß aufsetzt, den linken – um Gotteswillen nicht den rechten!
Und jeden Morgen um 11 Uhr wurde eine Stunde Parademarsch im ganzen Regiment geübt. Dann erschien die Regimentsmusik, dann kam der Herr Oberst mit seinem Adjutanten, dann kamen sie alle, alle, alle – – Wer nur zwei Beine hatte, mußte erscheinen. Jeden Tag dasselbe Spiel, und so gut es auch war, es mußte immer noch besser werden. Noch viel besser! Die Herren Leutnants mußten die zwei Schritt vor der Mitte ihrer Züge noch genauer innehalten, und die Kerls mußten die Beine noch höher heben, die Fußspitzen noch mehr auswärts drehen, den Fuß noch fester aufsetzen. Die Erde mußte dröhnen, wenn sie anmarschiert kamen. Und Seine Hoheit mußte in Verzückung geraten – –
Seine Hoheit – das war das Wort, mit dem man die Mannschaften immer wieder antrieb, das war der Peitschenhieb, mit dem man sie anfeuerte, das Allerletzte herzugeben. In der Instruktionsstunde wurde nichts anderes gelehrt, als daß Seine Hoheit käme. Da mußten die Leute sämtliche Namen ihres neuen Chefs auswendig lernen, den Tag seiner Geburt, den Namen seiner hohen Gemahlin, deren Geburtstag, und die Namen der Kinder Sr. Hoheit. Und wenn ein Mann nicht wußte, ob der kleine Prinz Louis am 20. oder am 22. geboren sei, dann gab es ein Himmelkreuzdonnerwetter nach dem anderen, dann war der Kerl nicht würdig, später den Namenszug zu tragen, dann war er eine Schande für das ganze Regiment und verdiente, gevierteilt und öffentlich ausgestellt zu werden.
Aber sonderbarerweise freuten sich die Kerls trotzdem auf Seine Hoheit! Ihre Eitelkeit wurde von den Unteroffizieren gekitzelt, es wurde ihnen klar gemacht, daß sie dann noch weit mehr als jetzt etwas Besseres wären als die Zivilisten. Vor allen Dingen aber, daß die Mädels sie dann noch mit ganz anderen Augen ansehen würden. Ja, das war's: die Mädel! Denen würden sie dann doppelt und dreifach imponieren, und so manche, die sich jetzt noch sträubte, ihre Ehre zu opfern, oder gar zu energisch den Küchenschrank ihrer Herrin für den Geliebten zu plündern, die würde sich dann schon eines anderen besinnen. Man wurde ja »Garde«! Da brauchte man nur noch die Hand auszustrecken, dann hingen an jedem Finger zehn – –
Wie die Kerls, so freuten sich auch die Mädchen auf die bevorstehende Auszeichnung des Regiments. Wenn die Paare abends im Dunkel der Hausflure Zärtlichkeiten mit einander austauschten, wenn sie zusammen auf den Tanzboden gingen oder durch die Straßen der Stadt bummelten, dann war immer das dritte Wort: »Wenn Ihr nur erst Garde seid« – denn ihren Mädeln redeten die Kerls natürlich ein, daß sie wirklich ganz echte Garde würden – was verstanden die von dem kleinen Unterschied? Aber darüber, was dann werden sollte, wenn dieses große »wenn!« eingetreten war, schwiegen sich die Liebenden aus. Was dann wurde, wußten sie selbst nicht, sie wußten nur, daß dann alles noch viel, viel schöner sein würde, als jetzt, und so stolz jede Bertha, Anna und Paula auch heute schon auf ihren Schatz war – später würden sie dann noch viel stolzer auf ihn sein.
Ein kleiner Kummer mischte sich allerdings schon jetzt in die Freude der Küchen- und Stubenfeen. Die Herren Musketiere ließen ihre Schönen darüber nicht in Zweifel, daß sie als »Gardisten« teurer würden, daß sie so billig wie bisher ihre Zärtlichkeiten, ihre Küsse und Liebesbeteuerungen nicht mehr fortgeben könnten. Alles stieg im Preis – – warum sollte da gerade die Liebe von der Teuerung ausgeschlossen bleiben –? Und dann galt es doch später auch, den Zivilisten gegenüber noch forscher und noch strammer aufzutreten, auch auf die Uniform mußte man mehr Wert legen. Als Soldat kann man ja nichts verdienen, die Einnahmen blieben trotz des Namenszuges auf den Achselklappen dieselben wie bisher: zweiundzwanzig Pfennig den Tag. Die reichten gerade zu des Leibes Notdurft und Nahrung, denn mit dem, was der Staat liefert, kommt man nicht aus. Für den Luxus für die Geliebte bleibt da nichts übrig.
Beim Kommiß muß nun einmal das Mädchen ihren Schatz unterhalten, das war so, das ist so und wird auch so bleiben. Denn selbst in einen aufgeweckten Soldatenschädel ist es nicht hineinzutrichtern, daß es, gelinde gesagt, häßlich ist, als Mann von einem Mädchen Geld anzunehmen. Ein verständnisloses Grinsen ist die einzige Antwort, die man erhält.
Die Schönen der Stadt aber gaben sich garnicht erst die Mühe, sich in dieser Hinsicht aufklären zu wollen. Sie klammerten sich nur noch fester an »seinen« Arm, schmiegten sich nur noch enger an »ihn« und gelobten, alles zu tun, was in ihren Kräften stände, um »ihn« finanziell zu befriedigen: – »aber dann bleibst Du mir auch treu, Fritz –?«
»Wenn Du ordentlich berappst, warum nicht?« fragte Fritz dann gelassen. »Ob ich mit Dir gehe oder mit 'ner anderen, das ist ja schließlich dasselbe, für mich kommt's nur darauf an, daß ich 'was im Portemonnaie drin habe – alles andere ist mir schnuppe.«
Und aufs neue schwur Berta dann, ihr Möglichstes zu tun: »Meine Gnädige ist so gut, die sagt nichts, wenn 'mal 'was in der Küche fehlt, die weiß ja, daß ich Dich lieb habe – da macht sie manchmal beide Augen zu.«
»Die halt Dir man warm – paß man auf, daß sie Dir nicht doch eines Tages kündigt – schon meinetwegen mußt Du dableiben – solche Futterstelle habe ich mir immer gewünscht.«
Und wie der Musketier in den Augen der verschiedenen Küchen- und Stubenfeen, so stieg der Leutnant in den Augen der jungen Mädchen. Die Stadt war immer auf ihr Regiment stolz gewesen, und die Herren Offiziere hatten überall die erste Rolle gespielt. Das würde aber in Zukunft noch ganz anders werden.
Nun stand das Regiment in vieler Hinsicht auf derselben Stufe, wie die Garde selbst: ein regierender Fürst wurde der Chef. Und das warf seinen Glanz und seinen Ruhm auf jeden Einzelnen. Natürlich durfte ein so großes Ereignis wie die bevorstehende Verleihung des Namenszuges an die Truppe nicht vorübergehen, ohne daß die ganze Stadt daran Anteil nahm. Die Bürgerschaft beschloß, dem Offizier-Kasino einen sehr schönen silbernen Tafelaufsatz zu schenken, und die Damen der Stadt einigten sich dahin, einen großen Pokal zu stiften, der bei jedem Liebesmahl die Runde machen sollte, und aus dem nur auf das Wohl der Damen getrunken werden durfte.
Das war nicht nur sinnig und minnig, das war auch sehr klug und egoistisch. Die Damen wollten nicht vergessen werden, die Offiziere sollten bei jeder Gelegenheit an sie denken und sich darüber immer noch klarer werden, daß es der Beruf des Mannes ist, zu heiraten, ebenso wie die Frauen dazu da sind, geheiratet zu werden.
Mehr noch als bisher würde es eine Auszeichnung sein, einen Offizier dieses schönen Regiments, dessen Chef ein regierender Prinz war, zum Mann zu bekommen. Wie leicht war es möglich, daß der hohe Herr einmal wünschen würde, auch die Damen seines Regiments kennen zu lernen – vielleicht kam auch einmal die hohe Gemahlin Sr. Hoheit und hielt einen Empfang ab oder begleitete ihren Gatten auf sein in der Nähe der Garnison gelegenes Jagdschloß und befahl dann die Damen zu sich! Welche Ehre, welche Auszeichnung, dann von beiden Hoheiten mit einer Ansprache beehrt zu werden! Wie groß stand man dann den anderen Damen der Stadt gegenüber! Mochten die auf den Beruf und den Erfolg ihrer Männer auch noch so stolz sein, die hatten keine Hoheit als Chef, die waren nicht an das Hoflager befohlen und von Ihrer Hoheit gefragt worden: »Wie lange sind Sie schon verheiratet? Wieviel Kinder haben Sie? Hat das Jüngste schon alle Zähnchen?«
Ein solches warmes, aufrichtiges Interesse, wie aus diesen Fragen sprach, konnte Ihre Hoheit natürlich nur solchen Damen entgegenbringen, die ihrem Herzen nahestanden. Und in der wahrhaft glücklichen Ehe, in der Seine Hoheit lebte (in Wirklichkeit waren die beiden Ehegatten sich vollständig gleichgültig), war es doch nur natürlich, daß das Regiment Sr. Hoheit auch zugleich das Regiment Ihrer Hoheit war.
Diese bevorstehende Auszeichnung verdrehte nicht nur den Damen des Regiments, sondern auch den jungen Damen der Stadt fast noch mehr den Kopf, als den Herren.
Und ohne daß er selbst etwas davon wußte, war Leutnant von Bernburg jetzt allnächtlich der Traumgott zahlloser junger Mädchen – – er wollte sich ja verloben! Was dann, wenn er schon in den nächsten Wochen seine Wahl traf, noch bevor dem Regiment der Namenszug verliehen wurde! Dann gehörte die glückliche Braut schon am großen Tag mit dazu, wenn Seine Hoheit erschien und sich die Damen vorstellen ließ – und das mußte er doch! – denn bei der Parade, die stattfand, sollte für die Damen des Regiments eine besonders günstig gelegene, kleine Tribüne errichtet werden. Und wenn Hoheit auf diese aufmerksam gemacht wurde, dann mußte er sich doch die Damen vorstellen lassen. Mit Frau von Eckern würde er ja unter allen Umständen ein paar Worte wechseln, und wenn die gewissermaßen an der Spitze ihrer Damen erschien, dann konnte Hoheit die anderen doch nicht einfach stehen lassen und weiter gehen, ohne auch an sie ein paar Worte gerichtet zu haben.
Und das Glück, gerade an dem Tag Braut zu sein, war garnicht auszudenken, denn die jüngste Angehörige der Regimentsdamen würde doch mit besonders huldvollen Worten – sogar mit einem Glückwunsch für die Zukunft bedacht werden! Wer konnte wissen, ob Seine Hoheit sich dann nicht zur ersten Hochzeit in seinem Regiment als Gast ansagte? Nicht wenigstens einen Vertreter schickte? Oder nicht allerwenigstens ein hübsches Geschenk sandte? –
Vielleicht depeschierte er sogar!
Und die Aufregung, wenn bei dem Hochzeitsmahl eine Depesche Sr. Hoheit verlesen werden würde! Das war überhaupt zu schön, allein die Gesichter der anderen – garnicht auszudenken, einfach himmlisch!
Je länger die jungen Mädchen darüber nachdachten – und sie dachten eigentlich den ganzen Tag nichts anderes, umso verworrener und konfuser wurden die Begriffe und die Vorstellungen, die sie sich von ihrer etwaigen Verlobung und dem Besuche des Fürsten machten. Sie wußten schließlich garnicht mehr, was sie sich alles ausmalen sollten. Gar seltsame Gebete wurden in diesen Tagen zum Himmel gesandt – und wenn der liebe Herrgott sie alle erhört hätte, dann hätte Bernburg an dem Tage seiner Verlobung wenigstens fünfundzwanzig Bräute gehabt.
Zu seinem Glück ahnte er nichts von dem Unheil, das er zusammen mit dem bevorstehenden Fürstenbesuch in den Köpfen der jungen Mädchen angerichtet hatte und noch immer anrichtete.
Er selbst hatte nämlich den Gedanken, zu heiraten, ebenso schnell wieder aufgegeben, wie er ihn faßte. Und wie er damals definitiv beschlossen, sich einen Haushalt zu gründen, so wollte er jetzt definitiv ledig bleiben. Diesen Entschluß hatte er nach dem Fest bei Frau von Eckern gefaßt, als er über die Art und Weise nachdachte, in der die jungen Damen um seine Gunst warben. Nicht eine einzige, die ihm irgendwie gezeigt hätte, daß er um seiner selbst willen ihr gefiel. Sie sahen in ihm nur den Mann, wer der war, wie er hieß, war ihnen allen mehr oder weniger gleichgültig, wenn sie durch ihn nur finanziell versorgt würden, eine angenehme Stellung in der Gesellschaft erhielten und sich ihren Freundinnen gegenüber damit brüsten konnten: ich bin verlobt, Du nicht!
Nur eine hatte ihm an dem Abend gefallen: Elsbeth von Rockhausen. Und daß gerade sie es war, die sein Interesse erweckte, bestärkte ihn nur darin, definitiv jeden Heiratsgedanken aufzugeben. Was hatte es für einen Zweck, einer jungen Dame den Hof zu machen, und sich dabei vielleicht selbst leidenschaftlich zu verlieben, wenn sie unter keinen Umständen heiraten wollte! Wie Elsbeth über diesen Punkt dachte, war ja allen bekannt. Aber auch wenn ihr Herz Feuer fing, wenn sie ihm dann doch die Hand reichte – – die Schwiegermutter!
Bernburg schüttelte sich, wenn er nur daran dachte. Die würde seine Ehe genau so zerstören, wie die eigene. Sie würde beständig vermuten: er bliebe seiner Frau nicht treu. Sie würde so lange in Elsbeth hineinreden, daß man keinem Manne trauen dürfe, am allerwenigsten dem eigenen, bis schließlich etwas von ihren Worten in Elsbeth Wurzel fassen würde – und er zu der eifersüchtigen Schwiegermutter auch noch eine eifersüchtige Frau hätte!
Nein, dann lieber ledig bleiben. So war es ja auch sehr schön.
Bernburg lag in seiner hübsch eingerichteten Wohnung in einem bequemen Fauteuil, die Zigarre im Munde, eine Zeitung, in der er gelesen, gleichsam als Decke über sich gebreitet, und ruhte aus von den Anstrengungen des Vormittagsdienstes. Auch heute vormittag war es nach seiner Meinung »einfach toll!« gewesen – immer Parademarsch, eine Stunde nach der anderen. In seinen Ohren klang noch der Schlag der großen Trommel, die Melodie zum Parademarsch im Laufschritt, zu dem die Kerls immer den schönen Text leise vor sich hinsangen:
»Stiefelputzer war mein Vater
am Viktoria-Theater –
meine Mutter wäscht Manschetten
für Off'ziere und ›Kandetten‹.«
Die Worte wollten ihm nicht aus dem Sinn. Und deutlich glaubte er noch das Fluchen der Unteroffiziere und das Schelten der Leutnants zu hören, wenn ein Zug zurückgeschickt wurde, weil der Marsch angeblich wieder einmal hundsmiserabel gewesen war –
Das Schönste am Dienst ist doch das Ende! dachte er, sich behaglich in seinen großen Stuhl zurücklehnend. Aber der Anfang ist ja auch sehr schön, besonders wenn er viel später anfängt, als es beabsichtigt war.
Er blies kunstvoll kleine Ringe in die Luft und schaute ihnen nach.
»Wenn die kleinen Mädchen das sehen könnten, würden sie sagen: ich wäre so verliebt, daß ich nur noch Verlobungsringe rauchte! Ich möchte überhaupt mal wissen, wie es in solchem jungen Mädchen-Schädel eigentlich aussieht! Ob die wirklich gar keinen anderen Gedanken haben, als: Verlobung und Heirat? Sonderbare Geschöpfe, na, was geht's mich an. Nur schön, daß ich keine zu heiraten brauche. So ist es auch sehr hübsch. – Er sah sich in seinen Zimmern um: er hatte schöne, eigene Möbel, überhaupt eine Wohnung, um die er von seinen Kameraden sehr beneidet wurde. Er hatte sogar ein Eßzimmer und eine eigene Wirtschafterin. Des mittags mußte er natürlich als unverheirateter Leutnant im Kasino speisen, aber hin und wieder sagte er einmal ab und aß bei sich.
Er kannte die Bilder an seinen Wänden, die Regale mit seinen Büchern, die Teppiche und Portieren sehr genau. Er sah sie ja schon viele Jahre jeden Tag viele Male, aber er freute sich immer aufs neue über seine Sachen.
Wirklich sehr hübsch bei mir – und so still und behaglich – kein Mensch stört mich hier – es geht auch ohne Frau, die bringt doch nur Unruhe ins Haus, das ist dann ein ewiges Gehen und Kommen von Lieferanten und Händlern, ein beständiger Ärger mit den Dienstboten, ein fortwährendes Klingeln an der Haustür – –
Da klingelte es draußen.
Bernburg ließ sich nicht stören.
Da klingelte es von neuem, lauter, energischer.
»Warum macht denn die Müllerin nicht auf?«
Frau Müller, genannt »die Müllerin«, war die Haushälterin.
Die sitzt 'mal wieder auf ihren Ohren! Und mit lauter Stimme rief er: »Müllerin!«
Für gewöhnlich antwortete sie dann aus der Küche mit ihrer hellen Stimme: »Herr Leutnant?« Aber diesmal blieb es still.
Draußen klingelte es zum dritten Mal.
»Warum kommt sie denn nicht!« schalt er vor sich hin, »ich mach' nicht auf.«
Da klingelte es zum vierten, fünften und sechsten Male.
Mit einem Fluch sprang er nun doch in die Höhe und öffnete die Etagentür: »Zum Donnerwetter, was wollen Sie denn eigentlich?«
Vor ihm stand ein Hausierer: »Brauchen Sie Scheuerlappen oder Fenstertücher – oder 'nen Dielenbohner?«
Bernburg war wütend: »Und deshalb klingeln Sie wie verrückt?«
Der Hausierer sah ihn ganz erstaunt an: »Wie soll ich bei geschlossenen Türen 'was verkaufen? Ich muß doch klingeln, bis man mir aufmacht. Denn ich muß verdienen, die Not ist groß.«
Mit einem neuen Fluch über die Störung wollte er den Mann fortschicken. Aber sein gutes Herz siegte.
»Na, geben Sie her.« Und er kaufte ihm für einen Taler ab.
Aber die Müllerin war nicht zu finden, als er ihr die Sachen abliefern wollte. Auch der Bursche war nicht da, der hatte einen Appell in der Kaserne. So mußte er denn noch verschiedentlich selbst die Etagentür öffnen. Und als die Haushälterin endlich zurückkam, befand er sich in der denkbar schlechtesten Laune: »Das geht nicht, Müllerin! Wenn ich des mittags totmüde vom Dienst komme, dann will ich für mein Geld auch meine Ruhe haben – dazu bin ich nicht da, um jeden Augenblick die Tür aufzumachen. Und wenn der Bursche nicht da ist, müssen Sie hier sein – das verlange ich unter allen Umständen.«
Doch die Müllerin war nicht die Frau, sich etwas sagen zu lassen, ganz einerlei, ob sie Recht hatte oder nicht.
»Ich muß mir meine Zeit auch einteilen, Herr Leutnant. Für mich hat der Tag auch nur vierundzwanzig Stunden – ich habe alle Hände voll zu tun – es soll immer alles pünktlich fertig sein – und alles soll immer da sein – aber ausgehen und einkaufen soll ich natürlich nicht, das soll alles von selbst ins Haus kommen. Und einkaufen muß ich, denn wenn ich den Burschen schicke, der läßt sich alles mögliche anschmieren, und ob er so ehrlich und so gewissenhaft ist wie ich, und den Herrn Leutnant nicht um einen einzigen Pfennig betrügt, das ist doch noch sehr die Frage. Ich kann dem Herrn Leutnant nur sagen: wenn Sie nicht mit mir zufrieden sind, dann nehmen Sie eine andere Wirtschafterin, – oder heiraten Sie. Mir liegt nichts daran, zu bleiben, ich habe auch einst bessere Tage gehabt – und leicht wird es mir nicht, hier alle Arbeit zu tun. Als mein guter Mann noch lebte – –«
Bis hierher hatte Bernburg den Redeschwall seiner Wirtschafterin über sich ergehen lassen, ohne sie zu unterbrechen. Mit stiller Duldermiene hatte er alles mit angehört. Jetzt aber zuckte er förmlich zusammen: »Müllerin – tun Sie mir den einzigen Gefallen und lassen Sie Ihren seligen Mann in Frieden da unten schlafen – der kommt ja garnicht zur Ruhe, wenn Sie ihn wie ein Gespenst jeden Augenblick herbeirufen!«
»Wenn mein Mann das nicht 'mal um mich verdient hat, daß ich noch manchmal von ihm spreche –«
Sie hielt die weiße Schürze vors Gesicht und wollte anfangen zu weinen.
Er wurde nervös: »Gewiß hat er das um Sie verdient. Nach allem, was Sie mir erzählten, ist er ein sehr guter Mann gewesen. Aber ich kannte ihn doch nicht. Sprechen Sie mit Ihren Freundinnen so viel über ihn, wie Sie wollen, aber nicht mit mir, Müllerin – ich kann es nicht mehr ertragen. Das ist keine Unfreundlichkeit von mir, aber ich habe doch noch andere Dinge im Kopf. So, nun weinen Sie nicht mehr, das ist schade um Ihre schönen Augen. Hier, nehmen Sie, bitte, die Sachen mit hinaus, die habe ich vorhin einem Händler an der Tür abgekauft.«
Sie hatte ihre Tränen schnell getrocknet und schlug nun entsetzt die Hände zusammen: »So sind der Herr Leutnant nun! Mit mir wird um jeden Groschen gehandelt, da heißt es: wir brauchen zu viel Kohlen, zu viel Butter – die Gasrechnung ist zu hoch! Aber wenn ich eben 'mal den Rücken kehre, dann wird das Geld mit vollen Händen zur Tür hinausgeworfen, und hinterher heißt es: sparen, Müllerin, sparen, die Zeiten werden immer teurer!«
»Werden sie auch! Aber gehungert haben Sie trotzdem noch nicht bei mir, und werden es auch in Zukunft nicht!«
»Das möchte ich auch nicht. Ich bin so bescheiden, ich veruntreue dem Herrn Leutnant nicht einen Pfennig. Meine Bücher kann ich jede Minute zeigen – da ist alles ganz genau aufgeschrieben, und ich kann dem Herrn Leutnant nur immer wieder sagen: wenn ich dem Herrn Leutnant zu teuer wirtschafte – –«
Er rang die Hände: »Aber Müllerin – habe ich denn das nur mit einer Silbe erwähnt?!«
»Das gerade nicht. Aber ich meinte man nur. Ich kann dem Herrn Leutnant nur immer wieder sagen: wenn der Herr Leutnant nicht mit mir zufrieden sind, kann ich ja gehen. Ich habe einst bessere Tage gehabt, als jetzt, und als mein Mann noch lebte – –«
Er schrie förmlich auf: »Aber Müllerin! – Nun ist er doch tot! Und ich kann ihn doch nicht wieder lebendig machen. Wenn ich es könnte, täte ich's wirklich, glauben Sie mir!«
Sie schluchzte laut auf: »Ich weiß ja, wie gut der Herr Leutnant sind, wenn Sie auch manchmal schelten und fluchen. Aber Sie wissen nicht, wie mein Mann mit mir war – das kann überhaupt niemand wissen. Nie ist ein unfreundliches Wort über seine Lippen gekommen – am letzten Tage unserer Ehe waren wir noch genau so glücklich, wie am ersten, und den sollte ich nicht auch noch heute lieb haben? Den sollte ich je vergessen können? –«
»Das sollen Sie auch garnicht, Müllerin. Denken Sie jede Minute an ihn –«
»Das kann ich doch nicht,« schluchzte sie, »denn wenn ich an ihn denke, muß ich weinen, – und das darf ich auch nicht – ich bin sowieso jetzt nur noch Haut und Knochen – Sie hätten mich 'mal früher sehen sollen, als mein Mann noch lebte – –«
»Müllerin!«
Es war der Aufschrei eines gepeinigten Menschen, der flehentlich um Gnade bittet.
»Ja, ja – ich geh' schon.« Sie nahm die Sachen, die er vorhin gekauft hatte, und wandte sich zur Tür: »Ich geh' schon. Aber so gut der Herr Leutnant auch sind – bitter ist es doch für mich, nie mehr von meinem guten Mann sprechen zu dürfen. Und er war gut, Herr Leutnant, das können Sie mir glauben – der hätte mich nicht so angefahren, wie Sie vorhin, als ich über die Straße gegangen war, um einzukaufen – der hätte sich bei mir bedankt, daß ich alles so schön für ihn besorgte – – ja, ja, eine arme Witwe ohne Mann – habe ich nicht Recht –?«
Endlich war sie draußen. Und mit einem Aufschrei sprang Bernburg in die Höh' und stürmte in seinem Zimmer auf und ab.
»Ich halt's nicht mehr aus! – Ich halte es bei allen Heiligen nicht mehr aus! – Bleibt nur eins: ich muß doch heiraten!«
Plötzlich ertappte er sich dabei, daß er an den Knöpfen seiner Litewka »ja oder nein?« abzählte.
Und das Orakel sagte »ja!«
Und als er zum zweiten Mal abzählte und zufällig wieder mit einem »nein« anfing, kam wieder ein »ja« heraus, und beim dritten Mal ebenso.
Das ist Schicksalsfügung, sagte er sich, das soll so sein. Die Götter wollen dein Glück oder dein Verderben – je nachdem die Ehe ausfällt. Gegen den Willen der unsterblichen Götter sind wir machtlos. Also dann muß geheiratet sein, aber wen denn nur?
Und diese Frage beschäftigte ihn auch noch, als er zwei Stunden später die Kaserne wieder aufsuchte.
»Drum prüfe, wer sich ewig bindet – ob sich der Weg zum Herzen findet –« die Worte wollten ihm unterwegs nicht aus dem Sinn.
Wenn die Götter nun doch einmal beschlossen haben, daß du heiraten sollst, dachte er, dann könnten sie dir auch weiter helfen und dir sagen: die nimm. Wie Jakob damals seine Rahel am Brunnen erblickte und gleich wußte: die ist es, oder keine, so könnten die Götter mir jetzt auch meine zukünftige Frau – wenn auch nicht gerade am Brunnen – so doch wenigstens im Traume oder sonst irgendwo erscheinen lassen.
»Aber Herr Leutnant!«
Er war, den Blick zu Boden gesenkt, ganz in Gedanken dahingegangen. Jetzt fuhr er plötzlich zurück, als er mit jemand zusammenstieß und gleich darauf ein paar Pakete zu Boden fallen hörte.
»Pardon – bitte tausendmal – –« aber die Sprache versagte ihm, als er sich Elsbeth gegenüber sah.
Er war so verwirrt, daß er nicht einmal gleich daran dachte, sich zu bücken und die Pakete aufzuheben.
Noch immer sah er sie fassungslos an – er hatte den Himmel um ein Zeichen gebeten. War es jetzt mehr als ein Zufall, daß er Elsbeth traf?
»Sie sind es, gnädiges Fräulein – woher kommen Sie denn so plötzlich?«
»Und woher kommen Sie? Ich hatte gerade den Himmel angefleht, mir einen Herrn zu schicken, der mir hilft, meine Pakete zu tragen. Man läßt sich in den Geschäften immer alles gleich mitgeben, weil man es sonst doch nicht zur Zeit bekommt, und hinterher bereut man es, daß man sich wie ein Packesel hat beladen lassen.«
»Sie hatten auch –« er wollte fragen: den Himmel gebeten? Aber glücklicherweise verschluckte er wenigstens noch die letzten Worte. »Ich meinte: Sie hatten sich auch alle Ihre Pakete mitgeben lassen?« fing er noch einmal an. Dann bückte er sich endlich, um das, was auf der Erde lag, aufzuheben und ihr wieder einzuhändigen.
»Aber ich kann doch nicht alles tragen,« meinte sie in komischer Verzweiflung, »ich glaube, ich hätte auch dann was fallen lassen, wenn Sie mich nicht angestoßen hätten – woran dachten Sie aber eigentlich so ernsthaft – – Sie sahen sich ja garnicht um.«
»Woran ich dachte – –« er wußte wirklich nicht, was er antworten sollte. »Das kann ich Ihnen im Augenblick wirklich nicht sagen, gnädiges Fräulein … Vielleicht später einmal, wenn – wenn; aber es wird Sie doch nicht interessieren, ich habe nämlich gleich Instruktionsstunde – und da dachte ich darüber nach, ob ich über die Kriegsartikel oder über die Regimentsgeschichte unterrichten soll. Das eine Thema ist noch langweiliger als das andere, und von dem anderen haben die Kerls noch weniger eine Ahnung, als von dem einen. Jawohl, das war es, daran dachte ich –«
Er war froh, diese Ausrede gefunden zu haben und sah sie stolz und selbstbewußt an. Und jetzt fiel ihm erst auf, wie hübsch sie heute aussah. Gerne hätte er ihr ein Kompliment gemacht, aber er wußte, sie liebte das nicht. Aber seine Augen mußten ihr doch seine Gedanken verraten haben, denn sie wurde ein klein wenig verlegen und senkte den Blick, während zugleich auch das leise Lächeln von ihren Zügen schwand, mit dem sie seiner Ausrede zugehört hatte. Sicher waren seine Gedanken bei seiner bevorstehenden Verlobung gewesen, es wurde ja in allen Familien nichts weiter gesprochen, und da war es doch mehr als selbstverständlich, daß auch er nichts anderes dachte.
Einen Augenblick standen sie sich schweigend gegenüber. Dann sagte sie, auf seine letzten Worte eingehend: »Schade, daß Sie zur Kaserne müssen – ich hätte Sie sonst um Ihre Begleitung gebeten. Nun muß ich die Pakete doch selbst tragen.«
»Keinesfalls,« widersprach er lebhaft, »das dulde ich nie und nimmer – geben Sie mir alles her« und er nahm ihr alles ab, was sie in den Händen und unter den Armen trug. »So, das nehme ich mit und gebe es in der Kaserne der Kompagnie-Ordonnanz, die bringt es Ihnen gleich ins Haus, spätestens in einer halben Stunde haben Sie alles in der Wohnung.«
»Und wann lassen Sie sich selbst einmal wieder bei uns sehen? Sie wissen, Papa liebt es sehr, wenn seine Herren sich ganz freundschaftlich bei ihm ansagen.«
»Wenn ich einmal weiß, daß ich nicht störe –«
»Ich werde Papa bitten, einen Abend mit Ihnen zu verabreden. Nun wird es aber wohl Zeit für Sie – sehen Sie, die Kirchenuhr ist schon drei – da müßte Ihr Unterricht wohl schon begonnen haben?«
»Um Gotteswillen – hoffentlich kommt kein Vorgesetzter auf die verrückte Idee, mich gerade heute zu kontrollieren. Überhaupt diese Kontrolle, gnädiges Fräulein, das ist eine Bevormundung der Untergebenen, die der Vorgesetzte mit Recht als eine Beleidigung empfindet, wenn sie seiner eigenen Person zuteil wird.«
Elsbeth mußte lachen. Und unwillkürlich stimmte er mit ein. »Na, es ist aber doch wahr, gnädiges Fräulein.«
»Gewiß. Aber nun machen Sie, daß Sie fortkommen. Sonst sind Sie mit Ihrem Unterricht fertig, noch bevor Sie damit angefangen haben.«
»Ach, wäre das schön!« meinte er seufzend. Dann aber verabschiedete er sich und eilte schnellen Schrittes zur Kaserne.
Als er die große Stube betrat, in der seine Leute ihn erwarteten, fand er zu seinem nicht geringen Schrecken den Major von Rockhausen vor, der sich die Instruktionsstunde einmal anhören wollte. Früher war der nicht so neugierig gewesen, aber jetzt, in dieser Zeit, in der man bald den Namenszug erhielt, mußten die Vorgesetzten sich um jede Kleinigkeit kümmern. Es war doch nicht unmöglich, daß Seine Hoheit, um seine eigenen bedeutenden militärischen Kenntnisse zu zeigen, einige mehr oder weniger leichte Fragen an den einen oder anderen Soldaten richten würde, und wenn die Kerls dann die Antwort schuldig blieben, dann – ja, das »dann« war garnicht auszudenken.
»Ich bitte ganz gehorsamst um Entschuldigung, Herr Major, daß ich mich ein paar Minuten verspätet habe.«
Anstatt gleich zu antworten, winkte der Herr Major dem Herrn Leutnant mit den Augen, ihm nach draußen auf den Korridor zu folgen. Und in einer stillen Ecke sagte er ihm da ganz gehörig seine Meinung: »Das nennen Sie ein paar Minuten, Herr Leutnant? Zehn Minuten kommen Sie zu spät! Was sage ich: zehn – beinahe elf – – und außerdem muß ich es im höchsten Grade ungehörig finden, daß Sie mit soviel Paketen beladen hier erscheinen. Ihre Einkäufe machen Sie gefälligst ein andermal erst nach dem Dienst, und auch dann rate ich Ihnen, sich die Sachen schicken zu lassen, denn es gehört sich nicht, daß ein Offizier in Uniform wie ein Packesel beladen durch die Straßen geht. Denken Sie daran, daß wir bald beinahe Garde sind – und ein Gardeleutnant mit so viel Paketen in der Hand – das ist ein absolutes Ding der Unmöglichkeit.«
»Wenn du eine Ahnung hättest, wem diese Sachen alle gehören!« dachte Bernburg. »Anstatt zu schelten, solltest du mich lieber loben. Wer weiß, was ich hier alles trage – vielleicht dein Abendessen, das dir hoffentlich gut schmecken wird – vielleicht sogar dein Leibgericht: etwas Kaviar! Oder sonst 'was Schönes! Na, hoffentlich erfährt Elsbeth nicht, daß du mir hier so sacksiede grob wirst, das würde ihr doch peinlich sein, und das sollte mir ihretwegen aufrichtig leid tun. Aber im übrigen kannst du reden, was du willst – ich habe ein gutes Gewissen – und der Gerechte leidet still, besonders, wenn er das als Soldat muß – – Rede, was du willst, nur tu' mir den einzigen Gefallen und rede lang und ausführlich, denn je länger du sprichst, desto weniger Zeit bleibt mir nachher für meine Instruktionsstunde. Also red' schon.«
Und der Major redete und redete. Er redete sich immer mehr in Zorn und Wut hinein, und als er endlich fertig war, dachte Bernburg: na, der Major wird Augen machen, wenn Elsbeth ihn heute abend bittet, mich bald einmal zum Abendessen einzuladen! Die Augen möchte ich sehen.
Dann warf er einen Blick auf die Korridoruhr: sein Wunsch war in Erfüllung gegangen, der Major hatte fast zwanzig Minuten gesprochen – die Instruktionsstunde hatte noch garnicht angefangen und war – seine Verspätung dazugerechnet – doch schon halb zu Ende. Und das war das Schönste an ihr.